(Heyne, 828 S., Pb.)
Kaum hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons mit seinen ersten beiden, jeweils preisgekrönten Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ im Horror-Sektor etabliert und Kollegen wie Stephen King zum Staunen gebracht, setzte er mit „Hyperion“ und „Das Ende von Hyperion“ neue Meilensteine – diesmal im Science-Fiction-Genre. In der Folge ließ sich Simmons nie auf ein Genre festlegen. Auf die Kurzgeschichten-Sammlungen „Styx“, „Lovedeath. Liebe und Tod“ und „Welten und Zeit genug“ folgten weitere Horror-Werke wie „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ebenso wie die Thriller „Die Feuer von Eden“, „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“, die Action-Trilogie um den Privatermittler Joe Kurtz und die Fortsetzung der „Hyperion“-Saga mit „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“.
Bevor sich Simmons auch noch auf epische historische Abenteuer-Romane verlegte, erschien 2003 mit „Ilium“ ein weiteres Science-Fiction-Epos, mit dem sich der Autor der Herausforderung stellte, alte griechische Sagen mit klassischer Literatur und Science-Fiction zu verknüpfen.
Thomas Hockenberry hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Professor für Philosophie an der University of Indiana gelehrt und wurde nach seinem Tod von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um als Zeitzeugen vom Kampf um Troja zu berichten.
Neun Jahre nach seiner Wiedergeburt lebt Hockenberry in einer Scholiker-Kaserne mit anderen kenntnisreichen „Ilias“-Forschern, um der Muse Melete am Olymp Bericht über die Entwicklungen im Trojanischen Krieg zu berichten, ohne zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen. Mithilfe von spezieller High-Tech-Ausrüstung ist es Hockenberry und seinen Kollegen möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen, ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Allerdings muss der Scholiker bald feststellen, dass zwischen Homers epischer Erzählung und den eigenen Beobachtungen signifikante Diskrepanzen bestehen…
„Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus‘ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert.“ (S. 496)
Währenddessen werden auf dem Mars bedrohlichen Quantenaktivitäten gemessen, denen ebenso intelligente wie empathische Cyborgs von den Jupitermonden mit einer Expedition auf den Grund gehen sollen. Zu diesen sogenannten Moravecs zählen auch Mahnmut, Erforscher der Meerestiefen auf Europa und Shakespeare-Experte, und Orphu, ein Hochvakuum-Moravec von Io und Proust-Kenner. Nachdem ihr Raumschiff in einer Mars-Umlaufbahn von einem Streitwagen abgeschossen worden ist, sind sie allerdings die einzigen, die schwer lädiert ihr Ziel erreichen und mit neuen Gefahren konfrontiert werden, aber auch hilfsbereiten kleinen grünen Männchen (KGM) begegnen
Und schließlich hat sich auch auf der Erde einiges getan. Verschiedene Katastrophen haben dazu geführt, dass der einst blaue Planet in der Zukunft nur noch von einigen hunderttausend sogenannten „Altmenschen“ bewohnt wird, denen es bestimmt ist, genau 100 Jahre alt zu werden und während ihres Daseins kontinuierlich von Servitoren und Voynixen betreut und beschützt werden, da die Wälder von genetisch rekonstruierten Sauriern bevölkert sind.
Dan Simmons hat sich einiges vorgenommen für sein neues, wiederum wenigstens zweibändiges Science-Fiction-Epos, das 2005 mit „Olympos“ seine Fortsetzung gefunden hat. Simmons‘ Publikum wird nicht nur mit den unzähligen Göttern, Musen und Gestalten aus Homers „Ilias“ konfrontiert, sondern ebenso mit Verweisen auf die Werke von Shakespeare, Marcel Proust, Robert Ranke-Graves und Alfred Lord Tennysons „Ulysses“ bombardiert, dass man sich ebenso verloren und verwirrt fühlt wie Simmons‘ eigene Protagonisten.
Unter denen nimmt der von den Göttern des Olymps wiederbelebte Gelehrte Hockenberry als Ich-Erzähler zwar eine Schlüsselstellung ein, doch durch die immer wieder eingeschobenen Handlungsstränge auf dem Mars und der alten Erde wird das Figurenarsenal doch sehr schnell unübersichtlich. Auf besonders tiefgreifende Psychologisierungen verzichtet Simmons zugunsten einer höchst komplexen Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen, Planeten und Figurenkonstellationen miteinander verknüpft. Das erfordert eine beständig hohe Aufmerksamkeit, zumal die Verbindungen zwischen all den Göttern und ihren Weggefährten für den Nicht-Ilias-Kundigen schwer nachzuvollziehen sind.
Dan Simmons hat mit „Ilium“ fraglos ein packendes, wenn auch zu verspieltes, überdimensioniertes Science-Werk-Epos geschaffen, erreicht allerdings nicht die Intensität, erzählerische Finesse und Sogkraft seiner gefeierten „Hyperion“-Tetralogie.