(DuMont, 189 S., Tb.)
Seit Nicolas Winding Refns Verfilmung seines 2008 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Romans „Driver“ ist der aus Arkansas stammende Schriftsteller und Übersetzer James Sallis aus der internationalen Krimi- und Literaturwelt nicht mehr wegzudenken. Seine ersten Erfolge feierte Sallis mit der Reihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin, doch sind von den sechs zwischen 1992 und 2001 erschienenen Bänden leider nur die ersten beiden in deutscher Übersetzung erhältlich. Der erste Band, „The Long-Legged Fly“, wurde 1999 zunächst wortgetreu als „Die langbeinige Fliege“ in der von Martin Compart leider nur kurzlebigen Edition DuMont Noir mit einem lesenswerten Nachwort des Übersetzers Georg Schmidt veröffentlicht, 2013 als Neuauflage unter dem Titel „Stiller Zorn“.
1964. Der Privatdetektiv Lewis „Lew“ Griffin schickt einen Mann namens Harry ins Jenseits, nachdem dieser sich an einem Mädchen aus Mississippi vergangen hatte, schlitzt ihm Kehle und Bauchdecke auf und kehrt irgendwann in sein Büro zurück, das er seit vier Tagen nicht mehr gesehen hat. Die Nachricht seiner Mutter, dass sein Vater im Sterben liegt, bekümmert ihn nicht weiter. Zwar ruft er seine Mutter im Krankenhaus von Memphis an, doch an einen Besuch denkt er nicht, da er an einem Fall arbeite. Für eine Gruppe von Gruppe von schwarzen Aktivisten soll er Corene Davis finden, die die Gruppe zu einem Vortrag eingeladen hatte, doch fehlt von ihr seit ihrem Flug von New York nach New Orleans jede Spur. Griffin findet die Gesuchte, nachdem er auf die Idee gekommen war, das Bild von Corene Davis aus dem Time Magazine aufhellen zu lassen. Offensichtlich wollte die populäre Aktivistin untertauchen, doch das ist ihr nicht so bekommen wie erhofft …
Sechs Jahre später wird Griffin in seinem neuen Büro in Downtown von den aus Clarksdale, Mississippi, stammenden Eltern eines sechzehnjährigen Mädchens beauftragt, ihre offensichtlich nach New Orleans ausgebüchste Tochter ausfindig zu machen. Offensichtlich wollte sie in New Orleans Karriere als Schauspielerin machen. 1984 rappelt sich Griffin nach einem seiner vielen Alkoholexzesse wieder aus, wird aus der Touro Infirmary entlassen, wo er von einer Pflegerin namens Vicky besonders herzlich betreut wurde. Da der Detektiv nicht weißt, wo er unterkommen soll, bietet ihm eine alte Freundin, die Prostituierte Verne, einen Platz in ihrer Wohnung an, doch dann kommt er auf das Angebot von William Samson zurück, in dem von ihm geleiteten Rehabilitationszentrum ein Bett im Gemeinschaftszimmer zu belegen, dann zieht er zu Vicky, mit der er in letzter Zeit einiges unternommen hat. Er treibt Schulden ein und soll für einen Mann, den er in Samsons Zentrum kennenlernte, die Schwester finden. Weitere sechs Jahre später hat Griffin seine Tätigkeit als Privatdetektiv eigentlich hinter sich gelassen, unterrichtet und ist als Autor recht erfolgreich geworden, doch dann muss er seine alten Fähigkeiten reaktivieren, um seinen eigenen Sohn wiederzufinden, der sich nach einem Frankreich-Trip wie vom Erdboden verschwunden zu sein scheint.
„Wenn es nur irgendwas gäbe, mit dem man die Welt und uns selbst neu erschaffen könnte. Ich dachte daran, wie ich erst vor ein paar Monaten am Fluss entlangspaziert war und mir die Worte Tabula rasa und Palimpsest durch den Kopf gegangen waren. Doch die Welt ändert sich nicht, und wir zumeist ebenso wenig. Wir schauen bloß weiter in den gleichen Spiegel, probieren unterschiedliche Hüte und Mienenspiele, versuchen es mit neuen Untugenden, Meinungen und Vorurteilen; tun so, genau wie die Kinder, als könnten wir Dinge sehen und spüren, die gar nicht da sind.“ (S. 140)
Man spürt es immer wieder, wie der Einfluss des Jazz auch die Geschichten um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin prägt. James Sallis hat bereits in den 1980er Jahren Kritiken und Sachbücher zum Thema Jazz geschrieben, spielt selbst Instrumente wie das Horn, Fiedel, Mandoline und Dobro, und hat durch die Werke von Raymond Chandler gelernt, dass Detektivgeschichten ein Eckstein der amerikanischen Literatur darstellt. Von ihm hat Sallis den Grundgedanken übernommen, dass es in den Geschichten weniger um die Lösung eines Verbrechens geht als um die Erkenntnis, dass es keine Moral und Ordnung in der Welt gibt.
In der Spanne von 26 Jahren, in denen sich die vier Episoden von „Die langbeinige Fliege“/“Stiller Zorn“ abspielen, hat Griffin auch nicht immer den gewünschten Erfolg bei seinen Ermittlungen, aber durch die Begegnungen mit den Menschen, die er durch die Suche nach vermissten Personen kennenlernt, geht ihm auch das Vertrauen in die Welt verloren, was ihm entweder Trost im Alkohol oder in Beziehungen suchen lässt, denen kein gutes Ende vorherbestimmt ist.
In der Lebensgeschichte von Lew Griffin schwingt der trostlose Klang des Blues durch, und doch schlägt sich der Detektiv, Schuldeneintreiber, Lehrer und Schriftsteller irgendwie wacker, findet immer einen Unterschlupf, eine wie immer auch geartete Liebesbeziehung und einen Job. Er lässt sich nicht unterkriegen in dem Moloch der Großstadt, in der mehr als nur einzelne Menschen verloren gehen. Dabei sind es nur Fragmente, die Sallis seinem Publikum aus Griffins Leben präsentiert. Wenn er auf nicht mal 190 Seiten über ein Vierteljahrhundert im Leben seines Protagonisten rekapituliert, bleibt nicht viel Raum für ausführliche Charakterisierungen und vertrackte Plots. Vielmehr bietet Sallis‘ Debütroman eine Tour de force durch Schicksale, die Zeugnis davon ablegen, wie Schwarze immer noch ausgegrenzt und gedemütigt werden und auf der Suche nach etwas Glück auch auf falsche Versprechungen reinfallen. Die unorthodoxe Art, wie Sallis seine Figur durch das Leben straucheln, aber nicht fallen lässt, macht sein Debüt so fesselnd.