David F. Ross – (Schottland-Trilogie: 1) „Schottendisco“

Donnerstag, 31. Oktober 2024

(Heyne Hardcore, 334 S., Pb.) 
Mit Irvine Welsh („Trainspotting“, „Porno“) und John Niven („Music from Big Pink“, „Gott bewahre“) hat Schottland seit den 1990er Jahren zwei Autoren hervorgebracht, die mit derbem britischem Humor, einem unverblümten, sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft und ausgefallenen Plots eine Ausnahmeerscheinung in der britischen Literaturszene darstellten. 2015 wurde dieses Duo um einen weiteren interessanten Namen erweitert. Da veröffentlichte David F. Ross nämlich seinen Debütroman „Last Days of Disco“, der hierzulande von Heyne Hardcore – der langjährigen Heimat von Welsh und Niven – unter dem Titel „Schottendisco“ veröffentlicht wurde und den Auftakt einer Trilogie bildete, die mit „Schottenrock“ und „Schotten dicht“ fortgesetzt worden ist. 
Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit ihrer Schulzeit die besten Kumpels, allerdings wissen die beiden Halbwüchsigen Anfang der 1980er Jahre in dem schottischen Kaff Kilmarnock wenig mit sich anzufangen. Während die Thatcher-Regierung mittlerweile drei Millionen Arbeitslose zu verantworten hat und auf den weit entfernten Falkland-Inseln ihr einst erobertes Territorium mit Waffengewalt zu verteidigen sucht, kommen Bobby und Joey auf die Idee, ihren Lebensunterhalt mit einer mobilen Disco zu verdienen. Allerdings ist die Unterhaltungsbranche fest in den Händen von Möchtegern-Corleone Fat Franny Duncan, der jede Art von Party mit seiner skurrilen Truppe beschallt. 
Bobbys Vater Harry, der nach einem Unfall in der Teppichfabrik als Hausmeister in der Schule arbeitet, macht ihn auf einen Aushang am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer aufmerksam, mit dem eine mobile Disco für eine private Party gesucht wird. Bobby und Joey nennen sich nach einem alten Soul-Klassiker Heatwave, leihen sich das nötige Equipment und müssen zunächst enttäuscht miterleben, wie ihre ersten Tantiemen nicht in ihre eigenen Taschen wandern. 
Doch nach einem holprigen Start mischen Heatwave die lokale Partyszene dermaßen auf, dass der Geschäftsmann Mickey Martin den beiden Jungs anbietet, den geplanten Mega-Nachtclub-Komplex am Foregate zu bespielen. Doch das kann Fat Franny natürlich nicht zulassen… 
„Fat Franny war clever, und er hatte die zunehmend distanzierte Haltung eines consigliere in den letzten Monaten durchaus bemerkt. Genau genommen hatte er sie sogar ganz oben auf die Liste von Gründen gesetzt, weshalb das Geschäft momentan nicht lief. Michael Corleone hätte ihn schon vor Wochen beseitigen lassen, aber der Don würde eine derart heikle Situation subtiler lösen.“ (S. 188) 
Mit „Schottendisco“ ist dem in Glasgow geborenen David F. Ross ein höchst unterhaltsames Romandebüt gelungen, das zwar vor allem die Musikszene Anfang der 1980er abfeiert (im Anhang findet sich eine Liste von knapp zwanzig Songs, die den Roman inspiriert haben, darunter „Heat Wave“ von The Jam, „Good Times“ von Chic, „Plan B“ von den Dexy’s Midnight Runners und „Don’t You Want Me“ von The Human League), aber bei den humorvoll inszenierten Bemühungen der beiden Protagonisten Bobby und Joey nicht vergisst, in welch desaströs-bedrückender politischer Atmosphäre die Handlung platziert ist. Dazu dienen Ross immer wieder eingestreute Thatcher-Zitate vor allem zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges, in den auch Bobbys Bruder Gary involviert wird, der sich aus Frust vor der Perspektivlosigkeit in seinem Leben zum Militärdienst gemeldet hat. 
Dieser Nebenstrang führt vor allem die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich und des Falkland-Konflikts im Besonderen vor Augen, erfährt aber eine wenig gelungene Auflösung. Da gibt das Tauziehen zwischen den aufstrebenden Heatwave-Jungs und dem alteingesessenen Fat Franny schon weitaus mehr Unterhaltungswert her, vor allem weil Ross seinen temporeichen Plot mit viel Liebe zum Detail entwickelt und den Zeitgeist zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung authentisch einfängt.

Hanns-Josef Ortheil – „Das Kind, das nicht fragte“

Samstag, 26. Oktober 2024

(btb, 432 S., Tb.) 
Der 1951 in Köln geborene Hanns-Josef Ortheil ist dafür bekannt, dass seine Romane stark autobiografisch geprägt sind. Das kommt vor allem in seinem 2012 veröffentlichten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ zum Ausdruck. Ortheil musste als jüngster von fünf Söhnen nicht nur den Tod seiner Eltern innerhalb von acht Jahren verkraften, sondern auch seiner Brüder, die während des Zweiten Weltkriegs und danach gestorben waren. Während die Mutter durch den Verlust ihrer Kinder ihre Sprache verlor, fand der jüngste Ortheil sie erst im Alter von sieben Jahren. Eine ganz ähnliche Biografie weist Ortheils Ich-Erzähler in „Das Kind, das nicht fragte“ auf. 
Der in Köln lebende Ethnologe Dr. Benjamin Merz fliegt im April nach Catania, um in Mandlica an einem Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ zu arbeiten. Er mietet sich in eine Pension ein, die von Maria geführt wird. Sie ist, wie Merz bald erfährt, vor fünfzehn Jahren mit ihrer Schwester Paula aus Bayern während einer Ferienreise nach Sizilien gekommen und geblieben, nachdem sich Paula in Lucio verliebt hatte. Die geplante Hochzeit kam jedoch nicht zustande, stattdessen heiratete Maria den Restaurantbesitzer, doch gehen sie mittlerweile ebenso getrennte Wege. Während Marias Aktivitäten ganz auf den Pensionsbetrieb beschränkt sind, hilft Paula im Restaurant, das zur Pension gehört, aus und arbeitet als Übersetzerin. 
Im Gegensatz zur scheu wirkenden Paula zeigt sich Maria jedoch als äußerst mitteilsam. Sie vermittelt ebenso die ersten Kontakte für Merz‘ ethnologischen Forschungen wie der Buchhändler Alberto. Mit seiner Fähigkeit, zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und viele Dinge zu ahnen, die zuvor ungesagt blieben, macht Merz in der Stadt auf sich aufmerksam, bis auch Bürgermeister Enrico Bonni bei einem Gespräch im Rathaus den Ethnologen bittet, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Mittlerweile hat Merz auch Paula näher kennengelernt und sich in sie verliebt. 
 „Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!“ (S. 165) 
Doch dann ist da auch noch Adrianna, die ebenso intelligente wie attraktive und selbstbewusste Tochter des Bürgermeisters, die Merz den Kopf verdreht… 
Ist einem die Biografie von Hanns-Josef Ortheil vertraut, kommt man nicht umhin, „Das Kind, das nicht fragte“ als Vergangenheitsbewältigung, als Familientherapie mit einem Hollywood-mäßigen Happy End zu begreifen. Indem der Autor seinen Protagonisten in das Sehnsuchtsland Italien reisen und ins Gespräch mit den Einwohnern einer sizilianischen Hochburg der Dolci-Produktion kommen lässt, macht die Figur einen erstaunlichen Entwicklungsprozess durch. 
Nachdem Merz als kleiner Junge erst durch die angeleitete Zwiesprache mit dem Herrn in der Kirche angefangen hatte, Fragen zu stellen und ein Verständnis für die Welt zu entwickeln, wird in der fiktiven Stadt Mandlica aus dem versierten Fragesteller und Beobachter selbst ein Erzähler des eigenen Lebens, aber bis dahin müssen natürlich einige Hürden genommen werden. 
Am interessantesten stellt sich schnell die Dreiecksgeschichte zwischen Maria, ihrer Schwester Paula und dem Restaurantbesitzer Lucio heraus, und der Ethnologe macht zunächst nicht den Eindruck, als würde er dieser Konstellation eine zusätzliche Dynamik verleihen können. 
„Das Kind, das nicht fragte“ präsentiert sich als leichter Feel-Good-Roman, überzeugt vor allem in der Darstellung des sizilianischen Alltagslebens und als Lehrbuch zur Ethnologie, weniger als Liebesroman. Vor allem die Episode mit Adrianna wirkt überzogen und wenig glaubwürdig, doch als selbsttherapeutischer Ansatz erfüllt der Roman sicher seinen Zweck. 

Don Winslow – „Die Sprache des Feuers“

Dienstag, 15. Oktober 2024

(Suhrkamp, 420 S., Pb.) 
Mit seinen Romanen um die Drogendealer Ben und Chon („Zeit des Zorns“, „Kings of Cool“) sowie die monumentale Reihe um den US-Drogenfahnder Art Keller (u.a. „Tage der Toten“, „Das Kartell“) hat Don Winslow nicht nur die internationalen Bestseller-Listen erobert, sondern durfte sich u.a. auch über den „Deutschen Krimi Preis 2011“ freuen. Mittlerweile hat Winslow eine Vielzahl weiterer – auch verfilmte - Einzelromane und Reihen veröffentlicht, mit denen er seine Meisterschaft, spannende Geschichten zu erzählen, immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Dazu zählt auch der im Original 1999 veröffentlichte Thriller „Die Sprache des Feuers“
Da keine Stellen im Morddezernat vom Orange County Sheriff Department frei waren, hat Jack Wade eine steile Karriere in der Abteilung für Brandstiftung gemacht und mit der attraktiven Kollegin Letty del Rio auch in der Beziehung das große Los gezogen. Doch der offensichtlich vorsätzlich gelegte Brand des Teppichlagers von Kazzy Azmekian wird Wade zum Verhängnis, weil er sich in Ermittlungen gegen die Russenmafia einmischt und sowohl Job als auch Freundin verliert. 
Nun wird er als Brandermittler der Versicherung California Fire & Life zu einem abgebrannten Haus geschickt, bei dem die Überreste der 34-jährigen Pamela Vale von den Sprungfedern ihres Bettes gekratzt werden müssen. Während sein Kollege Brian Bentley schnell dabei ist, den Brand als Unfall zu deklarieren, der durch den Wodka-Konsum der vermeintlichen Alkoholikerin und eine brennende Zigarette verursacht wurde, nimmt Wade das Haus näher in Augenschein und stößt nicht nur auf verschiedene Brandherde, sondern auch ein schlagkräftiges Motiv: Pamelas Mann Nicky, einst mit seinen Immobiliengeschäften der große Zampano im angesagten Dana Strands, steckt mächtig in den Miesen. Das überversicherte Haus mit dem wertvollen, antiquarischen Inventar würde ihm bei einer Schadensregulierung zu seinen Gunsten den Arsch retten. 
Doch egal, wie sehr Jack Wade sich zu beweisen bemüht, Vale den Mord an seiner Frau anzuhängen, scheinen alle daran interessiert zu sein, den Schaden zu regulieren. Es geht schließlich um Versicherungsprämien und den wachsenden Einfluss der Russenmafia. Der Brandermittler hat jedoch vor allem im Sinn, der ermordeten Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Tathergang überzeugend zu rekonstruieren: 
„Das Feuer schreibt seine Chronik selbst. Es ist so verdammt stolz auf sich, denkt Jack, dass es gleich anfängt zu reden, dir alles erzählt, was passiert ist. Deshalb steht Jack gleich am nächsten Morgen im Schlafzimmer der Vales. In diesem schwarzen Loch, wo es passierte, und er bleibt still stehen, um das Flüstern des Feuers zu hören. Na los, flüstert es, du bist doch so schlau. Lies mich. Ich habe dir alles aufgeschrieben, aber du musst meine Sprache verstehen.“ (S. 139) 
Mit wenigen kurzen Kapiteln versteht es Winslow, sein Publikum gleich zu Beginn in eine verzwickte Story hineinzuziehen, in der es natürlich um weit mehr geht, als nur einen Brand mit Todesfolge aufzuklären. Winslow hat mit Jack Wade einen sympathischen Protagonisten geschaffen, der mit viel Enthusiasmus „die Sprache des Feuers“ versteht, wobei ihm sein strenger Sinn der Wahrheitsfindung das Genick zu brechen droht, wie es ihm in der Vergangenheit bereits einige Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Winslow macht sich dabei sogar die Mühe, die Gesetzmäßigkeiten des Feuers haargenau und plastisch zu erläutern, ohne einen wissenschaftlichen Diskurs zu veranstalten. 
Vor allem gelingt es ihm in der Folge, in parallel verlaufenden Handlungssträngen und erhellenden Rückblicken das Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, juristischen Fallstricken und mafiösen Strukturen gerade die Elemente herauszuarbeiten, die der Story den besonderen Pfiff verleihen und die Spannung sukzessive zu erhöhen. 
Die leicht verständliche, pointierte Sprache, die kurzen, stakkatoartig aneinandergereihten Sätze, die messerscharfen Dialoge und der kompromisslos harte Plot machen „Die Sprache des Feuers“ zu einem rasanten, fesselnden und temporeichen Thriller der Extraklasse.


Robert Ludlum – (Jason Bourne: 1) „Die Bourne Identität“

Freitag, 11. Oktober 2024

(Heyne, 640 S., Tb.) 
Als Doug Liman im Jahr 2002 „Die Bourne Identität“ mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen verfilmte, war noch nicht abzusehen, dass er mit dem virtuos inszenierten Spektakel den Maßstab für das Action-Kino neu definierte und damit auch eine realistischere Ausrichtung des vergleichbaren James-Bond-Franchises bewirken sollte. Kaum vorstellbar war auch die Tatsache, dass „Die Bourne Identität“ auf einem Thriller beruht, den der 2001 verstorbene Genre-Spezialist Robert Ludlum bereits 1980 veröffentlicht hatte. 1988 verfilmte bereits Roger Young den Roman als Fernseh-Zweiteiler mit Richard Chamberlain und Jocelyn Smith in den Hauptrollen, wobei er sich weit enger an die Romanvorlage hielt als Liman 14 Jahre später. 
Kurz vor der französischen Küste bei Ile de Port Noir wird ein schwer verletzter Mann durch die Besatzung eines Fischerbootes geborgen und zu einem englischen Arzt auf die Insel gebracht. Geoffrey Washburn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen ungewöhnlichen Patienten, versorgt seine Schusswunden und entdeckt dabei ein Stück Zelluloid, das dem Mann unter die Haut an der rechten Hüfte eingesetzt worden war. Die Daten eines Nummernkontos bei der Gemeinschaftsbank in Zürich sind jedoch der einzige Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich an nichts vor seinem folgenschweren „Unfall“ erinnern kann, schon gar nicht an seinen Namen. 
Nach seiner Genesung lässt sich der Mann, der sich Jean-Pierre nennt, mit einem gefälschten Pass versorgen und nach Marseille bringen, um von dort nach Zürich zu fliegen, wo er in dem Schließfach der Bank nicht nur ein Guthaben von mehr als fünf Millionen Dollar und den Verweis auf eine Firma namens Treadstone Seventy-One vorfindet, sondern auch seinen Namen: James Charles Bourne! Doch noch bevor Bourne die Bank verlassen kann, wird er von Wachmännern attackiert. Bourne kann jedoch fliehen und sich in einem Hotel verstecken. Dort kidnappt er die kanadische Volkswirtschaftlerin Dr. Marie St. Jacques. 
Anfangs sträubt sich die Regierungsbeamte, Bourne bei seiner Flucht zu unterstützen, doch als sich ihre Wege trennen und Bourne sie später von ihrem Vergewaltiger befreit, verlieben sich die beiden und gehen gemeinsam den Hinweisen nach, die aufklären sollen, wer Jason Bourne wirklich ist. Dabei gibt es nicht nur Verbindungen zu einem weltweit operierenden Auftragskiller namens Cain, sondern dem allseits gefürchteten Killer Carlos, dessen Rang Cain offensichtlich ablaufen will. Die US-amerikanischen Geheimdienste sind mehr als beunruhigt über die Entwicklungen in Zürich und Paris, sehen jedoch eine Chance, Cain zu Carlos zu führen und damit beide unliebsamen Killer auf einen Schlag zu eliminieren. Bourne ist sich bewusst, dass er seine weiteren Schritte ohne seine Geliebte würde unternehmen müssen… 
„Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen – ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wusste, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage – wie er das vermutet hatte.“ (S. 311) 
Mit seinem ersten „Bourne“-Roman hat Ludlum einen modernen Klassiker des Agenten-Thrillers geschaffen, der allerdings nur das Grundgerüst für die 22 Jahre spätere Verfilmung durch Doug Liman bildet. Während Liman und seine Drehbuchautoren Tony Gilroy und William Blake Herron den Fokus auf die spektakulär inszenierte Nahkampf-Action, exotische Drehorte und eine zwingende Verschlankung des Plots und Figurenarsenals gelegt haben, hat sich Ludlum in „Die Bourne Identität“ ganz auf das Verwirrspiel der verschiedenen US-amerikanischen Abwehrdienste, die Jagd auf den internationalen Auftragsmörder Carlos (der in der Verfilmung überhaupt nicht vorkommt) und Jason Bournes Suche nach seiner wahren Identität konzentriert. 
Die Liebesbeziehung zwischen Bourne und Marie (die im Gegensatz zur naiv wirkenden Figur in der Verfilmung als aufgeweckte Wissenschaftlerin auf Augenhöhe mit Bourne agiert) ist Ludlum nicht unbedingt glaubwürdig gelungen, dafür bietet die Geschichte eines Agenten, der nur in bruchstückhaften Erinnerungen eine Idee von seiner wahren Natur vermittelt bekommt, genügend Stoff für häufige Ortswechsel, ein irgendwann unüberschaubares Figurenarsenal und moderate Action. 
Und die Auflösung hält ganz bewusst die Möglichkeit für weitere Fortsetzungen offen, die allerdings noch weniger mit den ebenfalls nachfolgenden Verfilmungen zu tun haben. 

Ray Bradbury – „Familientreffen“

Samstag, 5. Oktober 2024

(Diogenes, 228 S., Tb.) 
Mit – oft erfolgreich verfilmten – Romanen und Geschichten wie „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und natürlich „Fahrenheit 451“ zählt der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) zu den großen Schriftstellern der fantastischen Literatur, fühlte er sich doch gleichermaßen in den Genres des Kriminalromans, der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors zuhause. Ein frühes Beispiel seiner Erzählkunst bot der 1947 veröffentlichte und längst vergriffene Sammelband „Dark Carnival“, der Geschichten aus den Jahren 1943 bis 1947 vereinte. 1955 erschien mit „The October Country“ ein Band, der knapp die Hälfte der insgesamt 27 Stories aus „Dark Carnival“ in teils überarbeiteter Form zusammenfasste und um vier neue Geschichten erweitert wurde. Bradbury entführt seine Leser mit „Familientreffen“ - so der deutsche Titel - in Grenzbereiche der menschlichen Vorstellungskraft und macht uns mit Zirkusleuten, Vampiren und Schriftstellern mit Mordgelüsten vertraut. 
In „Der Zwerg“ besucht die titelgebende Figur allabendlich das Spiegelkabinett, wenn der Besucherandrang nicht mehr so stark ist, zahlt seine zehn Cent und rennt bis zum Langen Lulatsch durch. Doch dann treibt der Betreiber des Kabinetts einen makabren Scherz mit dem Zwerg… 
George Garvey hat zwar eine attraktive Frau, wird aber von seiner Umgebung als der langweiligste Typ überhaupt betrachtet. Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Garvey einen Besuch abzustatten, sich über Musik und Bücher auszutauschen, zu denen er nichts beitragen kann, und sich anschließend, als sie wieder unter sich sind, über den Mann herzuziehen, der offenbar Millionen Wege kennt, einen zu lähmen, in Tiefschlaf oder sogar ins Koma zu versetzen. Doch Garvey lässt die Schmach nicht auf sich sitzen, informiert sich und verblüfft seine Besucher durch sein überraschend profundes Wissen. Um seine Popularität aufrechtzuerhalten, sieht sich Garvey gezwungen, immer ausgefallenere Marotten zu entwickeln. Nachdem er eine abgetrennte Fingerspitze durch einen Fingerschutz eines Mandarins ersetzt hatte, plant er für den Verlust eines Auges einen besonderen Coup: „Der wachsame Poker-Chip von H. Matisse“ kann allerdings nicht verhindern, dass Garvey weiterhin ein Langweiler bleibt… 
„Das Skelett“ wiederum erzählt die Geschichte des Hypochonders Mr. Harris, dessen Hausarzt nichts gegen seine schmerzenden Knochen zu unternehmen vermag, weshalb der Mann Hilfe bei einem im Telefonbuch gelisteten Knochenspezialisten sucht. Mr. Munigant sieht das Problem psychischer Natur. Als Mr. Harris einen Ausflug nach Phoenix unternimmt, verschlimmern sich allerdings seine Schmerzen… 
In „Der Bote“ dient Dog für den zehnjährigen, durch eine Krankheit ans Bett gefesselte Martin die Verbindung zur Außenwelt. Über eine Mitteilung am Halsband des Hundes hofft der Junge auf Besuch. Meist ist es Miss Haight, die ihm kleine Törtchen und Bücher über Dinosaurier und Höhlenmenschen mitbringt und Domino, Dame oder Schach mit ihm spielt. Eines Tages kehrt Dog allerdings nicht mehr von seinen Ausflügen nach Hause zurück… 
„Noch lange nach Mitternacht lag Martin da und schaute hinaus auf die Welt draußen vor den kühlen, klaren Fensterscheiben. Jetzt war nicht einmal mehr Herbst, denn es war kein Dog da, um ihn ins Zimmer zu holen. Es würde keinen Winter geben, denn wer könnte Schnee anbringen, der dann in seinen Händen schmolz? Vater, Mutter? Nein, das war nicht dasselbe. Sie konnten nicht mitspielen, dieses Spiel mit den besonderen Regeln und Geheimnissen, mit seinen Geräuschen und Gesten. Keine Jahreszeiten mehr. Die Zeit würde stehenbleiben. Der Vermittler, der Bote, war im wilden Gedränge der Zivilisation verlorengegangen, vergiftet, gestohlen, unter ein Auto geraten, verendet in einem Kanalisationsschacht…“ (S. 108) 
Ray Bradbury vermag mehr, als nur ins Reich der Fantasie abzudriften und unmögliche Geschichten mit skurrilen Figuren zu erzählen, denn im Grunde genommen stecken hinter den Menschen und (sehr menschlich wirkenden) Fabelwesen ganz gewöhnliche Sehnsüchte, Ängste und Begierden, der Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Auch wenn nicht alle hier versammelten Geschichten zu fesseln vermögen, sind doch schon die spätere Meisterschaft und die sprachliche Brillanz des Autors zu erkennen, der „Familientreffen“ August Derleth, dem Schriftsteller und Verleger von Lovecrafts Werk, gewidmet hat, einem weiteren einflussreichen Wegbereiter der fantastischen Literatur.


Kent Haruf – „Unsere Seelen bei Nacht“

Montag, 30. September 2024

(Diogenes, 200 S., HC) 
Gerade mal sechs Romane hat der 2014 verstorbene, aus Colorado stammende Kent Haruf zwischen 1984 und 2015 geschrieben, allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, angesiedelt. Sein posthum veröffentlichter Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ ist zugleich sein bekanntester, wurde er doch erfolgreich 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. Seither hat Diogenes es sich zur Aufgabe gemacht, das überschaubare Gesamtwerk von Haruf dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Sein letztes und bekanntestes Buch machte dabei den Anfang. 
Die 70-jährige Witwe Addie Moore und ihr Nachbar Louis Waters sind zwar Nachbarn, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, haben bislang aber recht wenig miteinander zu tun gehabt. Bis Addie eines Maiabends bei Louis klingelt und ihn unverblümt fragt, ob er sich vorstellen könne, ab und zu bei ihr vorbeizukommen und bei ihr im Bett zu schlafen. Es gehe nicht um Sex, sondern einfach darum, die Nacht zu überstehen und miteinander zu reden. Louis bittet um etwas Bedenkzeit ob dieses überraschenden Angebots, steht aber schon nächsten Abend bei ihr vor der Tür. Das Arrangement funktioniert wunderbar, vertreibt es den beiden Witwern doch auf vertraute Weise die Einsamkeit. Abend für Abend kommt Louis zu Addie, trinkt mit ihr am Tisch ein Glas Bier, sie ein Glas Wein, dann gehen sie zu Bett und erzählen einander, wie sie ihre Liebsten verloren haben, wie ihre Ehen waren und welche Fehler man gemacht hat. 
Natürlich bleibt die Beziehung zwischen Addie und Louis in einer Kleinstadt wie Holt nicht lange ein Geheimnis, aber das Paar kümmert sich kaum darum. 
„Ich will nur friedlich vor mich hin leben und darauf achten, was Tag für Tag passiert. Und abends herkommen und bei dir schlafen. 
Ja, genau das tun wir. Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter noch einmal so etwas erleben. Dass noch längst nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind. 
Und dabei tun wir nicht mal das, was die Leute glauben.“ (S. 163) 
Spannend wird es, als sich Addies Sohn Gene von seiner Frau trennt und seinen knapp sechsjährigen Sohn Jamie zu Addie bringt… 
In dem nicht mal 200 Seiten umfassenden Kurzroman hält sich Kent Haruf nicht lange mit Nebensächlichkeiten bzw. einer Einführung seiner Hauptfiguren auf und fällt gleich mit der Tür ins Haus, so wie auch Louis mit Addies unorthodoxen Antrag überrascht wird. Dabei dreht sich „Unsere Seelen bei Nacht“ letztlich um die wesentliche Frage, ob man sich im hohen Alter damit abfinden muss, allein zu bleiben, wenn der Partner gestorben ist. So offen, wie Addie die Lösung dieses Problems angeht, dürften die wenigsten das Thema umsetzen. Sowohl Addie als auch Louis finden schnell heraus, wie sehr es sich lohnt, sich auch im gesetzten Alter noch auf einen anderen Menschen einzulassen, sich mit ihm über alles zu unterhalten, was einem wichtig ist, einander nah zu sein, ob mit oder ohne Sex. Gemeinsam gehen Addie und Louis schließlich auch die Herausforderung an, dass mit Addies Enkel neuer – vorübergehender – Zugang ins Haus schneit und dass nicht jeder damit klarkommt, was Addie und Louis miteinander angefangen haben. 
Kent Haruf bleibt in „Unsere Seelen bei Nacht“ immer dicht bei seinen Figuren, verzichtet weitgehend auf Beschreibungen und lässt seine Figuren durch pointierte Dialoge Form annehmen. Da Addie und Louis so sympathisch und bodenständig sind, fällt die Identifikation mit ihnen leicht. Und Kent Haruf ist ein Meister darin gewesen, mit einfachen Mitteln tiefgründige Weisheiten über das Zusammenleben, das Vertrauen und die Liebe zu vermitteln.


Robert R. McCammon – „Botin des Schreckens“

Samstag, 28. September 2024

(Knaur, 622 S., Tb.) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon zählte mit seinen seit den späten 70er Jahre veröffentlichten Romanen wie „Baal“, „Höllenritt“, „Blutdurstig“ und „Wandernde Seelen“ zur zweiten Garde des Horror-Genres, das fest in den Händen von Größen wie Stephen King, Dean Koontz, Peter Straub, James Herbert, Ramsey Campbell und Clive Barker lag. Nachdem McCammon dem Genre den Rücken kehren wollte, ging es mit seiner Karriere allerdings bergab, obwohl er dann erst seine besseren Bücher veröffentlichte. Den Auftakt machte 1990 der Psychothriller „Mine“, der hierzulande von Knaur im vertrauten Design seiner Horror-Reihe veröffentlicht und als solches auch vermarktet wurde. 
Laura Clayborne, Chefredakteurin bei der in Atlanta erscheinenden „Constitution“, freut sich auf ihr erstes Baby, schreibt bis zur Entbindung aber weiterhin Buchrezensionen für den Kulturteil der Zeitung. Unter den Büchern, die gerade mit der Post eingetroffen sind, befindet sich auch „Verbrennt dieses Buch!“ von dem Alt-Hippie Mark Treggs, was sie an ihre eigene Hippie-Zeit zurückdenken lässt. Währenddessen stößt Mary „Terror“ Terrell, Gründungsmitglied der terroristischen Vereinigung „Sturmfront“ auf eine geheimnisvolle Botschaft im „Rolling Stone“-Magazin, die sie mit dem damaligen Befehlshaber Jack Gardiner in Verbindung bringt. 
Nachdem die Polizei fünf der zehn Sturmfront-Mitglieder schon vor Jahren liquidiert hatte, die seit August 1969 für verschiedene terroristische Attentate verantwortlich gewesen waren, befinden sich die fünf übrigen Sturmfrontler auf der Flucht. Mary will sich sofort auf den Weg zum in der Botschaft verschlüsselt erwähnten Treffpunkt machen, will ihrem geliebten Jack aber auch ihr „gemeinsames“ Kind präsentieren. Da es Mary selbst nicht vergönnt gewesen ist, Kinder zu bekommen, beschließt sie, eines zu entführen. 
Da kommt ihr Lauras frisch geborener David gerade recht, den sie ihr als Krankenschwester verkleidet direkt aus den mütterlichen Armen entführt. Laura, die gerade erst erfahren hat, dass ihr Mann seit Wochen schon eine Affäre hat, merkt schnell, dass das FBI wenig in der Hand hat, um die bald als Mary Terror identifizierte Entführerin ausfindig zu machen. Doch Laura ist eine zu allem entschlossene Mutter, ihr Kind zurückzugewinnen. Über Mark Treggs findet Laura den Kontakt zur ehemaligen Sturmfrontlerin Bedelia „Didi“ Morse und so eine echte Vorstellung davon, wo Mary Terror mit Lauras Baby hinwill. Mit Earl van Diver, einem ehemaligen Polizisten, den Mary damals schwer verletzt hatte, befindet sich noch ein weiterer Jäger auf Mary Terrors Fährte… 
„Westwärts, nach Kalifornien, dachte er. Auf der Suche nach Jack Gardiner. Es war alles auf Band. Das drahtlose SuperSnooper-Abhörgerät, das er in einer getöpferten Vase in Bedelia Morse‘ Wohnzimmer versteckt hatte, hatte ihre Stimmen eingefangen. Nach Kalifornien sollte es also gehen, dem Land der Spinner und der Schwulen. Ein guter Platz, um einem Alptraum den Garaus zu machen.“ (S. 426) 
Nach seinen letzten Horror-Romanen „Nach dem Ende der Welt“ und „Die schwarze Pyramide“ bewies McCammon mit „Botin des Schreckens“, dass er auch ohne übernatürliche Horror-Elemente spannende und vor allem glaubwürdigere Geschichten zu erzählen vermag. Sorgfältig bereitet er die schicksalhafte Begegnung der jungen Mutter Laura Clayborne und der psychisch labilen Mary Terrell vor, indem er beide Figuren ausführlich einführt, so dass nach der Entführung von Lauras David, den Mary nur Drummer nennt, schnell klar wird, dass weder Laura noch Mary von ihren jeweiligen Missionen abzubringen sind. 
Zwar kommt „Botin des Schreckens“ nicht ohne Längen aus, doch die Verfolgungsjagd, die die beiden Frauen von Atlanta bis nach Kalifornien führt, wobei sie immer wieder auf gewaltsame Weise aneinandergeraten, ist trotz des vorhersehbaren Finales gut und packend geschrieben. Vor allem die Motivationen der beiden Frauen sind psychologisch tiefgründig und glaubhaft ausgearbeitet. Mit „Unschuld und Unheil“ (bzw. „Boy’s Life“) und „Durchgedreht“ untermauerte McCammon sein schriftstellerisches Talent, bevor er sich eine zehnjährige Auszeit nahm, um mit der „Matthew Corbett“-Reihe eindrucksvoll zurückzukehren.



Luca Kieser – „Pink Elephant“

Mittwoch, 25. September 2024

(Blessing, 302 S., HC) 
Der aus Tübingen stammende Luca Kieser, der sowohl Ethik und Philosophie als auch Sprachkunst studierte, zählt fraglos zu den vielversprechenden Talenten unter den deutschsprachigen Autoren, landete doch bereits sein 2023 veröffentlichtes Romandebüt „Weil da war etwas im Wasser“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Nun legt er mit dem Coming-of-Age-Roman „Pink Elephant“ nach, haderte allerdings zunächst mit seinem Ansatz, als weißer Schriftsteller eine Geschichte über die Freundschaft zwischen einem deutschen Jungen aus der Mittelschicht und zwei Jungen mit Migrationshintergrund zu erzählen. 
Vincent stammt aus einer klassischen Mittelschichtsfamilie, der Vater Arzt, die Mutter Assistentin eines Landtagsabgeordneten mit Ambitionen zum Oberbürgermeister. Doch statt mit Gleichaltrigen seines Schlages in Tübingen abzuhängen, freundet sich Vince während der Fußball-WM in Deutschland im Jahr 2006 mit Ali und Tarek an. Die Faszination für die für viele fremdartige Kultur begnügt sich nicht mit Postern von Bushido und Tupac in seinem Zimmer, Vincent probiert auch verschiedene Mittel aus, seine allzu weiße Haut zu bräunen. Seine Eltern haben dafür wenig Verständnis, können aber wenig dagegen tun, dass ihr Sohn sogar die Schule schwänzt, um mit seinen neuen Freunden Shisha zu rauchen, Wodka zu klauen, Döner abzustauben oder einfach nur Playstation zu zocken. 
Als sich Ali verzweifelt aus dem Fenster stürzt, weil er dem durch den älteren „O“ ausgeübten Druck nicht mehr gewachsen ist, und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird, muss sich Vincent entscheiden, welche Weichen er für sein weiteres Leben stellt… 
„Es gab Witze, die ich nicht verstand. Und es gab Witze, die ich nicht verstehen konnte. Hier wusste ich jetzt nicht, worüber sie lachten, keiner von den dreien war Türke – mein Blick rutschte die Beine hinab, und das Logo meiner Schuhe leuchtete zu mir herauf. Es kam mir auf einmal vor wie ein Zeichen dafür, dass ich von nichts eine Ahnung hatte.“ (S. 232) 
Mit „Pink Elephant“ liefert Luca Kieser definitiv einen etwas anderen Coming-of-Age-Roman ab, denn Teenager-Freundschaften zwischen „weißen“ Deutschen und Teenagern mit Migrationshintergrund finden in der deutschsprachigen Literatur kaum statt. Die heimische Fußball-WM von 2006 gibt den dabei nicht nur den zeitlichen Rahmen der Geschichte vor, sondern fungiert mit den Spielen der Gruppenphase und den K.O.-Spielen auch als Orientierung für die Punkte auf der Timeline, wenn die Zeitebenen fast unmerklich wechseln. Aber auch Alis Fenstersturz sorgt für die zeitliche Einordnung der Handlung, die sich grob in die Zeit vor Alis Verzweiflungstat und in die danach einteilen lässt. 
Kieser setzt sich dabei kaum mit dem elterlichen Umfeld der drei Freunde auseinander, hier müssen Eckpunkte zu ihrem beruflichen Umfeld reichen, so sehr ist der kompakte Roman auf Vincent, Tarek und Ali fixiert. Und auch hier bekommt die Leserschaft nur ungefähre Einblicke in das Seelenleben der Figuren. Das erschließt sich eher aus der Handlung, den immer wieder eingestreuten Zitaten aus Songs von Eko Fresh, Summer Cem, Azad, Massiv und natürlich Bushido, die als thematisches Leitmotiv gelten dürfen. Es ist nicht leicht für Vincent, sich im Spannungsfeld zwischen Seinesgleichen auf der einen und Ali und Tarek auf der anderen Seite zu finden und zu behaupten. Natürlich spielen hier spießbürgerliche Traditionen und rassistische Ressentiments eine Rolle, wobei Kieser nicht davor gefeit ist, einige Klischees zu bedienen. Echte Tiefe gewinnen seine jugendlichen Protagonisten nämlich nicht. Auf der anderen Seite stellt „Pink Elephant“ ein authentisch wirkendes Abbild der multikulturellen Lebenswirklichkeit nicht nur von „weißen“ deutschen Teenagern dar und überzeugt durch eine lebendige, mitreißende Sprache. 

Jan Weiler – „Munk“

Samstag, 21. September 2024

(Heyne, 382 S., HC) 
Mit Romanen wie „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, „Antonio im Wunderland“, „Das Pubertier“ und „Der Markisenmann“ avancierte der Kolumnist, Drehbuchautor und Schriftsteller Jan Weiler zu einem bemerkenswerten Bestseller-Phänomen, das sich mittlerweile auf Hörbücher und -spiele ebenso erstreckt wie auf die Krimi-Reihe um Kommissar Martin Kühn. Mit seinem neuen Roman „Munk“ hat Weiler die 52 Folgen seines in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Fortsetzungsromans „Die Summer aller Frauen“ zu einem ausführlicheren Roman verarbeitet. 
Nachdem der international bekannte Architekt Peter Munk auf der Zugfahrt seiner Heimatstadt Freiburg nach Zürich seine Handschuhe vergessen hatte, machte er sich nach dem Absolvieren seines Geschäftstermins auf den Weg ins Kaufhaus Globus, um dort neue Handschuhe zu erwerben. Dass er dort glaubte, Nadja wiederzusehen, die ihn wegen eines Perkussionisten verlassen hatte, setzte dem 51-Jährigen offenbar so zu, dass er auf der Rolltreppe einen Herzinfarkt erlitt. 
Nach der Entlassung aus der Herzklinik des Zürcher Krankenhauses befindet sich Munk nun auf dem Weg der Besserung, doch nimmt er sich eine Auszeit und wählt das auch wegen seiner Diskretion gern von Prominenten frequentierte Mönchhof-Resort aus, um sich den Ursachen für den Infarkt zu stellen. Da er mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, sich gesund ernährt, weder raucht noch trinkt und über eine sportliche Figur verfügt, scheinen körperliche Gründe nicht dafür verantwortlich gewesen zu sein. Nach den üblichen Anwendungen, Spaziergängen und viel Zeit zum Lesen macht Munk erst am dritten Tag die Bekanntschaft von Doktor Grenzmann, der dem Architekten nach dem ersten Kennenlernen die Aufgabe stellt, sich über die Beziehungen seines Lebens Gedanken zu machen und eine Liste der wichtigsten Personen anzufertigen. 
Munk denkt an seinen Vater zurück, der ein skrupelloser Bauunternehmer und Nazi war, von dem er sich – auch nach dessen Tod - so weit wie möglich zu entfernen versucht. Doch im Zentrum von Munks Betrachtungen stehen die 13 Frauen, mit denen er im Laufe seines Lebens eine wie auch immer geartete Beziehung unterhielt. Da die Beziehung mit Nadja noch so frisch hinter ihm liegt, rekapituliert er das Kennenlernen in einer Galerie und die unglückselige Verquickung von Privat- und Arbeitsleben als Erstes, um sich dann daran zu erinnern, wie er nach einer Party in den 1980ern ganz unspektakulär seine Jungfräulichkeit mit Judith verlor und wie die Schlittschuhläuferin Nicole seine erste große Liebe wurde. Munk hatte wenig erquickliche Affären im Ausland mit Ana und Harper, aber auch mit der jungen Influencerin Fanny und Claudia, die er in die Flucht schlug, weil er keine Kinder haben wollte, und Andrea… 
„Den anderen ein Wohlgefallen zu sein, war ein Leitspruch des Hermann Munk. Er verwendete ihn häufig, meist als mahnenden Appell in Richtung seiner Kinder. Für ihn selbst galt dieses Credo indes nicht. Aber bei Peter Munk hinterließen diese Worte ihre Wirkung. Er fand die Vorstellung nicht abwegig, dass man sich immer bemühen sollte, der Umwelt gutzutun. Er bemühte sich darum und als er Andrea kennenlernte, wollte er diesen Anspruch doppelt und dreifach gerecht werden, denn er wollte sie heiraten. Die Beziehung mit ihr war dann so, als würde er in ein brennendes Haus laufen.“ (S. 147)
Wenn man ohne jegliche Vorwarnung mit gerade mal 51 Jahren einen Herzinfarkt erleidet oder durch eine ähnlich drastische Zäsur dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist, stimmt es einen im Idealfall nachdenklich und begibt sich in die Ursachenforschung. Bei Jan Weilers Protagonisten wird dies durch die Anleitung seines Arztes in einer schicken Reha-Klinik in Gang gesetzt, worauf sich der gutsituierte und beruflich erfolgreiche, in Liebesdingen aber wenig geschickte Architekt Peter Munk vor allem mit den Frauen in seinem Leben auseinandersetzt. Das Spektrum reicht vom unbeholfenen Gefummel in Teenagerjahren über sehr kurze Affären mit diebischen und ehebrecherischen Frauen bis zu heiratswilligen Kandidatinnen mit Kinderwunsch und einer Beziehung am Arbeitsplatz mit einer Influencerin, deren Vater Munk fast hätte sein können. 
Bereits diese vielschichtige Aufzählung macht deutlich, dass Munk mit fast jeder Art von Frau bzw. der klischeehaften Vorstellung solcher Frauen im Bett gewesen ist. Das liest sich zwar kurzweilig, vor allem wenn es mit authentisch wirkenden Details wie der Atmosphäre in dem Eisstadion in den 80ern oder der Streamingprojekte mit dem Gesamtwerk von Regisseuren wie Hitchcock, Kurosawa, Scorsese und Fellini gespickt ist, doch hinterlässt keinen bleibenden, schon gar nicht originellen Eindruck. 
Auch wenn „Munk“ weitgehend aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, kommen zwischendurch aber auch die Meinungen der beteiligten Frauen zum Ausdruck, allerdings hätte Weiler auf eine Vereinigung der weiblichen Perspektiven am Ende ruhig verzichten können. 

Robert R. McCammon – „Blutdurstig“

Montag, 9. September 2024

(Knaur, 496 S., Tb.) 
Nach „Baal“, „Höllenritt“ und „Tauchstation“ legte der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon 1981 seinen vierten Roman vor, der hierzulande erstmals 1988 unter dem Titel „Blutdurstig“ erschien. Man merkt diesem Frühwerk noch deutlich an, dass McCammon zwischen den bereits etablierten Horror-Autoren Stephen King, Dean R. Koontz und Peter Straub seine eigene Stimme zu finden versucht. 
Ende Oktober zählt Detective Captain Andy Palatazin zu den Polizisten, die Jagd auf einen Serienmörder machen. Nachdem ein Polizeibeamter den Mund einer der ermordeten Frauen mit toten Kakerlaken vollgestopft vorfand, dauerte es nicht lange, bis Gayle Clarke vom Los Angeles Tattler den Killer in ihrer Schlagzeile als „Kakerlak“ bezeichnete. Allerdings hinterließ der Kakerlak seit dreizehn Tagen keine Toten, keine Briefe mehr. Doch während der Mann namens Walter Benefield bereits auf der Suche nach seinem nächsten Opfer ist, breitet sich in Los Angeles eine weitaus größere Bedrohung aus. In dem Schloss, in dem einst dem Horrorfilmstar Orlen Kronsteen der Kopf abgehackt worden war, hat sich der Vampirfürst Prinz Vulkan mit seiner rechten Hand Falco eingenistet, der nach nichts weniger strebt, als ganz Los Angeles mit Untoten zu bevölkern. Als am Hollywood Memorial zwanzig Gräber geschändet und die Särge abtransportiert werden, haben weder die Öffentlichkeit noch die Polizei einen Schimmer, was ihnen da blüht, auch nicht, als weitere Friedhöfe auf ähnliche Weise verwüstet werden. Doch Palatazin, der aus dem ungarischen Krajeck stammt, bekommt bald mehr als eine Ahnung, was in der Stadt der Engel vor sich geht… 
„Wie viele hatten den Ruf des Meisters bereits vernommen? Wie viele irrten nachts bereits blutdürstig durch die Straßen? Tausend? Fünftausend? Zehntausend? Es würde schleichend geschehen, wie damals, vor so langer Zeit, in Krajeck, - bis die Stadt dem Meister und seiner Brut preisgegeben wäre. Er musste es einfach jemandem erzählen, der ihm glauben würde. Aber wem? Wem?“ (S. 255) 
Als die Gefahr auch anderen Menschen bewusstwird, scheint es schon zu spät zu sein, denn ein Sandsturm hat alle Zufahrtswege der Stadt unpassierbar gemacht… 
McCammon hat bereits in seinen ersten Werken zumindest ein erzählerisches Talent an den Tag gelegt, das zumindest in sprachlicher Hinsicht zu überzeugen verstand. Allerdings hapert es auch in seinem vierten Roman an einer originellen Geschichte. Die Vampir-Thematik haben andere Autoren wie Bram Stoker mit seinem Klassiker „Dracula“ und Stephen King (mit „Brennen muss Salem“) bereits ausgeschöpft. Dean Koontz dagegen hat nie einen Vampir-Roman geschrieben – aus gutem Grund, wie sich bei „Blutdurstig“ zeigt, denn McCammon reiht nur die vertrauten Elemente einer Vampirgeschichte aneinander. Selbst Prinz Vulkans Gehilfe Benefield kann seine literarische Herkunft von Draculas Diener Renfield nicht verhehlen. Dazu kommen das verwunschene Schluss als Vampir-Residenz, die Särge mit Erde aus der Heimat, Knoblauch, Kruzifixe und das ganze Gedöns – und leider auch viel zu viele Figuren, die nur oberflächlich charakterisiert werden. Der Sandsturm, der Los Angeles einkesselt, muss da als einzige originelle Idee herhalten, doch reicht das bei weitem nicht aus, um aus „Blutdurstig“ einen interessanten Roman zu machen.


Michael Connelly – (Renée Ballard: 5, Harry Bosch: 24) „Wüstenstern“

Dienstag, 3. September 2024

(Kampa, 416 S., HC) 
Es war ein kluger Schachzug des renommierten Thriller-Autors Michael Connelly, vor einigen Jahren mit Renée Ballard eine neue, interessante Figur einzuführen, die ausführlich in ihrem ersten Abenteuer „Late Show“ vorgestellt wurde, bevor sie nach ihrer Strafversetzung in die Nachtschicht beim LAPD unweigerlich den berühmt-berüchtigten Kollegen Harry Bosch kennenlernte. Seit dem zweiten Ballard-Band „Night Team“ werden die Bande zwischen Ballard und Bosch zunehmend enger geknüpft. Im fünften Ballard- und bereits 24. Bosch-Roman stehen die Zeichen einmal mehr auf Veränderung. 
Ein Jahr ist es her, dass Detective Renée Ballard aus Frust vor allem über Politik, Bürokratie und Frauenfeindlichkeit den Dienst quittiert und die Late Show verlassen hat, doch statt wie geplant mit dem bereits pensionierten Bosch gemeinsam als Privatermittler weiterzumachen ließ sie sich vom Polizeichef mit dem Angebot überreden, bei einer Rückkehr zum LAPD sich ihre neue Stelle aussuchen zu dürfen. Sie hatte sich zunächst für die Robbery-Homicide Division in Downtown entschieden und darf nun nach ausdrücklicher Initiative von Stadtrat Jake Perlman nun die neue Einheit Offen-Ungelöst leiten. Bosch nimmt ihr Angebot an, als Ehrenamtlicher dabei zu helfen, den nach wie vor ungeklärten Mord an Perlmans kleiner Schwester zu bearbeiten. 
Für Bosch bietet diese Tätigkeit zudem die Möglichkeit, sich um einen weiteren Fall zu kümmern, der zu den schlimmsten zählt, den Bosch und seine Kollegen nie aufklären konnten: Finbar McShane hat 2013 die vierköpfige Gallagher-Familie mit einer Nagelpistole ausgelöscht und ihre Leichen in der Wüste verscharrt, doch beweisen konnte ihm Bosch nichts. Neben Bosch sind noch der ehemalige FBI-Mann Thomas Laffont, Lilia Aghzafi von der Las Vegas Metro, der pensionierte Deputy District Attorney Paul Masser, die empathisch begabte Genealogin Colleen Hatteras und Lou Rawls, der auf Drängen des Stadtrats dazugestoßen ist, mit an Bord. 
Die Zusammenarbeit im Team läuft nicht ganz reibungslos, auch nicht zwischen Ballard und Bosch, doch dann hat Bosch eine Idee, die zunächst dem Pearlman-Mord neuen Schwung verleiht, denn ein Wahlkampfbutton bringt den Fall mit einem weiteren ungeklärten Mord in Verbindung… 
„Die Wahlen von 2005 hatten am 8. November stattgefunden, nur drei Tage nach dem Mord an Laura Wilson. Irgendwann während des Wahlkampfs hatte sie einen Unterstützerbutton bekommen, der in ihrer Krimskramsschublade gelandet war. Was, wenn überhaupt etwas, bedeutete das? War es Zufall, dass Laura Wilson einen Button bekommen hatte, der für einen Kandidaten warb, dessen Schwester elf Jahre zuvor von dem Mann ermordet worden war, der auch sie umbringen sollte?“ (S. 106) 
Michael Connelly zählt zu den ganz wenigen Thriller-Autoren, die trotz jahrelanger Erfolgswelle nie oder sehr selten an Qualität einbüßen. Das liegt vor allem daran, dass er seine Ermittler nicht nur interessante Fälle bearbeiten lässt, sondern in der detaillierten Beschreibung des Polizeialltags, ohne dabei den langweiligen Aspekten wie stundenlanger Beschattung zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Stattdessen lässt Connelly sein Publikum den Ermittlern über die Schulter schauen, so dass man sich als Leser und Leserin mitten im Geschehen glaubt. Dazu gewährt der Autor tiefe Einblicke in die Politik der Strafverfolgung, wenn etwa wichtige Entscheidungen ausgesessen werden, bis eine entscheidende Wahl erfolgt ist und sich die politische Stimmung verändert hat. 
Connelly versteht es geschickt, die Fälle Pearlman und Gallagher parallel laufen zu lassen, um zum Finale hin die Zügel zu straffen und die Handlung mit etwas Action und Spannung zu würzen. So lässt man sich als Krimi- und Thriller-Fan gern unterhalten! 

John Katzenbach – (Dr. Frederick Starks: 3) „Die Familie“

Donnerstag, 29. August 2024

(Droemer, 636 S., Pb.) 
Als ehemaliger Gerichtsreporter für „The Miami Herald“ und „The Miami News“ waren die menschlichen Abgründe das tägliche Brot von John Katzenbach, und wie sein Kollege Michael Connelly avancierte der Sohn einer Psychoanalytikerin und des früheren US-Justizministers Nicholas Katzenbach aus dieser „Schule“ zu einem der besten Thriller-Autoren seiner Zeit. Drei seiner Romane wurden sogar schon verfilmt (als „Das mörderische Paradies“, „Im Sumpf des Verbrechens“ und „Das Tribunal“). Nun legt Katzenbach mit „Die Familie“ den Abschluss seiner Trilogie um den Psychoanalytiker Dr. Frederik Starks vor, die mit „Der Patient“ und „Der Verfolger“ ihren Anfang nahm. 
Eigentlich sollte der einst in New York erfolgreich praktizierende Psychoanalytiker Dr. Frederik Starks schon vor 15 Jahren unter den Toten weilen. Am Abend seines 53. Geburtstags wurde er von einem Psychopathen, der sich „Rumpelstilzchen“ nannte, per Brief zu einem tödlichen Spiel aufgefordert, bei dem er in einer Frist von 15 Tagen die Identität des Briefeschreibers lüften muss, sonst würde er Dr. Starks Familie umbringen – es sei denn, der Psychiater beendet selbst sein eigenes Leben. 
Nachdem er seinen eigenen Tod überzeugend vorgetäuscht und sich in Miami ein neues Leben aufgebaut hatte, haben ihn die drei überlebenden Mitglieder der diabolischen Familie jedoch nach fünf Jahren erneut ausfindig gemacht und ihn in ein weiteres perfides Spiel verwickelt, das er mit knapper Not überlebte. Seine Hoffnung, dass seine Peiniger damals das Zeitliche gesegnet haben, war jedoch verfrüht, denn nun hat sich ein Unbekannter, der sich Zerberus nennt, in seinen Computer gehackt und konfrontiert ihn mit einer Aufgabe, die ganz in das Schema seiner früheren Peiniger passt: Starks hat vierzehn Tage Zeit, aus den zwölf Patienten, die Zerberus ihm auflistet, den einen herauszufinden, der Selbstmord begehen will, und diesen verhindern, sonst werden die beiden letzten beiden Menschen, die ihm noch am Herzen liegen, getötet. 
Indem er seine zwölf ehemaligen Patienten abtelefoniert, stößt er auf Alexander Williams, der sich einen Namen als Kriegsfotograf gemacht hatte, von sich aus die Therapie beendete und nun nicht auffindbar zu sein scheint. Die Suche nach ihm entwickelt sich zu einer ausgetüftelten Schnitzeljagd, bei der Starks einmal mehr von den schauspielerischen Qualitäten seiner Peiniger überrascht wird. Schließlich findet er in Williams‘, bei einer Sekte untergekommener Schwester Annie und dem ebenfalls dort lebenden Teenager Owen zwei wichtige Verbündete im Wettlauf gegen den Tod. Mit ihnen zusammen will Starks den Spieß umdrehen und selbst das Überraschungsmoment für sich nutzen… 
„Sie hatten geschafft, was nur wenigen Killern gelang: Jeden seiner Instinkte, seine Ausbildung, seine Erfahrung und seine Persönlichkeit hatten sie gegen ihn selbst in Stellung gebracht, bis er langsam, aber sicher das Gefühl bekam, nicht länger gegen sie zu kämpfen, sondern ein unfreiwilliger Akteur in ihrer Inszenierung zu sein. Scheinwerfer. Kamera. Action. Auftritt auf Kommando, Bühne links. Es schien ausweglos. Ich schlafwandle in meinen eigenen Tod.“ (S. 481f.) 
Sechzehn Jahre sind zwischen den Veröffentlichungen der ersten beiden Dr.-Starks-Romane „Der Patient“ und „Der Verfolger“ vergangen. Für „Die Familie“ hat Katzenbach „nur“ sechs weitere Jahre gebraucht. Man muss die ersten beiden Bände der Trilogie nicht unbedingt kennen, um „Die Familie“ lesen und verstehen zu können – dafür rekapituliert der Autor die wesentlichen Story-Elemente der vorangegangenen beiden Werke ausführlich genug, um ein Gefühl für das Wesen der Widersacher von Dr. Starks zu bekommen. 
Die Zeit, die sich Katzenbach genommen hat, um einen raffiniert durchdachten Schlussakkord für seine Trilogie zu setzen, kommt „Die Familie“ sehr zugute, denn auch wenn einige Elemente des Plots sehr konstruiert wirken, bekommt das Publikum eine Story serviert, die komplizierte Wendungen nimmt, um am Ende doch recht vorhersehbar zu enden. 
Im Vergleich zu Bestsellerautoren wie James Patterson und Lee Child, die ihre Protagonisten jedes Jahr ein neues, zusehends uninspiriertes „Abenteuer“ erleben lassen, wirkt Katzenbachs Arbeit weit substanzieller und anspruchsvoller – auch mit seinem achtzehnten hierzulande veröffentlichten Roman. Dafür sorgen vor allem die psychologisch stimmigen Figuren, denen viel Raum zur Entwicklung gegeben wird.

Andrew O‘Hagan – „Caledonian Road“

Donnerstag, 22. August 2024

(Ullstein, 784 S., HC) 
Der aus Glasgow stammende Andrew O’Hagan ist hierzulande kaum bekannt, doch das könnte sich mit seinem epischen Gesellschaftsroman „Caledonian Road“ ändern. Dabei veröffentlichte er bereits 1995 mit „The Missing“ sein erstes Buch, nachdem er vier Jahre dem Redaktionsstab von „London Review of Books“ angehört hatte. Seither folgten sechs Romane, zwei weitere Sachbücher und als Ghostwriter die unautorisierte Biografie von Julian Assange. „Caledonian Road“ ist nach „Mayflies“ der siebte Roman des Schotten und setzt sich auf kluge Weise mit dem auseinander, was in der heutigen britischen Gesellschaft schiefläuft. 
Der 52-jährige, in London lebende Kunsthistoriker Campbell Flynn befindet sich im Mai 2021 auf der Höhe seines intellektuellen Schaffens. Sein während des Lockdowns erschienene Biografie über den niederländischen Maler Vermeer entwickelte sich zu einem Bestseller, sein BBC-Podcast „Kultur und ihre Unzulänglichkeiten“ erreichte auch ein jüngeres Publikum, und in der Aktentasche wartet bereits das Manuskript für sein nächstes Projekt. 
Dennoch könnte die Welt rosiger aussehen. Zwar konnte Flynn die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, hinter sich lassen und mit der Psychotherapeutin Elizabeth, der 54-jährigen Tochter einer Gräfin, als Frau Eingang in die bessere Gesellschaft finden, doch verfügt er längst nicht über die finanziellen Mittel, die ihm seiner Meinung nach zustehen sollten. Dazu kommt, dass ausgerechnet sein bester Freund, der Kaufhauskönig Sir William Byre, in einen üblen Finanzskandal verwickelt ist, der immer größere Wellen schlägt, zumal bekannt wird, dass er eine 23-jährige Frau, der er eine Wohnung gekauft hat, misshandelt haben soll. Byre hat seinem Freund Flynn nicht nur mit einem großzügigen Darlehen ausgeholfen, sondern seinerseits zwielichtige Geschäfte mit den Russen gemacht, die durch den Ukraine-Krieg natürlich nicht mehr besonders angesehen sind. 
Abhilfe soll Flynns neues Buch schaffen, wobei „Männer, die in Autos weinen. Die Krise der männlichen Identität im 21. Jahrhundert“ unter dem Pseudonym des bekannten Schauspielers Jake Hart-Davis erscheinen und Millionen einbringen, doch Hart-Davis macht in Interviews zum Buch eine schlechte Figur und proklamiert einen Männer-Begriff, der in der Öffentlichkeit angesichts der MeToo-Bewegung gar nicht gut ankommt, denn Männer seien eigentlich Opfer. Einen Ausweg aus dem Dilemma scheint ihm der Student Milo Mangasha anzubieten, der Flynn in die Welt des Darknets, der Deepfakes und zwielichtiger Geschäfte mit Kryptowährungen einführt. Nach ahnt er nicht, dass er selbst nur ein Spielball von Kräften darstellt, über die er keine Kontrolle besitzt… 
„Er hatte immer recht unbekümmert über das Gute geschrieben, über Wahrheit und Harmonie, aber hatte er sich von diesen Dingen nicht in Wirklichkeit weit entfernt, und hatte er jetzt noch eine andere Wahl, als einen Weg zurück zu finden? Heuchler leben davon, dass sie ihre Position gegen die äußere Realität verteidigen, das wusste er, aber in diesem Jahr, in diesem Frühling, war es Campbell klar geworden, dass er das mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ 
Allein die Tatsache, dass O’Hagan seinem fast 800 Seiten umfassenden Roman ein Verzeichnis mit 60 Personen voranstellt, macht deutlich, dass es bei „Caledonian Road“ nicht nur um die Geschichte des Abstiegs eines Mannes geht, dem seine Eitelkeit und sein Unvermögen, mit Geld umzugehen, zum Verhängnis wird. Es geht auch darum, wie Geschäfte mit illegalen Einwanderern gemacht werden, wie die Verzweigungen der britischen Wirtschaft mit russischen Oligarchen den Brexit finanziert haben sollen. 
In leicht verständlicher Sprache streift O’Hagan die Welt der Galerien, der Medien, der Schleuser und der jungen Leute, die sich irgendwie orientieren wollen, gegen Korruption und Heuchelei ankämpfen und sich einen Platz in dieser Welt erobern wollen, ohne andere auszubeuten. Allerdings hat der Autor mit der immensen Herausforderung zu kämpfen, all seine Figuren so unterzubringen, dass man sie als Leser nicht aus den Augen verliert. Das gelingt ihm nur bei den wenigsten. 
Dazu findet sich in „Caledonian Road“ auch keine echte Identifikationsfigur, so dass man die beschriebenen Mechanismen in der Welt von heute zwar wahrnimmt, aber kaum Mitgefühl oder auch nur Sympathie für die Figuren aufbringt. Nichtsdestotrotz ist O’Hagan ein humorvolles und weitsichtiges Gesellschaftsportrait der von Lockdown und Brexit arg gebeutelten Briten gelungen. 

David Baldacci – „Gefährliches Komplott“

Sonntag, 11. August 2024

(Lübbe, 496 S., HC) 
Wie seine berühmten Kollegen James Patterson, John Grisham oder Stephen King hatte auch David Baldacci das Glück, seinen Erstlingsroman erfolgreich verfilmt zu sehen und so seine weitere Karriere als Schriftsteller in den Gefilden internationaler Bestsellerlisten zu erleben. Nachdem Baldaccis Romandebüt „Absolute Power“ aus dem Jahre 1996 bereits ein Jahr später von und mit Clint Eastwood in der Hauptrolle verfilmt worden war, schrieb der US-Amerikaner zwar weiterhin voneinander unabhängige Thriller (und gelegentlich auch etwas seichtere Stoffe), verlegte sich seit Anfang der 2000er Jahre aber beginnend mit dem Ermittler-Duo Sean King und Michelle Maxwell sowie dem Camel Club auf ganze Romanreihen. Mit „Gefährliches Komplott“ legt Baldacci nun einen Thriller mit einer charismatischen Protagonistin vor, der ebenfalls das Zeug besitzt, zu einer eigenen Reihe erweitert zu werden. 
Nach der Trennung von ihrem Mann, der das gemeinsame Bankkonto leergeräumt hatte und mit seiner Sekretärin durchgebrannt war, schlägt sich Mickey Gibson weitgehend allein mit ihren beiden Kleinkindern Darby und Tommy durch und ist froh, nach ihrem aufreibenden Job als Detective bei der Polizei nun bei ProEye meist im Homeoffice vermögende Steuer- und Kreditbetrüger aufzuspüren. Wenn sie dann doch mal das Haus für einen Auftrag verlassen muss, übernehmen Micks Eltern die Betreuung ihrer Kinder, so auch, als eine vermeintlich neue Mitarbeiterin namens Arlene Robinson bei ProEye sie damit beauftragt, zu einem alten Herrenhaus am James River in Virginia zu fahren, um dort eine Inventur der Inneneinrichtung durchzuführen. Doch als sie dort eintrifft und einen Mann tot vorfindet, entwickelt sich ihr Leben zu einer Tour de Force. 
Wie sich herausstellt, wurde der Mann vergiftet, und da sich Gibson nicht bei ihrem Chef wegen des Auftrags rückversichert hatte und nun feststellen muss, dass der Auftrag gar nicht von ProEye erteilt worden sei und es die neue Mitarbeiterin gar nicht gebe, sieht sich die ehemalige Polizistin nun selbst dem Verdacht ausgesetzt, etwas mit dem Mord an dem Mann zu tun zu haben, der zunächst als Daniel Pottinger identifiziert wird, hinter dem allerdings der Mafiabuchhalter Harry Langhorne steckt. 
Gibson wird erneut von der Frau kontaktiert, die sich zunächst als Arlene Robinson vorgestellt hat, sich nun aber als Clarisse ausgibt und ihr nahelegt, weiterhin für sie zu arbeiten, da Langhorne offensichtlich eine Menge Mafiageld beiseitegelegt hat, nach dem etliche Leute her sind. Mickey Gibson ist sich unsicher, ob der ermittelnde Detective Wilson Sullivan wirklich auf ihrer Seite steht, bringt sich und ihre Familie durch die Arbeit an dieser Schatzsuche in Gefahr, aber auch auf Clarisse haben es mächtige Gegner abgesehen… 
Trotz seines beachtlich produktiven Outputs zählt David Baldacci noch zu den Bestseller-Autoren, die auch nach über fünfzig Romanen noch packende, interessante Geschichten mit faszinierenden Hauptfiguren zu erzählen wissen. Das trifft auch auf „Gefährliches Komplott“ zu, einen Thriller, der sich auf das Verwirrspiel mit Identitäten, dunklen Mafiageschäften und undurchschaubaren Finanzaktionen in den Tiefen des Internets fokussiert, aber genügend Raum für die Charakterisierung der beiden weiblichen Hauptfiguren lässt, die der Autor jeweils aus ihrer eigenen Perspektive erzählen lässt. 
Das ist nicht immer leicht nachzuvollziehen und birgt auch einige unnötige Längen, doch versteht Baldacci es souverän, die Spannung durchgehend auf einem hohen Niveau zu halten. Beim temporeichen Finale geht es wie so oft übertrieben hoch her, doch macht es neugierig, ob und wie es mit Mickey Gibson wohl weitergeht…  

Lee Child & Andrew Child – (Jack Reacher: 26) „Der Kojote“

Mittwoch, 7. August 2024

(blanvalet, 364 S., HC) 
Seit Lee Child 1997 mit „Killing Floor“ (dt. „Größenwahn“) seinen ersten Thriller um den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher veröffentlicht hat und gleich mit einem Anthony Award und einem Barry Award für den Besten Erstlingsroman ausgezeichnet worden ist, schiebt der britisch-US-amerikanische Autor in verlässlicher Regelmäßigkeit jedes Jahr ein neues Abenteuer seines Protagonisten nach, der es bislang auf zwei Kino-Einsätze – mit Tom Cruise in der Hauptrolle – und eine TV-Serie bei Amazon Prime gebracht hat. Dass es allerdings langsam ermüdend zu sein scheint, den per Anhalter oder Bus allein durch die USA reisenden Reacher mit immer neuen, halbwegs interessanten Fällen zu betrauen, kann kaum verwundern. Tatsächlich haben sich in den letzten Bänden bereits sichtliche Verschleißerscheinungen bemerkbar gemacht – vermutlich deshalb hat Child angekündigt, die Erfolgsreihe mittelfristig in die Hände seines Bruders Andrew zu geben. Der ist zwar auch schon selbst als Andrew Grant als Autor auf dem Markt präsent, hierzulande aber weitgehend unbekannt. Die zweite Zusammenarbeit der beiden Brüder lässt allerdings wenig Hoffnung auf eine reibungslose Übergabe mit neuen Entwicklungen…
Jack Reacher ist einmal mehr zu Fuß unterwegs, wie gewöhnlich ohne Gepäck, diesmal in der Wüste Arizonas, als er auf einen Jeep stößt, der gegen einen Baum geprallt ist und in dem der ehemalige Ermittler der Militärpolizei eine Frau vorfindet, die eigentlich den Männern auflauert, die über Informationen über ihren Bruder Michael verfügen. 
Der ist offensichtlich ein Bombenbauer, der für den zwielichtigen Geschäftemacher Dendoncker gearbeitet hat und nun nach einem kryptischen Hilferuf, den er seiner Schwester Michaela Fenton hinterließ, verschwunden ist. Wie Reacher erfährt, war die Frau, die eine Beinprothese trägt, bei einer Aufklärungseinheit in Wiesbaden stationiert und strebt nur noch danach, ihren Bruder aufzuspüren und Dendoncker auszuschalten. Der scheint mit seinem Cateringdienst, der auf Bordverpflegung spezialisiert ist, Drogen und Waffen zu schmuggeln. Reacher beschließt, der Frau zu helfen, und gerät dabei selbst in die Fänge des skrupellosen Geschäftsmanns, der eine offene Rechnung mit einem Konkurrenten begleichen will und dafür eine raffiniert konstruierte Bombe zum Einsatz bringen will. Um das zu verhindern, muss Reacher volles Risiko gehen, denn mittlerweile haben Dendonckers Schergen auch Michaela in ihre Gewalt bringen können… 
„Ich sollte seine Schmutzarbeit für ihn erledigen. Sein Gerät an den vorgesehenen Ort bringen. Bis dahin würde er Fenton leben lassen. Dann würde er sie liquidieren – und mich ebenfalls. Vielleicht war unter seinem Truck eine Sprengladung angebracht. Vielleicht würde mir jemand mit einem Scharfschützengewehr auflauern. Jedenfalls gab es kein Szenario, in dem er Fenton und mich am Leben lassen konnte. Ich verstand Dendonckers Worte, als er seinen Plan erläuterte. Ob er jedoch meine verstand, als ich zustimmte, war die Frage. Die Antwort würde ihm nicht gefallen.“ (S. 270) 
Der 26. Jack-Reacher-Band „Der Kojote“ hat mehr als nur mit dem Problem der Glaubwürdigkeit zu kämpfen (denn wie wahrscheinlich ist es im Laufe der Jahre, dass Reacher bei seinen Wanderungen durch die USA stets in eine hochbrisante Situation gerät, die sich jeweils nur durch seine profunde Erfahrung als Ermittler und seine körperliche Schlagkräftigkeit lösen lässt?), sondern diesmal vor allem mit dem mehr als schleppenden Spannungsaufbau. 
Reacher und seine diesmalige Gefährtin Michaela Fenton werden zwar von der Mission getrieben, Michaela Bruder zu finden und Dendocker in die Schranken zu weisen, doch wird der Großteil des ohnehin nur 360 Seiten umfassenden Plots damit verbracht, minutiös die einzelnen Schritte zu beschreiben, die Reacher als Ich-Erzähler unternimmt. Zwar versuchen die Child-Brüder, ihren Helden immer mal wieder ein paar Fäuste schwingen und Tritte austeilen zu lassen, aber diese Action-Intermezzi reichen nicht aus, um das Interesse an dem Fall aufrechtzuerhalten. Zwar entschädigt das raffiniert konstruierte Finale etwas für die misslungene Dramaturgie, doch vielleicht ist es auch einfach mal an der Zeit, Reacher in Rente gehen zu lassen.  

Till Raether - „Treue Seelen“

Dienstag, 30. Juli 2024

(btb, 352 S., HC) 
Till Raether ist zwar mit einer Reihe von Kriminalromanen um den Hamburger Kommissar Danowksi und seinen Kolumnen und Artikeln in der „Brigitte“ und dem „SZ Magazin“ bekannt geworden, doch mit seinem Roman „Treue Seelen“ kehrt der 1969 in Koblenz geborene Autor ins Westberlin seiner Jugend zurück und lässt anhand zweier Beziehungen und einer Affäre die Lebenswelten im West- und Ostberlin nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl auferstehen. 
Die aus dem Rheinland stammenden und seit der Ersti-Fete an der Uni liierten Barbara und Achim hat es vor allem beruflich nach Berlin gezogen. Dort war nämlich eine Stelle als Pyrotechniker in leitender Funktion beim Bundesamt für Materialprüfung ausgeschrieben. Es winkten eine lukrative Berlinzulage und Verbeamtung nach sechs Monaten. 
Doch vor allem Barbara setzt die Spießigkeit in der Nachbarschaft und die Eintönigkeit in der viel zu großen Wohnung in Zehlendorf zu, während sie weiter Umzugskisten auspackt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, wenn er zusammen mit der ehemaligen Punkerin und jetzigen Laborantin Sonja Dobrowolski genügend Feuerwehrraketen getestet hat. Die Angst um radioaktive Strahlen setzt ihr so zu, dass es nur noch Fertiggerichte gibt und schließlich an Trennung denkt. So hat sie sich das dann doch nicht vorgestellt. Achim wiederum verliebt sich in die zehn Jahre ältere Nachbarin Marion, die vor dem Mauerbau aus Ost- nach Westberlin geflüchtet ist und nun in Dahlem im PX-Store der US-Army arbeitet, während ihr Mann Volker beim Bundesgrenzschutz angestellt ist. 
Zunächst begegnen sich Achim und die zweifache Mutter auf dem Dachboden beim Wäscheaufhängen, dann unternehmen sie Ausflüge an Orte, an denen sie wahrscheinlich nicht erkannt werden, sogar in den Osten, wo sie Marions Schwester Sybille wiedersehen. Als Achim heimlich einen aus dem Labor entwendeten Geigerzähler zerlegt in einer Märklin-Modelleisenbahn nach Ost-Berlin schmuggelt, gerät die Geschichte aus den Fugen… 
„Es begann eine Woche, in der sie einander aus dem Weg gingen. Am ersten Morgen dachte Achim noch: Na ja, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hat. Am ersten Morgen dachte Marion noch: Na, wie sieht es denn jetzt aus, wo ich mal eine Nacht nicht darüber geschlafen habe. Aber es sah nicht so gut aus, fand sie. Das war doch alles ihrs. Das hatte sie doch gerade alles erst zurückbekommen, ganz mühsam hatte sie einen winzigen Zipfel von dem erhascht, was mal gewesen war und was in Zukunft vielleicht irgendwie wieder sein könnte, oder einen Zipfel von etwas ganz anderem, Neuem, nicht mal das wusste sie, und dann kam er.“ (S. 305) 
Bereits mit der ersten Seite steckt Till Raether das Terrain seines Romans „Treue Seelen“ ab. Die Tatsache, dass zweiunddreißig Menschen direkt bei der Kernschmelze eines Reaktors in Tschernobyl gestorben und halbe Million Sowjets komplett verstrahlt seien, hätte fast das Hoffest ausfallen lassen, doch Feste sollten gefeiert werden, wie sie fielen, und niemand wollte wirklich auf den berühmten Zwiebeldip von Frau Sudaschefski verzichten. Raether fängt die Stimmung des geteilten Berlins inmitten des Kalten Krieges absolut authentisch ein und inszeniert vor diesem Hintergrund eine absolut gewöhnliche Liebesgeschichte, die jedoch in aller Heimlichkeit ausgelebt werden muss, da die beiden Protagonisten doch noch anderweitig liiert sind. 
Es ist auch weniger die Liebesgeschichte, die „Treue Seelen“ interessant macht, sondern die Vermittlung des Lebensgefühls, der enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen, die die Jugend aus der Provinz mit der Metropole verknüpft, in der immerhin auch David Bowie gewirkt hat. Doch abseits der Kreuzberger Szene und anderer Schmelztiegel ist das Leben in West-Berlin eben doch vor allem eins: eng und spießig. Da lässt sich auch schwer eine neue Liebe entfalten, zumal noch einige Altlasten mitgetragen werden. So bildhaft und authentisch das Leben in Berlin Mitte der 1980er auch geschildert wird und so anschaulich Raether mit der Sprache spielt, verliert „Treue Seelen“ gerade im letzten Drittel an Sogkraft, wenn der politische Widerstand im Untergrund in Ost-Berlin thematisiert wird und die Beziehung zwischen Achim und den beiden Schwestern Marion und Sybille den Plot zerfasern lässt. 
Am Ende hat Raether ein wenig zu viel gewollt und probiert, Liebesgeschichte und Heimatkunde, Zukunftsängste und Agenten-Thriller – hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.