(Heyne, 880 S. , HC)
Zwar ist Stephen King vor allem durch seine – auch (teilweise mehrfach) erfolgreich verfilmten -Horror-Romane wie „Es“, „Carrie“, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ berühmt geworden, doch hin und wieder verschlägt es den „King of Horror“, der am 21. September 2022 seinen 75. Geburtstag feiert, auch ins benachbarte Fantasy-Genre. Seinen beeindruckendsten Beitrag lieferte der US-amerikanische Bestseller-Autor hier mit seiner acht Bände umfassenden Saga um den „Dunklen Turm“ ab, doch bereits in den 1980er Jahren probierte er sich in dem heute nahezu vergessenen Roman „Die Augen des Drachen“ in märchenhaften Gefilden aus. Seinem fast 900-seitigen Epos „Fairy Tale“ könnte ein ähnliches Schicksal blühen, kommt hier doch Kings immer wieder kritisierte Weitschweifigkeit besonders deutlich zum Tragen und macht aus einem anfangs einfühlsam geschriebenen Entwicklungsroman ein uninspiriertes Märchen, dem es vor allem an Spannung und Atmosphäre fehlt.
Charlie Reade war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter auf dem Heimweg von einer Besorgung zum Essen auf der Sycamore Street Bridge von einem Auto erfasst und getötet wurde. Seinem Vater hat der Verlust so zugesetzt, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkte und seinen Job als Schadensregulierer bei einer Versicherung verlor. Dank eines Kollegen ging Charlies Vater jedoch regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, wurde wieder von seiner alten Firma eingestellt und hat sich mittlerweile selbstständig gemacht.
Mit siebzehn Jahren steht Charlie nun an der Schwelle zum Erwachsensein und hat gute Chancen auf ein Sport-Stipendium, als er eines Tages am unheimlichen „Psycho-Haus“, das von dem einsiedlerischen Mr. Bowditch bewohnt wird, ein Wimmern wahrnimmt. Charlie kommt gerade rechtzeitig, um den Notruf zu alarmieren, nachdem Mr. Bowditch von der Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Der Teenager besucht daraufhin nicht nur regelmäßig Mr. Bowditch im Krankenhaus, sondern kümmert sich auch um Radar, die in die Jahre gekommene deutsche Schäferhündin des mürrischen alten Mannes. Auch als Mr. Bowditch wieder nach Hause kommt, betreut Charlie sowohl den Hausherrn als auch die Schäferhündin, wobei ihm der abgeschlossene Schuppen auf dem Grundstück besonders zu faszinieren beginnt.
Wie sich herausstellt, verfügt Mr. Bowditch über einen Eimer voller Goldkügelchen in seinem Tresor, mit dem er mehr als nur die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Als Mr. Bowditch an einem Herzinfarkt stirbt, erbt Charlie dessen ganzes Vermögen. Als Radar immer älter und gebrechlicher wird, findet Charlie im Schuppen den Zugang zu einer anderen Welt, die auch einst Mr. Bowditch betreten hat, um sein Leben zu verlängern. Nun nimmt Charlie eine abenteuerliche Reise ins Land Empis, das schon bessere Zeiten erlebt hat. In der Stadt Lilimar wird Charlie bald in einen Kerker gesperrt und zum Kämpfen gezwungen. Für viele seiner Mitstreiter wird Charlie als ein Prinz betrachtet, der das alte Königreich retten wird…
„Die Monarchen waren nicht ausgerottet und die Mitglieder des Hauses Galien auch nicht, zumindest nicht alle. Sie waren von der Macht, die jetzt in Elden hauste, verflucht worden – es musste dieselbe Macht sein, die auch die nah an der Mauer erbauten Vorstadthäuser in Schutt und Asche gelegt hatte -, aber sie waren am Leben. Das verriet ich Freed allerdings nicht. Womöglich wäre das für uns beide gefährlich gewesen.“ (S. 622)
So wie Stephen Kings Saga vom „Dunklen Turm“ maßgeblich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ inspiriert wurde, verbeugt sich der Autor in seinem neuen Werk deutlich vor Autoren wie Edgar Rice Burroughs, Robert E. Howard, Ray Bradbury und Howard Phillips Lovecraft, aber auch Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ und Elemente aus Grimms Märchen und der erfolgreich verfilmten „Die Tribute von Panem“-Trilogie. finden sich in „Fairy Tale“.
Allerdings bekommt King die unterschiedlichen Einflüsse nicht zu einer eigenen unterhaltsamen Geschichte zusammen. Es wirkt sogar so, als wären zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen. Während das erste Drittel eindeutig Stephen King in Bestform präsentiert, der auf gewohnt einfühlsame Weise die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der durch den frühen Tod seiner Mutter und den Alkoholismus seines Vaters seiner Kindheit beraubt geworden ist und durch die Freundschaft zu einem eigenbrödlerischen alten Mann Zugang zur „Anderwelt“ bekommt, setzt er in den nachfolgenden zwei Dritteln eher stümperhaft die Märchentradition fort, die gefährliche Reise eines Jünglings auf dem Weg zu einer höheren Berufung zu schildern. King fehlt hier nicht nur die sprachliche Finesse, um bedrohliche oder faszinierende magische Welten erstehen zu lassen, wie es sowohl Ray Bradbury („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“) als auch Howard Phillips Lovecraft („Schatten über Innsmouth“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Berge des Wahnsinns“) vermochten, sondern vor allem auch an einer packenden Geschichte.
King lässt seine Leserschaft ebenso wie seinen jungen Protagonisten, der eigentlich nur einen Weg finden will, Radar zu einem jüngeren Ich zu verhelfen, über Hunderte von Seiten im Unklaren darüber, wohin die Reise denn gehen soll. Natürlich sind Kämpfe, Mutproben und Gefahren zu bestehen, aber die Anderwelt wird ebenso wie die darin lebenden Figuren viel zu oberflächlich und lieblos beschrieben. So richtig eintauchen kann man als Leser in diesen uninspirierten Mischmasch vertrauter Fantasy-Elemente nicht. Dazu bleiben die Figuren zu farblos, der Plot plätschert unaufgeregt vor sich hin. Mindestens 300 Seiten hätte sich King hier sparen können. Und wenn sich Paul Greengrass („Neues aus der Welt“, „Die Bourne Verschwörung“) an die Verfilmung macht, wird er den Plot auch gnadenlos straffen müssen, um aus „Fairy Tale“ einen unterhaltsamen Film zu machen. Für King kann es dagegen nur heißen, wieder zurück zu alten Stärken im Horror-Genre zu finden.