Als der geizige Vater stirbt, versammelt sich die Familie bei der neunzigjährigen Mutter, die von dem sechzigjährigen Ich-Erzähler Jay Justus als „undurchschaubar und rätselhaft, manchmal uneinsichtig, wie eine zornige Gottheit“ beschrieben wird. Doch damit sind nur einige der vielen Eigenschaften umrissen, mit der die Matriarchin in ihrem Domizil auf Cape Cod über ihre sieben Kinder (die eine Stunde nach ihrer Geburt verstorbene, von Mutter wie eine Heilige verehrte Angela nicht mitgezählt) herrscht. Die mehr oder weniger gut kaschierte Verachtung für ihre Brut schlägt sich im Neid und Hass unter den Geschwistern nieder.
Der Ich-Erzähler Jay hat sich durch Reiseromane, halbbiografische Romane und Zeitschriftenartikel einen Namen gemacht und es sich nun zur Aufgabe gemacht, über die Gesetzmäßigkeiten im gefürchteten „Mutterland“ zu berichten. Kurz werden Jays Geschwister skizziert, vor allem der erfolgreiche, in aller Welt arbeitende Anwalt Fred, der zu Mutters Berater, Verteidiger und Welterklärer avancierte, und der Universitätsprofessor und erfolgreiche Lyriker Floyd, der nicht müde wird, sein geballtes Wissen in scharfzüngigen Kommentaren zu demonstrieren.
Außerdem gehören noch die beiden korpulenten Lehrerinnen Franny und Rose, der grüblerische Krankenpfleger Hubby und der von Mutter besonders geliebte Diplomat Gilbert zur Familie. Geschickt sorgt Mutter mit ihren intriganten Winkelzügen dafür, dass die Kinder sie regelmäßig mit Geschenken besuchen, ihr die vertraulichsten Dinge erzählen, damit sie diese an ihre übrigen Kinder weitertragen kann, natürlich so verzerrt, dass das entblößte Opfer möglichst gierig, hartherzig und unsensibel dasteht. Dieses sorgsam von Mutter aufbereitete Misstrauen zwischen den Kindern wahrt die Macht der Matriarchin, die stolz verfolgt, wie andere alte Leute unter Medikamenteneinfluss stehen, bis sie sterben, während sie selbst nicht müde wird zu betonen, nichts zu nehmen. Selbst als Hundertjährige im Seniorenheim hat Mutter noch alles im Griff, während sich die Kinder darum streiten, wer gerade besonders hoch in Mutters Gunst steht und wer nicht.
„Für Mutter war Loyalität gefährlich, wie eine obskure Form des Betrugs. Liebe unter den Geschwistern hätte sie nie geduldet. Liebe hätte uns unzuverlässig gemacht, denn sie stand unserer ersten, allerwichtigsten Pflicht im Weg: Gehorsam gegenüber ihr, Mutter.“ (S. 248)Der 1941 in Medford, Massachusetts, geborene, heute mit seiner Familie auf Hawaii und Cape Cod lebende Paul Theroux hat sich vor allem als Reiseschriftsteller einen Namen gemacht und fügt nicht nur diese Erfahrungen immer wieder in seinen epischen Familienroman ein: der Leser darf durchaus davon ausgehen, dass die so detailliert entblätterte Familienchronik einige weitere biografische Züge aufweist. Interessant ist dabei vor allem, dass Theroux‘ „Mutterland“ gerade mal das letzte Jahrzehnt von Mutters tyrannischer Herrschaft über die Familie umfasst, beginnend mit Vaters Begräbnis. Zwar werden einzelne Episoden aus der früheren Familiengeschichte wie im Zeitraffer skizziert, aber Theroux lässt seinen ebenfalls schriftstellerischen Ich-Erzähler geradezu genüsslich die Einzelheiten der innerfamiliären Zerwürfnisse rekapitulieren, wobei die Entdeckung von Mutters verräterischen Scheckheft durch Floyd und Jay einen dramatischen Höhepunkt darstellt, denn nun haben die beiden Brüder den schriftlichen Beweis, dass vor allem Franny und Rose erhebliche finanzielle Zuwendungen durch ihre sonst eher knauserig auftretende Mutter erhalten haben.
Ansonsten geschieht nicht viel auf den über 600 Seiten, außer dass Jay minutiös die irreführenden Telefonate und Gespräche, die Mutter mit einzelnen Kindern führt, und deren verfälschten Wiedergabe an die anderen Geschwister beschreibt und so sehr genau sowohl die von Mutter indoktrinierten Kinder als auch Mutter selbst charakterisiert.
Das ist zuweilen etwas eintönig, weil dieses Konzept von Mutters Herrschaft sehr starr durchgezogen wird und wenig Raum für die persönliche Entwicklung ihrer Kinder bereithält, die aber durchaus teilweise beachtliche Karrieren aufweisen. Theroux gelingt es allerdings durch sein feines Sprachgefühl und viel Witz, die familiären Fehden und Sticheleien äußerst kurzweilig zu gestalten und keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sich der Ich-Erzähler auch im hohen Alter noch immer wie ein Kind fühlt.
Leseprobe Paul Theroux - "Mutterland"
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