Peter Straub – „Mister X“

Sonntag, 26. Januar 2020

(Heyne, 608 S., HC)
Ned Dunstan, dessen Mutter bei seiner Geburt gerade mal achtzehn Jahre alt war und der seit seinem fünften Lebensjahr immer zwischen seiner Heimatstadt Edgerton und einer Reihe von Pflegeeltern hin- und herpendelte, macht sich auf eine Vorahnung hin per Anhalter auf den Weg nach Edgerton, um seine im Sterben liegende Mutter zu besuchen. Valerie „Star“ Dunstan hatte ein wechselhaftes Leben mit verschiedenen Liebhabern und einer Leidenschaft für die Kunst hinter sich und zuletzt bei zwei älteren Brüdern direkt über dem von ihnen betriebenen Club gewohnt, in dem sie an den Wochenenden zwei Sets mit dem Trio des Hauses sang. Aber über ihre Familiengeschichte hat sie ihrem Sohn gegenüber nie etwas verlauten lassen.
Ned hatte schon früh in seinem Leben das Gefühl, dass ihm etwas fehle, dass er nicht vollständig sei, was sich gerade in den alljährlichen Anfällen zu seinem Geburtstag manifestiert, die mit grauenvollen Halluzinationen einhergehen, bei denen er grässliche Morde aus der Perspektive des Täters miterleben muss, den er mangels besseren Wissens „Mister X“ nennt. Seine Tante Nettie verrät ihm, dass die Familie Dunstan schon immer mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet gewesen sei. Die letzte Etappe seiner Reise von New York nach Edgerton verbringt Ned an der Seite der attraktiven Staatsanwältin Ashleigh Ashton, die Beweise für die kriminellen Machenschaften von Stewart Hatch sammeln soll, der in Edgerton als Strippenzieher bekannt ist.
Am Sterbebett seiner Mutter erfährt Ned, dass er offenbar einen Zwillingsbruder habe, der nach der Geburt von der Hebamme Hazel Jansky entführt und illegal an Adoptiveltern verkauft worden sei. Und noch einen Namen gibt sie ihrem Sohn auf den Weg: Edward Rinehart. Bei seinen Nachforschungen verliebt sich Ned ausgerechnet in Laurie, die Frau von Stewart Hatch, und stößt auf immer neue Namen, die merkwürdigerweise auch in den Werken von H.P. Lovecraft auftauchen. Ned begibt sich in die verruchteren Viertel von Edgerton und macht endlich die Bekanntschaft mit seinem Bruder Robert, mit dem ihn eine außergewöhnliche Fähigkeit verbindet …
„War ich tatsächlich ins Jahr 1935 gereist, um Howard Dunstan aufzusuchen?
So verrückt konnte ich doch nicht sein. Allerdings hatte ich auch nicht den Eindruck, eine Halluzination gehabt zu haben. Die Dunstans waren keine durchschnittliche amerikanische Familie, obgleich wir uns bezüglich unserer Funktionsstörungen mit den besten Familien des Landes messen konnten.“ (S. 328) 
Peter Straub hatte zu Beginn seiner Karriere mit Bestsellern wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ bewiesen, dass er neben Stephen King, Clive Barker, Ramsey Campbell und Dean R. Koontz zu den besten Horror-Autoren seiner Generation zählt, doch mit späteren Werken konnte er an die frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen. Der 1999 in den USA und ein Jahr später auch hierzulande veröffentlichte Roman „Mister X“ macht auch deutlich, warum Straub sich aus der ersten Liga seiner Zunft verabschiedet hat. Die an sich interessante Geschichte eines jungen Mannes, der kurz vor seinem 35. Geburtstag nicht nur seine Mutter nach einem Schlaganfall verliert, sondern ganz neue Einblicke in die eigene Familiengeschichte erhält und dabei mit übernatürlichen Fähigkeiten konfrontiert wird, fängt äußerst interessant an. Doch kaum hat der Ich-Erzähler Ned Dunstan die Vorstellungskraft des Lesers angeregt und sich als vielschichtige Persönlichkeit vorgestellt, gerät der Erzählfluss auch schon ins Wanken. Denn der Wechsel der Perspektive zu den schwer nachvollziehbaren Taten und Gedanken des mysteriösen Mister X geht nicht nur mit einem anderen Ausdrucksstil einher, sondern knüpft auch Verbindungen zu Lovecrafts berühmten Cthulhu-Mythos und dessen Alten Göttern, ohne dass bis zum Ende des weitschweifigen Romans wirklich sinnvoll dargelegt wird, was die Faszination von Mister X für Lovecrafts Schaffen mit dem Schicksal der Dunstans zu tun hat.
Die unterschiedlichen Namen hinter ein- und derselben Person, die Sprünge zwischen den Erzählperspektiven und in der Zeit – zu denen Ned auch noch selbst fähig ist, in dem er „Zeit frisst“ – sowie die komplexen Verbindungen zwischen den Familien Hatch und Dunstan verwirren bei den unzähligen beteiligten Figuren nur mehr, als dass sie die verworrenen Handlungsstränge zusammenführen.

Stephen King – „The Stand – Das letzte Gefecht“

Freitag, 17. Januar 2020

(Bechtermünz Verlag, 1199 S., HC)
In der etwas nördlich von Arnette, Texas, an der US 93 gelegenen Tankstelle saßen die Sozialhilfeempfänger Norman Bruett und Tommy Wannamaker, die in der Rechnerfabrik Teilzeit arbeitenden Henry Carmichael und Stu Redman, der Rentner Victor Palfrey und Tankstellenbesitzer Bill Hapscomb sitzen abends gemütlich beim Bier zusammen, als ein alter Chevy auf die Zapfsäulen zusteuert und sie umpflügt. Für die Insassen kommt jede Hilfe zu spät. Offensichtlich waren sie bereits vor dem Unfall schwer erkrankt, so dass der Fahrer keine Kontrolle mehr über seinen Wagen hatte. Wie sich schnell herausstellt, ist aus einem geheimen Militärlabor ein mutiertes Grippevirus entwichen, dessen Ausbreitung das Militär nicht verhindern konnte. Mit einer Ansteckungsquote von 99,4 Prozent rafft „Captain Trips“ in kürzester Zeit nicht nur die Bevölkerung von Texas, Maine und Nebraska dahin, sondern auf der ganzen Welt. Allerdings sind einige Tausende immun gegen das Virus. Sie werden von unterschiedlichen Träumen heimgesucht, die zum einen von einer alten schwarzen Frau namens Abagail Freemantle und andererseits von einem dunklen Mann namens Randall Flagg handeln.
Die Überlebenden der Supergrippe machen sich auf den Weg, wohin ihre Träume sie führen. Während sich die Anhänger der über hundertjährigen Frau auf den Weg in Richtung Nebraska machen, wo die gutmütige Frau in einem Haus nahe einem Maisfeld lebt, ziehen die weniger gottesfürchtigen Menschen nach Las Vegas, wo Flagg eine schlagkräftige Truppe zusammenstellt, um die Herrschaft über die neue Welt nach der Pandemie an sich zu reißen. In Boulder, Colorado, gründet sich schließlich eine Freie Zone unter der Schirmherrschaft der alten Dame. Stu Redman, der sich unterwegs in die schwangere Studentin Frannie Goldsmith aus Ogunquit, Maine, verliebt hat, wird zum ersten Marshall ernannt und führt schließlich auch das Übergangskomitee an, dem auch der taubstumme Nick Andros und der ehemalige Star-Musiker Larry Underwood angehören.
Mutter Abagail, die Boulder auf sich allein gestellt verlässt, um für eine Sünde zu büßen, schickt nach ihrer Rückkehr Stu, Larry, Glen Bateman und den alten Richter Farris auf den Weg nach Las Vegas, um den Dunklen Fürsten zu vernichten, doch kehren nicht alle wieder lebend zurück. Zudem hat Randall Flagg auch in Boulder Anhänger, darunter Harold Lauder, dessen Liebe zu Frannie nicht erwidert worden ist, und Nadine Cross, die wiederum nicht bei Larry landen konnte und bei der Mutter Abagail bereits bei ihrer ersten Begegnung ein merkwürdiger Schauder befiel.
„Sie war noch nicht darüber hinaus, Angst um sich selbst zu empfinden, und einen Augenblick dachte sie, diese seltsame Frau mit den weißen Strähnen im Haar würde fast beiläufig die Hand ausstrecken und ihr das Genick brechen. Den einen Augenblick lang, den dieses Gefühl anhielt, bildete sich Mutter Abagail tatsächlich ein, das Gesicht der Frau wäre verschwunden und sie würde in ein Loch in Raum und Zeit sehen, ein Loch, aus dem zwei dunkle und verfluchte Augen sie betrachteten – Augen, die verloren und verzweifelt und hoffnungslos waren.“ (S. 688) 
Als Stephen King 1978 seinen apokalyptischen Roman „The Stand“ an den Mann bringen wollte, hatte er gerade mal die drei Romane „Carrie“, „Brennen muss Salem“ und „Shining“ veröffentlicht, so dass es seinem Verleger zu riskant erschien, ein 1200-Seiten-Epos von einem noch nicht wirklich etablierten Autor herauszubringen. Zwölf Jahre später sah die Sache schon wieder ganz anders aus, so dass die zuvor um 400 Seiten gekürzte Version nun doch in seiner ursprünglichen Fassung erscheinen konnte.
In „The Stand – Das letzte Gefecht“ entwirft King ein nicht allzu unrealistisches Szenario. Schließlich haben sowohl Reaktorunfälle als auch verschiedene Viren-Epidemien immer wieder zu drastischen Massensterben und Notfallmaßnahmen geführt. King nimmt sich sehr viel Zeit, die Folgen der verbreiteten Seuche auf einer sehr persönlichen Ebene zu schildern, was ihm zugleich die Möglichkeit gibt, seine wichtigsten Figuren in ihren jeweiligen Lebensumständen vorzustellen. Statt also die Auswirkungen von „Captain Trips“ auf der ganzen Welt zu thematisieren, beschränkt sich King auf ein sehr überschaubares Figuren-Ensemble und verortet sie auch gleich auf der guten und der bösen Seite. Dabei konzentriert er sich aber sehr auf die Menschen, die sich in Boulder um Mutter Abagail versammeln, um wieder eine Zivilisation, Recht und Ordnung aufzubauen, wobei schnell deutlich wird, dass immer mehr Probleme in einer Gemeinschaft auftreten, je größer sie wird.
Randall Flagg, der auch in Kings wichtigstem Werk um den Dunklen Turm die Nemesis des Revolvermanns darstellt, bleibt eher der dunkle Schatten im Hintergrund, eine Vorstellung vom Bösen, die aber auch ihre Anhänger findet. King beschreibt die Konfrontation zwischen den Guten in der Freien Zone und den Bösen im einstigen Spielerparadies von Las Vegas in biblischen Dimensionen, wobei ganz offen Bezüge zu göttlichen und teuflischen Visionen thematisiert werden. Trotz der epischen Ausmaße von „The Stand“ bleiben viele Figuren aber recht blass. So werden zwar die Schicksale von Stu Redman, Frannie Goldsmith, Larry Underwood und Nick Andros sehr eindringlich geschildert, dass sie dem Leser schnell ans Herz wachsen, aber sobald sich die Geschehnisse auf die Freie Zone konzentrieren, verliert das Drama an erzählerischer Kraft. Und auch die Konfrontation zwischen den beiden Menschengruppen verläuft am Ende eher enttäuschend. So ist „The Stand – Das letzte Gefecht“ in seiner vollständigen Ausgabe zwar ein sehr ambitioniertes, in seiner Umsetzung aber nicht immer überzeugendes Werk um den Kampf zwischen Gut und Böse geworden.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 11) „Straße ins Nichts“

Mittwoch, 15. Januar 2020

(Pendragon, 436 S., Pb.)
Obwohl Dave Robicheaux, Detective beim Sheriff’s Department von New Iberia, schon länger den Verdacht hegte, dass Vachel Carmouche, Henker des Staates Louisiana, die beiden kreolischen Zwillingsschwestern Passion und Letty Labiche missbraucht, für die er seit dem Tod ihrer Eltern sorgt, konnte dem Staatsdiener bislang noch keine Straftat nachgewiesen werden.
Als Carmouche eines Tages erschlagen in seinem Haus aufgefunden wird, verhängt der Staat die Todesstrafe für Letty Labiche. Nach acht Jahren in der Todeszelle rückt nun der Tag der Vollstreckung nahe. Robicheaux setzt alles daran, bei Gouverneur Belmont Pugh um einen Aufschub zu bitten, aber da dessen Wiederwahl ansteht, möchte dieser keine unpopulären Entscheidungen fällen.

Von seinem alten Kumpel Clete Purcel, der eine Privatdetektei im French Quarter führt, erfährt er von dem Zuhälter Zipper Clum, der offensichtlich nicht nur Näheres über den Mord an Carmouche weiß, sondern auch über das Verschwinden von Robicheaux‘ Mutter vor dreißig Jahren. Wie es scheint, ist sie von zwei Polizisten als unliebsame Zeugin ermordet worden.
„Was ich jetzt empfand, war nicht Verlust, sondern Diebstahl und Schändung. Man hatte mir das Andenken an meine Mutter gestohlen, den traurigen Respekt, den ich immer vor ihr gehabt hatte. Jetzt lag in einem Aktenordner bei der Polizei in New Orleans eine Kassette mit lauter Lügen, besprochen von einem inzwischen toten Gauner in dem Gefängnis von Morgan City, der behauptete, meine Mutter wäre eine Hure und Trickdiebin gewesen, und ich konnte nichts daran ändern.“ (S. 232f.) 
Robicheaux‘ Ermittlungen ziehen auf einmal weite Kreise. Ein cleverer wie selbstzerstörerischer Killer namens Johnny Remeta schaltet nacheinander alle Zeugen aus, die Näheres über den Mord an Robicheaux‘ Mutter wissen, und als der Detective selbst das Leben des Killers rettet, schwingt sich dieser wiederum zu dessen Schutzengel auf und macht sich an Robicheaux‘ Adoptivtochter Alafair heran.
So steht der Cop vor dem Dilemma, auf der einen Seite Alafair vor dem Soziopathen Remeta zu schützen, auf der anderen Seite ist der Killer als Informant zu wichtig, um ihm einfach das Licht auszublasen. Derweil läuft die Zeit für Letty Labiche in der Todeszelle gnadenlos ab …
Mit dem elften Band in der preisgekrönten Reihe um den temperamentvollen Vietnam-Veteranen, Bootsverleiher und Detective Dave Robicheaux bringt der selbst aus Louisiana stammende Autor James Lee Burke wieder ein dichtes Geflecht aus Korruption in Polizei- und Regierungskreisen zum Vorschein, vor dessen Hintergrund die Mutter des sympathischen Protagonisten ermordet worden ist. Indem Robicheaux sich des Schicksals der noch lebenden Letty und seiner ermordeten Mutter annimmt, taucht er tief in seine eigene Familiengeschichte ein und muss alte (Un-)Gewissheiten in ein neues Licht rücken.
Wie üblich beschreibt Burke in „Straße ins Nichts“ seine Figuren jenseits eindeutiger Gut-und-Böse-Kategorien, sondern als Menschen, die in ihrem Leben nicht immer die richtigen Entscheidungen treffen und dafür früher und später die Quittung präsentiert bekommen. Burke gelingt es einmal mehr, die feucht-tropische Hitze in dem nach wie vor von Rassismus geprägten Süden der USA bildgewaltig und wortgewandt zu beschreiben, ebenso wie die innere Zerrissenheit, die sowohl Robicheaux als auch seinen Freund Purcel prägt.
Am Ende gibt es etliche Tote und Versehrte zu beklagen, und weder Robicheaux noch der Leser bleiben nach etlichen Wendungen und einem furiosen Finale unbeeindruckt zurück.

David Baldacci – (Amos Decker: 3) „Exekution“

Montag, 13. Januar 2020

(Heyne, 542 S., HC)
Als sich Amos Decker, Angehöriger einer Spezialeinheit des FBI, auf den Weg zu einer Besprechung im Hoover Building macht, wird er Zeuge, wie ein Mann erst eine Frau erschießt und sich dann, als er von einem bewaffneten FBI-Wachmann und Decker mit ebenfalls gezogener Pistole festgesetzt wird, selbst richtet. Deckers Team, zu dem die Agenten Alex Jamison, Todd Milligan und Ross Bogart zählen, wird mit der Aufklärung der ungewöhnlichen Tat direkt vor dem FBI-Hauptquartier beauftragt. Dabei lässt sich zunächst überhaupt keine Verbindung zwischen der unbescholtenen 59-jährigen Aushilfslehrerin Anne Berkshire, die sich zudem ehrenamtlich als Betreuerin in einem Hospiz engagiert hat, und ihrem Killer, dem 61-jährigen Selfmade-Millionär und liebenden Familienvater Walter Dabney, herstellen. Es deutet aber alles darauf hin, dass der Mord etwas mit Dabneys beruflicher Tätigkeit zu tun hat, denn als Chef eines erfolgreichen Zuliefererunternehmens für Regierungsaufträge verfügte er über streng vertraulicher Informationen gleich mehrerer Geheimdienste.
Schließlich erfahren Decker und seine Leute, dass Dabney offensichtlich die Spielschulden seines Schwiegersohnes in Paris in Höhe von zehn Millionen Dollar bezahlt hat, wofür er offenbar gezwungen war, Geheiminformationen an feindlich gesinnte Regierungen zu verkaufen. Deckers Truppe wird vom militärischen Geheimdienst DIA gezwungen, sich aus den Ermittlungen zurückzuziehen, bis die leitende DIA-Ermittlerin Harper Brown feststellt, dass Amos Decker mit seinem photographischen Gedächtnis trotz fehlender Sicherheitsfreigabe eine wichtige Unterstützung bei der Aufklärung des Falles sein könnte. Da weder FBI noch DIA wissen, was für brisante Informationen Dabney verkauft haben und wie akut die nationale Sicherheit bedroht sein könnte, läuft den Ermittlern allmählich die Zeit davon …
„Es war beinahe so, als würden die Walzen eines Spielautomaten sich ratternd im Kreis drehen und dann allmählich an Geschwindigkeit verlieren, während das Spiel sich dem Ende nähert und einen entweder zum Verlierer oder zum Gewinner macht, falls dieselben Symbole dreimal nebeneinander erscheinen.
Kommt schon. Reiht euch in der richtigen Reihenfolge auf. Macht mich zum Gewinner. Ich kann es brauchen.“ (S. 471) 
Mit der Reihe um den ehemaligen Football-Profi Amos Decker, der nach einem fundamentalen Zusammenstoß auf dem Spielfeld plötzlich die Gabe besitzt, sich mit photographischer Präzision an jede Kleinigkeit zu erinnern, die sein Gedächtnis aufnimmt, hat Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) seine bislang überzeugendsten Werke abgeliefert. Nach „Memory Man“ und „Last Mile“ darf Amos Decker, der sonst mit seiner Spezialeinheit eigentlich mit der Aufklärung von kalten Fällen beauftragt worden ist, einen aktuellen Vorfall bearbeiten, bei dem er als Zeuge selbst beteiligt gewesen ist. Natürlich tragen die minutiösen Beobachtungen und Rekapitulationen rund um die beiden Todesfälle direkt vor seinen Augen ihren Teil zur Aufklärung bei, aber „Exekution“ besticht vor allem durch akribische Ermittlungsarbeit, die in lebendigen Dialogen dokumentiert wird. Zwar steht Decker mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, die er immer wieder aufklärungsfördernd demonstrieren darf, stets an vorderster Front, aber seine Mitstreiter werden nicht zu bloßen Gehilfen degradiert, sondern bekommen ihren eigenen Anteil am Ermittlungserfolg.
Es ist aber nicht nur faszinierend zu verfolgen, wie in der Zusammenarbeit von DIA und FBI der Background von Anne Berkshire und Walter Dabney an Form gewinnt und die Spekulationen über eine mögliche Verbindung zunehmend konkreter werden. Auch die persönlichen Entwicklungen der Protagonisten bleiben nicht außen vor. So wird die Freundschaft zwischen Decker und Melvin Mars, der Decker sein neues Leben verdankt, nachdem er zwanzig Jahre unschuldig hinter Gittern gesessen hatte, ebenso um interessante Momente bereichert wie die Wohngemeinschaft von Decker und Jamison in einem Gebäude, das Melvin gekauft hat und in dem sich die beiden FBI-Agenten nebenbei als Hausverwalter betätigen. Deckers mangelndes Einfühlungsvermögen in manchen Situationen, aber auch der Fluch der unauslöschlichen Erinnerung an die Morde, denen seine Frau und seine Tochter Molly zum Opfer gefallen sind, sorgen für emotionale Momente in einem durchweg überzeugend inszenierten und souverän geschriebenen Thriller-Drama, das die richtige Mischung aus Spannung, Action, akribischer Ermittlungsarbeit und der Schilderung persönlicher Schicksale besitzt.
Leseprobe David Baldacci - "Exekution"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 2) „Das vierte Opfer“

Montag, 6. Januar 2020

(btb, 288 S., HC)
Kommissar Van Veeteren hat bereits drei Wochen Urlaub am Strand hinter sich – davon eine mit seinem Sohn Erich, der noch zehn Monate seiner Haftstrafe abzusitzen hat -, als ihn Polizeipräsident Hiller darum bittet, die Kollegen bei einem zweifachen Mordfall in der naheliegenden Küstenstadt Kaalbringen zu unterstützen. Vor Ort erfährt er von dem kurz vor seiner Pensionierung stehenden Polizeichef Bausen, dass vor einem Monat dem Drogenabhängigen Heinz Eggers und nun dem Immobilienmakler Ernst Simmel mit einer Axt fast der Schädel vom Körper abgetrennt worden ist. Van Veeteren nimmt zwar nicht Bausens Angebot an, während der Ermittlungen bei ihm zu wohnen, besucht ihn aber fast jeden Abend, um mit ihm erlesene Weine zu trinken, über den Fall zu spekulieren und vor allem Schach zu spielen.
Doch trotz intensiver Befragungen von Nachbarn und Angehörigen der Opfer will sich den Ermittlern kein gemeinsamer Nenner zwischen den Opfern und schon gar kein Motiv erschließen. Erst als mit dem jungen Arzt Maurice Rühme das dritte Opfer des sogenannten „Henkers“ aufgefunden wird, fällt die Gemeinsamkeit auf, dass alle drei Opfer erst Anfang des Jahres nach Kaalbringen gezogen bzw. zurückgekehrt sind. Als ein 35-seitiger Bericht über Rühmes Zeit in Aarlach bei der Polizei in Kaalbringen eintrifft, entdeckt Kommissarin Beate Moerk ein „bizarres“ Detail, doch bevor sie Van Veeterens mittlerweile ebenfalls angereisten Kollegen Münster über ihre Entdeckung ins Bild setzen kann, verschwindet sie spurlos, aber Van Veeteren kann sich noch immer keinen Reim auf die ganze Geschichte machen …
„Es war, als würde dieser ganze Fall hier eigentlich gar nicht existieren. Oder als würde er auf der anderen Seite einer Wand vor sich gehen, einer undurchdringlichen Panzerglasscheibe, durch die er nur unscharf eine Menge unbegreifbarer Menschen und Handlungen erkennen konnte, die langsam nach einer Choreographie abliefen, die er nicht verstand. Alle einzeln, grundlos und ohne tieferen Zusammenhang.“ (S. 148) 
Der zweite Fall, mit dem der schwedische Autor Håkan Nesser uns seinen charismatischen Kommissar Van Veeteren vorstellt, ist bereits durch die ungewöhnliche Tatwaffe etwas Besonderes, aber durch die fehlende Verknüpfung zwischen den drei Opfern und dem nicht erkennbaren Motiv eben auch angenehm knifflig. Während die Ermittlungen durch die Zeugenbefragungen und die Einbeziehung der Presse aber kaum vorankommen, nutzt der Autor die Möglichkeit, seine Figuren etwas näher zu charakterisieren. Dabei macht vor allem das fast schon freundschaftliche Geplänkel zwischen Kaalbringens Polizeichef Bausen und seinem zur Unterstützung eingetroffenen Kollegen Van Veeteren besonders viel Spaß, aber auch die enge Zusammenarbeit zwischen der attraktiven, ungebundenen Kommissarin Beate Moerk und Van Veeterens verheirateten Kollegen Münster sorgt für ein paar schöne Momente. In diesen beiden Paar-Konstellationen und auch in den Van Veeterens Verhören zeigt sich Nessers feines Gespür für eine überzeugende Figurenzeichnung.
Allerdings hätte Nesser hier auch weitaus mehr von seinen Protagonisten preisgeben können. Besonders enttäuschend ist allerdings der „überraschende“ Schluss ausgefallen, bei dem das Motiv für die grausamen Taten einfach nicht überzeugend genug dargelegt wird. So präsentiert der nicht mal 300 Seiten umfassende Krimi zwar einen interessanten Fall und an sich interessante Figuren, doch holt Nesser noch nicht genug aus diesem Potenzial heraus, weshalb die Auszeichnung mit dem „Schwedischen Krimipreis“ etwas überrascht.
Leseprobe Hakan Nesser - "Das vierte Opfer"

Peter Straub – „Reise in die Nacht – The Hellfire Club“

Samstag, 4. Januar 2020

(Heyne, 656 S., HC)
Als Nora Chancel in ihrem Schlafzimmer an der Crooked Mile Road in Westerholm, Connecticut aus einem Albtraum aufwacht, ist sie wieder einmal den Dämonen ihrer Vergangenheit als Krankenschwester in Vietnam entkommen, muss sich aber bald einem neuen Dämon stellen, der bereits einige prominente Frauen in der Gegend ermordet hat. Als Schwiegertochter des Verlegers Alden Chancel, dessen Vermögen und Erfolg sich auf dem 1939 veröffentlichten Bestseller „Reise in die Nacht“ von Hugo Driver gründet. Mit „Reise in die Dämmerung“ und „Reise ins Licht“ sind zwei weniger erfolgreiche Nachfolgeromane erschienen, die aber keine Auswirkungen auf den fast Fankult um Hugo Driver hatten.
Auch Noras nichtsnutziger Ehemann Davey zählt sich zu der besessenen Driver-Fangemeinde, hat aber nur Dank seines großzügigen Vaters eine gutbezahlte Position im Verlag inne. Das wohlgeordnete Leben der Verleger-Familie gerät aber aus den Fugen, als mit Natalie Weil die heimliche Geliebte von Davey Chancel (und seinem Vater) unter mysteriösen Umständen aus ihrem blutgetränkten Schlafzimmer verschwindet und nach ihrer Rückkehr behauptet, von Nora entführt worden zu sein. Doch auf dem Polizeirevier, wo sich auch der überführte Frauenmörder Dick Dart aufhält, wird Nora von Dart als Geisel genommen und entführt. Wie sich herausstellt, befindet sich der glühende, aber psychopatische Driver-Verehrer Dick Dart, der als Rechtsanwalt die rechtlichen Angelegenheiten des Verlages vertritt, auf einem blutigen Feldzug gegen alle, die die Urheberschaft von Drivers „Reise in die Nacht“ anzweifeln.
Die Angehörigen der 1938 verschwundenen Dichterin Katherine Mannheim beanspruchen nämlich das Manuskript des Bestsellers und behaupten, Mannheim sei die wahre Urheberin von „Reise in die Nacht“. Nora versucht sich verzweifelt, aus den Fängen ihres Peinigers zu befreien und in Shorelands, wo Driver vermutlich in den Besitz von Mannheims Manuskript gelangt ist, den wahren Vorgängen zur Entstehung des Kultromans auf die Spur zu kommen. Dabei gerät sie zunehmend in den Bann einer umfassenden Verschwörung.
„Das war nicht nur unglaublich, das war unvorstellbar: Hugo Driver hatte seine beiden letzten Romane um die bestgehüteten Geheimnisse der Familie seines Verlegers herum konstruiert. Kein Wunder, dass sie posthum veröffentlicht wurden, dachte Nora und fragte sich sofort, warum sie überhaupt veröffentlicht worden waren. Sie staunte über das Ausmaß von Alden Chancels Zynismus; er war sicher gewesen, dass außer ihm und seiner Frau niemand den Code entschlüsseln konnte, und hatte aus Drivers Popularität Kapital geschlagen.“ (S. 475) 
Auch wenn Peter Straub mit „Schattenland“ und „Geisterstunde“ wundervolle Horror-Romane geschrieben hat und durch die Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ und „Das schwarze Haus“ bekannt geworden ist, liegt seine Stärke in vielschichtigen Psycho-Thrillern, wie er sie mit „Wenn du wüsstest“, „Koko“ und eben „Reise in die Nacht“ vorgelegt hat. Geschickt konstruiert Straub ein Rätsel über die Entstehung und Urheberschaft eines Bestsellers, verwebt die unterschiedlichsten Schicksale aus der Verlagsbranche zu einem mysteriösen Puzzle, das die sympathische Protagonistin Nora Chancel gegen alle Widrigkeiten allmählich aufzudröseln vermag. In ihrem Leben hat sie schließlich schon als Krankenschwester den Vietnam-Krieg, einen schwächlichen Ehemann und die Anfeindungen ihres Schwiegervaters überlebt, nun kommt noch eine Entführung und Vergewaltigung durch einen glühenden Hugo-Driver-Verehrer dazu.
Es ist eine wilde Odyssee ähnlich der, die der „Reise in die Nacht“-Held Pippin Little erlebt, und bringt Nora nach und nach mit allen möglichen Leuten zusammen, die etwas zur Entwicklungsgeschichte des Romans beitragen können. Dabei fügen sich erst in Shorelands die einzelnen Puzzleteile zu einem schrecklichen Gesamtbild zusammen.
Straub fesselt seine Leser mit den skrupellosen Mechanismen des Buchmarkts und führt die kultische Verehrung von Schriftstellern in Gestalt des psychopathischen Serienmörder Dick Dart als geistige Verwirrung vor. Die Reise, die Nora wider Willen mit ihrem Entführer unternimmt, stellt dabei das eindringliche Kernstück des Romans dar, und Straub gelingt es dabei, sowohl Nora als auch den Widerling Dick Dart äußerst faszinierend zu charakterisieren. Aber auch die detektivische Arbeit, mittels der die hartnäckige Heldin das Geheimnis um „Reise in die Nacht“ enträtselt, ist überzeugend dargestellt und - trotz einiger Längen und unbeantworteter Fragen - wunderbar geschrieben.