James Ellroy – „Die Bezauberer“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Ullstein, 672 S., HC) 
James Ellroy darf getrost als legitimer Erbe von Hardboiled-Autoren wie Ross Macdonald, Dashiell Hammett und Raymond Chandler angesehen werden. Wie finster und abgründig seine Werke sind, demonstrieren allein schon die auf seinen Geschichten basierenden Verfilmungen wie „L.A. Confidential“, „Dark Blue“ und „Street Kings“. Nun legt der Meister des schwarzen Krimis mit „Die Bezauberer“ ein ideenreiches, verspieltes und verstörendes Werk rund um den Tod von Hollywood-Ikone Marilyn Monroe vor. 
Als Anfang August 1962 die B-Film-Schauspielerin Gwen Perloff eines Spätnachmittags von drei Männern mit Fidel-Castro-Masken entführt worden ist, bekommt Darryl F. Zanuck, Chef von 20th Century Fox, die Information, dass Rick Danforth und Buzzy Stein dahintersteckten, und informiert wiederum Polizeichef Bill Parker. Er schickt den legendären Schnüffler Freddy Otash und die sogenannten „Herrenhüte“ los, die beiden Männer zum Reden zu bringen, wobei Otash den Verdächtigen Danforth skrupellos von der Klippe am Freeway in den Tod stößt und so durch dessen Komplizen das Versteck mitgeteilt bekommt, in dem Perloff gefangen gehalten worden ist. 
Doch es kommt noch schlimmer: Marilyn Monroe wird nach einem tödlichen Pillencocktail tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihr Tod ist nicht zuletzt deshalb so brisant, weil Otash zuvor erst den Auftrag von dem mit der Mafia verkehrenden Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa den Auftrag erhalten hatte, die Wohnung der Schauspielerin zu verwanzen, um nach ihrem Tod im Auftrag von Parker Material ausfindig zu machen, das US-Präsident John F. Kennedy von Gerüchten um eine Affäre mit der Toten befreit. Während seiner Recherchen stößt Otash tief in einen Sumpf von Affären und schmutzigen Geschäften und kommt einem „Sex-Widerling“ auf die Spur, der bereits sechs geschiedenen Frauen aufgelauert hatte. Es geht um Aktienhandel und Drogengeschäfte, um Pornos und sogenannte „Fick-Karten-Decks“, bei denen niemand Geringerer als Orson Welles den Auslöser betätigt haben und auch die Monroe beteiligt gewesen sein soll. 
„Innerhalb ihres allumfassenden Niedergangs musste Marilyn Monroe ein Geheimleben führen. Das sie befähigte, selbst dann überlegt und präzise Kurs zu halten, wenn das innere Chaos sie zu überwältigen drohte. Eine eindeutige Schlussfolgerung aus theoretischen Überlegungen und praktischen Erkenntnissen. Das betraf ihr Bargeldversteck, ihre Verkleidungen, ihre heimlichen Telefonate und ihren Ausflug ins Valley. Ebenso ihren schrägen Fahrstil und die zugehörigen Polizisten-Flirts. Alles in allem verwies das auf eine neu belebte Tollkühnheit, verbunden mit einer irren Verachtung des eigenen goldenen Käfigs, dessen Grenzen und Regeln sie nun durch ein verblüffendes und verblüffend anonymes neues Rollenspiel zu überschreiten suchte.“ 
Allein der Umstand, dass Ellroy seinen neuen Roman rund um den von Verschwörungstheorien umrankten Tod von Marilyn Monroe angesiedelt hat, macht neugierig. Der preisgekrönte Schriftsteller etabliert mit dem real existierenden Freddy Otash (1922-1992), der übrigens Pate für Jack Nicholsons Figur Jake Gittes in Roman Polanskis „Chinatown“ stand, eine Figur mit eidetischem Gedächtnis und korruptem Charakter. Im Sauseschritt rast Otash durch den Sündenpfuhl in Hollywood, in dem Liz Taylor und Richard Burton am Set des Mega-Flops „Cleopatra“ ebenso verwickelt sind wie ihr Porno-drehender Schauspielkollege Roddy McDowall, der Kennedy-Klan, schräge Psychiater und diverse Mafia-Größen. 
Es handelt sich dabei aber nicht um eine weitere Verschwörungstheorie, wer für Marilyn Monroes Tod verantwortlich gewesen sein könnte, sondern um eine rein fiktionale Bearbeitung einiger realer Umstände mit ebenso realen, allerdings stark verfremdeten Personen. Letztlich bekommen die Reichen und Schönen, die Begabten und Möchtegern-Promis allesamt ihr Fett weg. Wie Ellroy die Drogen- und Sexexzesse in ultrakurzen, pfeilschnellen Sätzen herunterballert, ist schon eine Wucht, aber natürlich nichts für Zartbesaitete. 
„Die Bezauberer“ fesselt mit prominenten Figuren und abstrus-obszönem Setting, das immer neue Haken schlägt und die Leserschaft am Ende atemlos und verstörend zurücklässt. 

 

Ross Macdonald – (Lew Archer: 5) „Wer findet das Opfer“

(Diogenes, 312 S., Pb.) 
Dass Ross Macdonald (1915-1983) neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler der prominenteste Autor klassischer Hardboiled-Detektivromane gewesen ist, kommt nicht von ungefähr, schließlich wurden zwei seiner Lew-Archer-Romane mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt („Harper“, „Unter Wasser stirbt man nicht“). 1954 erschien mit „Find a Victim“ der fünfte von insgesamt 18 Lew-Archer-Romanen. Nun hat Diogenes im Rahmen der Wiederveröffentlichung seiner Werke Macdonalds Roman in neuer Übersetzung und mit einem Nachwort von Donna Leon herausgegeben. 
Auf dem Weg nach Sacramento, wo er einem Gesetzgebungsausschuss Bericht erstatten muss, entdeckt Privatdetektiv Lew Archer am Rand des südkalifornischen Highways einen angeschossenen Anhalter und bringt ihn in die nächste Kleinstadt namens Las Cruces, wo er beim Motel Kerrigan’s Motor Court einen Krankenwagen kommen lässt. 
Für das Opfer, das als Tony Aquista identifiziert wird, kommt allerdings jede Hilfe zu spät. Der Vorfall wirft natürlich Fragen bei der Polizei auf. Bis der Papierkram erledigt ist, soll Archer in der Stadt bleiben. Die Zeit nutzt er für eigene Ermittlungen. Bereits bei seiner Ankunft bei den Kerrigans hat Archer die Spannungen zwischen Kerrigan und seiner Frau gespürt. Er stößt auf ein undurchdringlich erscheinendes Netz aus verbotenen Geschäfts- und vor allem Liebes-Beziehungen. Aquista war nicht nur Fahrer eines mittlerweile vermissten Trucks, der Kerrigans Whiskey geladen hatte, sondern auch in Kerrigans Angestellte und Geliebte Anne Meyer verschossen gewesen ist. Anne ist ebenso wie der Truck, der dem Speditionsunternehmen ihres Vaters gehört, verschwunden. 
Annes Schwester Hilda wiederum ist mit Sheriff Church verheiratet, der mehr mit der Sache zu tun hat, als es zunächst den Anschein hatte, und Archer gefährlich nah auf die Pelle rückt. 
„Angst durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hatte eine Waffe in meiner Tasche. Ich griff nicht danach. Mehr hätte es nicht gebraucht, um es wie Selbstverteidigung aussehen zu lassen. Und er war Polizist. Die .45er in seiner Hand zog ihn zu mir. Sein lässiges Schweigen war schlimmer als alle Worte. Wenn es vorbei sein sollte mit mir, dann war dies der Zeitpunkt und der Ort, im Valley unter weißem Himmel und mitten in einem Fall, den ich niemals lösen würde.“ (S. 207) 
Ein zufällig von Lew Archer auf der Straße aufgelesener Verletzter bildet den Ausgangspunkt für ein vertracktes Kleinstadt-Rätsel, in dem Alkohol und Drogen ebenso eine Rolle spielen wie ein Banküberfall und verschiedene Fehden und mehr oder weniger geheime Affären. Dieses Knäuel zu entwirren kostet Archer nicht nur viel Laufarbeit und Gehirnschmalz, sondern auch das nötige Einfühlungsvermögen bei den „Frauen in Not“ und die Kraft und den Willen in den körperlichen Auseinandersetzungen. Da Macdonald seinen Privatdetektiv als Ich-Erzähler auftreten lässt, weiß der Leser stets nur so viel, wie Archer selbst in Erfahrung bringt. Dabei verfügt der Protagonist über einen intakten moralischen Kompass, der Archer die Nöte der Frauen, allen voran Kate Kerrigan, nicht ausnutzen lässt, und ein Durchhaltevermögen, mit dem er auch unter Bedrohung seines eigenen Lebens und der mehr als nur vagen Möglichkeit, selbst wegen Mordverdachts in den Fokus der Ermittlungen zu geraten, den Mord an Aquista aufklären will.  
Ross Macdonald fängt die vielschichtige, geheimnisvolle und verworrene Atmosphäre in Las Cruces meisterhaft ein, brilliert mit messerscharfen Dialogen und fein gezeichneten Figuren, die auf verschwörerische Weise miteinander verbandelt sind und oft ohne Rücksicht auf Verluste nur ihr eigenes Glück verfolgen.  

Arnon Grünberg – „Gnadenfrist“

(Diogenes, 154 S., TB.) 
Mit Romanen wie „Amour fou“, „Monogam“ und „Mit Haut und Haaren“ hat der niederländische Schriftsteller und Blogger Arnon Grünberg vornehmlich sexuelle Gelüste, wie auch immer geartete Beziehungen thematisiert und damit teilweise messerscharfe Sittenbilder gezeichnet, die die oft kurios anmutenden Kontaktsuchen in der modernen Mittelschicht ebenso amüsant wie scharfsinnig reflektierten. Insofern bietet auch der bereits 2006 erschienene, nun wiederveröffentlichte Kurzroman „Gnadenfrist“ wenig Neues, gibt sich aber nicht mit Nebenschauplätzen ab, sondern zeigt fokussiert auf, wie ein Diplomat durch eine unglückselige, zerstörerische Liebesbeziehung all das zerstört, was er sich sein Leben lang aufgebaut hat. 
Eigentlich hat Jean Baptist Warnke alles, wovon ein Mann nur träumen kann: Eine kluge wie schöne Frau, in die er auch nach acht Jahren noch verliebt ist, zwei kleine Töchter im Alter von anderthalb und vier Jahren sowie einen einträglichen und aussichtsreichen Job als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima. Dabei hat er nichts weiter zu tun, als repräsentative Aufgaben bei Botschaftsessen wahrzunehmen oder niederländischen Gefangenen Mut zuzusprechen. 
Zu den Höhepunkten seiner eintönigen Arbeitstage zählt der tägliche Besuch im Café El Corner, wo er zu seinem Kaffee stets die recht aktuelle Newsweek durchblättert. Dort lernt er die junge Soziologie-Studentin Malena kennen, die ihn zu einer Gesangsaufführung einlädt. Warnke sieht die Einladung als willkommene Gelegenheit, sich mit der einheimischen Bevölkerung zu befassen, und geht hin. Nach der Aufführung ist Warnke mit Malena allein. 
„Die herrliche Hand des Mädchens liegt in seinem Schritt. Dort gehört sie nicht hin, das weiß er, doch er will sie nicht wegschieben. Das hier ist eine andere Kultur, da muss man Brücken bauen, gerade als Diplomat. Eine Hand im Schritt bedeutet in diesem Milieu etwas anderes als in Den Haag oder Voorschoten. Warnke will niemanden vor dem Kopf stoßen, darum lässt er die Hand liegen. Und er findet es herrlich, wie weich, wie warm, wie klein diese Hand ist.“ (S. 57) 
Es ist der Beginn einer leidenschaftlichen sexuellen Beziehung, die jedoch von einem schrecklichen Ereignis überschattet wird. In der japanischen Botschaft kommt es zu einer schrecklichen Geiselnahme. Eigentlich sollten Warnke und sein Botschafter ebenfalls zu dem dortigen Empfang gehen, doch Malena riet ihm eindringlich davon ab. Nach dem Vorfall ist Malena spurlos verschwunden, und nicht nur in Den Haag fragt man sich, warum die Niederländer nicht zu dem Empfang gegangen sind, was Warnke zunehmend in Erklärungsnöte bringt… 
„Er tue nichts“, antwortet der Diplomat Jean Baptist Warnke auf die Frage des Mädchens, was er beruflich mache. Die Langeweile und Wirkungslosigkeit seines Jobs sind vielleicht ein Grund dafür, warum der Protagonist in Grünbergs kurzer Erzählung so offen für die Affäre mit der schönen einheimischen Studentin ist. Jedenfalls beschreibt Grünberg genüsslich, wie der eigentlich mit allen Wassern gewaschene Diplomat und Familienvater durch den liebestollen Rausch, den er mit Malena erfährt, sein Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. 
Dabei geht der Autor nicht besonders subtil vor, sondern beschreibt den tiefen moralischen Fall seines unglückseligen Antihelden mit lakonischer Präzision. Vor allem der Gegensatz zwischen der unterkühlt wirkenden, sachlich und politisch geprägten diplomatischen „Arbeit“ und der destruktiven Liebesbeziehung macht „Gnadenfrist“ zu einem kurzweiligen, bitter-melancholischen, wenn auch allzu vorhersehbaren Lesevergnügen.  

Moritz Heger – „Die Zeit der Zikaden“

Dienstag, 2. Juli 2024

(Diogenes, 302 S., HC) 
Der Stuttgarter Moritz Heger hat sich nach seinem Studium zunächst der Freien Kunst, dann der Germanistik, evangelischen Theologie und Theaterwissenschaften nicht darauf beschränkt, allein als Gymnasiallehrer seine Brötchen zu verdienen. Vielmehr hat er sich auch dem Jugendtheater und der Schriftstellerei zugewandt. In seinem 2021 veröffentlichten Debütroman „Aus der Mitte des Sees“ musste sich ein Mönch an der Schwelle zu seinem 40. Geburtstag mit der Frage auseinandersetzen, ob er die Leitung des Klosters übernehmen oder sich dem Leben vor den Klostermauern widmen soll. 
In einem ähnlichen Kontext bewegt sich auch Hegers neuer Roman „Die Zeit der Zikaden“, zwingt der Autor auch diesmal seine Figuren, sich intensive Gedanken über die Zukunft ihres Lebens zu machen. 
Mit 36 Jahren im Schuldienst verabschiedet sich die 63-jährige Alex („Fraumaaattmann“) Mattmann in den Ruhestand. Dabei heißt es, nicht nur die langjährige Affäre mit ihrem Schuldirektor, sondern auch das von ihr geleitete Theater-AG und vor allem die Mietwohnung hinter sich zu lassen. Ein jüngst erworbenes Tinyhouse auf Rädern steht mehr als nur symbolisch für ihren Neuanfang. 
Die Einladung zur Hochzeit ihrer ehemaligen Schülerin Wibke kommt Alex gerade recht. Während der Feier lernt sie Wibkes Schwiegervater Johann kennen, einen 56-jährigen Bestatter, der sein Unternehmen in die Hände seines Sohnes legt und sich nach Veränderung sehnt, da seine Ehe mit Marion gefühlt nur noch auf dem Papier existiert. 
Als sie den Vorschlag macht, dass er doch für ein paar Monate nach Ligurien gehen solle, um in dem geerbten Steinhaus des Malers Renat nach dem Rechten zu sehen, fällt ihm die Entscheidung leicht, doch kann er das italienische Lebensgefühl nicht unbeschwert genießen, da sich Marions und seine gemeinsame Tochter Nora von ihnen abgewandt hat. Bevor sich Johann aber in seinem zeitweisen depressiven Gemütszustand verliert, lädt er Alex ein, ihn in ihrem Tinyhouse zu besuchen. Der Abstecher zu ihrer alten Freundin Verena entpuppt sich auch nicht als besonders erquicklich, weshalb Alex der Einladung nach Italien gern folgt. 
Bei intensiven Gesprächen über das Leben, die Liebe, den Tod und die Zukunft kommen sich Alex und Johann schnell näher. Und dann beschließt Johann, ein Portrait von Alex zu malen. 
„Am Ende soll sie sich, ohne das abweisen zu können, erkennen, und sie soll erstaunt sein, beides, beides zugleich. Er muss, auch wenn das bei der möglichst getreuen Darstellung des Äußeren paradox klingt, in die Tiefe vordringen. Kurz gesagt: Er will Schönheit. Ein Übersetzer sein. In den Fluss springen, Risiko.“ (S. 161) 
Während der Mönch Lukas in „Aus der Mitte des Sees“ noch in der Mitte des Lebens stand, um eine Entscheidung über sein Leben für Gott oder in der Welt dort draußen zu treffen, stehen Alex und Johann in Hegers Zweitwerk „Die Zeit der Zikaden“ an einem weit späteren Wendepunkt in ihrem jeweiligen Leben und müssen sich darüber klar werden, wie sie ihre Zeit nach einem mehr oder weniger erfüllenden Arbeitsleben verbringen wollen.  
Heger reduziert die Handlung dabei aufs Wesentliche, konzentriert sich vielmehr auf die Inneneinsichten seiner beiden Hauptfiguren und baut die Spannung eher durch die tiefsinnigen Dialoge zwischen Alex und Johann auf. „Du tust mir gut“, sagt Johann schon auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, später dann: „Du hast mich entkorkt.“ 
Es ist die Art der Fragen, des Zuhörens, der Antworten, mit der sie mehr über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst und schließlich über die Beziehung zueinander erfahren. Heger lässt Alex und Johann in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweifen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszukristallisieren und so den Boden zu bereiten für die neuen Wege, die sie vielleicht in diesem traumhaft schönen Landstrich zu beschreiten wagen. Die eindringliche Sprache, die gelungene Figurenzeichnung und der gesellschaftsreflektierende Ansatz machen „Die Zeit der Zikaden“ zu einem anregenden und einfühlsamen Sommerroman.