Annalena McAfee – „Blütenschatten“

Mittwoch, 28. April 2021

(Diogenes, 336 S., HC) 
Eve Laing steht im Alter von sechzig Jahren eigentlich am Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hat sich vom Status der Muse des berühmten Malers Florian Kiš zu einer weithin anerkannten Künstlerin etabliert, die mit einigen Assistenten und Gehilfen in ihrem Atelier in East London an einer Retrospektive arbeitet, die ihren prominenten Status in der Kunstwelt zementieren soll. Doch vor fünf Monaten hat sie die Ehe mit dem berühmten Architekten Kristof Axness durch eine Affäre mit ihrem gerade mal dreißigjährigen Gehilfen Luka und damit ihr Leben in den Sand gesetzt. 
Bei einem Spaziergang durch das nächtliche London lässt sie ihr Leben Revue passieren. Sie denkt an ihre Zeit nach der Kunstakademie zurück, als sie in New Yorks Lower East Side davon träumte, sich als Künstlerin zu behaupten, und dann mit dem zehn Jahre älteren, vielversprechenden Architekten Kristof zurück nach Europa ging, wo sie ihre gemeinsame Tochter Nancy zur Welt brachte, aber auch schnell das Gefühl bekam, im Schatten ihres aufstrebenden Mannes und unter den Anforderungen des Familienlebens zu schrumpfen. Zwar hatte sie mit dem georgianischen Einfamilienhaus Delauney Gardens bereits der Gipfel an Wohnkomfort in ihrem Leben, doch leben Kristof und sie aneinander vorbei, jeder für sich in seiner Karrieregestaltung gefangen, in der private Nähe nicht mehr möglich scheint. Da kommt ihr der junge Luka gerade recht, mit dem sie zunächst unbemerkt von ihrem stets beschäftigten Mann auch die Nächte in ihrem Atelier um die Ohren schlägt. 
Die Affäre, in die sie sich mit aller Leidenschaft stürzt, tut ihr gut, fließt auch energetisch in ihre Arbeit ein, die Luka mit der Kamera einfängt und sie dabei interviewt. Doch das Glück bekommt erste Risse, als Luka immer kritischere, fast schon beleidigende Töne bei seinen Fragen anschlägt, als sie die Ausstellung ihrer verhassten, aber weitaus erfolgreicheren Rivalin Wanda Wilson besucht und böse vorgeführt wird. Noch klammert sich Eve an die Aussicht auf eine erfolgreiche Ausstellung, an die leidenschaftliche Affäre, während sich am Horizont finstere Wolken zusammenbrauen … 
„Nachdem sie ein Leben lang darum gekämpft hatte, ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem häuslichen Leben und den Anforderungen der Arbeit zu finden, entschied sich Eve für die Arbeit, ließ die Zügel fahren und genoss das köstliche Ohnmachtsgefühl des freien Falls in ihr Inneres. Sie pfiff auf Konventionen und Gewissensbisse. Das war alles, was zählte, hier wollte sie sein – in der anschwellenden Woge von Kreativität und Sinnlichkeit.“ (S. 233) 
Als Gründerin der Kunst- und Literaturbeilage des „Guardian“ und Feuilletonredakteurin bei der „Financial Times“ kennt die aus London stammende und mit ihrem berühmten Mann Ian McEwan in der Nähe von London lebende Annalena McAfee die Kunstszene Londons wie kaum eine Zweite. Wenn sie aus der Perspektive ihrer eher unsympathischen, selbstverliebten und arroganten Protagonistin das Ringen um Anerkennung, den abschätzenden Blick auf Konkurrentinnen und erfolgsverwöhnte Männer schildert, wirkt das ebenso glaubwürdig wie die Beschreibungen ganz handwerklicher Tätigkeiten, das Vorbereiten der Leinwände, das Anmischen der Farben, die Bestückung der Herbarien. 
Doch weit spannender als der Einblick in das künstlerische Schaffen sind die Innenansichten einer alternden Künstlerin, die durch die Affäre mit einem halb so alten Mann ihrer Karriere und ihrem Leben noch einmal die Leidenschaft und den Schwung verleihen will, der sie durch den Alltag an der Seite eines international berühmten und nach wie vor gefragten Architekten etwas im Schatten verschwinden ließ, aus dem sie mit aller Kraft heraustreten möchte. Ein nächtlicher Spaziergang dient als erzählerischer Rahmen für den weitschweifigen, doch stets unterhaltsamen Rückblick auf Eve Laings Leben und Karriere. 
Schon früh zeichnet sich das Drama ab, auf das sie hier zusteuert und das letztlich das Ergebnis fataler Fehleinschätzungen wirkt. Dazu zählt die Tatsache, dass sie als Florians Muse nur eine von vielen kurzweiligen Geliebten des berühmten Malers gewesen ist, dass ihre ehemalige Kommilitonin Wanda mit ihrer spektakulär inszenierten Aktionskunst viel erfolgreicher geworden ist als sie selbst, dass sie das Leben ihrer Tochter als Influencerin nicht ernst nehmen kann. 
Zwar braucht „Blütenschatten“, McAfees dritter Roman nach „Zeilenkrieg“ und „Zurück nach Fascaray“, etwas Anlaufschwung, aber sobald die Figur der Blütenmalerin durch ihre Selbstbeschreibungen an Kontur gewinnt, entwickelt sich ein in sich stimmiges Portrait einer nach Ruhm und Anerkennung lechzenden Künstlerin, die mit ihren Stillleben wie das Relikt einer vergangenen Epoche wirkt. 
Im Gegensatz dazu sprechen ihre Tochter Nancy und ihre Erzfeindin Wanda mit der Verwendung neuer Medien und sinnlich direkt ansprechender Präsentation den Geschmack des modernen Publikums viel direkter an. Das vorhersehbare Ende macht aber auch deutlich, wie schnell eine mühsam aufgebaute Karriere aufgrund von Selbsttäuschung und Fehleinschätzung in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen kann.  

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 6) „Münsters Fall“

Samstag, 17. April 2021

(btb, 318 S., HC) 
Nachdem sich Hauptkommissar Van Veeteren auf unbestimmte Zeit zur Ruhe gesetzt hat und es nun in einem Antiquariat weitaus entspannter angehen lässt, hat sein ehemaliger Kollege Kommissar Münster bei der Kriminalpolizei in Maardam alle Hände voll zu tun, den bestialischen Mord an dem 72-jährigen Rentner Waldemar Leverkuhn aufzuklären. Bei 28 Messerstichen gehen die Ermittler von einer ungeheuren Wut aus, die der Täter/die Täterin gegenüber dem Opfer empfunden haben muss, doch weder die Befragungen von Leverkuhns Freunden, mit denen er am Abend zuvor im Freddy’s den Gewinn der Lottogemeinschaft in Höhe von 20.000 Gulden feucht-fröhlich gefeiert hatte, noch seiner Frau und den Nachbarn deuten in eine dementsprechende Richtung. Es lassen sich auch keine Zeugen für den Zeitraum zwischen dem Verlassen der Kneipe bis zur Entdeckung der Leiche durch seine Frau Marie-Louise finden, die den Abend bei ihrer Freundin und ehemaligen Arbeitskollegin Emmeline von Post in Bossingen verbracht und ihren Mann bei ihrer Heimkehr entdeckt hatte, allerdings erst gegen Viertel vor drei nachts die Polizei informierte. 
Dann verschwinden zwei weitere Menschen in diesem Zusammenhang, Felix Bonger, einer von Leverkuhns Freunden aus der Tippgemeinschaft, und Leverkuhns Nachbarin Else van Eck. Da auch Leverkuhns Kinder wenig über ihr Verhältnis zu ihrem Vater verlauten lassen, ist Münster so ratlos, dass er schließlich Van Veeteren um Unterstützung bittet. 
Als Leverkuhns Frau plötzlich den Mord an ihrem Mann gesteht, erklärt sich der alte Hauptkommissar a.D. bereit, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Er ist sich sicher, dass Frau Leverkuhn unschuldig ist und mit ihrem Geständnis jemanden schützen will. Während Münster und seine Kollegin Ewa Moreno noch einmal die Kinder des Opfers nach Hintergründen zu ihrem Vater befragen wollen, kommen sich die beiden auch persönlich näher, was die Arbeit nicht unbedingt leichter macht: Morena hat sich gerade von ihrem Freund Claus getrennt, der sich allerdings droht umzubringen, und Münster hat sich mit seiner Frau Synn auch schon etwas auseinandergelebt. Um in dem schwierigen Fall voranzukommen, versucht sich Münster noch einmal an Van Veeterens Ermittlungsgrundsätze zu erinnern … 
„Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive. Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte. Das Muster. Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle.“ (S. 75) 
In seinem sechsten Fall bleibt der kauzige Hauptkommissar Van Veeteren einmal außen vor, überlässt seinem jungen Kollegen Münster die Hauptbühne und zieht sich als nahezu stiller Beobachter hinter die Kulissen zurück. Münster ergeht es allerdings nicht besser oder schlechter als seinem in vielen Dingen verehrten Vorbild, denn so trostlos und brutal das Leben eines 72-Jährigen sein Ende findet, so mühsam und ergebnislos tappen Münster, Moreno & Co. durch die Ermittlungen, die letztlich zur Aufdeckung eines erschütternden Familiengeheimnisses führen, das sich bereits in den ersten Beobachtungen andeutet, dass die drei Leverkuhn-Kinder kaum Kontakt zu ihren Eltern gepflegt haben. 
Es sind auch weniger die schleppenden Ermittlungserfolge, die „Münsters Fall“ lesenswert machen, sondern die menschlichen Tragödien von fast Shakespeare’schen Ausmaßen, die sich nicht nur in der Familie des Ermordeten entfalten, sondern auch im Leben der Ermittler – wenn da auch in weitaus alltäglicheren Dimensionen. Nesser erweist sich einmal mehr als ebenso feiner Stilist wie Erzähler, der in gemächlichem Tempo den Fall zwar immer im Auge hat, aber vor allem ein Gespür für seine Figuren entwickelt und ihre Beziehungen zueinander. Wie hier Liebe und Eifersucht, Freiheit und Abhängigkeit, Schuld und Sühne, Mut und Verantwortung thematisiert und sogar immer wieder mit einem Hauch von Humor aufgelockert werden, macht „Münsters Fall“ eher zu einem gelungenen Drama als zu einem konventionellen Krimi.  

Stewart O‘Nan – „Sommer der Züge“

Sonntag, 11. April 2021

(Rowohlt, 478 S., HC) 
Als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich James Langer mit seiner Frau Anne und ihrem Sohn Jay auf den Weg nach Montauk, Long Island. In diesem Sommer des Jahres 1943 geht es für die Langer-Familie aber nicht nur darum, Abschied vom Familienoberhaupt zu nehmen, sondern die tief liegenden Wunden zu heilen, die die Ereignisse der letzten Zeit mit sich brachten. James hat durch seine Affäre mit seiner sechzehnjährigen Schülerin Diane nicht nur seinen Job, sondern auch das Vertrauen seiner Frau verloren. Anne wiederum rächt sich an ihrem Mann durch eine Affäre mit dem jungen Soldaten Martin, fühlt sich dadurch aber nicht wirklich besser, denn über allen persönlichen Krisen liegt die am schwersten wiegenden Tatsache, dass ihr ältester Sohn Rennie im Krieg gegen die Japaner auf der Aleuteninsel Attu kämpft, während seine Verlobte Dorothy in San Diego sein Kind zur Welt bringt. 
Seit Wochen haben die Langers nichts mehr von Rennie gehört, der im Gefecht schwer verwundet wird, aber überlebt. Als er nach Hause kommt, fehlen ihm meist die Worte, was nicht nur an dem mit Draht zusammengeklammerten Kiefer und der schlecht sitzenden Gebissprothese liegt, sondern auch an den traumatischen Erinnerungen an einen Krieg, an dem er nie teilnehmen wollte. 
Derweil hofft James, dass ihm seine Frau irgendwann seinen Fehltritt verzeiht, dass sie mit der Rückkehr nach Galesburg gemeinsam wieder zu dem Leben zurückkehren können, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten. 
„An seine eigenen Versöhnungsbemühungen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an die Trauer um Diane. Schweigen, Autofahrten. Anne hatte den Grund wissen wollen, und was hätte er ihr sagen sollen? Er hatte sich selbst nicht mehr erkannt. Er hatte sich gefühlt, als wäre er aus einem Rausch erwacht, voll Reue und doch erstaunt, dass er so lange ohne Bewusstsein gewesen war. Er glaubte zu sehen, dass Anne langsam erkannte, wo sie stand und was sie getan hatte.“ (S. 462) 
Stewart O‘Nan hat sich bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Engel im Schnee“ und „Die Speed Queen“ als einfühlsamer wie präziser Erzähler erwiesen, der sich so tief in die inneren Welten seiner ganz alltäglichen Protagonisten eingräbt, dass sie seinem Publikum wie lebensechte Figuren vorkommen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume und Ängste jederzeit nachzuvollziehen sind. Auch sein 1998 veröffentlichtes Buch „A World Away“, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung mit dem etwas irreführenden Titel „Sommer der Züge“ erschienen ist, bringt die erstaunliche Fähigkeit des Autors zum Ausdruck, die problematischen Beziehungen innerhalb einer Familie zu sezieren, wobei diese größtenteils aus der Gewalt resultieren, die diese Menschen einander antun. 
Obwohl „Sommer der Züge“ in Kriegszeiten spielt und mit Rennie ein Familienmitglied aktiv in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan involviert ist, führt O‘Nan hier sehr schön vor, wie Rennie eigentlich den Kriegsdienst verweigert hatte und er sich erst für einen Kriegseinsatz als Sanitäter an der Front meldete, als einer seiner College-Freunde im Krieg umgekommen war. Zu dem Zeitpunkt übten seine Familie und die Kleinstädter aber schon so viel moralischen Druck auf den jungen Mann aus, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als seinen Teil zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.  
O‘Nan wechselt immer wieder die Erzählperspektiven, beschreibt sowohl die kleinsten Anzeichen, nach denen James bei seiner Frau sucht, dass sie ihn wieder an ihrem Leben teilhaben lässt, lässt Anne rekapitulieren, was sie dabei empfunden hat, als sie von dieser unmöglichen Affäre ihres Mannes erfahren hat und wie sie nun versucht, die Affäre mit Martin zu beenden. Rennie kommt mit seinen Erlebnissen an der Front und der schwierigen Wiedereingliederung ins Leben nach seiner Rückkehr ebenso zu Wort wie seine Verlobte, die schwanger in einer Waffenfabrik arbeitet und ebenso wie Rennies Eltern verzweifelt auf seine Rückkehr hofft. 
All das wird begleitet von wunderbar präzisen Beschreibungen des Alltags, der Natur ebenso wie der Musik und den Filmen im Kino, die Jay besucht. So entsteht ein zutiefst intimes, Leben und Tod, Gewalt und Liebe, Trost und Vergebung, Ende und Neuanfang austarierendes Familien- und Gesellschaftsportrait, wie es nur ein so begnadeter, vielseitiger Erzähler wie Stewart O‘Nan vorlegen kann.  

Michael Connelly – (Renée Ballard: 2, Harry Bosch: 21) „Night Team“

Samstag, 3. April 2021

(Kampa, 448 S., HC) 
Auch wenn Harry Bosch längst in Rente ist, kommt er doch nicht davon los, weiter in ungeklärten Fällen zu ermitteln, teils als Privatermittler, teils als Reservist für das San Fernando Police Department. Als er sich unbeobachtet in der Hollywood Division nach der Akte der fünfzehnjährigen Prostituierten Daisy Clayton sucht, wird er von Renée Ballard überrascht, einer einst beim Los Angeles Police Department in der Robbery-Homicide Division tätigen Detektivin, die zur sogenannten Late Show, der berühmt-berüchtigten Nachtschicht des LAPD, strafversetzt wurde, nachdem sie ihren damaligen Vorgesetzten Robert Olivas wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. Ballard ist neugierig, was Bosch an dem Fall so fesselt, und findet ihn so interessant, dass sie Bosch anbietet, ihn bei der Suche nach Daisys Mörder, der ihre Leiche in einem Müllcontainer entsorgt hatte, zu unterstützen, denn ihr stehen immerhin Mittel und Wege zur Verfügung, auf die Bosch als pensionierter Cop nicht zurückgreifen kann. 
In offizieller Mission untersucht Bosch darüber hinaus die Ermordung des früheren Gangsterbosses Cristobal „Uncle Murda“ Vega. Zwar kann Bosch das ehemalige Gang-Mitglied Martin Perez ausfindig machen, der auch zu einer Aussage gegen den mutmaßlichen Mörder Tranquillo Cortez bereit ist, doch wird dieser wenig später ermordet. Bei der Aufdeckung des Department-internen Lecks widerfährt Bosch die nächste Panne. 
Nach seiner Suspendierung kann sich Bosch nun ganz auf den Fall von Daisy konzentrieren, deren ehemals drogenabhängige Mutter bei ihm vorübergehend wohnt, wodurch er seine Tochter Maddie kaum noch zu sehen bekommt. Währenddessen ackert Ballard – immer wieder auch mit Bosch zusammen -die sogenannten „Filzkarten“ durch, auf denen die Ermittler Notizen zu den Interviews mit Zeugen eintragen. Dabei stößt sie auf einen Tatortreiniger, den sie sich einmal aus der Nähe betrachten will. 
„Mord war Mord, und Ballard wusste, dass jeder Fall die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Polizei verdiente. Aber die Ermordung einer Frau ging Ballard immer besonders nahe. Fast immer war bei den Fällen, mit denen sie sich befasste, extreme Brutalität im Spiel. Und fast immer waren die Täter Männer. Das hatte etwa Beunruhigendes und zutiefst Ungerechtes, das über die grundsätzliche Ungerechtigkeit eines gewaltsamen Todes hinausging. Sie fragte sich, wie Männer sich verhalten würden, wenn sie in dem beständigen Wissen lebten, allein wegen ihrer Größe und ihrer Konstitution jede Sekunde ihres Lebens dem anderen Geschlecht unterlegen zu sein.“ (S. 387) 
Seit Michael Connelly Anfang der 1990er Jahre mit „Schwarzes Echo“ seinen ersten Harry-Bosch-Roman veröffentlichte, kann er auf über 20 Bestseller mit seinem charismatischen, sturköpfigen und gerechtigkeitsliebenden Protagonisten zurückblicken, der mittlerweile nicht nur seit 2014 in der Amazon-Serie „Bosch“ Form angenommen hat, sondern auch ein Alter erreicht hat, in dem er gewiss einfach seine Altersruhe genießen könnte. 
Doch wie langjährige Bosch-Fans wissen, lassen dem ehemaligen Detective bei der Mordkommission des LAPD ungelöste Fälle auch nach Jahren keine Ruhe. Da Connelly bereits in früheren Romanen immer wieder Begegnungen zwischen seiner prominentesten Figur und anderen Protagonisten weiterer Reihen wie um Boschs Halbbruder Mickey Haller oder Terry McCaleb eingebaut hatte, darf sich nun auch Connellys neueste Erfindung, die in die Late Show versetzte Ermittlerin Renée Ballard, mit Bosch zusammen auf Verbrecherjagd machen. Dabei stehen zwei ganz unterschiedliche Fälle im Mittelpunkt, die allerdings zeigen, wie gut Ballard und Bosch miteinander harmonieren. 
Connelly beschreibt die oft ermüdende Polizeiarbeit wie gewohnt detailliert, aber ohne seine Leserschaft zu langweilen. Stattdessen bleibt das Publikum durch die akkurat geschilderten Ermittlungsschritte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse immer auf Augenhöhe mit Bosch und Ballard, denen der Autor jeweils eine eigene Erzählperspektive zuordnet. So wie Bosch und Ballard braucht auch der Leser einen langen Atem, bis die beiden Fälle zufriedenstellend gelöst sind. Dabei steht Bosch auch vor der moralischen Entscheidung, wie ein skrupelloser Killer wie Cortez der Gerechtigkeit zugeführt werden soll. 
Dass er letztlich den korrekten Weg wählt, bildet die Grundlage für weitere gemeinsame Ermittlungen von Ballard und Bosch. Auch wenn „Night Team“ nicht zu den allerbesten Werken aus Connellys Feder zählt - dazu entwickelt sich die Story zu geradlinig und kommt zu wenig Spannung auf - , liegt der Roman mit seinem authentisch wirkendem Plot und den glaubwürdigen und vielschichtigen Figuren weit über dem Genre-Durchschnitt. Auf weitere Romane von Michael Connelly – egal mit welchen Hauptfiguren – darf man sich also getrost freuen. 

 

William Boyd – „Trio“

Sonntag, 28. März 2021

(Kampa, 432 S., HC) 
Während ihr Mann Reggie im Sommer 1968 im britischen Brighton den Film mit dem schwülstigen Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ abgedreht, lässt sich seine Frau Elfrida Wing mal wieder einen neuen Romantitel einfallen. Seit sie vor zehn Jahren mit „Das große Spektakel“ ihren letzten Roman veröffentlichte, ist sie zu nichts anderem mehr fähig gewesen, als ihr Notizbuch mit möglichen Titeln für einen neuen Roman zu füllen, doch der einmal thematisierte und dann stets wiederholte Vergleich ihrer Werke mit denen von Virginia Woolf hat ihre eigene Produktivität letztlich zum Erliegen gebracht und sie in den Alkohol getrieben. Talbot Kydd produziert den Film, frönt dabei seinem Hobby der Fotografie, mit der er seine geheimen homosexuellen Neigungen ausleben kann. Die Dreharbeiten verlaufen allerdings nicht reibungslos. 
Die 28-jährige Hauptdarstellerin Anny Viklund beginnt eine Affäre mit ihrem Filmpartner Troy, einem Pop-Sänger, dessen abknickende Karriere durch den Film wieder in Schwung kommen soll. Als Annys Liebhaber, der französische Philosoph Jacques Soldat, überraschend am Set auftaucht, braucht er nur die beiden bei ihrem Filmkuss zu beobachten, um zu begreifen, dass die beiden etwas miteinander haben. Doch richtig kompliziert wird es für Anny, als ihr Ex-Mann Cornell Weekes nach seiner Flucht aus dem Gefängnis ebenfalls bei ihr auftaucht und sie um Geld bittet, damit er für immer untertauchen und aus ihrem Leben verschwinden kann. 
Als das FBI den flüchtigen Terroristen jedoch festnehmen kann und das Bargeld bei ihm entdeckt, droht die ganze Filmproduktion zu kippen. Elfrida, die zunächst noch mit großem Elan für ihren Roman über Virginia Woolfs letzten Tag ihres Lebens recherchiert, entdeckt, dass ihr ohnehin treuloser Mann eine Affäre ausgerechnet mit der zusätzlich an Bord geholten Drehbuchautorin Janet unterhält, was sie mehr als sonst erschüttert und zu alkoholinduzierten Halluzinationen führt … 
„Ich bin am Ende meiner Kräfte, gestand Elfrida sich ein, völlig am Ende. Ihre Ehe war eine schmähliche Farce, und sie war offenkundig nicht in der Lage, mehr als ein paar Zeilen jenes Romans zu Papier zu bringen, der sie doch retten, die Jahre des Schweigens ungeschehen und ihren Ruhm wiederbeleben sollte. Zu allem Überfluss war ihr Arm von winzigen Parasiten befallen, die sich an ihrer Haut gütlich taten. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte.“ (S. 350) 
Mit seinem neuen Roman „Trio“ taucht der in Ghana als Sohn schottischer Eltern und dann in Großbritannien aufgewachsene Bestseller-Autor William Boyd in die schillernde Welt einer Filmproduktion ein, zeigt aber von Beginn an auf, mit welch inneren Dämonen seine drei Hauptakteure zu kämpfen haben, auf die sich der Romantitel bezieht. Während die Schriftstellerin Elfrida Wing aber eher ihren eigenen, einsamen, durch freigebigen Wodka-Genuss vermeintlich leichteren Kampf gegen ihre Schreibblockade ausficht und sich durch ihre Recherche zum Selbstmord von Virginia Woolf selbst in eine ähnlich selbstzerstörerische Lage manövriert, sind die Beziehungen der Filmleute untereinander etwas komplizierter gestrickt. Dabei reichen Boyd nur wenige Hinweise auf die Machenschaften hinter den Kulissen, wo sich mit Geld und Erpressung alles regeln lässt, wo Stunt-Doubles für ausgerissene Hauptdarsteller etwas mehr eingesetzt werden als geplant und der ehemalige Pop-Star und Hauptdarsteller im Abspann des Films noch einen Titel singen darf, damit seine Karriere auch wirklich wieder einen Schub nach vorn bekommt. 
Auch wenn der Autor es versäumt, den interessanten Hintergrund der 1968er Bewegung mehr in seinem Plot zu berücksichtigen und auch nicht besonders tiefsinnig bei der Ausgestaltung seiner Figuren vorgegangen ist, ist ihm mit „Trio“ ein durchweg vergnüglicher Roman gelungen, der die moralischen Verfehlungen seiner Anti-Helden ebenso locker abhandelt wie die kurzfristigen Änderungen im Drehbuch und bei der Produktion. 
Am Ende spielen die drei Figuren nicht nur ihre Rollen als Kulturproduzenten, sondern auch in ihrem eigenen Leben. Boyd bringt diese anstrengenden Rollenwechsel ebenso ironisch wie temporeich voran, verändert durch kurze Kapitel stets die Erzählperspektiven und wirbelt so furios durch die teils tragisch verlaufenden Schicksale des Trios. 

John Grisham – „Der Regenmacher“

Dienstag, 23. März 2021

(Hoffmann und Campe, 576 S., HC) 
Nach den fünf – allesamt verfilmten! – Bestsellern „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“, „Der Klient“ und „Die Kammer“ legte John Grisham 1995 (zwei Jahre später in deutscher Übersetzung) mit „Der Regenmacher“ seinen nächsten großen Wurf vor. Mehr noch als in seinen vorangegangenen Werken inszeniert der ehemalige Rechtsanwalt und Abgeordnete den juristischen Kampf eines noch jungen und unerfahrenen Anwalts gegen einen mächtigen, mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Konzern. 
Gegen den Willen seines Vaters, einem ehemaligen Marineinfanteristen und Ingenieur, der seinen Sohn wegen Insubordination schon auf eine Militärschule zu schicken beabsichtigt hatte und eine immense Abneigung gegen Anwälte empfand, entschloss sich Rudy Baylor schon früh, selbst Anwalt zu werden. Ironischerweise kam sein Vater ums Leben, nachdem er von einer Leiter gefallen war, diese seine Firma verkaufte. Seine Mutter heiratete einen pensionierten Postbeamter, mit dem sie die 50.000 Dollar aus der Lebensversicherung mit Reisen in ihrem Winnebago durchbrachte. 
Im letzten Semester seines Jurastudiums belegt Rudy ausschließlich Vorlesungen, die nicht mit großer Arbeit verbunden sind, darunter das Seminar zu juristischen Problemen älterer Leute. Hier muss sich Rudy nur regelmäßig mit seinen Kommilitonen ins Cypress Gardens Senior Citizens Building begeben, um sich mit wirklichen juristischen Problemen wirklicher Menschen auseinanderzusetzen. Rudy bekommt es zunächst mit Miss „Birdie“ Birdsong zu tun, die ihr Testament zu ändern beabsichtigt. Ihrem derzeit gültigen Testament zufolge hat sie zwanzig Millionen Dollar zu verteilen, doch die bisher begünstigten Söhne und Enkelkinder sollen nun aus dem Testament gestrichen werden. Stattdessen soll der Großteil ihres Vermögens einem Fernsehprediger zugutekommen. Da Rudy völlig abgebrannt ist und er bislang vergeblich einen Job in einer der Anwaltskanzleien in Memphis an Land ziehen konnte, nimmt er Miss Birdies Angebot an, für eine sehr geringe Miete bei ihr in einer eigenen Wohnung auf ihrem Grundstück zu wohnen und sie dafür bei ihrer Gartenarbeit zu unterstützen. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitet Rudy allerdings ein anderer Fall, der an ihn herangetragen wird: Dot und Buddy Black berichten ihm, dass ihr Sohn Donny Ray an Leukämie erkrankt sei, doch obwohl sein Zwillingsbruder der ideale Spender für eine lebensrettende Knochenmarktransplantation wäre, habe es die Versicherungsgesellschaft Great Benefit mehrmals strikt abgelehnt, die Kosten in Höhe von 200.000 Dollar für die Operation zu übernehmen, obwohl dieser Eingriff in dem Vertrag nicht ausgeschlossen sei. Rudy holt sich Rat bei Professor Max Leuberg, der einen leidenschaftlichen Hass auf Versicherungsgesellschaften verspürt und in der Vergangenheit mit Verfahren zu tun gehabt habe, bei denen die Geschworenen die Versicherungen zu horrenden Strafen verurteilt hätten. 
Tatsächlich scheint dieser Fall zum Himmel zu stinken. Je mehr Rudy und seine Helfershelfer im Sumpf wühlen, desto mehr kommen sie einem ungeheuerlichen System auf die Spur, bei dem Great Benefit grundsätzlich alle größeren Ansprüche abweist und sich nur bei den Fällen auf eine Zahlung einlässt, wenn ihre Kunden mit Anwälten drohen. Da weder die Blacks noch Rudy sich auf einen Vergleich einlassen wollen, steht Rudy kurz nach seinem bestandenen Examen im Gerichtssaal, um gegen mehrere hochbezahlte, erfahrene Anwälte und ihren offensichtlich mit krimineller Energie vorgehenden Mandanten zu kämpfen … 
„So also sterben die Unversicherten. In einer Gesellschaft voll reicher Ärzte und funkelnder Krankenhäuser und mit den allerneuesten medizinischen Gerätschaften und dieser Unmenge von Nobelpreisträgern in aller Welt ist es empörend, dass jemand wie Donny Ray dahinsiechen muss und ohne angemessene ärztliche Behandlung sterben muss.“ (S. 348) 
John Grisham versteht es, seine Leserschaft schon mit den ersten Seiten zu packen und bis zum fulminanten Finale nicht mehr loszulassen. Indem er erstmals seinen Protagonisten als Ich-Erzähler einsetzt, bekommt das Publikum die Geschichte ausschließlich aus seiner Sicht zu hören, ohne dass beispielsweise beleuchtet wird, was beispielsweise die Gegenseite im Schilde führt. Dadurch hält Grisham die Spannung auf einem konstant hohen Niveau, denn der Leser befindet sich stets auf Augenhöhe mit seinem Helden, für den man nur Sympathie empfinden kann. Grisham und damit sein junger Protagonist nehmen sich viel Zeit, die Fälle von Miss Birdie und den Blacks aufzudröseln, wobei die Testamentsangelegenheit der alten Frau eher amüsantere Züge trägt, während das Schicksal des sterbenskranken Donny Way natürlich auch den Leser auf seine Seite zieht und klar Stellung gegenüber dem Versicherungskonzern bezieht. Allerdings strapaziert Grisham die Schwarz-Weiß-Malerei über Gebühr. 
Bei der Gerichtsverhandlung kommt letztlich keine wirkliche Spannung mehr auf, weil die Beweisführung so einseitig ausfällt, der Richter parteiisch ist und das Management von Great Benefit einfach nur genüsslich vorgeführt wird. Hier hätte ein wenig mehr Ausgewogenheit wesentlich zur Glaubwürdigkeit der Geschichte beigetragen. Davon abgesehen bietet „Der Regenmacher“ einen wunderbaren Einblick in die Nöte junger Prozessanwälte, die sich oft mit recht drögen Fällen abgeben müssen, um überhaupt ihre laufenden Kosten bezahlen zu können. Und natürlich steckt auch eine gute Portion, wenn auch wenig subtile Gesellschaftskritik in diesem Buch, das auf die Verfehlungen großer Konzerne ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Blick auf die Menschen, die sie eigentlich vertreten, verweist und den Schutzbedürftigen eine Stimme verleiht. 

 

Paul Auster – „Im Land der letzten Dinge“

Mittwoch, 17. März 2021

(Rowohlt, 200 S., HC) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat gleich mit seinem Debüt, der 1987 veröffentlichten, aus den Novellen „Stadt aus Glas“, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ bestehenden „New-York-Trilogie“ international für Aufsehen gesorgt. Noch im gleichen Jahr erschien der kompakte Roman „In The Country of Last Things“, der zwei Jahre darauf in deutscher Übersetzung bei Rowohlt veröffentlicht wurde. In diesem dystopischen Briefroman lässt Auster eine junge Frau namens Anna Blume in einer unbestimmten Zeit und an einem nicht näher benannten Ort verzweifelt nach ihrem Bruder William suchen. Der Journalist wurde von seiner Zeitung vor einiger Zeit in die „Stadt“ geschickt, von wo er wöchentlich Berichte abliefern sollte, historische Hintergründe und Geschichten aus dem Leben, doch nach ein paar kurzen Nachrichten ließ William nichts mehr von sich hören. 
Trotz aller Warnungen macht sich Anna daraufhin auf eine zehntägige Überfahrt mit dem Schiff, findet sich in einer Stadt voller Straßen und hungernden Menschen wieder, die ihrem elenden Leben auf verschiedenen Weisen ein Ende setzen wollen. Entweder schließen sie sich den „Rennern“ an, die sich regelmäßig zusammenfinden, um dann kreuz und quer solange durch die Straßen hetzen, bis sie tot umfallen, oder sie stürzen sich im Rahmen eines öffentlichen Rituals mit dem „Letzten Sprung“ von Hochhäusern. Sie treten Mordvereinen bei und wartet gegen eine geringe Gebühr darauf, von einem ihnen zugeteilten Attentäter ermordet zu werden. 
Wer über mehr Vermögen verfügt, kann sich auch in Euthanasiekliniken begeben, um sich mehr oder weniger luxuriös aus dem Leben zu verabschieden. Das unstete Klima, der allgegenwärtige Hunger, die grässliche Mischung aus Tod, Abfall und Fäkalien, die die Straßen verstopft und die oft gefährliche Art, sich als Materialjäger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sorgen für eine hoffnungslose Atmosphäre. Einziger Anhaltspunkt für Anna ist die Fotografie eines weiteren Reporters, die ihr Williams Chef auf ihre hoffnungslose Mission mitgegeben hat. 
Es dauert eine Ewigkeit, bis sie diesen Samuel Farr tatsächlich in einer heruntergekommenen Bibliothek entdeckt. Da ist der Mann nur noch ein Schatten im Vergleich zu der längst zerknitterten und ausgeblichenen Fotografie. Anna kommt bei dem Ehepaar Ferdinand und Isabel unter, übersteht in ihrer neuen Bleibe den harten Winter, muss sich aber der Zudringlichkeit des Mannes erwehren. Tags darauf liegt Ferdinand tot in einer Ecke, wird von Isabel und Anna, getarnt als Letzten Sprung, vom Dach des Hauses gestoßen. Als Isabel so schwer erkrankt, dass sie keine Nahrung, dann auch keine Flüssigkeiten aufnehmen und auch nicht mehr sprechen kann, besorgt ihr Anna ein Notizbuch, in das Isabel aber nur noch kurz etwas schreibt, bevor sie stirbt. Anna beschließt, das kaum benutzte Notizbuch zu nutzen, um ihrem alten Jugendfreund einen langen Brief von ihren Erlebnisse und Eindrücken in der „Stadt“ zu berichten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint …
„Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden.“ (S. 97) 
Es ist nicht nötig, dass Paul Auster in seinem ebenso schmalen wie eindringlichen Roman „Im Land der letzten Dinge“ Orte und Zeiten präzisieren muss. Die lebendige Schilderung dessen, was seine Protagonistin in ihrem Notizbuch als Brief an ihren Jugendfreund über die Zustände in der nach außen hin abgeriegelten „Stadt“ berichtet, führt dem Leser allzu deutlich vor Augen, dass es selbst in unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft jederzeit zu solch fürchterlichen Lebensumständen kommen kann, wenn beispielsweise von diktatorischen Staaten das Kriegsrecht verhängt worden ist und die Bevölkerung inmitten der Bombentrümmer am Verhungern ist. 
Auster lässt seine junge, aufopferungsvoll nach ihrem verschollenen Bruder suchende Anna Blume so einige Schicksalsschläge einstecken, aber irgendwie gelingt es ihr, all die Jahre zu überleben und Gefährten zu finden, die ihr das beschwerliche Leben angenehmer zu gestalten helfen. Selbst für Wohltätigkeit findet sich immer wieder eine Gelegenheit. Trotz des dystopischen Tons schleicht sich so durch die Augen der Briefschreiberin ein großes Maß an Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geschichte einer Suche, während der unglaubliche Zufälle dafür sorgen, dass es für Anna weitergehen kann. 
Die Warnung, die Auster trotz des Science-Fiction-Gewands seiner Geschichte mit seinem erschreckend realistisch wirkenden Szenario ausspricht, hallt jedenfalls lange nach. 

Stephen King - "Später"

Sonntag, 14. März 2021

(Heyne, 304 S., HC) 
Der neunjährige Jamie Conklin wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter Tia in Manhattan auf, wo sie in die Fußstapfen ihres Bruders, den an Demenz erkrankten Literaturagenten Harry, getreten ist. Dank der erfolgreichen „Roanoke“-Reihe des Bestseller-Autors Regis Thomas kommen Mutter und Sohn einigermaßen gut über die Runden, doch dann stirbt Thomas, bevor er den abschließenden Band seiner Reihe abgeschlossen hat. Doch Tia hat eine Lösung für das Problem parat: Außer ihr weiß niemand, dass ihr kleiner Schatz über die Fähigkeit verfügt, tote Menschen zu sehen – wie der kleine Cole in M. Night Shyamalans Mystery-Thriller „The Sixth Sense“. 
Im Gegensatz zum jungen Filmhelden kann Jamie die Verstorbenen aber nur für kurze Zeit in der Nähe des Ortes erkennen, an dem sie gestorben sind, oder bei ihrer Beerdigung bzw. an Lieblingsplätzen. Nachdem Jamie gerade erst dem emeritierten Universitätsprofessor Mr. Burkett verraten konnte, wo seine verstorbene Frau ihre Ringe versteckt hatte, soll der Junge nun von Regis Thomas in Erfahrung bringen, wie die unvollendete Geschichte ausgeht, schließlich gibt es noch einige Geheimnisse zu lösen, die als eine Art Cliffhanger den Erfolg der schlüpfrigen Buchreihe sichergestellt haben. Währenddessen hat sich Tia mit der Polizistin Liz eingelassen, doch als sie Drogen in ihrem Besitz findet, schmeißt Tia die von der Innenrevision ohnehin beobachtete Polizistin wieder vor die Tür. Jamies außergewöhnliche Fähigkeiten kommen aber immer wieder zum Einsatz, vor allem für Liz, die ihre im Niedergang befindliche Karriere wieder in Schwung bringen will, indem sie mit Jamies Hilfe die letzte, noch nicht detonierte Bombe des langjährig gesuchten Attentäters Therriault und schließlich die heiße Ware eines getöteten Drogendealers finden will. 
Im Gegensatz zu allen bisherigen Toten, die nach gut drei Tagen völlig verschwunden sind, wird Jamie von dem verrückten Bombenleger aber weiterhin belästigt … 
„Ich wusste, dass die Toten eine Wirkung auf Lebende haben konnten, das war keine Überraschung, aber immer wenn ich es zuvor gesehen hatte, war die Wirkung minimal gewesen. Professor Burkett hatte den Kuss seiner Frau wie einen Hauch gespürt. Liz hatte gespürt, wie Regis Thomas ihr ins Gesicht gepustet hatte. Aber das, was ich gerade erlebt hatte – die zerplatzende Lampe, der sich zitternd drehende Türknauf, der Kurier, der vom Fahrrad gestürzt war -, das hatte eine ganz andere Dimension.“ (S. 194) 
Stephen King ist nicht nur für apokalyptische Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“, die Saga um den „Dunklen Turm“ und „Die Arena“ berühmt geworden, er hat auch der literarischen Form der Kurzgeschichte wieder mehr Anerkennung verschafft und sich mit „The Green Mile“ erfolgreich an dem Experiment des Fortsetzungsromans versucht. 
In den vergangenen Jahren hat er gelegentlich auch kürzere Romane verfasst, die er als Hommage an die klassischen Pulp-Krimis versteht und bei Hard Case Crime veröffentlicht hat. Nach „Colorado Kid“ (2005) und „Joyland“ (2013) folgt nun der (vorerst?) abschließende Band „Später“. Dabei ist die Geschichte zunächst nicht besonders originell. Kings Ich-Erzähler, der als Zweiundzwanzigjähriger auf die Ereignisse zurückblickt, die ihm im Alter von neun Jahren widerfahren sind, macht keinen Hehl daraus, dass die Grundidee Shyamalans Horror-Blockbuster entlehnt ist, aber es scheint, dass dem Bestseller-Autor auch nicht in erster Linie an einer typischen Geister-Geschichte gelegen ist, sondern eher an dem mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Subtext. 
So wie schon in „Finderlohn“ rechnet King ganz offen mit den dubiosen Praktiken im Literaturbetrieb ab, wo sich Bestseller-Autoren den Gesetzen des Marktes unterwerfen und ihr Publikum mit einer Mischung aus exotischen Abenteuern und Sex unterhalten, wobei sie sich auch gern Ghostwritern bedienen, die dafür sorgen, dass der Strom an verkaufsträchtigen Geschichten nicht versiegt. Darüber hinaus hat King seine Geschichte sicher ganz bewusst in die Obama-Zeit des Jahres 2008 angesiedelt, als der Börsencrash dafür sorgte, dass unzähligen Menschen ihr Zuhause verloren, weil sie Opfer fauler Hypotheken geworden sind. Auch Jamie Conklins Familie war unter den Leidtragenden. Ausführlich lässt King seinen Protagonisten beschreiben, zunächst Onkel Harry, dann auch seine Mutter in einen vermeintlich lukrativen Fonds investierten und alles verloren. 
Daraus resultierend haben sowohl Jamies Mutter als auch ihre Freundin Liz einen extremen Egoismus entwickelt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da machen sie eben auch nicht davor Halt, die außergewöhnliche Gabe eines kleinen Jungen mit fast krimineller Energie auszunutzen. Neben diesen gesellschaftskritischen Tönen überzeugt „Später“ aber auch als geschickt konstruiertes Thriller-Horror-Drama, das am Ende ordentlich an Fahrt gewinnt und mit einer feinen Pointe überrascht, auch wenn sie nicht so stark ist wie im vage vergleichbaren Film „The Sixth Sense“.  

Daniel Woodrell – „Der Tod von Sweet Mister“

Samstag, 13. März 2021

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Der dreizehnjährige, von seinem Stiefvater Red meist nur als „Fettsack“ bezeichnete Morris „Shug“ Atkins wächst in den Ozarks, dem Hinterland von Missouri, auf und muss Tag für Tag miterleben, wie seine Umwelt vor die Hunde geht. Seine einstmals schöne Mutter Glenda hängt eigentlich nur and er Flasche, nennt den Rum-Cola-Mix, den ihr Shug regelmäßig in eine Thermoskanne abfüllen muss, verniedlichend nur „Tee“, während der nichtsnutzige Red kommt und geht, wie er will. Seinen ungeliebten Stiefsohn nimmt er allerdings auf seinen Raubzügen mit. Während er selbst im Auto wartet, verschafft sich Shug als Verkäufer der Farmer-Zeitung „Grit“ Zugang zu vorher ausgekundschafteten Häusern und klaut schwerkranken Menschen ihre Schmerzmittel. 
Shug empfindet dabei immerhin so viel Mitgefühl, dass er den bettlägerigen Menschen noch ein paar Pillen dalässt, damit ihre Angehörigen rechtzeitig Nachschub besorgen können. Shug ist alles andere als wohl bei diesen Raubzügen, zu denen er aufgefordert wird, doch fehlt ihm die Kraft, dem verhassten Red Paroli bieten zu können. Stattdessen behagt Shug der Gedanke, für seine Mutter mehr als nur ein Kind zu sein. Ihre vertrauten, liebevollen Gesten machen ihm Mut, etwas mehr als mütterliche Zuneigung einzufordern. Doch als sich Glenda in den Koch Jimmy Vin Pierce verguckt, der Glenda und Shug in seinem grünen Thunderbird in schicke Restaurants ausführt und vor allem Glenda von einem anderen Leben träumen lässt, kommt es zur Katastrophe … 
„Eine Weile schwankten die normalen Tage. Manchmal dachte ich, das Haus würde zittern. Es war alles ganz normal, und jeden Tag drängten sich Dinge auf, die nicht normal waren. Ein Haus, das zitterte, warf alles ab. Jimmy Vin hielt sich fern und ließ Glenda mit ihren Gedanken allein; sie war ständig betrunken. Jeden Tag wartete sie auf ihn, versuchte zu lächeln, wartete, wurde immer unruhiger, aber er tauchte nicht auf. Noch vor dem Mittagessen nahm sie ihre silberne Thermoskanne mit ins Schlafzimmer, lag da und fragte ab und zu, ob ich den Thunderbird in der Nähe gesehen hätte.“ (S. 154) 
15 Jahre nach seinem Romandebüt „Cajun Blues“, dem Auftakt seiner „Bayou“-Trilogie, und fünf Jahre vor seinem erfolgreich verfilmten Bestseller „Winters Knochen“ widmete sich der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell 2001 mit „Der Tod von Sweet Mister“ einmal mehr dem White Trash im unwirtlichen Ozark-Plateau. Hier gehen die Menschen kaum geregelten Jobs nach, kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und kommen nur durch krumme Dinge über die Runden. 
In dieser trostlosen Welt wächst der als Ich-Erzähler eingesetzte Shug auf, der im Alter von gerade mal dreizehn Jahren mitansehen muss, wie seine Familie vor die Hunde geht. Seine einst hübsche Mutter Glenda, die ihren Sohn auch mal liebevoll „Sweet Mister“ nennt, scheint eher auf die Fürsorge ihres Sohnes angewiesen zu sein als andersherum. In seinem jungen Alter bleibt Shug allerdings nichts anderes übrig, als nach dem Willen der egoistischen Erwachsenen zu tanzen. So geht Shug durch die harte Schule des Lebens. 
„Der Tod von Sweet Mister“ – der doppeldeutige Titel deutet es bereits an – ist eine Coming-of-Age-Geschichte der düsteren Sorte. Echte Zuneigung scheint es unter diesen Hillbillys nicht zu geben, und jeder zarte Versuch, daran etwas zu ändern, endet mit einer Katastrophe. Im Gegensatz zu vielen Horror-Filmen, die im Hillbilly-Milieu angesiedelt sind, wie „Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills Have Eyes“ oder „Wrong Turn“, bedient sich Woodrell aber keiner Klischees, sondern erweckt in seiner unnachahmlich fesselnden Sprache seine Figuren zu echtem Leben, ohne sie zu verurteilen. Von Beginn macht der Autor aber auch deutlich, dass es aus diesem Schlammassel keinen Ausweg gibt. Sein dreizehnjähriger Protagonist wird nur herumgeschubst, als Projektionsfläche für die wahre Liebe von seiner Mutter missbraucht, von seinem eigennützigen Stiefvater zu kriminellen Handlungen angestiftet und muss so auf die harte Tour lernen, wie die Welt der Erwachsenen tickt und sich dreht. Ein Happy End kann es in dieser rauen Welt, in der es den Menschen an allem mangelt, nicht geben. 

Daniel Woodrell – „In Almas Augen“

Donnerstag, 11. März 2021

(Liebeskind, 188 S., HC) 
Im Sommer 1929 kommt es in einer Kleinstadt in Missouri während einer Tanzveranstaltung in der Arbor Dance Hall zu einer nie aufgeklärten Explosion, bei der am Ende 42 Menschen ihr Leben verloren. Vor allem die Haushälterin Alma DeGeer Dunahew lassen die schrecklichen Ereignisse ihr Leben lang nicht los, schließlich verlor sie auch ihre geliebte Schwester Ruby in den Flammen. Ihr Enkel Alek ist zwölf, als er den Sommer 1965 bei ihr verbringt und die Geschichte aus ihrem Mund zu hören bekommt. 
Sofort ist der Junge fasziniert, schließlich handelt es sich um eine aufregende Geschichte um Feuer, Flammen und Tod. Es gab viele Tote, aber wenige Verdächtige, ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Doch Alma, die weder „Großmutter“ noch „Omama“ genannt werden wollte, hat ihre eigene Theorie, wer hinter dem Unglück gesteckt haben könnte. Alma, so berichtet der Ich-Erzähler Alek, hatte die Schule nur bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, hat sich auf den Feldern ihres gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer abgerackert, um dann als Dreizehnjährige in die Stadt zu entfliehen und dort Jobs als Köchin, Wäscherin und Dienstmagd anzutreten.
 Sie hatte ein entbehrungsreiches, von Enttäuschungen und Verlusten geprägtes Leben hinter sich, heiratete den alkoholsüchtigen Nichtsnutz Buster, bekam drei Kinder, verlor aber zwei von ihnen. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt gab Alma stets Episoden aus ihrem Leben dort zum Besten. Am ausführlichsten berichtete Alma von ihrem Leben als Magd bei der einflussreichen Bankiersfamilie Glencross. Im Gegensatz zu ihr selbst verstand es ihre zehn Jahre jüngere Schwester Ruby, ihr attraktives Äußeres und ihren Charme gekonnt einzusetzen, um die Herzen jener gut gestellten Männer zu betören, die sie mit Geschenken überhäuften, bis sich spendablere Männer fanden. Schließlich begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Arthur Glencross – mit offenbar tödlichen Folgen. Alma ist über diesen Verlust nie hinweggekommen. 
„Sie ließ sich aus reiner Vergesslichkeit die Haare wachsen, bis sie zu lang für die Küchenarbeit waren; ihre Gedanken richteten sich nun schon so viele Wochen und Monate auf anderes, doch als sie in einem Badezimmerspiegel die volle Haarlänge sah, beschloss sie auf der Stelle, sie für immer wachsen zu lassen. Sie hatte die heilige Eingebung, dass Haar von geradezu unwirklicher Länge eine öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten wäre, der Toten und ihrer eigenen Mission, für die Gestorbenen Gerechtigkeit oder Rache zu erwirken, das eine oder das andere, aber am liebsten beides.“ (S. 115f.) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell ist ein Meister der geschliffenen Sprache. Das hat er mit seiner „Bayou“-Trilogie ebenso bewiesen wie mit den erfolgreich verfilmten Bestsellern „Wer mit dem Teufel reitet“ und „Winters Knochen“ sowie dem mit dem P.E.N. ausgezeichneten Roman „Tomatenrot“. In dem 2014 auch auf Deutsch erschienenen Roman „In Almas Augen“ erzählt er weniger einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Krimi oder die Biografie einer alten Frau, die zu viel Schreckliches in ihrem Leben verarbeiten musste, sondern letztlich das Portrait einer Kleinstadt in den Ozarks, Missouri, wo Woodrell auch seine Romane „Winters Knochen“ und „Der Tod von Sweet Mister“ spielen lässt. Nicht von ungefähr spielen die Ereignisse im Jahr 1929, als der New Yorker Börsencrash die Schere zwischen Arm und Reich noch stärker auseinanderklaffen ließ. 
Auch wenn Woodrell einen Ich-Erzähler einsetzt und durch ihn zunächst die Lebensgeschichte dessen Großmutter präsentieren lässt, erweist sich „In Almas Augen“ als ein vielschichtiges Potpourri von Einzelschicksalen. Da ist die fünfzehnjährige Dimple Powell, die schon ein ganzes Jahr lang in ihrem Zimmer tanzen geübt hatte und hoffte, auf dem Fest von Jungs auch zum Tanzen aufgefordert zu werden, oder Mr. Lawrence Meggs, der stets Säcke mit Lockfutter in die Bäume am Rand seines Hofs hängte und im Alter von siebzehn Jahren bei seinen Cousins in Cousins zwei Laster kennenlernte, denen er bis heute frönt, dem Alkohol und den Frauen. Es gibt den unfähigen Prediger und den Bankräuber, der sich Irish Flannigan nannte. Woodrell reiht die oft nur kurze Kapitel umfassenden Einzelschicksale in nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und entwirft so ein komplexes Panorama eines Kleinstadtlebens, das sich letztlich auf eine unglückselige Liebesgeschichte mit fatalen Folgen reduzieren lässt. 
Wer sich auf die vielen Sprünge zwischen Zeiten und Figuren einlassen mag, wird mit einer großartig erzählten Geschichte belohnt, die jede Konvention sprengt, dafür den Leser mit scharfsinnigen Beobachtungen und entfesselter Sprachgewandtheit verwöhnt.  

Daniel Woodrell – „Winters Knochen“

Sonntag, 7. März 2021

(Liebeskind, 224 S., HC) 
Als ihr Vater, der weithin bekannte Meth-Kocher Jessup Dolly, nicht wie versprochen mit einer Tüte voller Geld und schöner Sachen zurückkommt, nachdem er sich mit seinem blauen Capri auf den Weg gemacht hatte, liegt es an der gerade mal sechzehnjährigen Ree, die Familie zu versorgen. Dabei fehlt es der in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebenden Familie an allem. Während ihre katatonische Mutter sich um nichts mehr kümmern kann, sorgt Ree dafür, dass ihre jüngeren Brüder Harold und Sonny zu essen bekommen und zur Schule gefahren werden. 
Von Deputy Baskin erfährt Ree, dass Jessup einmal mehr angeklagt wird, in einer Woche zu seinem Gerichtstermin erscheinen muss, doch nirgends aufzufinden ist. Sollte er zu dem Termin nicht erscheinen, verfällt die gestellte Kaution, für die Jessup das Haus und den angrenzenden Wald verpfändet hat. Um das Heim ihrer Familie nicht zu verlieren, bleibt Ree nichts anderes übrig, als nach ihrem Vater zu suchen. 
Sie fängt bei Jessups älteren Bruder, Onkel Teardrop, doch wird ihr auch auf den weiteren Stationen ihrer Suche unmissverständlich klar gemacht, dass sie besser ihre Finger von der Sache lässt. Von Merab Milton und ihren Schwestern wird sie sogar brutal zusammengeschlagen. Schließlich kann Onkel Teardrop gerade noch Schlimmeres verhindern. Ree kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass ihr Vater tot ist, doch um das zu beweisen und damit ihr Zuhause zu retten, muss sie die Leiche finden, so zerschunden ihr Körper und angegriffen ihre Psyche auch sein mag … 
„Alles Mögliche tanzt einem im Kopf herum, meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken zurückzurufen versucht hat, doch meist holen selbst die ungewollt tänzelnden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest ein Gewirr davon zurück. Weiß legte sich auf das Fensterbrett, Schneeflocken stolzierten umher, wehten gegen die Glasscheiben, und Ree tastete mit der Hand auf dem Fußboden herum, schüttelte eine weitere blaue Tablette heraus, lehnte sich zurück und wartete auf das schwarze Loch.“ (S. 187) 
Nachdem der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Daniel Woodrell seinen freiwilligen Dienst bei den Marines und das College absolviert hatte, nahm er am renommierten Iowa Writers' Workshop teil und lieferte 1986 sein Romandebüt „Cajun Blues“ ab, den ersten Teil seiner Bayou-Trilogie. Sein Roman „Wer mit dem Teufel reitet“ wurde ebenso verfilmt (1999 durch Ang Lee) wie das vorliegende Buch 2010 durch Debra Granik mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle. 
Obwohl die Geschichte gerade mal 220 Seiten umfasst, packt sie den Leser von der ersten Seite an. Das ist vor allem Woodrells kraftvoller, farbenprächtiger Sprache zu verdanken, aber schließlich hat er mit der leiderprobten Teenagerin Ree auch eine charismatische, kämpferische und willensstarke Protagonistin geschaffen, die sich nicht nur aufopferungsvoll um ihre Familie kümmert, sondern auch unbeirrt nach ihrem verschollenen Vater sucht, wobei sie sich nicht mal von der brutalen Behandlung durch ihre entfernte Verwandtschaft abschrecken lässt. 
Dem Autor gelingt es, die von Hügeln und Tälern geprägte Landschaft der Ozarks wunderbar zur Geltung zu bringen und die oft unwirtlichen Verhältnisse mit den schwierigen Charakteren des White-Trash-Milieus zu verknüpfen. Hier fügen sich Sittenzusammengehörigkeit und Verdorbenheit zu einem schicksalhaften Gemisch, das eigentlich kein Happy End hervorbringen kann. So unerbittlich kalt die Natur sich hier im Winter präsentiert, so hart gehen auch die dort lebenden Menschen miteinander um, die sich allesamt mit illegalen Aktivitäten ihren Lebensunterhalt verdienen oder davon profitieren wie die Kautionsagenten. Unter diesen Bedingungen lässt es sich nur leben, wenn die strengen Regeln der eingeschworenen Gemeinschaft eingehalten werden, oder man stark genug ist, für die eigenen Überzeugungen durch die Hölle zu gehen.  

David Baldacci – (Amos Decker: 4) „Downfall“

Donnerstag, 4. März 2021

(Heyne, 528 S., HC) 
Da Amos Decker, verwitweter und nach wie vor alleinstehender Special Agent beim FBI, nicht weiß, wie er den von seinem Chef Bogart verordneten Zwangsurlaub von seinem Dienst in der Sondereinheit in Washington verbringen soll, nimmt er die Einladung seiner Partnerin Alex Jamison an und begleitet sie zu ihrer Schwester Amber nach Baronville ins nördliche Pennsylvania. Dort feiert Alex‘ Nichte Zoe ihren sechsten Geburtstag. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die einst blühende Bergbaustadt gezogen, die ihren Namen den Barons verdankt, die in der Stadt etliche Minen und Fabriken gegründet haben. Doch von dem alten Glanz ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Minen und Fabriken sind geschlossen, etliche Häuser stehen nach ihrer Zwangsversteigerung leer. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen, weil Ambers Mann einen gut bezahlten Job als Manager im neuen Logistikzentrum bekommen hat. 
Kurz nach seiner Ankunft im Haus der Mitchells bemerkt Decker im Nachbarhaus ein seltsames Flackern und geht mitten im aufziehenden Sturm dem Ursprung nach. Schließlich entdeckt er einen Kurzschluss als Ursache der merkwürdigen Lichtblitze, die auslösende Flüssigkeit, die mit freiliegenden Leitungen in Berührung gekommen ist, entpuppt sich allerdings als Blut. Doch Decker und die ihm nachgeeilte Jamison entdecken noch mehr, ein Mann hängt von der Decke, doch weist er keine äußeren Verletzungen auf. Bei der weiteren Durchsuchung des Hauses entdeckt Decker im Keller eine weitere Leiche, einen Mann im Keller – in Polizeiuniform. 
Als die örtliche Polizei eingeschaltet wird, wollen die Detectives Marty Green und Donna Lassiter nichts von einer Unterstützung durch das FBI wissen, doch Decker lässt sich in seinem Urlaub nicht davon abbringen, auf eigene Faust zu ermitteln. Als ein weiterer Doppelmord an verdeckt ermittelnden DEA-Agenten entdeckt wird, übernimmt die DEA die Ermittlungen, wobei die leitende Agentin Kemper aber die Beteiligung der beiden FBI-Agenten duldet. Decker nimmt sich die drei einzigen Nachbarn in der Nähe des Tatorts vor und erfährt, dass mit dem mittlerweile verarmten John Baron nur noch ein Nachfahre des Baron-Clans in der Stadt lebt. Obwohl er in der Befragung verneint, auch nur eine der getöteten Personen zu kennen, finden Decker & Co. bald heraus, dass dem nicht so ist. Baronville scheint fest in der Hand eines boomenden Handels mit Opiaten zu sein, die Bewohner einen immensen Hass gegen den in der Stadt verbliebenen John Baron zu verspüren. 
Decker glaubt jedoch nicht, dass Baron für die Morde verantwortlich ist, die ihm offensichtlich in die Schuhe geschoben werden sollen, doch bei seinen Ermittlungen bringt er sich selbst in die Schusslinie der skrupellosen Drogenhändler … 
„Ging es hier nur um Drogen? Viele Menschen waren wegen Drogen gestorben. Und allen Berichten zufolge befand sich Baronville in den Klauen derselben Opioid-Krise, die auch andere Teile des Landes terrorisierte. Anscheinend waren er und Jamison mittendrin gelandet.“ (S. 228) 
Seit Lee Child mit seinem charismatischen Ex-Militärpolizei-Ermittler Jack Reacher den Prototyp des einzelgängerischen Super-Ermittlers etabliert hat, sind auch Bestseller-Autor David Baldacci einige interessante Figuren in den Sinn gekommen, die er in verschiedenen Reihen zum Zuge kommen lässt. Ein besonderes Highlight stellt dabei die Serie um den „Memory Man“ Amos Decker dar, einem 1,95 Meter großen Hünen, der seit einer schweren Kopfverletzung beim Football über ein fotografisches Gedächtnis verfügt und zudem bestimmte Farben mit Zahlen, Orten, Gegenständen oder Emotionen verbinden kann. Vor allem sein fotografisches Gedächtnis kommt Decker auch in „Downfall“ zugute. Ähnlich wie Lee Child seinen Protagonisten immer wieder an abgelegenen Orten ungewöhnliche Fälle lösen lässt, schickt auch Baldacci hier Decker an einen an sich unscheinbaren, eher heruntergekommenen Ort, wo sich gleich mehrere untypische Todesfälle ereignen. Der Autor inszeniert dabei einen raffiniert und dich gewobenen Plot, der nicht nur DEA, FBI und örtliche Polizei – mit den üblichen Vorbehalten gegenüber der jeweils anderen Behörden - gemeinsam ermitteln lässt, sondern auch ein typisches Bild amerikanischer Städte zeichnet, die einst von dem Zustrom an Arbeitern zu den neu gegründeten Fabriken profitiert haben und dann durch den Niedergang der Industrie und die Bankenkrise von Leerstand, Armut und Drogenabhängigkeit heimgesucht wurden. 
Vor diesem Hintergrund bietet „Downfall“ einen hochkomplexen Kriminalfall mit ebenso vielen Opfern und Tätern, und nach und nach ist es natürlich vor allem Decker, der die nach und nach freigelegten Puzzleteile zu einem ebenso stimmigen wie verstörenden Gesamtbild zusammenfügt. Neben dem durchweg fesselnden Kriminalfall räumt Baldacci seinem außergewöhnlichen Ermittler aber auch einige persönliche Momente ein, denn eine weitere Kopfverletzung während seiner Zeit in Baronville lässt ihn nun auch empathischer für das Schicksal seiner Mitmenschen werden. 
So präsentiert sich „Downfall“ als perfekter Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen mag! 

Benedict Wells – „Hard Land“

Freitag, 26. Februar 2021

(Diogenes, 346 S., HC) 
Eigentlich haben seine Eltern geplant, den 15-jährigen Sam über den Sommer im Jahr 1985 zu Tante Eileen und seinen beiden verhassten Cousins nach Kansas zu schicken, doch um diesem Schicksal zu entgehen, nimmt der Teenager in seiner kleinen Heimatstadt Grady, Missouri, lieber einen Job in dem alten Kino „Metropolis“ an, das Ende des Jahres schließen soll. Zwar hat der zurückhaltende Sam bei seinen älteren Kollegen Cameron, Hightower und Kirstie zunächst einen schweren Stand, aber da sie gerade ihren Abschluss gemacht haben, werden sie im Herbst ohnehin aus Grady wegziehen. 
Die Stadt ist eigentlich nur für zwei Dinge bekannt: für die ominösen 49 Geheimnisse, die Gradys Besucher zu entdecken animiert werden, und den 1893 veröffentlichten Gedicht-Zyklus „Hard Land“, der für jede Junior-Klasse zum Pflichtprogramm bei „Inspector“ Mr. Parker gehört, der die Schüler den Jahresaufsatz über die „Geschichte des Jungen, der den See überquerte und als Mann wiederkam“ schreiben ließ. Hartnäckige Gerüchte besagen, dass es in all den Jahren bisher nur eine Eins für den Aufsatz gegeben habe. 
Während Sam allmählich beginnt, zu Cameron und Hightower eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen und sich in Kirstie zu verlieben, fühlt er sich in familiärer Hinsicht nach wie vor allein gelassen. Am meisten bedrückt ihn die Krebserkrankung seiner Mutter, die einen kleinen Buchladen führt, aber durch die Therapie immer wieder sehr geschwächt ist. Sein Vater ist arbeitslos und wirkt meist sehr verschlossen, seine Schwester Jean war vor Jahren schon nach Los Angeles gezogen, um für eine Fernsehserie Drehbücher zu schreiben. Sam liebt es, mit seinen neuen Freunden über Filme und Musik zu philosophieren und mit ihnen abzuhängen, und er kann kaum seinen 16. Geburtstag abwarten, weil er dann endlich in Larrys Bar gehen darf. Doch dann hat Sam in diesem so verheißungsvoll begonnenen Sommer eine Katastrophe nach der anderen zu überstehen … 
„Jeder hatte seine Geschichte, aber es ging weiter, es kam trotzdem wieder der Sommer, und ich betrachtete die Kinder, die diskutierend auf ihren Tretrollern an mir vorbeifuhren, die alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, und das Spinnennetz an der Bushaltestelle, das sich sanft im Wind auf und ab bewegte … Auf einmal vermischten sich all meine Erinnerungen und Gedanken zu einem einzigen Gefühl, zu einem: Es ist okay, zumindest für diesen Moment.“ (S. 317) 
Für seinen neuen Roman ließ sich der 1984 geborene Benedict Wells durch Filme inspirieren, die zur Zeit seiner Geburt großen Erfolg hatten, vor allem die Coming-of-Age-Filme von John Hughes („Das darf man nur als Erwachsener“, „The Breakfast Club“, „Pretty in Pink“, „Ist sie nicht wunderbar?“). In diesem leichten Ton, den Drehbuchautor/Regisseur/Produzent Hughes in seinen Filmen angeschlagen hat, erzählt Wells auch die Geschichte eines bemerkenswerten Sommers, den sein 15-jähriger Protagonist erlebt hat und in dem er von einem Jungen zum Mann wurde. Dazu gehört vor allem die erste große Liebe und das Fachsimpeln mit Freunden über Filme und Musik, aber auch das Verarbeiten des Verlusts von geliebten Menschen.  
Wells schreibt über eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben in einer US-amerikanischen Kleinstadt vor einem fundamentalen Wandel steht. Die Fabriken, die einst für Arbeit und Wohlstand gesorgt haben, sind längst geschlossen, die Menschen weggezogen oder arbeitslos, Kinos und Kneipen stehen vor dem Aus. Zwar bemüht Wells typische Filme wie George Lucas‘ „American Graffiti“ und Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“, webt vertraute Acts wie Billy Idol, INXS, Simple Minds und a-ha in den Plot (die er zu einer Playlist für den „Hard Land“-Soundtrack auch auf den vertrauten Musik-Streaming-Diensten zur Verfügung stellt), aber wirken diese filmischen wie musikalischen Zitate eher wie Dekoration, um der Ära, in der die Geschichte spielt, ein passendes Ambiente zu verleihen. 
Als weitaus wirkungsvoller erweisen sich die Elemente, die der Autor eigenständig in die Geschichte einfließen lässt, nämlich die „49 Geheimnisse“ (die zufälligerweise auch in der Anzahl der Kapitel widergespiegelt werden) und der an Allegorien reiche Gedicht-Zyklus, der „Hard Land“ seinen Namen verdankt. In der wiederkehrenden Auseinandersetzung sowohl mit den allmählich entschlüsselten „Geheimnissen“ als auch mit dem Gedicht-Zyklus entwickelt sich der besondere Ton der Geschichte, die an sich wenig spektakulär ist, schließlich hat jeder Jugendliche mehr oder weniger schwierige Erfahrungen mit der ersten großen Liebe, Enttäuschungen und Verlusten zu machen, deren Bewältigung zum Erwachsenwerden dazugehören. 
„Hard Land“ präsentiert sich so als absolut typische Coming-of-Age-Geschichte ohne große Überraschungen, aber mit ein paar schönen Einfällen wie die Prüfungen, die Kirstie Sam zu seinem Geburtstag aufgibt.  
Wells‘ neuer Roman ist nicht der ganz große Wurf geworden, wie der Autor nach seinen vorangegangenen Werken wie „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ hoffen ließ, aber es ist wenigstens eine ebenso vergnügliche, manchmal verzaubernde wie nachdenkliche Geschichte über das Erwachsenwerden.  

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 7) „Mittsommermord“

Montag, 22. Februar 2021

(Zsolnay, 603 S., HC) 
Am 22. Juni 1996 feiern drei junge Freunde an einem geheimen Ort im Naturreservat ihr ganz privates Mittsommerfest, wobei sie sich in die Zeit des Rokokopoeten Bellman hineinversetzen, sich entsprechend verkleiden und verschiedene Aufnahmen von „Fredmans Episteln“ hören. Allerdings kehren Astrid Hillström, Martin Boge und Lena Norman nicht nach Hause zurück. Stattdessen scheinen sich die drei jungen Leute unbemerkt auf eine spontane Europareise begeben zu haben, doch Eva Hillström glaubt nicht, dass die Postkarten aus Hamburg, Paris und Wien nicht von ihrer Tochter geschrieben worden seien. Als sie ihren Verdacht im Polizeipräsidium von Ystad zu Protokoll gibt, ist Kriminalkommissar Kurt Wallander gerade damit beschäftigt, das Haus seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters zu verkaufen und sich um seinen gerade diagnostizierten Diabetes zu kümmern. 
Als sein Kollege Svedberg erschossen in seiner Wohnung aufgefunden wird, wird bald ein Zusammenhang mit den drei Jugendlichen deutlich, die kurz darauf tot im Naturreservat bei Ystad gefunden werden. Offenbar hat Svedberg während seines Urlaubs auf eigene Faust das Verschwinden der Jugendlichen untersucht und wurde wahrscheinlich vom selben Täter erschossen wie die verkleideten Jugendlichen. Wallander muss während der Ermittlungen feststellen, dass er Svedberg nicht gut kannte, während der getötete Kollege Wallander offenbar als seinen besten Freund bezeichnet hatte. 
Das Motiv des Täters bleibt unklar. Weder Svedbergs nächsten Verwandten, seine Schwester Ylva Brink und sein Cousin Sture Björklund, noch der pensionierte Bankdirektor Bror Sundelius, mit dem Svedberg zusammen die Sterne betrachtete, bringen die Ermittlungen wesentlich voran. Zu denken gibt Wallander, dass Svedberg eine Frau namens Louise getroffen haben soll, die allerdings spurlos verschwunden bzw. unbekannt zu sein scheint. 
„Wallander war ratlos. Doch im Grunde genommen war er noch nicht wieder imstande zu denken. Das Geschehene lähmte ihn. Wer konnte drei Jugendliche töten, die sich verkleidet hatten, um zusammen Mittsommer zu feiern? Es war die grauenhafte Tat eines Wahnsinnigen. Und im Umfeld dieser Wahnsinnstat, entweder an ihrem Rand oder in der Nähe ihres Zentrums, hatte sich ein weiterer Mensch befunden, der jetzt ebenfalls tot war. 
Svedberg. Was hatte er damit zu tun? Auf welche Weise war er in die Sache verwickelt?“ (S. 193) 
Als dann noch ein Mädchen ermordet wird, das die drei getöteten Jugendlichen beim Mittsommerfest eigentlich begleiten sollte, wegen einer Magenverstimmung aber zuhause bleiben musste, dann noch ein frisch vermähltes Hochzeitspaar und ihr Fotograf am Strand erschossen werden, bekommen Wallander & Co. zunehmend das Gefühl, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, der das Glück anderer Leute schwer ertragen kann … 
Mit seinem siebten Band um den charismatischen, wenn auch übergewichtigen Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell seinen bis dahin vielleicht besten Thriller abgeliefert. Das liegt vor allem an dem raffiniert konstruierten Plot, bei dem zwar schnell deutlich wird, dass der Mord an den drei Jugendlichen zum Mittsommerfest und die Ermordung von Wallanders Kollegen Svedberg irgendwie zusammenhängen, aber die Verbindung lässt sich lange Zeit nur erahnen und kristallisiert sich nur sukzessive durch einzelne Puzzlestücke heraus. 
Mankell nutzt die grausamen Taten einmal mehr dazu, seinen Protagonisten über die Verrohung der schwedischen Gesellschaft und die Budgetkürzungen bei der Polizei lamentieren zu lassen, doch die betrüblichen Umstände lassen Wallander letztlich doch wacker weiter seinen Dienst tun, um deutlich Flagge zu zeigen im Kampf gegen das Verbrechen. Privates bleibt im immerhin 600-seitigen Thriller weitgehend außen vor, im Mittelpunkt steht hier vor allem Wallanders Kampf gegen den Diabetes. Während Mankell ausführlich die schwierige Ermittlungsarbeit von Wallander und seiner Mannschaft beschreibt, rückt er gelegentlich auch die Perspektive des Täters in die Handlung ein, doch sind die polizeilichen Aktivitäten weit packender inszeniert und machen „Mittsommermord“ zu einem echten Pageturner.  

Wieland Schwanebeck – „James Bond. 100 Seiten“

Samstag, 20. Februar 2021

(Reclam, 102 S., Tb.) 
Seit Ian Fleming (1908-1964) nach seiner Karriere als Journalist und Wertpapierhändler 1953 damit begann, Romane und Kurzgeschichten um den britischen Geheimagenten James Bond zu verfassen, ist Bond seit dem ersten 007-Kino-Abenteuer „James Bond jagt Dr. No“ (1962) zu einem internationalen Markenzeichen avanciert, das vor allem die Sicht, wie ein echter Kerl zu sein hat, bis heute prägt. 
Bevor der 25. Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ verspätet in diesem Jahr in die Kinos kommt, ist der anglistische Kultur- und Literaturwissenschaftler Wieland Schwanebeck in dem bereits bewährten 100-Seiten-Format der entsprechenden Reclam-Reihe dem Phänomen „James Bond“ auf ebenso unterhaltsame wie tiefgründige Weise auf den Grund gegangen. 
Darin wird eingangs das Phänomen untersucht, wie James Bond als eine Art Übermensch jeden Versuch der Schurken, ihn ins Jenseits zu befördern, auf ebenso coole wie stilvolle Weise zu parieren vermag und dabei so ikonische Szenen prägt, als er beispielsweise in „Der Spion, der mich liebte“ (1977) auf Skiern mit einem Fallschirm einen Abhang hinunterrast und seinen verblüfften Verfolgern beim Sprung in den vermeintlich tödlichen Abgrund den Union Jack auf dem Fallschirm präsentiert. Natürlich gibt es viele weitere Themen in der über 60-jährigen Erfolgsgeschichte von James Bond, über die sich vortrefflich referieren lässt. 
Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, dass die Physik der Filme unwissenschaftlich sei, die oft exotischen Kulissen eigentlich zu schön sind, um wahr zu sein, und Bond immer genau die Gadgets von Q zur Verfügung gestellt werden, die er für seine Mission definitiv brauchen wird – ohne auch nur eines unbenutzt zurückgeben zu müssen. Der Autor umreißt kurz Flemings Werdegang und Persönlichkeit, dann den Beginn der Roman-Adaptionen für Film und Fernsehen, den weltweiten Siegeszug der Produktionen von Harry Saltzman und Albert R. Broccoli, die wichtige Mischung aus Vertrautem und Innovation und das bewährte Baukastenprinzip der Bond-Filme, bei denen stets Fragen nach den Schurken, der Hilfsmittel und Verkehrsmittel im Fokus stehen. 
Schwanebeck markiert die Bedeutungen, die die einzelnen Bond-Darsteller im 007-Universum einnehmen, erwähnt aber auch die Geschichten, die jenseits bewährter Konzepte erzählt werden: 
Diamantenfieber, in dem es James Bond mit schwulen Killern zu tun bekommt und sich durch eine Vielzahl enger, morastiger Löcher quetschen muss, ist eine Geschichte von Homophobie und männlichem Selbstzweifel; Goldfinger handelt von der Kluft zwischen reiner Schaulust und dem Wunsch anzufassen und mitzumachen; und Skyfall lässt sich auch ohne Diplom in Psychoanalyse als eine Geschichte über gestörte Eltern-Kind-Beziehungen lesen und über die Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren.“ (S. 32) 
Schwanebeck weist natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen dem britischen hegemonialen Anspruch, die Welt zu retten, und James Bonds auffallend üppigen sexuellen Appetit hin, womit sowohl Fleming als auch die Filmemacher auf den Bedeutungsverlust des britischen Empires reagiert haben. Das Verhältnis zwischen Bond, den Superschurken und vor allem zu den Bond-Girls nimmt ebenso ein eigenes Kapitel ein wie die offensichtliche Notwendigkeit, im Titel eines Bond-Films auf Tod, Sterben und die Endlichkeit des Daseins hinzuweisen. 
Verschiedene Übersichten, vereinzelte Schwarz-Weiß-Illustrationen und Literaturtipps runden das kleine, aber höchst aufschlussreiche Bändchen ab, das sich auch für Fans lohnt, die bereits alles über ihren Lieblings-Superhelden zu wissen glauben.