Tom Franklin & Beth Ann Fennelly – „Das Meer von Mississippi“

Samstag, 29. Mai 2021

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)  
Tom Franklin ist hierzulande vor allem durch die in Frank Nowatzkis Verlag Pulp Master erschienen Werke „Wilderer“, „Smonk“ und das mit dem Deutschen Krimipreis 2019 ausgezeichnete „Krumme Type, krumme Type“ bekannt geworden, hat aber schon lange zuvor im Heyne Verlag 2005 seinen Roman „Die Gefürchteten“ veröffentlicht. Zusammen mit seiner Frau Beth Ann Fennelly, Autorin eines Sachbuchs und dreier Gedichtbände, legt er nun „Das Meer von Mississippi“ einen Roman vor, der vor dem realen Hintergrund einer fast vergessenen Naturkatastrophe aus dem Jahr 1927 eine temporeiche Abenteuer-, Krimi- und Liebesgeschichte erzählt. 
Damals ließ der titelgebende Mississippi mit einem Pegel von über sechzehn Metern etliche Dämme im gleichnamigen Bundesstaat brechen und überflutete siebzigtausend Quadratkilometer Hinterland. Im April 1927 werden die beiden Prohibitionsagenten Ham Johnson und Ted Ingersoll von ihrem ambitionierten Chef Herbert Hoover nach Hobnob Landing geschickt, wo sie zum einen die beiden seit zwei Wochen verschwundenen Kollegen Little und Wilkinson auffinden und zum anderen die dort ansässigen Schwarzbrenner entlarven. Getarnt als Ingenieure erschleichen sie sich das Vertrauen einiger Ortsansässiger und stellen schnell fest, dass Jess Holliver mehr als alle Offiziellen das Sagen in der Kleinstadt hat. Während Ingersoll das Baby von getöteten Plünderern in die Hände von Hollivers zweiundzwanzigjähriger Frau Dixie Clay übergeben will, die ihr eigenes Baby verloren hatte, bietet Johnson seine Unterstützung bei der Bewachung des Damms an, nachdem bekannt geworden ist, dass Saboteure sechsunddreißig Stangen Dynamik aus Armeebeständen entwendet haben. 
Die Dinge geraten außer Kontrolle, als sich Ingersoll und Dixie Clay ineinander verlieben und der Prohibitionsagent erfährt, dass Dixie und nicht wie vermutet ihr Mann die Destille führt, in der der beliebte Black Lightning Whiskey gebrannt wird. Johnson tötet einen der Saboteure lässt dessen Partner aber in einem Boot fliehen. Als Jesse Wind davon bekommt, dass seine Frau ihn offensichtlich mit einem anderen Mann betrügt, rastet er völlig aus und entführt mit seiner Geliebten Jeanette das Baby, das Dixie Clay so schnell in ihr Herz geschlossen hat. Für Ingersoll und Dixie Clay beginnt nun eine lebensgefährliche Odyssee über das überflutete Mississippi-Delta, auf der Suche nach dem Baby ebenso wie nach Ingersolls Partner … 
„(…) Ham war vielleicht tot. Ingersoll glaubte nicht daran, er war überzeugt, dass er es gespürt hätte – sicherlich würde die Welt sich anders anfühlen, irgendwie verarmt, wenn Ham Johnson nicht mehr darin lebte -, aber so oder so würde er diesen Ort nicht verlassen, ohne seinen Partner gefunden zu haben.“ (S. 360) 
Franklin und Fennelly haben für ihre Geschichte einen realen dramatischen Hintergrund aufgegriffen, dessen Flut die Handlung und die darin verwickelten Figuren unbarmherzig mit sich reißt und vorantreibt. In seiner eineinhalbseitigen Vorbemerkung fasst das Autorenduo kurz die erschütternden Fakten der Mississippi-Katastrophe von 1927 zusammen, bei der über dreihundertdreißigtausend Menschen von Dächern, Bäumen und Deichen gerettet werden mussten. Tatsächlich wird das Schriftstellerpaar seinem selbstgesteckten Anspruch mehr als gerecht, diese schreckliche Episode der amerikanischen Geschichte wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen, da es eindringlich die bedrückende Atmosphäre in Worte fasst, in der die Dämme brachen und die schlammigen, riesigen Wassermengen des Mississippi den meist armen Menschen ihr Zuhause und ihre wenigen Habseligkeiten weggerissen haben. 
In diesem hochdramatischen Rahmen wirkt die eigentliche Geschichte fast schon nebensächlich. Franklin und Fennelly fokussieren sich von Beginn an auf wenige Figuren, deren Persönlichkeit sich zunächst in Rückblenden offenbart wird, wie Jesse Holliver als Pelzhändler die erst dreizehnjährige Dixie Clay kennengelernt und drei Jahre darauf gewartet hat, sie zu heiraten. Nun, mit zweiundzwanzig, hat die junge Frau die Destille ihre Mannes übernommen, während Jesse dafür sorgt, dass der Alkohol unter die Leute kommt. Und von den beiden Prohibitionsagenten erfahren wir, dass sie sich auf den Schlachtfeldern in Frankreich während des Ersten Weltkriegs kennengelernt haben und zu Freunden wurden. 
Doch obwohl das Figurenensemble sehr überschaubar bleibt, versäumen es die Autoren, ihren Protagonisten Tiefe zu verleihen. Stattdessen wirken sowohl Jesse mit seinen unterschiedlich farbigen Augen und seinen Temperamentsausbrüchen mit seiner schlampigen Geliebten ebenso wie Klischees wie Dixie Clay als junge Frau, der das Schicksal übel mitgespielt hat und nun eine zweite Chance erhält. Mit dem Zusammentreffen von Dixie Clay und Ingersoll entfaltet sich die Geschichte in absolut vorhersehbaren Bahnen ohne echte Überraschungsmomente. Selbst die Liebesszenen zwischen Dixie Clay und Ingersoll fehlt es an Inspiration. 
Auf der anderen Seite machen Franklin und Fennelly diese Schwächen durch die jederzeit stimmige Southern-Noir-Atmosphäre wett, die die Leserschaft von Beginn an in den Bann zieht. Eindringlich beschreiben sie, wie die Flutkatastrophe das Leben und die Lebensgrundlagen hunderttausender Menschen bedroht und zerstört hat. Damit bewegen sie sich durchaus in den Gefilden von gefeierten Kollegen wie Joe R. Lansdale und James Lee Burke.  

John Grisham – „Der Polizist“

Sonntag, 23. Mai 2021

(Heyne, 672 S., HC) 
In seinem 1989 veröffentlichten Debütroman „Die Jury“ ließ John Grisham den jungen Anwalt Jake Brigance mit dem Schwarzen Carl Lee Hailey den Vater eines zehnjährigen Mädchens verteidigen, das brutal misshandelt und vergewaltigt wurde, worauf Hailey den geständigen Täter tötete. Über dreißig Jahre später lässt Grisham Brigance in einem ganz ähnlichen Fall die Verteidigung übernehmen. Diesmal nimmt er sich des sechzehnjährigen Drew Gamble an, der sich vor Gericht wegen des Mordes an dem Polizisten Stu Kofer verantworten muss. Kofer war zwar ein guter Polizist, betrank sich aber häufig, zettelte in Bars Schlägereien an und misshandelte auch seine Freundin Josie, der er mit ihren Kindern Kiera und Drew ein Zuhause gab. 
Als Stu eines Nachts nach einem seiner Saufgelage nach Hause torkelt, schlägt er Josie bewusstlos und schläft schließlich seinen Rausch aus. Als die verängstigten Kinder nach ihrer Mutter sehen und sie reglos auf dem Küchenfußboden finden, erschießt Drew den verhassten Mann mit dessen Dienstwaffe und ist beim Eintreffen der Polizei kaum ansprechbar. Sheriff Ozzie Walls nimmt den schmächtigen Drew fest, Richter Omar Noose beauftragt Jake mit der Verteidigung des Jungen, womit sich der ansonsten beliebte Anwalt in der Kleinstadt Clanton, Mississippi, nicht gerade beliebt macht. 
Vor allem Earl Kofer, der Vater des ermordeten Polizisten, fordert lautstark die Todesstrafe für den Jungen. Zusammen mit seiner schwarzen Assistentin Portia, die kurz vor der Aufnahme ihres Jura-Studiums steht, und seinen Freunden/Kollegen Harry Rex und Lucien Wilbanks, setzt Jake alles daran, dem Jungen die bestmögliche Verteidigung zu bieten und ihn möglichst vor der drohenden Todesstrafe zu bewahren. Dazu muss er allerdings vor der Jury die dunkle Seite des getöteten Cops offenlegen … 
„Er dachte an Drew und versuchte wieder einmal vergeblich zu definieren, was Gerechtigkeit bedeutete. Töten musste bestraft werden. Doch ließ es sich nicht manchmal auch rechtfertigen? Wie jeden Tag grübelte er darüber nach, ob er Drew aussagen lassen sollte. Um das Verbrechen rechtfertigen zu können, musste man den Angeklagten selbst anhören, die grauenvolle Situation heraufbeschwören, den Geschworenen deutlich machen, welche Panik im Haus herrschte …“ (S. 455) 
Mit Jake Brigance hat John Grisham ganz zu Beginn seiner Schriftsteller-Karriere einen ebenso sympathischen wie kämpferischen Pflichtverteidiger geschaffen, der fünf Jahre nach dem spektakulären Hailey-Prozess noch immer davon träumt, ein berühmter Prozessanwalt zu werden. Da er jedoch das Herz am rechten Fleck hat, übernimmt er weiterhin die Mandate für nahezu mittellose Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Grisham erweist sich in „Der Polizist“ nicht nur als versierter Erzähler und Dramaturg, der einst das Genre des Justiz-Thrillers zu Bestseller-Form aufpolierte, sondern vor allem als Menschenfreund, der seinen Figuren bei all ihren offensichtlichen Schwächen die Sympathien entgegenbringt, um die Leserschaft auf die Seite des Angeklagten zu ziehen. Den an sich eindeutigen Fall eines Polizistenmordes versieht Grisham mit – wenn auch etwas überzogen wirkenden – derart ungewöhnlichen Umständen, dass sich auch der Leser fragen muss, ob in diesem Fall nicht eventuell der Mord an dem launischen und gewalttätigen Polizisten gerechtfertigt gewesen sein könnte. Das bedrohliche Klima, das in Clanton während des Prozesses herrscht, fängt Grisham ebenso überzeugend ein wie die gekonnt inszenierte Gerichtsverhandlung mit pointierten Dialogen und juristischen Feinheiten, dass es eigentlich unnötig ist, Jakes zweitem Prozess um eine Familie, die bei einem Bahnübergang in einen vorbeifahrenden Güterzug gefahren ist, weil die Warnleuchten nach Zeugenaussagen defekt gewesen sein sollen, größere Aufmerksamkeit zu widmen. 
Am Ende enttäuscht dieser „Smallwood“-Prozess, von dem sich Jake einen Befreiungsschlag für seine finanziell angeschlagene Kanzlei erhofft hat, so dass sich Grisham besser ganz auf den Gamble-Prozess hätte konzentrieren sollen. Mit „Der Polizist“ ist ihm aber auf jeden Fall ein durchweg packender Thriller gelungen, der Grishams Fähigkeiten voll zum Tragen kommen lässt und hoffentlich die eine oder andere Fortsetzung nach sich zieht. 

Lee Child – (Jack Reacher: 14) „61 Stunden“

Montag, 10. Mai 2021

(Blanvalet, 443 S., HC) 
Jack Reacher ist mal wieder unterwegs. An einer Raststätte zwischen Little Town on the Prairie und dem Dakotaland-Museum steigt er einem Bus zu, der eine Senioren-Reisegruppe aus Seattle auf Kulturreise zu Nationalparks, Prärien und Museen bis zum Mount Rushmore führen sollte. Doch in der Nähe der Kleinstadt Bolton, South Dakota, kommt der Bus von der verschneiten Fahrbahn ab, die Passagiere werden von der Polizei schließlich bei Privatleuten in Bolton untergebracht. 
Reacher erfährt, dass Bolton mit seinen über 12.000 Einwohnern deshalb größer ist als auf der Landkarte, weil es ein nagelneues Bundesgefängnis bekommen hat, an das das neue Staatsgefängnis angegliedert worden ist, so dass viele neue Jobs und Motels für die Besucher entstanden sind. 
Reacher kommt aber nicht dazu, die Zeit bis zur Weiterreise auszuspannen, sondern wird gleich vom überfordert wirkenden Polizeichef Holland eingespannt, nachdem er sich über dessen Hintergrund bei der Militärpolizei informiert hat. Die Polizei hat nämlich nicht nur den Mord an einem Anwalt aufzuklären, sondern auch die Kronzeugin im Prozess gegen den kleinwüchsigen mexikanischen Drogenboss Plato, die frühere Lehrerin und Bibliothekarin Janet Salter, zu beschützen. Holland und sein Stellvertreter, Andrew Peterson, rechnen damit, dass Plato jemanden nach Bolton entsandt hat, um die Kronzeugin auszuschalten, was durch einen Aufstand im Gefängnis ein leichtes Unterfangen wäre, denn der Notfallplan sieht vor, dass ausnahmslos alle Polizeikräfte beim Ertönen der Gefängnissirene dorthin auszurücken haben. 
Während Reacher zunächst die Gastfreundschaft von Peterson annimmt, zieht er am nächsten Tag ins gemütliche Haus der Kronzeugin um und versucht über seine Nachfolgerin beim 110th Special Unit in Rock Creek, Virginia, Susan „Amanda“ Turner, herauszufinden, was es mit der im Kalten Krieg erbauten und nun aufgegebenen Militäranlage auf sich hat, die überwiegend von Bikern benutzt wird. In den Tiefen dieser Anlage scheint das Geheimnis verborgen zu sein, warum es Plato nach Bolton zieht … 
„Vor Reachers Augen stand ein verrücktes Diagramm, das dreidimensional explodierte: Raum, Zeit und Entfernung. Überall in der Stadt waren Cops unterwegs, bewegten sich willkürlich nach Norden, Süden, Osten, Westen, fuhren auf Hollands Anweisung zur Polizeistation, hörten alle die Sirene, änderten sofort ihre Richtung, auch Salters sieben Bewacher stürzten in die Nacht hinaus, verstärkten die allgemeine Verwirrung, rasten in Richtung Gefängnis davon und ließen Janet Salter schutzlos zurück.“ (S. 351) 
Es ist immer wieder erstaunlich, wie Lee Child seinen mittlerweile auch im Film durch Tom Cruise verkörperten Protagonisten Jack Reacher aus der mittlerweile allzu vertrauten Grundsituation des ohne Gepäck reisenden Anhalters in ständig neue Ausnahmesituationen gerät, die er mit militärischer Präzision aufzulösen versteht. 
In seinem bereits 14. Abenteuer bietet die unter eisigen Temperaturen leidende Kleinstadt Bolton eine ungewöhnliche Kulisse für die Probleme, die Reacher zusammen mit Holland und dessen mutmaßlichen Nachfolger Peterson zu lösen hat, wobei der immer wieder von 61 Stunden runtergezählte Countdown unnötigerweise das Tempo vorgibt, bis Plato seine Operation nahe der stillgelegten Militäranlage vollendet. Ein überschaubares Ensemble, die Suche nach einem Verräter in den eigenen Reihen, die sogar leicht sinnlich aufgeladenen Telefonate zwischen Reacher und seiner Nachfolgerin und Platos Organisation reichen aus, um einen temporeichen, allerdings auch arg vorhersehbaren Plot zu kreieren, der einen immer wieder sensiblen, verletzlichen Reacher zeigt, der allerdings im richtigen Moment zu alter Durchschlagskraft zurückfindet. 
Am interessantesten gestaltet sich dabei die rein telefonische Kommunikation zwischen Reacher und Susan Turner, die auch sehr persönliche Aspekte zur Sprache bringt und in späteren Reacher-Romanen zum Glück ihre Fortsetzung findet.  

Peter Straub – (Blaue Rose: 4) „Der Schlund“

Sonntag, 2. Mai 2021

(Heyne, 812 S., Tb.) 
Der aus der Kleinstadt Millhaven, Illinois, stammende Tim Underhill schrieb nach seiner Entlassung aus der Army, für die er in Vietnam gedient hatte, in Bangkok einen Roman namens „The Divided Man“ geschrieben, in dem er die als „Blaue Rose“ benannte Mordserie in seiner Stadt fiktional verarbeitete. Während die Morde vor dreißig Jahren ungelöst blieben, hat Underhill in seinem Roman den Alkoholiker und Detective William Damrosch unter einem anderen Namen als Täter identifiziert. Schließlich wurde die Leiche des Detectives in seiner Wohnung gefunden, neben ihm ein Zettel mit den Worten „Blaue Rose“ auf seinem Schreibtisch. 
Zusammen mit Peter Straub schrieb er mit „Koko“ und „Mystery“ zwei weitere Bücher im Zusammenhang mit den „Blaue Rose“-Morden, womit das Kapitel für ihn abgeschlossen schien. Doch dann erreicht den seit sechs Jahren in New York lebenden Schriftsteller die Nachricht seines alten Bekannten John Ransom, der nach wie vor in Millhaven lebt und dem Autor von dem Überfall auf seine Frau April erzählt, die zusammengeschlagen wurde und nun im Koma im Krankenhaus liegt. Der Täter, der sein Opfer wohl tot wähnte, hatte über ihrem Körper die Worte „Blaue Rose“ an die Wand gekritzelt. Der Schriftsteller kehrt auf seinen Wunsch nach Millhaven zurück, erinnert sich daran, wie seine zwei Jahre ältere Schwester April im Alter von neun Jahren ermordet wurde, und auch an die ersten „Blaue Rose“-Morde zu jener Zeit. 
Zu den Opfern zählten eine sechsundzwanzigjährige Prostituierte, die beiden Männer James Treadwell und Monty Island sowie der Fleischer Heinz Stenmitz. Im „Ledger“ wurde der Zusammenhang zwischen Stenmitz und seiner Vorliebe für kleine Jungen mit Damrosch aufgedeckt, der ebenfalls als Pflegekind in der Fleischerfamilie zum Opfer wurde und sich offensichtlich später an ihm auf blutige Weise rächte. Für Underhill ist die Rückkehr nach Millhaven ebenso mit Furcht verbunden wie seine Zeit in Vietnam, und er hofft, durch seine Ermittlungen bei der Rückkehr des „Blaue Rose“-Mörders auch zu erfahren, wer damals seine Schwester getötet hatte. 
John Ransom lehrte wie sein Schwiegervater Alan Brookner am Arkham College, stand aber stets im Schatten des berühmten Religionswissenschaftlers, der geistig aber nicht mehr ganz auf der Höhe ist und gar nicht mitbekommen hat, was mit seiner Tochter geschehen ist. Mittlerweile scheint es erwiesen zu sein, dass Damrosch nicht Blaue Rose gewesen sein kann, denn die Blaue Rose ist nicht nur nach Millhaven zurückgekehrt, sondern tötet ihre Opfer an denselben Orten wie vor vierzig Jahren. Zusammen mit dem passionierten Privatermittler Tom Pasmore machen sich Tim Underhill und John Ransom auf die Spurensuche, die zu den Eigentümern des St. Alwyn Hotels ebenso führt wie zurück nach Vietnam … 
„Ein einziger Blick auf der Straße hatte mir einen Moment erschlossen, eine Reihe von Momenten, die ich vor vierzig Jahren in eine Truhe gesperrt hatte. Eine Kette nach der anderen hatte ich um diese Truhe geschlungen und sie dann in einen seelischen Brunnenschacht gestürzt. Seither hatte sie dort gegärt und Blasen geworfen. Zu den Gefühlen, die aus mir hervorbrachen, gehörte auch das Staunen - denn das war mir geschehen, mir, und ich hatte es absichtlich und für mich höchst verderblich völlig verdrängt.“ (S. 715) 
Mit „Der Schlund“ bringt Peter Straub nach „Blaue Rose“, „Koko“ und „Mystery“ sein Magnum Opus um die „Blaue Rose“-Morde zu einem spektakulären Abschluss. Noch mehr als die Vorgänger-Bände erweist sich das 1993 veröffentlichte 800-Seiten-Epos als immens komplexes Kriminaldrama, das ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt, dafür aber ein paar eindringliche Halluzinationen im Zusammenhang mit der Vietnam-Vergangenheit des Ich-Erzählers Tim Underhill zu bieten hat. 
„Der Schlund“ präsentiert sich auch deshalb so vielschichtig, weil es wie in den Film noirs der 1940er Jahre um ein raffiniertes Spiel mit Identitäten und Initialen geht, wobei der Film-noir-Klassiker „On Dangerous Ground“ am Ende sogar eine Schlüsselrolle spielt. Immer wieder scheint die Identität der Blauen Rose gelüftet worden zu sein, bis weitere Morde und Indizien auf einen anderen Täter verweisen. Wer erst einmal die etwas umständlich wirkende Einführung hinter sich hat, wird mit einem packenden, atmosphärisch dichten und extrem wendungsreichen Krimi-Drama belohnt, das zu den besten Werken aus der Feder des Horror-Autors („Geisterstunde“, „Der Hauch des Drachen“) zählt.