Jim Thompson – „After Dark, My Sweet“

Mittwoch, 15. September 2021

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Seit seinem Debütroman „Now and on Earth“ (2011 als „Jetzt und auf Erden“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen) hat sich Jim Thompson, der seinen Lebensunterhalt teilweise als Alkoholschmuggler für Al Capone verdiente, schon mit 19 Jahren Alkoholiker war und zunächst True-Crime-Stories veröffentlichte, als Noir-Schriftsteller etabliert, der auch in Hollywood Fuß fassen konnte und beispielsweise die Drehbücher für Stanley Kubricks „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ schrieb. Die Veröffentlichung von „After Dark, My Sweet“ im Jahr 1955 fiel in seine produktivste Phase. 
William ,Kid‘ Collins hat bereits eine Boxer-Karriere und vier Aufenthalte in Heilanstalten hinter sich, als er am Stadtrand in einer Bar einkehrt und seine letzten Tage bei einem Bier Revue passieren lässt: Nachdem er die letzte Heilanstalt „verlassen“ hatte, nahm er einem Typen siebzig Dollar ab, überquerte die Staatsgrenze und ist seitdem nur auf Achse, mit nur noch vier Dollar in der Tasche. 
Er kommt mit dem Barkeeper Bert ins Gespräch und lernt die durchaus ansehnliche Fay Anderson kennen, die Collins mit zu sich nach Hause nimmt, wo sich schnell herausstellt, dass Collins‘ Gastgeberin nicht nur Witwe, sondern auch Alkoholikerin ist. Wie Collins ebenfalls bald erfahren muss, hat sie sich seiner nicht nur aus purer Nächstenliebe angenommen, sondern plant mit ihm und ihrem Komplizen ,Onkel‘ Bud die Entführung von Charles Vanderventer III, den Sohn einer mehr als wohlhabenden Familie. Zwischenzeitlich bekommt Collins zwar die Möglichkeit, durch die Unterstützung von Dr. Goldman wieder ein geordnetes Leben zu führen, doch entscheidet er sich für Fay, deren alkoholinduzierte Launen er erträgt, weil sie im ,normalen‘ Zustand auch sehr liebenswert sein kann. 
Bei der Entführung soll Collins die Rolle des Chauffeurs übernehmen, der das Entführungsopfer normalerweise von der Schule abholt, worauf Onkel Bud der Familie 72 Stunden Zeit für die Zahlung des Lösegeldes einräumt. Zwar erwischt Collins das falsche Vanderventer-Kind, doch ansonsten scheint der Plan aufzugehen – bis sich herausstellt, dass das Opfer unter Diabetes leidet und seinen Entführern unter den Händen wegzusterben droht … 
„Ich war so verwirrt und durcheinander, dass mir nichts mehr logisch erschien, jede Kleinigkeit war für mich ein neuer Grund für meinen Verdacht. Alles und nichts. Wenn sich die Sache in die falsche Richtung entwickelte, gefiel es mir nicht, aber wenn sie sich in die andere entwickelte, gefiel es mir auch nicht. Und – und ich musste damit aufhören! Wenn ich nicht aufhören würde, wenn die Leute mir weiterhin Schwierigkeiten machten, mich weiterhin einkreisten, mich an die Wand drückten und mir die Luft abschnitten und …“ (S. 143) 
Thompson hat sich in den über zehn Romanen vor „After Dark, My Sweet“ bereits eine gewisse Routine erarbeitet, was die stets verhängnisvollen Beziehungen seiner Protagonisten angeht. Auch in diesem Roman taumelt der Ich-Erzähler mit bewegter Vergangenheit von einer schwierigen Situation in die nächste, lässt sich auf die falschen Leute ein und hofft doch nur, mit Fay – trotz ihrer Fehler und Schwächen – ein neues Leben beginnen zu können. 
Der Autor erweist sich als guter Beobachter menschlichen Verhaltens, charakterisiert seine Figuren durchaus tiefgründig, treibt die Handlung temporeich und mit vielen Wendungen voran, würzt den Plot mit gewohnt pointierten Dialogen und wartet mit einem überraschenden Finale auf. 
Auch wenn „After Dark, My Sweet“ nicht den allerbesten Noir aus Thompsons Feder darstellt, unterhält der Roman von Anfang bis Ende auf hohem und wurde 1990 von James Foley mit Rachel Ward, Jason Patric und Bruce Dern in den Hauptrollen verfilmt. 

 

Dave Zeltserman – „Small Crimes“

Freitag, 10. September 2021

(Pulp Master, 340 S., Tb.) 
Nachdem er den Bezirksstaatsanwalt Phil Coakley mit dreizehn Messerstichen ins Gesicht für immer fürchterlich verunstaltet hatte, durfte der korrupte Cop Joe Denton sieben Jahre im Gefängnis seiner Heimatstadt Bradley absitzen, wo er kurz vor seiner Entlassung noch eine Partie mit dem Gefängnisdirektor Morris Smith spielt. Dass Denton nach so kurzer Zeit auf Bewährung entlassen wird, hat er vor allem der Tatsache zu verdanken, dass er damals seinen Boss, Dan Pleasant, und den hinter ihm stehenden Polizeiapparat nicht verpfiffen hatte. Dabei hat Denton durchaus noch mehr auf dem Kerbholz, als ihm damals in der Verhandlung zur Last gelegt worden war. 
Eigentlich will Denton nun verlorene Zeit nachholen, vor allem mit seinen beiden Töchtern. Doch wie er von seinen Eltern, bei denen er nach seiner Entlassung einzieht, erfahren muss, hat seine Ex-Frau Elaine mit den Kindern die Stadt in Richtung Albany verlassen und will nichts mehr von ihm wissen. Allerdings hängt Denton noch seine Vergangenheit nach. Sein alter Chef hat zwar ein Päckchen mit sechstausendfünfhundert Dollar und Papiere für ihn, die Denton offiziell nach zwanzig Dienstjahren mit 3460 Dollar monatlich in Pension gehen lassen, aber er hat noch einen schmutzigen Job zu erledigen: Während der örtliche Mafiaboss Manny Vassey mit Krebs im Endstadium im Krankenhaus auf sein letztes Stündlein wartet, liest ihm Coakley täglich aus der Bibel vor und versucht dem Todkranken ein Geständnis abzuluchsen. Das würde nicht nur für Denton, sondern auch für seine ehemaligen Kollegen und vor allem für Pleasant mehrere Jahre Knast bedeuten. Bevor Vassey irgendetwas ausquatscht, soll Denton zeitnah entweder Vassey oder Coakley ins Jenseits befördern. Da kommt ihm die Bekanntschaft mit der Krankenschwester Charlotte Boyd gerade recht. 
Denton versucht, sie dazu zu bewegen, Vassey eine tödliche Dosis Morphium zu spritzen, doch inzwischen versucht auch Vasseys psychopathischer Sohn Junior, seinen alten Herrn vor unbequemen Besuchen zu beschützen. Doch Denton ist guter Dinge, dass sich trotz aller Schwierigkeiten die Geschichte zu seinen Gunsten entwickelt … 
„Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Manny würde sich bald verabschieden, und fertig. Dan Pleasant würde mir nicht länger im Nacken sitzen, Phil Coakley mit leeren Händen dastehen und Junior, tja, der war nach wie vor eine Baustelle. Um ihn musste sich irgendwie gekümmert werden. Es musste ihm heimgezahlt werden, dass er zweimal auf mich geschossen hatte. Mir würde schon etwas einfallen, und wenn alles vorbei war, würde ich woanders einen Neuanfang machen.“ (S. 206) 
Der von Noir-Autoren wie Jim Thompson und James M. Cain beeinflusste aus Boston stammende Schriftsteller Dave Zeltserman legt mit dem 2008 veröffentlichten Roman „Small Crimes“ einen temporeichen Thriller vor, der die Schwierigkeiten seines Ich-Erzählers thematisiert, nach einer glücklicherweise viel zu kurzen Haftstrafe sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Allerdings überwirft er sich nicht nur schnell mit seinen Eltern und seiner Ex-Frau, die ihm den Kontakt mit den gemeinsamen Kindern verbietet, sondern hat noch mit seiner kriminellen Vergangenheit zu kämpfen. 
Zwar wirkt der korrupte Ex-Cop nach seiner Entlassung etwas geläutert, doch braucht es nicht viel, bis er wieder zum Koks greift und die Menschen in seiner Nähe zu manipulieren versucht. 
Sympathieträger sucht man in „Small Crimes“ vergebens. Zeltserman versieht seine sprachlich recht einfach gestrickte Geschichte vor allem mit viel Action, die Denton in immer schwierigere Situationen manövriert, die oft nur mit Gewalt und Verrat zu lösen sind. Das ist ebenso spannend wie unterhaltsam, doch überzieht Zeltserman am Ende etwas den Bogen mit einem zu unglaubwürdigen Finale. Wer aber auf ebenso flüssig zu lesende wie temporeiche Thriller-Kost steht, wird an „Small Crimes“ viel Freude haben.  

Hari Kunzru – „Red Pill“

Samstag, 4. September 2021

(Liebeskind, 352 S., HC) 
Mit seinen Romanen „Götter ohne Menschen“ und „White Tears“ hat sich der britische Autor Hari Kunzru bereits als einer der interessantesten Stimmen innerhalb der Gegenwartsliteratur präsentiert. Nun legt er mit „Red Pill“ einen vielschichtigen Roman vor, der nicht von ungefähr auf die Wahl zwischen den Pillen im Science-Fiction-Klassiker „The Matrix“ verweist. 
In seinem neuen Roman schickt Kunzru seinen Protagonisten auf eine wilde Odyssee der Selbstfindung, die von Paranoia, Verschwörungstheorien und medialer Manipulation geprägt wird. Ein amerikanischer Schriftsteller in den mittleren Jahren, seit fünf Jahren mit der Menschenrechtsanwältin Rei verheiratet, mit der er und ihrer gemeinsamen dreijährigen Tochter in Brooklyn lebt, erhält ein dreimonatiges Stipendium für den Aufenthalt der in Berlin Wannsee Kulturstiftung Deuter Zentrum für Sozial- und Kulturforschung. Hier versucht er, nicht nur seine Schreibblockade zu durchbrechen, sondern auch seine Ehe zu retten, die – wie er glaubt - unter seiner mangelnden Inspiration und Produktivität leidet. 
Doch während die Akademie ihrem Gründer, einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der als vermögender Industrieller das Ziel verfolgte, „das volle Potenzial des individuellen menschlichen Geistes“ zu fördern, Werte wie Offenheit und Transparenz proklamiert, sieht sich der US-Amerikaner gezwungen, in einem Arbeitsraum mit den anderen Stipendiaten zu schreiben und an gemeinsamen Abendessen teilzunehmen. Schließlich gewinnt er den Eindruck, dass sein Zimmer überwacht wird. Statt sich mit der unerwarteten Arbeitssituation zu arrangieren, unternimmt der Schriftsteller lange Spaziergänge in Wannsee, wo einst die Nazis die Vernichtung der Juden beschlossen haben, streamt in seinem Zimmer die Cop-Serie „Blue Lives“, dessen Showrunner er zufällig bei einer Gala anlässlich der Berlinale kennenlernt und der sich für den Stipendiaten als ultrarechter Verschwörer erweist, dessen Ambitionen er beim Durchforsten verschiedener Blogs und Foren zu entschlüsseln versucht. 
Als der Schriftsteller das Deuter-Zentrum verlassen muss, fliegt er jedoch nicht nach Hause, wo sich seine Frau zunehmend Sorgen um seine geistige Verfassung macht, sondern folgt Anton nach Paris und Schottland, fest dazu entschlossen, alles zu tun, um die Sicherheit seiner Familie zu gewährleisten. Denn wenn man Anton seine Pläne verwirklichen lässt, ist sich der Schriftsteller sicher, wird die Welt nicht mehr so sein wie zuvor … 
„Ich glaube, wir haben alle einen Ort, ein geistiges Labor, an dem wir mit Gedanken experimentieren, die zu fremd oder zu zerbrechlich sind, um offen gezeigt zu werden. Ich glaube, dass wir diesen Ort schützen müssen, um uns wie Menschen zu fühlen. Er schrumpft, sein Spielraum wird durch Techniken der Voraussage und Kontrolle eingeschränkt, durch das unheilvolle Gebot der sozialen Medien, Dinge zu teilen.“ (S. 322) 
Vordergründig erzählt Kunzru, der 2016 selbst zu Gast an der American Academy in Berlin Wannsee gewesen und wie sein Protagonist Sohn eines indischen Vaters und einer britischen Mutter ist, die Geschichte eines Mannes, der eine elementare Sinn- und Schaffenskrise zu bewältigen versucht, aber in dem geschichtsträchtigen Deuter-Zentrum schnell sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert. Er ist von Heinrich von Kleists Selbstmord ebenso gefesselt wie von der brutalen Cop-Serie „Blue Lives“, wird durch die Bekanntschaft des faszinierenden und undurchschaubaren Anton aber zunehmend aus der Bahn geworfen. 
Kunzru beschreibt auf eindringliche Weise, wie leicht unsere wie selbstverständlich wirkenden liberalen, demokratischen Werte über Bord geworfen werden können. In einem eigenen Abschnitt erzählt der Autor die Geschichte von Monika, der Putzfrau im Deuter-Zentrum, die in der DDR aufgewachsen ist, sich der dortigen Punk-Bewegung angeschlossen hat und schließlich als mutmaßlicher Stasi-Spitzel denunziert wurde. Von den Gräueln des Nazi-Regimes über das Wirken der Stasi-Diktatur bis zu dem Abend, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, entwickelt Kunzru das beunruhigende Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend bereit sind, sich vorschnell über die sozialen Medien manipulieren und instrumentalisieren zu lassen und so die liberale Werteordnung verraten, um rassistischen und nationalistischen Kräften das Feld zu überlassen. 
Zwar wirkt „Red Pill“ nicht sehr einheitlich in seiner Form, springt Kunzru doch sehr oft bei Ort und Zeit, Ton und Thema hin und her, aber die beunruhigende Botschaft des Romans wirkt lange nach. 

James Sallis – „Sarah Jane“

Samstag, 28. August 2021

(Liebeskind, 218 S., HC) 
Mit seinen Serien um den Privatdetektiv Lew Griffin („Die langbeinige Fliege“, „Stiller Zorn“, „Nachtfalter“) und den Ex-Cop Turner („Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“, „Dunkles Verhängnis“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis in die Herzen anspruchsvoller Krimi-Fans geschrieben. Seit seinem erfolgreich – unter dem Titel „Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle - verfilmten Bestseller „Driver“ hat Sallis hierzulande seine literarische Heimat in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gefunden, wo mit „Sarah Jane“ ein weiteres Zeugnis von Sallis‘ beeindruckender Erzählkunst erschienen ist. 
Sarah Jane Pullman hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie wuchs mit ihrem Bruder Darnell in der Kleinstadt Selmer zwischen Tennessee und Arkansas bei ihren Eltern auf, die sich neben ihren regulären Jobs um eine Hühnerzucht kümmerten, ist früh von zuhause ausgezogen, hat schräge Beziehungen hinter sich gebracht und musste verkraften, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben ist. Als sie nach einer weiteren schlechten Entscheidung vom Richter vor die Wahl gestellt wird, entweder ins Gefängnis oder zur Army zu gehen, entscheidet sie sich für den Militärdienst, arbeitet schließlich als Köchin in ganz verschiedenen Restaurants und Kantinen. 
Sarah Jane macht ihren College-Abschluss und bekommt durch ihren Freund Ran Einblick in die Polizeiarbeit und bewirbt sich schließlich in der Kleinstadt Farr um einen Job als Cop, den ihr der Kriegsveteran Cal Phillips ohne großes Vorgeplänkel schnell anvertraut. Sie macht sich gut, zieht in ein kleines Haus außerhalb der Stadt, scheint ihr Leben in den Griff bekommen zu haben. Doch dann wird Cal vermisst und sie als nun diensthabender Sheriff mit dem Fall seines Verschwindens betraut. Auf einmal muss sie dem Bürgermeister, der immer mit ihr zu flirten schien, ebenso Rechenschaft ablegen wie einem FBI-Beamten, dann tauchen weitere Männer auf, die sich für Sarah Jane interessieren und sie in eine zunehmend misslichere Lage bringen …
„Manchmal kommt es einem vor, als würde man Tag für Tag für die Aufführung proben, ohne je das Drehbuch gesehen zu haben oder zu wissen, welche Rolle man spielt. Oder du stehst im Park vor einem dieser großen Kästen mit einem Plan, auf dem im Großbuchstaben SIE SIND HIER steht, und du weißt verdammt genau, dass das nicht stimmt. Cals Job. Kummer und Leid der Menschen. Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.“ (S. 153)
Zum Ende seines neuen Romans lässt James Sallis einen von Sarah Janes College-Dozenten darüber philosophieren, wie Sätze und damit auch Kunst Revolutionen hervorrufen können. Dieses Gefühl bekommt auch der Leser von Sallis‘ Geschichten zu spüren. Ebenso wie seine letzten Werke (vor allem „Willnot“) besticht „Sarah Jane“ mit knackigen, sprachlich vollkommenen Sätzen, die die Kraft ganzer Absätze und Seiten besitzen. Wenn er beispielsweise die Kleinstadt Farr als einen dieser Orte beschreibt, „wo sich historische Pfefferkuchenhäuser direkt neben modernen Reihenhäusern behaupten, wo sich Eisenwarenläden, Tankstellen und Angelshops an den Stadtrand klammern und wo man in den gutturalen Lauten des heimischen Dialekts noch das Raunen alter Zeiten hört“, beschwört er mehr als nur die städtische Architektur, sondern gleichsam ihren Puls herauf. 
Sallis nimmt sich mehr als 60 Seiten Zeit, um Sarah Janes bewegte Vergangenheit zu rekapitulieren. Allein die häufigen Wechsel, was Zeit, Ort und beteiligte Personen angeht, machen deutlich, welch dramatischen Ereignisse die junge Frau bereits verkraften musste, bevor sie den Job als Polizistin in Farr antritt, angefangen vom ebenso plötzlichen wie immer häufigen Abtauchen ihrer Mutter aus dem Familienleben, dem Tod ihres Partners beim Militäreinsatz im Mittleren Osten bis zu den komplizierten, von Krankheit, Verletzungen und Verlusten geprägten Affären, die Sarah Jane letztlich von Stadt zu Stadt flüchten ließen. 
Durch das ohne besonderen Anlass absolvierte Studium lässt Sallis seiner vielschichtigen Protagonistin eine intellektuelle Reife zukommen, die auch den Leser immer wieder zum Nachdenken über existentielle Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Schein und Sein, Freiheit und Verantwortung, Freundschaft und Familie, Leben und Tod anregt. Dabei hat der Autor mit Sarah Jane eine so komplexe Figur geschaffen, deren Geschichte man auch gern über längere Zeit verfolgt hätte. Doch Sallis lässt seinem Publikum genug Raum, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu füllen.  

Philippe Djian – „Die Ruchlosen“

Dienstag, 24. August 2021

(Diogenes, 202 S., HC) 

Während die zwischen 2013 und 2016 erschienenen Romane „Love Song“, „Chéri-Chéri“ und „Dispersez-vous, ralliez-vous!“ noch auf ihre deutschsprachige Veröffentlichung warten, knüpft der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Oh…“) mit seinem neuen Roman an die kurze, aber knackige Prosa an, die bereits seine vorangegangenen Werke „Marlène“ und „Morgengrauen“ ausgezeichnet haben. 
Seit Patrick in den Armen seiner Frau Diana gestorben ist, kümmert sich sein Bruder Marc um die immer wieder von depressiven Stimmungen, die schon mal in Selbstmordversuchen münden, gezeichnete Zahnärztin, ist sogar in ihre Wohnung gezogen, wo er sie besser im Blick hat. Im Gegensatz zu seinem ebenso charismatischen wie temperamentvollen Bruder hat Marc nicht den gewissen Schlag bei Frauen, ist mit seinen knapp dreiunddreißig Jahren noch immer Jungfrau. Dass er mal den Platz seines Bruders bei Diana einnimmt, kommt weder für ihn noch seine Schwägerin in Frage. Aber als Marc, der viel zu viel Zeit mit Online-Poker verbringt und dabei sukzessive seine Geldreserven aufbraucht, eines frühen Morgens am Strand drei Päckchen mit Koks vom Meer angeschwemmt findet, hofft er durch Dianas Bruder Joël die Drogenpäckchen zu Geld machen zu können. Der über Sechzigjährige hat sich nicht nur mit seiner Schwester entzweit, sondern auch mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Brigitte. Die Dinge verkomplizieren sich nicht nur dadurch, dass sich Joël in der Drogensache mit den falschen Leuten anlegt, sondern auch durch die gar nicht so heimlich Affäre, die Diana mit dem Bürgermeistersohn Serge unterhält … 
„Joël pflegte nicht nur guten Umgang, das lag auf der Hand, und Patrick hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nachgestanden. Der Jachthafen und die paar Straßen im Umkreis brachten keine Messdiener und Kirchenleute hervor, und das war das Ergebnis, Geschichten wie aus einem Film, mit Engeln und bösen Jungs.“ (S. 60) 
Was den Umfang seiner Geschichten angeht, bewegt sich Djian weiterhin in Richtung zunehmend minimalistischer Regionen, von 280 Seiten („Marlène“) über 236 Seiten („Morgengrauen“) auf nunmehr 202 Seiten, doch qualitativ bewegen sich seine Geschichten auf etwa ähnlichem Niveau. 
Djian hat es sich angewöhnt, ohne große Einleitung gleich zur Sache zu kommen und den Plot wie ein Feuerwerk abzufackeln, ohne viel Mühe darauf zu verwenden, seinen Figuren und Lesern mal eine Ruhepause zu gönnen. Immerhin versteht er es in „Die Ruchlosen“, mit nur wenigen Skizzen sowohl Marc als auch der fast fünfzigjährigen Diana, aber auch dem vor fast einem Jahr verstorbenen Patrick, dessen Geist die Atmosphäre der Geschichte maßgeblich mitprägt, und dem zerstörerischen Joël Charakter zu verleihen. 
Die Frauenfiguren bleiben bis auf Diana aber recht blass, bleiben Sexgespielinnen oder Gefährten beim Rauchen eines Joints. Djian etabliert ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger kranken Beziehungen, die durch den Drogendeal, Affären und schließlich Todesfälle das Drama zu einem echten Thriller werden lassen. Es ist Djians nach wie vor ungewöhnlichem sprachlichen Geschick, seiner einzigartigen Art, mit kurzen Sätzen und knackigen Dialogen Tempo zu machen, zu verdanken, dass sich „Die Ruchlosen“ sehr kurzweilig lesen lässt. 
Allerdings überschlagen sich im Finale die Ereignisse dann doch auf recht unglaubwürdige Art und Weise, die das zuvor schon bizarr anmutende Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren noch absurder erscheinen lässt. Spaß macht dieser teuflische literarische Ritt aber doch!  

Tom Franklin – „Smonk“

Montag, 23. August 2021

(Pulp Master, 307 S., Tb.) 
Mit Eugene Oregon Smonk ist wahrlich nicht zu spaßen. Seit Jahren entzieht er sich überall im Land dem Zugriff des Gesetzes, hat sich immer das genommen, wonach ihm gerade war, hat bestochen, erpresst, genötigt, in jeder Form Gewalt ausgeübt. Als ihm in der Kleinstadt Old Texas, Alabama, am 1. Oktober 1911 der Prozess gemacht werden soll, verkleiden sich sogar die Frauen als Männer, um an der Verhandlung teilnehmen zu können. Dem Gerichtsdiener Will McKissick hat der einäugige, schießwütige Farmer einst nicht nur die Arbeit, sondern auch die Frau genommen, aber so erging es vielen Männern in der Gemeinde, die auch in den Bürgerkrieg ziehen mussten und nicht mehr erlebten, wie Smonk sich um die Witwen und ihre Töchter kümmerte. 
Zum Prozess, der letztlich nicht mehr als ein Lynchmob darstellt, kommt es allerdings nicht. Smonk ist clever genug gewesen, zwei auswärtige Auftragskiller zu engagieren, die als Fotografen getarnt ihren Planwagen vor dem vermeintlichen Gerichtsgebäude platziert haben und schließlich mit ihren Maschinengewehren kurzen Prozess mit allen Beteiligten machen, die bereits mit Schürhaken, Reitpeitschen, Ziegelsteinen, Tischbeinen und Billardstöcken bewaffnet darauf warteten, das Urteil vollstrecken zu dürfen. Smonk kann also fliehen. Zwar muss er sein Glasauge im Getümmel McKissick überlassen, dafür entführt er dessen elfjährigen Sohn. 
McKissick wird vom korrupten Richter damit beauftragt, sich auf die Suche nach dem Geflüchteten zu machen. Begleitet wird er vom Schmied Gates, dessen Frau Lurleen und seine Stieftöchter ebenfalls fleischlichen Umgang mit Smonk pflegten und allesamt dem Massaker zum Opfer gefallen sind. Während sich McKissick und Gates zunächst auf den Weg zu Smonks Farm machen, jagen der christliche Sheriff Walton und seine Leute die 15-jährige, knabenhaft aussehende Hure Evavangeline, die für einen Dollar für jedermann die Beine breit macht, um zu überleben, aber auch keine Hemmungen hat, gewalttätige Männer ins Jenseits zu befördern. Gates, der vor Lurleen bereist zwei Frauen hatte und es auch mit seiner Stieftochter Clena getrieben hatte, hofft derweil, durch die Jagd auf Smonk an weitere Gelegenheiten zu kommen, sich mit dem anderen Geschlecht zu vergnügen … 
„Gates stimmte zu. Aber sein Plan – sein geheimer Plan – bestand darin, abzuwarten, bis der Gerichtsdiener Smonk umgebracht hatte, und ihm dann aufzulauern und ihn umzubringen. Und falls sie Smonk nicht fanden, was dem Schmied ganz recht wäre, hätte er immer noch das Auge als Beweis dafür, dass er Schmonk umgebracht hatte. Er malte sich aus, wie er es mehreren jungen Mädchen zeigte und wie ihre Titten seinen Oberarm streiften.“ 
Tom Franklin hatte mit der 1999 veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung „Poachers“ (die 2020 hierzulande vom Berliner Kleinverlag Pulp Master als „Wilderer“ erschienen ist) und seinem vier Jahre darauf folgenden Romandebüt „Hell at the Breech“ (der 2005 bei Heyne unter dem Titel „Die Gefürchteten“ sogar als Hardcover veröffentlicht wurde) bereits zwei gefeierte Bücher veröffentlicht und einen schönen Vorschuss auf sein nächstes Buch erhalten, als er von einer Art Schreibblockade heimgesucht wurde und eine ganz andere Art von Buch begann, das zunächst eine Art Parodie auf Cormac McCarthys „Die Abendröte im Westen“ werden sollte, aber dann einen ganz eigenen Weg einschlug, der zwar McCarthys biblischen Ton beibehielt, aber dann zu einer Western-Groteske auswuchs, in der gleich im ersten Satz verkündet wird, dass der allseits verhasste Smonk innerhalb eines Tages ermordet werden würde. 
Kurz darauf schon erlebt der Leser einen fulminanten Shoot-Out, der das Finale von Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ gemahnt, und eine Odyssee durch die Südstaaten, die von Tollwut, Wollust und Gewalt in allen vorstellbaren Formen geprägt ist. Hier ist jeder nur auf sein eigenes Wohl, die Befriedigung jeder Art von sexuellen Begierden aus, so dass es außer dem fast zwölfjährigen McKinnick Junior keine sympathische Figur in dem Roman gibt. 
Das ist sicher nichts für schwache Nerven und vor allem zartbesaitete Gemüter, doch die Art, wie Franklin in bester Tradition von McCarthy und Larry Brown die dunklen Seite der rauen wie schönen Südstaaten mit seiner wortgewaltigen und humorvollen Sprache aufdeckt, ist einfach ein Genuss. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 12) „Die Schuld der Väter“

Donnerstag, 19. August 2021

(Pendragon, 468 S., Pb.) 
Im Sommer 1942 beobachteten der damals 12-jährige Dave Robicheaux und sein 15 Monate jüngerer Halbbruder Jimmie am Rande eines Parks in New Iberia, Louisiana, wie sich in einem alten Ford zwei Pärchen miteinander vergnügten, worauf ein Mann, die seine weibliche Begleitung Legion nannte, den Jungs mit seinem aufgeklappten Taschenmesser einen gehörigen Schrecken einjagte. Nun bekommt es Dave Robicheaux, mittlerweile Detective in der Sheriff-Dienststelle des Iberia Parish, erneut mit diesem unheimlich erscheinenden Mann zu tun, als er zusammen mit seiner Partnerin Helen Soileau den Mord an zwei jungen Frauen aufklären muss. 
Für die brutale Vergewaltigung und den Mord an der sechzehnjährigen weißen Einser-Schülerin Amanda Boudreau wird zunächst der 25-jährige schwarze Cajun-Musiker und Straßengauner Tee Bobby Hulin aufgrund seiner Fingerabdrücke am Tatort festgenommen und von Perry LaSalle verteidigt, doch Amandas Freund, der gefesselt worden ist, will zwei Männer mit Sturmhauben gesehen haben, die für die Tat verantwortlich gewesen sein sollen. Der großmütige Perry LaSalle, der Tee Bobbys Verteidigung übernimmt und Spross des mächtigen Plantagenbesitzers Julian LaSalle ist, strengt sich nicht besonders an, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. 
Die Dinge verkomplizieren sich, als mit Marvin Oates ein zwielichtiger Bibelverkäufer auftaucht und die Prostituierte Linda Zeroski ebenfalls tot aufgefunden wird, was ihren Vater, den Mafioso Joe Zeroski, dazu animiert, den Schuldigen selbst zur Rechenschaft zu ziehen. Doch ist es vor allem eine alte Geschichte zwischen Legion, der als Aufseher auf der LaSalle-Plantage berüchtigt dafür gewesen war, sich über beliebige schwarze Frauen herzumachen, und Tee Bobbys Großmutter Landice, die Licht in die Ermittlungen bringt. 
Aber auch der Clubbesitzer Jimmy Dean Styles, der als Manager von Tee Bobby fungiert, beunruhigen sowohl Dave als auch seinen besten Freund und ehemaligen Kollegen bei der Mordkommission in New Orleans, Clete Purcel. Während Purcel sich wie gewohnt mit den falschen Frauen einlässt und seine Unbeherrschtheit kaum zügeln kann, wird auch Robicheaux bei all den zwielichtigen Typen, mit denen er zu tun hat, von gewalttätigen Phantasien heimgesucht … 
„In dieser Nacht lag ich schlaflos in der Dunkelheit, während der Wind draußen durch die Bäume strich und das Laub im Sumpf im gespenstisch weißen Licht der Blitze im Süden flackerte. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt. Einmal mehr gierte ich geradezu danach, die Finger um die Griffschalen und den Abzug einer schweren, großkalibrigen Pistole zu legen, den beißenden Korditgestank zu riechen, alle Selbstbeherrschung fallen zu lassen, mich loszureißen von den Banden, die mich einschränkten und mir die Luft aus den Lungen quetschten. Und ich wusste, was ich tun musste.“ (S. 352) 
Seit James Lee Burke 1987 mit „The Neon Rain“ den ersten Krimi um den Vietnam-Veteranen und Südstaaten-Cop Dave Robicheaux veröffentlichte, bringt die mittlerweile 23 Bände (von denen noch einige auf ihre deutsche Erstveröffentlichung warten) umfassende Reihe immer wieder die besten Werke des Genres hervor. „Die Schuld der Väter“, der 12. Band der gefeierten Reihe, macht da keine Ausnahme. Burke lässt seinen Ich-Erzähler Dave Robicheaux, dessen Adoptivtochter Alafair demnächst aufs College gehen wird, einmal mehr durch die Labyrinthe menschlicher Abgründe waten. Dabei wirken die Charaktere, mit denen er und Purcel zu tun haben, so undurchsichtig, dass es auch dem Leser, der die Geschichte fast ausschließlich aus Robicheaux‘ Perspektive erzählt bekommt, schwer fällt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. 
Einzig bei dem einhellig als unheimlich und stinkenden Legion sind sich alle Beteiligten einig, dass er das pure Böse personifiziert. Burke erweist sich einmal als Meister darin, seinem Publikum nicht nur die besondere Atmosphäre der Südstaaten in seinen bildhaften Beschreibungen lebendig vor Augen zu führen, sondern mit pointierten Dialogen und vielschichtigen Beobachtungen seines Protagonisten tief in die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Wesens einzudringen und auf den Grund der Seele der vielschichtigen Figuren zu stoßen, die selten einfach nur gut oder schlecht sind, sondern von je eigenen Dämonen getrieben werden, die sie manchmal nur im Leben scheitern, manchmal aber auch extrem brutale Verbrechen verüben lassen.  

Lee Child – (Jack Reacher: 23) „Der Spezialist“

Montag, 16. August 2021

(Blanvalet, 446 S., HC) 
Seit seinem Roman- und damit gleichzeitig auch seinem Jack-Reacher-Debüt „Größenwahn“ hat sich der Brite Lee Child bereits Ende der 1990er als Bestseller-Autor etabliert. Auch nach über 20 Jahren und ebenso vielen Fällen gelingt es Child auf bemerkenswerte Weise, immer neue Plots aus dem Hut zu zaubern, die das Herz eines jeden Thriller-Fans und vor allem der Jack-Reacher-Fans höher schlagen lassen. Dabei beginnt sein 23. Abenteuer auf allzu vertraute Weise: Von einer kleinen Küstenstadt in Maine will Reacher per Anhalter eine diagonale Route nach Südwesten einschlagen, die ihn eventuell über Cincinnati, St. Louis und Albuquerque bis hinunter nach San Diego führt. Doch als er zu Beginn seines Trips auf den Wegweiser nach Laconia, New Hampshire, stößt, treibt ihn die Neugier dort hin, denn der Name ist Reacher von allen möglichen Dokumenten seiner Familiengeschichte bekannt. 
Es soll der Geburtsort seines längst verstorbenen Vaters Stan Reacher gewesen sein, der mit siebzehn zum Marine Corps gegangen war. Um mehr über seine familiären Wurzeln zu erfahren, lässt sich Reacher in einem kleinen Hotel nieder und versucht über das Archiv der Stadtverwaltung, nähere Informationen zu seinem Anliegen zu erhalten. So schnell er feststellen muss, dass sich die gewünschten Aufzeichnungen nicht so ohne weiteres einsehen lassen, gerät er auch in Schwierigkeiten. Als er nämlich eines Nachts um drei Uhr aufwacht wegen ungewöhnlicher Geräusche aufwacht und einer in Bedrängnis geratenen jungen Frau vor einem Rowdy rettet, den Reacher kurzerhand krankenhausreif schlägt, muss er mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen, die der in zwielichtigen Kreisen agierende Vater des Jungen aus Boston bestellt. 
Währenddessen führen Reachers Recherchen zu einem Ort namens Ryantown, einer Ruine mitten in den Wäldern, die auch Schauplatz weitere außergewöhnlicher Ereignisse ist. Hier haben Jack Reachers entfernter Verwandter Mark und seine Freunde ein Motel so hergerichtet, dass es den Startpunkt für ein ebenso exklusives wie mörderisches Abenteuer bildet. Mark und seine Crew halten nämlich das aus Kanada stammende Pärchen Patty Sundstrom und Shorty Fleck in Zimmer 10 gefangen, bis sechs Männer aus allen Teilen des Landes eingetroffen sind, um sich mit den beiden auf perfide Art zu vergnügen. 
„Die sechs Männer starrten sie weiter an. Offen, freimütig, gänzlich ohne Hemmungen. Von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Sie wogen ab, bewerteten und schätzten ein. Sie gelangten zu Schlussfolgerungen. Ein kleines Verziehen der Miene, das Befriedigung ausdrückte. Langsames Nicken bewies Anerkennung und Zustimmung. Aufblitzende Augen bewiesen Enthusiasmus.“ (S. 340) 
Interessant ist der Thriller „Der Spezialist“, der im Original treffender „Past Tense“ betitelt ist, vor allem wegen Reacher Spurensuche in eigener Sache. Wie der ehemalige Militärpolizist langsam, aber zielgerichtet seine eigene Familiengeschichte entschleiert, liest sich an sich schon wie ein Krimi, bei dem Reacher viele sympathische Kontakte knüpft. Nur wirkt der Zusammenstoß mit dem Sohn eines Gangsters in einer beschaulichen Kleinstadt wie Laconia doch arg unglaubwürdig, erhöht aber natürlich die Spannung und das Action-Level. 
Es vergeht ungewöhnlich viel Zeit, bis sich die parallel erzählte Geschichte von Patty und Shorty mit der von Reacher kreuzt. Hier zieht die Action noch mal ordentlich an, doch wirken die Ereignisse in dem abgelegenen Motel auch hanebüchen. Ärgerlich ist hier Childs Fortsetzung der analytischen Prozesse, die die Leser bislang ausschließlich von dem ehemaligen Ermittler bei der Militärpolizei kennen und die letztlich das Alleinstellungsmerkmal der Reacher-Romane darstellen. Doch mitten im Wald sind die Sägewerksangestellte und der Kartoffelbauer ebenso mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, mit denen sie ihren Peinigern ordentlich zusetzen. 
So bietet „Der Spezialist“ zwar kurzweilige Thriller-Kost mit ungewöhnlichem Plot und interessanten Einblicken in Reachers Familiengeschichte, doch liegt der Roman eher im unteren Mittelfeld aller Reache-Romane.  

Stephen King – „Billy Summers“

Freitag, 13. August 2021

(Heyne, 720 S., HC) 
Die über 45-jährige Schriftstellerkarriere des Bestseller-Autors Stephen King wird nach wie vor mit der Bezeichnung „King of Horror“ umschrieben, doch hat der im US-Bundesstaat Maine geborene und nach wie vor lebende Schriftsteller immer wieder beeindruckende Werke jenseits des mit ihm untrennbar verbundenen Genres veröffentlicht. Nach dem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Krimi „Mr. Mercedes“ legt King mit „Billy Summers“ nun einen weiteren Roman vor, der eher in der Tradition von Charles Dickens als Edgar Allan Poe steht. 
Nachdem Billy Summers seinen Kriegsdienst als Scharfschütze im Irak abeleistet hat und mit ansehen musste, wie viele seiner Kameraden in der Hölle von Falludscha umgekommen sind, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Auftragskiller. Durch seinen Mittelsmann Bucky bekommt Billy einen ebenso ungewöhnlichen wie lukrativen Auftrag zugeschanzt. Er soll für Nick Majarian den bekannten Frauenschläger und Mörder Joel Allen beseitigen. Der sitzt gerade in Los Angeles seine Haftstrafe ab und hofft, bei einer Anhörung vor Gericht in der Südstaaten-Kleinstadt Red Bluff einen Deal aushandeln zu können. 
Bevor es dazu kommt, soll Billy Joel Allen vom gegenüberliegenden Bürogebäude mit einem gezielten Schuss ausschalten. Dafür soll er ein fürstliches Honorar in Höhe von zwei Millionen Dollar erhalten, ein Viertel davon bei Vertragsabschluss. Da aber niemand vorhersagen kann, wann diese Anhörung stattfindet, muss sich Billy auf eine vielleicht mehrere Wochen oder gar Monate währende Wartezeit einrichten. Deshalb haben ihm seine Auftraggeber eine Tarnung als Schriftsteller mit dem Namen David Lockridge verpasst, der im Gerard Tower an seinem neuen Buch arbeitet. 
Da Billy die ganzen Umstände und die Beteiligung von zwielichtigen Geschäftsmännern wie Ken Hoff und Georgio Piglielli nicht ganz geheuer sind, reaktiviert er eine weitere Tarnung, mietet sich als Dalton Smith und in Verkleidung eine weitere unscheinbare Wohnung und findet sowohl als David Lockridge als auch als Dalton Smith schnell Kontakt zu seinen Nachbarn. Die Wartezeit bis zur Ausführung seines eigentlichen Jobs vertreibt sich Billy tatsächlich mit dem Schreiben. Da er zwar ein eifriger Leser ist und längst nicht so einfältig ist, wie er seinen Auftraggebern gegenüber erscheinen will, aber über keinerlei Erfahrung im Schreiben verfügt, beginnt er mit seiner Lebensgeschichte. Billy, der als kleiner Junge gezwungen war, den Freund seiner Mutter zu erschießen, nachdem dieser Billys Schwester Cassie den Brustkorb eingetreten hatte, schreibt vor allem seine Erlebnisse in der Army nieder und stellt fest, dass er Spaß daran hat. Schließlich rückt der Auftrag in Nähe, den Billy souverän ausführt. Den zuvor verhandelten Fluchtplan nimmt er jedoch nicht in Anspruch, sondern versteckt sich als Dalton Smith solange in seiner Tarnunterkunft, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Doch als drei junge betrunkene Männer eines Nachts die zuvor vergewaltigte Alice aus ihrem Van am Straßenrand ablegen, beginnt für Billy eine ganz außergewöhnliche Odyssee, auf der Billy sich vor allem an den Typen rächen will, die ihn reinzulegen versucht haben, sich aber auch rührend um Alice kümmert … 
„Ist es gefährlich, dass sie ihm so viel bedeutet? Natürlich ist es das. Und ist es ebenso gefährlich, was er für sie bedeutet – dass sie ihm vertraut und sich auf ihn verlässt? Natürlich ist es das. Aber wenn er sieht, wie sie so dasitzt, hat das etwas zu sagen. Falls alles danebengeht, ist das vielleicht nicht mehr so, aber momentan schon. Er hat er die Berge und die Sterne geschenkt, nicht als Besitz, sondern zum Anschauen, und das sagt viel.“ (S. 477) 
Mit „Billy Summers“ ist Stephen King ein sehr vielschichtiger Roman gelungen, der im ersten Teil die Details des Auftrags schildert, der die Geschichte ins Laufen bringt, aber – wie wir Leser bald erfahren – die eigentliche Geschichte beginnt viel früher, mit dem gewaltsamen Tod von Billys Schwester und seiner ebenso gewalttätigen Erwiderung, und setzt sich mit dem traumatischen Kriegseinsatz im Irak fort. Billy Summers wirkt dabei nicht wie ein kaltblütiger Auftragskiller, sondern fragt vor jedem Auftrag, ob es auch „schlechte Menschen“ sind, die er töten soll. 
In seiner Nachbarschaft freundet sich Billy alias David schnell nicht nur mit den Erwachsenen, sondern auch mit deren Kindern an, spielt mit ihnen Monopoly und wirkt auch sonst ganz und gar umgänglich. Im weiteren Verlauf der Geschichte rückt die schriftstellerische Arbeit des Protagonisten zunehmend in den Vordergrund. Interessant ist dabei die Tatsache, dass mit diesem Prozess nicht die Wahnvorstellungen und übernatürlichen Ereignisse verbunden sind, wie sie Kings Figuren in „Stark – The Dark Half“ oder „The Shining“ erleben. Stattdessen findet Billy durch das Schreiben zu sich selbst. Mit der Rettung der betäubten und dann vergewaltigten Alice nimmt die Geschichte eine weitere Wendung, denn nun geht es nicht nur darum, dass Billy die ihm noch zustehenden 1,5 Millionen Dollar von seinen Auftraggebern eintreibt, sondern die Beziehung zu Alice in seinem Leben richtig einordnet. Obwohl Billy sich selbst und auch Bucky als „schlechte Menschen“ bezeichnet, gewinnen sie nicht zuletzt durch ihre Art, wie sie Alice wieder aufpäppeln, die Sympathien des Publikums. 
Stephen King entwickelt hier einen wohltuenden Gegenentwurf zu Trumps Amerika der Hetze und des Hasses, lässt Tugenden wie Nachbarschaftshilfe und Nächstenliebe aufleben, bevor im letzten Teil des Romans die Rachegeschichte in den Vordergrund rückt, in der die Bösen nach und nach dezimiert werden. Hier kommen übrigens mit kleinen Verweisen auf das Overlook-Hotel („Shining“) die einzigen Ansätze übernatürlicher Elemente ins Spiel. 
Davon abgesehen stellt „Billy Summers“ einfach eine packende Geschichte dar, die verschiedene Genres wie Bildungs- und Entwicklungsroman, Krimi und Rachethriller, ja sogar etwas Liebesdrama geschickt miteinander verbindet.  

Jim Thompson – „Der Mörder in mir“

Dienstag, 3. August 2021

(Diogenes, 234 S., Tb.) 
Lou Ford ist ein junger Deputy Sheriff in der texanischen Kleinstadt Central City, wo er allein in dem Haus seines verstorbenen Vaters, einem Arzt, lebt. Nach außen hin wirkt der umgängliche Ford wie die Verkörperung guter Manieren und wird von seinem Vorgesetzten, Sheriff Bob Maples, wegen seiner empathischen Art gern für Verhöre von Verdächtigen eingesetzt, um ihnen ein Geständnis zu entlocken. Niemand weiß allerdings, dass er sich als Vierzehnjähriger mit dem Hausmädchen vergnügt hatte, was sein Vater zwar mitbekam, stattdessen aber Lous zwei Jahre älteren, nichtsnutzigen Ziehbruder Mike für die Schandtat büßen ließ. 
Jahre später verunglückte Mike auf einer Baustelle der Firma von Chester Conway, weshalb Lous Vater vor Gram starb und in Lou einen unbändigen Hass auf den mächtigen Bauunternehmer entflammen ließ. Nach fünfzehn Jahren überkommt Ford ein ähnliches Verlangen, als er die Prostituierte Joyce Lakeland kennenlernt und sie nach einer kurzen Liaison mit ihr ins Koma prügelt. Doch sie bleibt nicht sein einziges Opfer. Aus Rache an Conway lässt Lou Ford auch dessen Sohn Elmer über die Klinge springen, und Lous Freundin, die attraktive Lehrerin Amy, geht dem jungen Deputy Sheriff mit ihrem Heiratsgeschwätz so auf die Nerven, dass auch sie mit ihrem Leben spielt. Doch mit seiner lockeren Art kommt Lou scheinbar überall durch, auch wenn einige mächtige Leute wie Staatsanwalt Howard Hendricks oder der mächtige Gewerkschaftsboss Joe Rothman schon einen Verdacht hegen, dass hinter den ganzen Unglücksfällen in der Stadt mehr steckt, als jedermann ahnt … 
„Die dummen Sprüche passten zu dem etwas vertrottelten, gutmütigen Typ, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Rothman hatte selbst gesagt, dass, ganz egal wie verrückt das Ganze schien, die Vorstellung, ich sei der Mörder, noch verrückter wäre. Und meine Sprüche waren einfach ein Teil von mir – das heißt ein Teil von dem Mann, der sie alle in die Irre geführt hatte. Was würden die Leute denken, wenn ich auf einmal Schluss mit dem Sprücheklopfen machte?“ (S. 92) 
Mit seinem vierten Roman hat der 1906 geborene und 1977 völlig verarmt verstorbene Schriftsteller Jim Thompson 1952 ein Highlight des Noir-Genres abgeliefert. Mit dem nicht mal dreißigjährigen Lou Ford hat Thompson einen Ich-Erzähler etabliert, der nicht von ungefähr zwei Seelen in sich trägt – die des charmanten, höflichen und rechtschaffenen Gesetzeshüters und die des raffinierten Killers -, denn laut eigenen Studien anhand der Bücher seines Vaters leidet Lou Ford an paranoider Schizophrenie. Angetrieben von dem Trauma aus seiner Kindheit, dem daraus resultierenden Kontrollzwang seines Vaters und dem Hass auf den skrupellosen Baulöwen Conway beseitigt Lou Ford nicht nur systematisch alle Menschen, mit denen er auf welch verschrobene Weise auch immer über Kreuz liegt, sondern lässt dafür auch noch Unschuldige die Suppe auslöffeln. 
Es ist Thompsons klarer Sprache und seinem schnörkellos krassen Stil zu verdanken, dass der Leser gebannt den brutalen Verbrechen des Ich-Erzählers folgt, der überhaupt keine Gewissensbisse verspürt. Doch Lou Ford ist bei weitem nicht die einzige Figur mit fragwürdigen Moralvorstellungen. Gerade die Männer in Machtpositionen, die mit dem jungen Gesetzeshüter ihre Spielchen treiben wollen, kommen noch weniger sympathisch rüber als der skrupellose Killer, der ungerührt von seinen Taten berichtet und seine verqueren Motive so überzeugend darlegt, dass man ihn als Beobachter eigentlich nur beipflichten kann und so schon fast zum Komplizen wird. 

 

Jim Thompson – „Gefährliche Stadt“

Freitag, 30. Juli 2021

(Diogenes, 240 S., Tb.) 
Ragtown ist eines dieser öden ehemaligen Viehtreiberkaffs im tiefsten Westen von Texas, wo einst Mike Hanlon mit seiner klapprigen Bohrausrüstung auf Öl gestoßen und zu Reichtum gekommen war. Mittlerweile sitzt der Ölbaron nach einem Unfall im Rollstuhl und ist Besitzer des vierzehnstöckigen Hanlon Hotels, zudem mit der attraktiven Joyce verheiratet, die er damals eigentlich als Empfangsdame einstellen wollte und der er gestattete, ihre Bedürfnisse auch anderweitig zu befriedigen, wenn es denn diskret vonstattengehe. Trotz des großzügigen Arrangements wird Hanlon den Verdacht nicht los, dass Joyce es auf mehr anlegt und ihn endgültig aus dem Weg räumen will. 
Mit seinem vagen Verdacht erreicht er bei dem vermeintlich korrupten Chief Deputy Lou Ford allerdings nicht viel. Als der mehrfach wegen Mordes und Gewalttätigkeiten verurteilte David „Bugs“ McKenna in die Stadt kommt, vermittelt Ford ihm eine Stelle als Hoteldetektiv bei Mike Hanlon, dessen Offenheit ihm sympathisch ist. Doch wie in seinem bisherigen Leben zieht McKenna auch hier die Probleme an. Er lässt sich nicht nur auf eine Affäre mit Joyce und der Hotelangestellten Rosalie Vara ein, sondern hat sich vor allem in die attraktive Lehrerin Amy Standish verguckt, die allerdings mit dem Chief Deputy liiert ist. 
Als der meist betrunkene Hotelmanager Westbrook Bugs ins Vertrauen zieht, dass er einen weiteren Hotelangestellten namens Dudley, den der Manager selbst für einen Job im Hotel empfohlen hat, verdächtigt, 5000 Dollar unterschlagen zu haben, soll Bugs dem Verdächtigen einen Besuch abstatten. Zu seinem Pech verunglückt Dudley in McKennas Anwesenheit tödlich, was den Hoteldetektiv nicht nur in Erklärungsnöte bringt, sondern auch eine Erpressung unbekannter Herkunft um gerade die 5000 vermissten Dollar. Bugs versucht, die Identität des Erpressers herauszufinden und weiß nicht, wem er noch trauen kann. Dabei hängt er trotz aller Schwierigkeiten an seinem Job … 
„Er wusste, dass es ihm schwer fallen würde, hier wieder wegzugehen. Ein Aufstieg in einen besseren Job wäre natürlich nicht schlecht, aber wenn das nicht ging, würde er sich auch nicht beklagen. Er würde ihm schon genügen, so weiterzumachen wie bisher. Und dazu war er fest entschlossen. Noch einmal würde er sich nicht unterbuttern lassen. Er würde bleiben. Irgendwie. Um jeden, wortwörtlich um jeden Preis.“ (S. 161) 
Zwei Jahre vor dem durch Sam Peckinpahs Kultverfilmung berühmt gewordenen Roman „The Getaway“ veröffentlichte Jim Thompson 1957 mit „Wild Town“ einen Krimi, in dem es ein Wiedersehen mit Sheriff Lou Ford gibt, dem Ich-Erzähler aus Thompsons vierten Roman „Der Mörder in mir“ (1952), allerdings spielt Ford hier nur eine – wenn auch undurchsichtige – Nebenrolle, die allerdings die Dinge für McKenna erst ins turbulente Rollen bringt. 
Noir-Ikone Thompson gelingt es einmal mehr, auf gerade mal 240 Seiten die Physiognomie einer Stadt zu umreißen, die durch Ölvorkommen über Nacht „einen Umfang wie eine Frau, die im achten Monat mit Drillingen schwanger geht“, bekam und allerlei zwielichtige Gestalten anzog. Von denen wimmelt es auch in „Gefährliche Stadt“. McKenna wird als Noir-typischer Antiheld eingeführt, der sein Leben lang mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und auch kurz nach seiner Ankunft in Ragtown eingebuchtet wird, nur um von Deputy Sheriff Ford einen aussichtsreichen Job angeboten zu bekommen. 
Was die nachfolgende Handlung so spannend macht, sind die Menschen, mit denen McKenna folglich beruflich und privat zu tun bekommt. Ohne ersichtlichen Grund verdient er sich nicht nur die Gunst seines an den Rollstuhl gefesselten Bosses, sondern zieht auch ganz unterschiedliche Frauen an, doch gestaltet sich der jeweilige Umgang mit ihnen schwierig, bis McKenna nicht mehr weiß, was er von wem halten soll. Bis also die Umstände von Dudleys Tod und der verschwundenen 5000 Dollar aufgeklärt sind, tappen McKenna und mit ihm die Leser lange Zeit im sprichwörtlichen Dunkeln. Thompsons lakonischer Humor und seine präzise Sprache sorgen in diesem Wirrwarr der Gefühle und herrlich unmoralischen Fallstricken durchweg für prickelnde Unterhaltung. 

 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 17) „Keine Ruhe in Montana“

Sonntag, 25. Juli 2021

(Pendragon, 572 S., Pb.) 
Nachdem der 1936 in Louisiana geborene Schriftsteller James Lee Burke beim Bielefelder Pendragon Verlag seine deutsche Heimat gefunden hat, bemüht man sich dort, nach und nach die zum Glück nur noch wenigen Lücken in der schon legendär gewordenen Dave-Robicheaux-Reihe zu füllen. Mit der deutschen Erstveröffentlichung des 17. von mittlerweile insgesamt 23 Bänden um den charismatischen Detective aus dem New Iberia Parish präsentiert Burke ein weiteres Meisterwerk der Kriminalunterhaltung mit dem ihm typischem Südstaaten-Flair. 
Nachdem der Hurrikan Katrina in New Orleans eine vernichtende Schneise der Verwüstung hinterlassen hat, nimmt sich Detective Dave Robicheaux eine Auszeit und fährt mit seiner Frau Molly und seinem besten Freund, dem Privatermittler Clete Purcel, zum Fischen auf eine Ranch in Montana, die ihr Freund Alber Hollister dort besitzt. 
Als Clete, der von dort aus auf einen zweitägigen Trip zu Swan River Country aufgebrochen war, eines Morgens aus seinem Zelt steigt, wird er von zwei unangenehmen Zeitgenossen, Lyle Hobbs und Quince Wigley, darauf hingewiesen, dass er sich auf dem Privatbesitz von Ridley Wellstone befinde. Als sie seine Personalien überprüfen, stellen sie zudem fest, dass er früher als Fahrer für den Mafioso Sally Dio gearbeitet habe, der bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. 
Doch nicht nur für Clete bedeutet der Trip nach Montana Ärger. Robicheaux wird von seinem Kollegen im Missoula County, Joe Bim Higgins, um Mithilfe bei den Morden an der Studentin Cindy Kershaw und ihrem Freund Seymour Bell gebeten. Es dauert nicht lange, da haben es Clete und Dave mit einer ganzen Reihe von unangenehmen Zeitgenossen und merkwürdigen Begegnungen und Ereignissen zu tun. Da findet der entflohene Häftling Jimmy Dale Greenwood unter neuem Namen einen Job bei Daves Freund Albert und wird von dem Gefängnisaufseher Troyce Nix verfolgt, den Greenwood fast tödlich verletzt hatte, nachdem ihn Nix vergewaltigt hatte. 
Greenwood, der ein begnadeter Gitarrist und Sänger ist, will mit Jamie Sue Wellstone durchbrennen, seiner ehemaligen Freundin und ehemals prominenten Country-Sängerin, die es in der Ehe mit dem völlig entstellten Leslie Wellstone nicht mehr aushält. Dass Clete mit der ebenfalls ermittelnden FBI-Agentin Alicia Rosecrans ins Bett steigt, macht die Sache nicht einfacher. Und schließlich mischt noch ein Fernsehprediger mit, der längst nicht so fromm ist, wie er es nach außen hin erscheinen lässt … 
„Unser Leben war untrennbar mit Gewalt und Blutvergießen verbunden. Wir hatten unsere Jugend in Vietnam verloren und ein Souvenir nach Hause gebracht, das uns Albträume bis ans Lebensende bescherte. Wir hatten aus der Vergangenheit nichts gelernt, sondern waren verdammt, unsere Fehler zu wiederholen. Dieser Parkplatz hier war vielleicht nur ein weiterer Zwischenstopp auf unserer deprimierenden Odyssee.“ (S. 370f.) 
Mit seinem 17. Band, der unter dem Originaltitel „Swan Peak“ bereits 2009 erschienen war, legt der mehrfach preisgekrönte Autor James Lee Burke ein ungewöhnlich handlungsintensives Krimi-Drama vor, das mit dem Mord an einem Studentenpärchen beginnt, aber sehr schnell weite Kreise zieht, in denen auch Cletes Vergangenheit mit dem Mafioso Sally Dio wieder aufgewärmt wird. 
Vor allem ist es eine weit verzweigte Geschichte um Sex, Gewalt, Korruption und Verrat, in der viele, oft undurchsichtige Typen mitmischen. Bei so vielen Nebenschauplätzen, die allerdings alle miteinander verknüpft sind, bleiben einige Figuren allerdings ziemlich auf der Strecke, vor allem Daves Frau Molly, aber auch die für Burke typischen atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen kommen etwas zu kurz. 
Dafür bietet er einen durchweg packenden Plot, bei dem zwar viele Zufälle für immer neue Konstellationen und Begegnungen führen, der aber den Leser bis zum furiosen Finale in Atem hält. 

Jim Thompson – „Es war bloß Mord“

Sonntag, 18. Juli 2021

(Diogenes, 246 S., Tb.) 
Joe Wilmot unterhält mit seiner Frau Elizabeth in der Kleinstadt Stoneville mit 7500 Einwohnern das größere von zwei Kinos, wobei ihnen auch das zweite, allerdings leerstehende Filmtheater gehört. Durch seinen geschickten, durchaus manipulativen Umgang mit seinem Vermieter Andy Taylor, den Filmverleihern, Konkurrenten und seinen Angestellten hat er das Kino zum erfolgreichsten Kleinstadtkino im ganzen Staat gemacht. Doch die Fassade eines erfolgreichen Unternehmers fängt an zu bröckeln, als Elizabeth, die Joe damals beileibe nicht aus Liebe geheiratet hat, mit der unscheinbaren Carol Farmer eine Haushaltshilfe einstellt, die eigentlich nicht notwendig ist. Gerade als Joe mit Carol eine Affäre beginnt, wird er in flagranti von seiner Frau ertappt. 
Joe kann nicht genau sagen, wann sein Leben die verkehrte Richtung einschlug, ob die Affäre mit Carol der Auslöser war oder schon die Tatsache, dass er das Kino seines Konkurrenten Bower dichtmachte oder er und Elisabeth nach der Heirat für sich je eine Versicherung über zwölftausendfünfhundert Dollar abschlossen. Möglicherweise lag die Wurzel allen Übels auch in Joes Aufenthalt in Waisenhäusern und Besserungsanstalten oder in der kriminellen Vergangenheit von Carols altem Herrn. Elizabeth will aber nicht die Scheidung, sondern schmiedet einen Plan, der ihr 25.000 Dollar einbringt, was exakt die Summe ist, die bei dem Unfalltod eines der Versicherten ausgezahlt wird. So wird ein Plan geschmiedet, bei dem Elizabeth spurlos untertaucht und ein Brand in dem Kino inszeniert wird, bei dem eine Frau von außerhalb ums Leben kommt, die für Elizabeth gehalten wird. Nach Auszahlung der Versicherungssumme würden sowohl Elizabeth als auch Joe mit Carol die Gelegenheit bekommen, ein ganz neues Leben anzufangen. 
Doch dann beginnen ihm nicht nur der Kinokettenbesitzer Sol Panzer, sondern auch sein Vermieter, der Filmverleiher Hap Chance und Appleton, der Mann von der Versicherungsgesellschaft, ordentlich zuzusetzen. Aber für Joe gibt es da schon keinen Weg mehr zurück. 
„Ich musste weitermachen. Ich musste den Wert des Barclay erhalten, damit ich mir Haps und Andys Schweigen erkaufen konnte. Wenn ich Schwein hatte, sprang am Ende doch noch was für mich raus. Wenn ich Pech hatte – nur ein klein wenig -, tja … Es war nicht gerecht. Es war verrückt. Dieser ganze Ärger, nur wegen einer Frau, die ich nicht kannte, nie gesehen hatte; einer Frau, die, wenn man’s richtig betrachtete, absolut nichts hermachte.“ (S. 130) 
James Myers „Jim“ Thompson (1906-1977) zählt heute zu den besten Noir-Krimi-Autoren, die das Erbe von Dashiell Hammett, Raymond Chandler und James M. Cain angetreten haben. Nach „Jetzt und auf Erden“ (1942) und „Fürchte den Donner“ (1946) war „Es war bloß Mord“ (1949) Thompsons dritter Roman und ein Paradebeispiel für die menschlichen Abgründe, in die sich der Autor mit seinen Romanen bewegte. 
Nicht eine Figur in „Es war bloß Mord“ erweckt beim Leser auch nur einen Hauch von Sympathie. Stattdessen darf man verfolgen, wie jeder und jede einzelne nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und dafür auch vor Mord nicht zurückschreckt. Erpressung stellt dabei noch das geringste Vergehen dar. Mit scharfzüngigen, knackigen Dialogen, die später auch Regisseure wie Stanley Kubrick (der Thompson an den Drehbüchern zu „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ mitwirken ließ) oder Schriftsteller wie Stephen King zu schätzen lernten, kreiert der zum Ende seines Lebens völlig verarmte Autor hier eine bitterböse Atmosphäre, die die Figuren schnurstracks ins Verderben rennen lassen. 
Die feinen Beobachtungen über das Studiosystem in Hollywood der 1940er Jahre und der lakonische Schreibstil macht „Es war bloß Mord“ zu einem kurzweiligen, düster-makabren Krimi-Vergnügen, das Thompson zwar noch nicht auf der Höhe seiner Schaffenskraft zeigt, aber beweist, wie sehr Habgier, Gewalt und Korruption bei Thompson in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind. 

 

Tom Franklin – „Wilderer“

Sonntag, 11. Juli 2021

(Pulp Master, 256 S., Tb.) 
Der in der Kleinstadt Dickinson, Alabama, geborene Tom Franklin hat kurz nach seinem Studium an der University of Southern Alabama in Mobile und dem 1998 erhaltenen Master of Fine Arts an der University of Arkansas mit „Poachers“ seine erste Sammlung mit Kurzgeschichten veröffentlicht, die 2020 vom Berliner Verlag Pulp Master unter dem programmatischen Titel „Wilderer“ auch hierzulande herausgebracht wurde und den Weg weist auf Franklins nachfolgenden Romane „Smonk“ und „Krumme Type, krumme Type“. 
In den zehn Geschichten widmet sich Franklin ausnahmslos und wie in seinen Romanen den Menschen am unteren Rande der Gesellschaft. Es sind die noch tief im Rassismus verwurzelten verkrachten Existenzen in Alabama, die eher schlecht als recht über die Runden kommen und entweder aus Zufall oder Not auf die kriminelle Spur gelangen. Mit dem Prolog „Jagdzeit“ gibt Franklin zunächst einen Einblick in sein eigenes Leben, in die Jugend, als er im Dezember mit seinem Bruder Jeff zu jagen ging, wie er im Alter von dreißig Jahren zu einem weiterführenden Studium nach Fayetteville, Arkansas, ging, aber sich stets in Alabama zu Hause fühlte, wo auch seine Geschichten spielen. 
„Mein Süden – der mir bis heute im Blut liegt und meine Vorstellungswelt bestimmt, der Süden, in dem diese Geschichten spielen – ist das südliche Alabama, üppig, grün und voller Tod, die waldreichen Countys zwischen dem Alabama und dem Tombigbee River.“ (S. 5) 
Nach diesem Einblick in das besondere Verhältnis zu seiner Heimat legt Franklin mit „Kies“ seine erste eindrucksvolle Geschichte vor, in der der zweiundvierzigjährige Glen als Geschäftsführer eines Kieswerks nördlich von Mobile von den beiden in Detroit lebenden Besitzern Ernie und Dwight angewiesen wird, der Zweimannnachtschicht zu kündigen. Für Roy Jones bedeutet das keinen Beinbruch. Schließlich verdient er als Buchmacher nicht schlecht nebenher, auch Glen steckt bei ihm mit über viertausend Dollar in der Kreide. Roy kann den halben Alkoholiker und notorischen Spieler Glen dazu überreden, mehrmals in der Woche schwarz Black-Beauty-Sandstrahlgut an einen „unabhängigen Abnehmer“ zu liefern. Roy hat zudem gute Verbindungen nach Detroit, ist über unangekündigte Besucher von Ernie und Dwight rechtzeitig informiert und versorgt diese mit Prostituierten und Alkohol, so dass sie sich im Kieswerk nur kurz blicken lassen. Doch als sich Glen nicht mehr von Roy bevormunden lassen will, findet er zunehmend Gefallen an dem Gedanken, selbst das Spiel von Intrigen, Gewalt und Korruption zu spielen … 
In „Shubuta“ beschreibt Franklin eine Welt voller stillgelegter Traktoren, trockener Felder, Häuser auf Betonhohlblöcken, erzählt von dem schwarzen Wassermelonen-Farmer Willie Howe, der sich durch das Auge schoss, weil seine Alte ihn verlassen hatte, von Onkel Dock, der seine fette Nachbarin dabei beobachtet, wie sie regelmäßig Besuch von einem dürren Hippie bekommt, mit dem sie auf der Veranda Joints durchzieht und ihn dann ins Haus bittet, um sich mit ihm zu vergnügen. „Die Ballade von Duane Juarez“ beschreibt der unscheinbare, mittellose und geschiedene Ich-Erzähler, wie sehr er seinen reichen Bruder Ned beneidet, der ständig die intelligentesten und hübschesten Frauen abschleppt. Als Ned ihm eines Tages eine Tüte mit einer silbernen Pistole und 22er-Patronen überreicht, sieht er die Chance auf ein besseres Leben für sich. 
Mit der abschließenden Titelgeschichte „Wilderer“, mit gut 80 Seiten die längste und stärkste Story, präsentiert Franklin ein packendes Southern-Noir-Drama, das von den drei Gates-Brüdern handelt, die zunächst einen Wildhüter töten, der sie beim Wildern erwischt hat, und dann nacheinander selbst unter mysteriösen Umständen sterben. Der alte Kirxy, Tankstellenbetreiber und Ladenbesitzer, hat sich stets als Ersatzvater für die Jungen betrachtet und glaubt, dass Frank David, der neue Wildhüter, für die Morde an den Gates-Jungen verantwortlich ist. 
Es ist eine harte, unbarmherzige Welt, in der Franklins Figuren ums Überleben kämpfen und unter psychischem oder finanziellem Druck schnell zu gewalttätigen und endgültigen Lösungen tendieren, die ihre Situation letztlich nicht verbessern. Franklin beschreibt nicht nur eindringlich die außergewöhnliche Natur, sondern zeichnet auch sehr fein die Charakterzüge seiner Figuren, die sich zwischen Spielschulden, Alkohol, Verbrechen, Krankheit, Einsamkeit und Prostitution aufreiben und früher oder später daran zugrunde gehen. Das gelingt dem Autor gerade mit der letzten Geschichte auf so unnachahmlich faszinierende und packende Weise, dass es bedauerlich ist, dass Franklin bislang so wenig veröffentlicht hat. Zuletzt erschien mit „Das Meer von Mississippi“ ein Roman, den er mit seiner Frau Beth Ann Fennelly geschrieben hat.  

Simon Beckett – (Jonah Colley: 1) „Die Verlorenen“

Donnerstag, 8. Juli 2021

(Wunderlich, 416 S., HC) 
Zwar veröffentlichte der in Sheffield geborene und lebende Schriftsteller Simon Beckett auch schon seit Mitte der 1990er Jahre einige Romane, doch erst mit „Die Chemie des Todes“, dem 2006 inszenierten Auftakt seiner Reihe um den Forensiker David Hunter, gelang Beckett der internationale Durchbruch. Nach fünf weiteren Hunter-Romanen und dem davon unabhängigen Bestseller „Der Hof“ markiert „Die Verlorenen“ nun den Beginn einer neuen Reihe des britischen Erfolgsautors. 
Vor zehn Jahren geriet das Leben von Jonah Colley, Mitglied einer bewaffneten Spezialeinheit der Londoner Polizei, völlig aus den Fugen, als sein damals vierjähriger Sohn Theo spurlos von dem Spielplatz verschwindet, den Colley mit ihm aufsuchte. Die Polizei vermutete, dass Theo durch ein Kanalgitter gerutscht und ertrunken sei, und schloss den Fall mangels weiterführender Hinweise ab. Über den Verlust ihres gemeinsamen Sohnes trennte sich Jonah von seiner Frau Chrissie, auch der Kontakt zu Jonahs bestem Freund Gavin McKinney - ebenfalls im Polizeidienst, aber in einer anderen Einheit – brach abrupt ab. 
Umso überraschter ist Colley, als sich Gavin nach so langer Zeit bei ihm meldet und um ein dringliches Treffen bittet, um Mitternacht am Slaughter Quay. Doch als Colley dort mit mulmigem Gefühl auftaucht, ist von seinem ehemals besten Freund nichts zu sehen, sein auf dem Boden liegender Dienstausweis und der unverkennbare Geruch von Blut lassen aber das Schlimmste befürchten. Tatsächlich findet Colley eine völlig entstellte Leiche, dann bei näherer Untersuchung der Umgebung drei weitere in Plastikfolie eingewickelte Körper. Bei einem der Plastikkokons entdeckt Colley sogar noch Lebenszeichen, doch erfährt er nur den Namen der Frau – Nadine -, bevor er selbst niedergeschlagen wird. 
Als Colley später im Krankenhaus wieder zu sich kommt und von Detective Inspector Jack Fletcher befragt wird, erfährt er, dass Gavins mutmaßliche Leiche verschwunden ist, die Frau nicht überlebt hat und die anderen beiden, männlichen Opfer ebenfalls noch nicht identifiziert werden konnten. Während Colley selbst in Verdacht gerät, etwas mit den Morden am Slaughter Quay zu tun zu haben, ermittelt Colley mit zertrümmerter Kniescheibe und Krücken auf eigene Faust. 
Er stellt fest, dass der damals 34-jährige, vielmals vorbestrafte Owen Stokes, den die Cops nach Colleys Beschreibung als Verdächtigen aus dem Park identifiziert haben, auch in den aktuellen Fall verwickelt zu sein scheint, denn offenbar haben Gavin und Stokes Kontakt miteinander gepflegt. Mit der Hilfe von Gavins ehemaligem Partner, dem abgehalfterten Ex-Detective Wilkes, versucht Colley, Hinweise auf Gavins Verwicklungen in die Morde am Slaughter Quay zu finden, doch erst die attraktive Journalistin Corinne Daly kann ihm Namen nennen, die Colley auf die richtige Spur bringen. Als er in einer geheimen Absteige von Gavin McKinney eine vollgestopfte Geldtasche entdeckt, fragt sich Colley, wie tief sein alter Freund wohl in diese Sache verwickelt gewesen ist … 
„Eine Dreiviertelmillion Pfund war ein handfestes Motiv. Es waren schon Menschen für weit weniger gestorben. Das ließ lauter neue und beunruhigende Schlussfolgerungen zu. Falls Gavin mit Stokes gemeinsame Sache gemacht hatte, war es dann nicht möglich, dass er dabei über irgendetwas gestolpert war, das ihn die Ereignisse vor zehn Jahren in einem neuen Licht hatte sehen lassen? Also etwas, das mit Theo zu tun hatte? Womit sich der Kreis schloss und Jonah erneut vor der Frage stand, warum ihn Gavin an jenem Abend angerufen hatte.“ (S. 253) 
Mit dem forensischen Anthropologen David Hunter hatte Beckett Mitte der 2000er Jahre einen Protagonisten geschaffen, der durch den Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter schwer traumatisiert aus London wegzog, um als Assistenz eines Landarztes ein neues Leben zu beginnen. Sein neuer Seriencharakter Jonah Colley trägt eine ähnlich schwere Last mit sich herum. Dabei hat er nicht nur das Verschwinden seines Sohnes vor zehn Jahren, die Trennung von seiner Frau und das Ende seiner Freundschaft mit Gavin zu verkraften, sondern auch die Ungewissheit, ob Theo vielleicht noch lebt. Beckett mag dieser Hintergrund genügen, um seinem Helden eine tiefgründige Persönlichkeit zu verleihen, doch außer harten Fakten bekommt der Leser kein wirkliches Gefühl für Colleys seelische Nöte. Statt seinen Protagonisten sorgfältig einzuführen, legt Beckett gleich mit der Action los und lässt seine auf Dauer zunehmend überkonstruiert wirkende Geschichte auch eher vom Tempo als von psychologischer Tiefe bestimmen. 
So fällt es einem als Leser schwer, eine Beziehung zu Colley aufzubauen, und auch die Nebenfiguren, von dem trinksüchtig-schmuddeligen Ex-Cop über die attraktive Journalistin bis zu den skeptischen Ermittlern, wirken erschreckend eindimensional und wie ausgelutschte Klischees. Es ist einzig dem ausgeklügelten, nicht immer glaubwürdigen, aber mit durchgängig straffem Tempo inszenierten Plot zu verdanken, dass „Die Verlorenen“ nicht ganz in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Für die Fortsetzungen ist auf jeden Fall sehr viel Luft nach oben.  

Tom Franklin – „Krumme Type, krumme Type“

Montag, 5. Juli 2021

(Pulp Master, 402 S., Tb.) 
Larry Ott, 41, ledig, lebt allein im Haus seiner Eltern im ländlichen Mississippi, kümmert sich um seine Hühner, betreibt eine schlecht gehende Werkstatt und besucht regelmäßig seine an Alzheimer erkrankte Mutter im Pflegeheim, die zunehmend weniger gute Tage hat als schlechte. Seit Larry vor 25 Jahren verdächtigt worden ist, für das Verschwinden von Cindy Walker verantwortlich gewesen zu sein, da er offenbar der Letzte gewesen war, der sie lebend sah, wird er vor allem „Scary“ Larry genannt und von allen Menschen gemieden. 
Als er eines Abends nach Hause kommt, steht ihm ein Mann mit einer Zombiemaske gegenüber und schießt auf ihn. Larry wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, fällt ins Koma, kommt aber durch. Chief French übernimmt die Ermittlungen, stellt einen Wachposten vor Larrys Krankenzimmer und hofft auf ein Geständnis, sobald Larry wieder ansprechbar ist, denn es scheint klar, dass der Mann, der sich offenbar selbst erschießen wollte, auch für das Verschwinden der kleinen Rutherford, der Tochter des Sägewerkbesitzers, vor acht Tagen verantwortlich gewesen ist. 
Nur Silas Jones, seit zwei Jahren – der einzige – Gesetzeshüter von Chabot, weiß, dass Larry Ott nicht der Täter gewesen sein kann. In ihrer Kindheit in den 1970er Jahren waren Larry und Silas nämlich so etwas wie geheime Freunde und so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Larry, weiß, dicklich, unsportlich und eine Leseratte mit einer besonderen Vorliebe für Stephen King, war der typische Nerd und Außenseiter, während der schwarze Silas ein grandioser Baseballspieler mit Zukunft ist, es aber mit seiner alleinerziehenden Mutter schwer hat, über die Runden zu kommen. Nur Silas und Larry wissen, was sie einander verbindet, doch gingen sie irgendwann getrennte Wege, behielten ihre jeweiligen Geheimnisse über die Jahre für sich. Doch als Silas bemerkt, dass nur er allein dafür sorgen kann, dass Larry nicht für zwei Morde belangt wird, die er nicht begangen hat, bringt er Klarheit in die Geschichte, während Larry unabhängig davon plant, seine Geschichte zu erzählen … 
„Larry beschloss zu reden, sobald French ins Krankenhaus käme. Erzählen, woran er sich erinnerte. Dass er zunächst eine Art Beschützerinstinkt gegenüber dem Mann empfunden hatte, der auf ihn geschossen hatte. Der sein Freund gewesen war. Aber er hatte ja auch geglaubt, Silas wäre sein Freund gewesen, oder? Vielleicht täuschte er sich ja, was das Wort Freund anging, vielleicht war er schon so lange von allen weggestoßen worden, dass er nur noch ein Schwamm für die Untaten war, die andere begingen.“ (S. 347) 
Schon mit seinem bei Heyne als Hardcover veröffentlichten Debütroman „Die Gefürchteten“ hat sich Tom Franklin als großartiger Erzähler in der Tradition von Cormac McCarthy, William Faulkner, Flannery O’Connor, James Lee Burke oder Joe R. Lansdale erwiesen. Nach „Smonk“ präsentierte er mit „Krumme Type, krummer Type“ einen vielschichtigen Kriminalroman über zwei Verlierer-Typen, die im rassistischen Milieu der Südstaaten der 1970er Jahre fast so etwas wie Freunde geworden wären, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Franklin erzählt die Geschichte der beiden Männer aus unterschiedlichen Perspektiven, beleuchtet mal Silas‘, dann Larrys Geschichte, springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, bis sich die Puzzleteile des Dramas allmählich zusammenfügen. Der Autor bleibt stets dicht bei seinen Figuren, charakterisiert sie mit all ihren persönlichen Facetten und entwickelt gerade in der sukzessiven Enthüllung der tragischen Nacht vor 25 Jahren einen Sog, der den Leser bis zum packenden Finale souverän in seinen Bann zieht. Es ist aber auch eine berührende Geschichte über Rassismus und die Art und Weise, wie Männer mit Geheimnisse umgehen. Kein Wunder, dass „Crooked Letter, Crooked Letter“ – so der Originaltitel - in Baden-Württemberg im Fach Englisch zum Abiturstoff zählt, Platz 1 der Krimibestenliste belegte und 2019 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde.