Dan Simmons – „Ilium“

Samstag, 19. August 2023

(Heyne, 828 S., Pb.) 
Kaum hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons mit seinen ersten beiden, jeweils preisgekrönten Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ im Horror-Sektor etabliert und Kollegen wie Stephen King zum Staunen gebracht, setzte er mit „Hyperion“ und „Das Ende von Hyperion“ neue Meilensteine – diesmal im Science-Fiction-Genre. In der Folge ließ sich Simmons nie auf ein Genre festlegen. Auf die Kurzgeschichten-Sammlungen „Styx“, „Lovedeath. Liebe und Tod“ und „Welten und Zeit genug“ folgten weitere Horror-Werke wie „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ebenso wie die Thriller „Die Feuer von Eden“, „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“, die Action-Trilogie um den Privatermittler Joe Kurtz und die Fortsetzung der „Hyperion“-Saga mit „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“
Bevor sich Simmons auch noch auf epische historische Abenteuer-Romane verlegte, erschien 2003 mit „Ilium“ ein weiteres Science-Fiction-Epos, mit dem sich der Autor der Herausforderung stellte, alte griechische Sagen mit klassischer Literatur und Science-Fiction zu verknüpfen. 
Thomas Hockenberry hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Professor für Philosophie an der University of Indiana gelehrt und wurde nach seinem Tod von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um als Zeitzeugen vom Kampf um Troja zu berichten. Neun Jahre nach seiner Wiedergeburt lebt Hockenberry in einer Scholiker-Kaserne mit anderen kenntnisreichen „Ilias“-Forschern, um der Muse Melete am Olymp Bericht über die Entwicklungen im Trojanischen Krieg zu berichten, ohne zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen. Mithilfe von spezieller High-Tech-Ausrüstung ist es Hockenberry und seinen Kollegen möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen, ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Allerdings muss der Scholiker bald feststellen, dass zwischen Homers epischer Erzählung und den eigenen Beobachtungen signifikante Diskrepanzen bestehen… 
„Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus‘ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert.“ (S. 496) 
Währenddessen werden auf dem Mars bedrohlichen Quantenaktivitäten gemessen, denen ebenso intelligente wie empathische Cyborgs von den Jupitermonden mit einer Expedition auf den Grund gehen sollen. Zu diesen sogenannten Moravecs zählen auch Mahnmut, Erforscher der Meerestiefen auf Europa und Shakespeare-Experte, und Orphu, ein Hochvakuum-Moravec von Io und Proust-Kenner. Nachdem ihr Raumschiff in einer Mars-Umlaufbahn von einem Streitwagen abgeschossen worden ist, sind sie allerdings die einzigen, die schwer lädiert ihr Ziel erreichen und mit neuen Gefahren konfrontiert werden, aber auch hilfsbereiten kleinen grünen Männchen (KGM) begegnen 
Und schließlich hat sich auch auf der Erde einiges getan. Verschiedene Katastrophen haben dazu geführt, dass der einst blaue Planet in der Zukunft nur noch von einigen hunderttausend sogenannten „Altmenschen“ bewohnt wird, denen es bestimmt ist, genau 100 Jahre alt zu werden und während ihres Daseins kontinuierlich von Servitoren und Voynixen betreut und beschützt werden, da die Wälder von genetisch rekonstruierten Sauriern bevölkert sind. 
Dan Simmons hat sich einiges vorgenommen für sein neues, wiederum wenigstens zweibändiges Science-Fiction-Epos, das 2005 mit „Olympos“ seine Fortsetzung gefunden hat. Simmons‘ Publikum wird nicht nur mit den unzähligen Göttern, Musen und Gestalten aus Homers „Ilias“ konfrontiert, sondern ebenso mit Verweisen auf die Werke von Shakespeare, Marcel Proust, Robert Ranke-Graves und Alfred Lord Tennysons „Ulysses“ bombardiert, dass man sich ebenso verloren und verwirrt fühlt wie Simmons‘ eigene Protagonisten. 
Unter denen nimmt der von den Göttern des Olymps wiederbelebte Gelehrte Hockenberry als Ich-Erzähler zwar eine Schlüsselstellung ein, doch durch die immer wieder eingeschobenen Handlungsstränge auf dem Mars und der alten Erde wird das Figurenarsenal doch sehr schnell unübersichtlich. Auf besonders tiefgreifende Psychologisierungen verzichtet Simmons zugunsten einer höchst komplexen Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen, Planeten und Figurenkonstellationen miteinander verknüpft. Das erfordert eine beständig hohe Aufmerksamkeit, zumal die Verbindungen zwischen all den Göttern und ihren Weggefährten für den Nicht-Ilias-Kundigen schwer nachzuvollziehen sind.  
Dan Simmons hat mit „Ilium“ fraglos ein packendes, wenn auch zu verspieltes, überdimensioniertes Science-Werk-Epos geschaffen, erreicht allerdings nicht die Intensität, erzählerische Finesse und Sogkraft seiner gefeierten „Hyperion“-Tetralogie. 

Henning Mankell – „Der Chinese“

Sonntag, 6. August 2023

(Zsolnay, 606 S., HC) 
Zwar begann der Schwede Henning Mankell bereits in den 1970er Jahren seine Schriftsteller-Karriere, doch erst mit den zu Beginn der 1990er Jahre initiierten Romanen um Kriminalkommissar Kurt Wallander wurde Mankell international berühmt und löste auch hierzulande eine Mankell-Mania aus, in deren Folge viele weitere skandinavische Autoren die Bestseller-Listen stürmten. Nach dem 8. Band „Die Brandmauer“ schien jedoch Schluss zu sein. Es folgten noch der Sammelband „Wallanders erster Fall und andere Erzählungen“ sowie mit „Vor dem Frost“ der angedeutete Auftakt einer neuen Reihe, in der Linda Wallander die Arbeit ihres Vaters fortsetzt.  
Mankell versuchte, sich mit den Romanen „Tiefe“ (2005), „Kennedys Hirn“ (2006) und „Die italienischen Schuhe“ (2007) auf anderen literarischen Pfaden zu etablieren, doch wiesen sie nach wie vor vertraute Krimi- und Thriller-Elemente auf, die zunächst auch Mankells 2008 veröffentlichten Roman „Der Chinese“ prägen. Doch dann verhebt sich der Autor an einer sehr persönlichen Geschichtslektion über das Reich der Mitte. 
Als der Fotograf Karsten Höglin auf der Suche nach Motiven für seine Dokumentation über verlassene Dörfer und von der Entvölkerung bedrohte Ortschaften von Hudiksvall nach Hesjövallen fährt, macht er eine grausige Entdeckung. Offenbar wurden bis auf ein Alt-Hippie-Pärchen und eine alte senile Frau alle achtzehn Bewohner des Dorfes und ein kleiner Junge auf bestialische Weise in ihren Häusern getötet. Die Polizei steht vor einem Rätsel, zumal kein Motiv zu erkennen ist. Vivi Sundberg und Erik Huddén, die die Ermittlungen leiten, stellen schnell fest, dass die Opfer den Familien Andersson, Andrén und Magnusson angehörten, die durch Heirat allesamt miteinander verwandt waren. Als die Richterin Birgitta Roslin in der Zeitung von dem Massaker liest und dabei entdeckt, dass einige der Toten den Namen Andrén trugen, ahnt sie sofort, dass ihre Adoptiveltern August und Britta Andrén unter den Mordopfern sind. 
Zwar nimmt die Polizei bald einen geständigen Mann fest, doch die Richterin ist fest davon überzeugt, dass mehr hinter dem Massaker steckt. Sie besucht mit Sundberg das Haus ihrer Adoptiveltern und nimmt aus einer Schublade Tagebücher mit und erfährt bei einer Internetrecherche, dass auch im US-Bundesstaat Nevada eine Schlosserfamilie namens Andrén brutal ermordet worden ist. 
Bei der Lektüre der Tagebücher entdeckt sie schließlich einen Zusammenhang zwischen den Morden in den USA und Schweden mit chinesischen Arbeitern, die in Mitte der 1800er Jahre in den USA das Schienennetz verlegten, das den Westen mit dem Osten des Landes verbinden sollte. Als sich der Verdächtige in seiner Zelle erhängt hat, nimmt Birgitta Roslin eigene Ermittlungen auf und reist mit ihrer Freundin Karin nach Peking… 
„Es war zu groß, dachte sie. Nicht dass ein zielbewusster Mann es nicht allein durchführen konnte. Aber ein Mann, der in Hälsingland lebt und nur ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung hat? Er gesteht etwas, was er nicht begangen hat. Dann zeigt er der Polizei eine selbstgeschmiedete Waffe und erhängt sich in seiner Zelle. Natürlich kann ich mich irren. Aber etwas stimmt hier nicht. Seine Festnahme verlief viel zu glatt. Und was für eine Rache konnte das sein, die er als Motiv nannte?“ (S. 316) 
Henning Mankell hat sich mit seinem Roman „Der Chinese“ viel vorgenommen. Der auf zunächst knapp 150 Seiten entwickelte Kriminalfall mit dem Abschlachten fast aller Bewohner eines kleinen Dorfes in Schweden dient nur als Auftakt für einen Exkurs, der die Ereignisse lebendig macht, die die Richterin Birgitta Roslin in den von ihren Adoptiveltern aufbewahrten Tagebüchern entdeckt. Hier steht die erschütternde Reise der drei verarmten und durch den Mord an ihren Eltern verwaisten Brüder San, Wu und Guo Si, die im Jahr 1863 aus einem abgelegenen Dorf in der chinesischen Provinz Guangxi nach Kanton fliehen, entführt und wie Tausende anderer armer chinesischer Bauern nach Amerika gebracht werden, wo sie unter der Führung eines schwedischen Vorarbeiters das Gebirge abtragen, das den Weg frei für die Eisenbahn machen soll, die durch den ganzen Kontinent führt. 
Ein weiterer Handlungsstrang eröffnet sich, als Birgitta Roslin nach China reist, wo ihr zunächst die Handtasche gestohlen wird und dann die Bekanntschaft der undurchsichtigen hohen Beamtin Hong macht. Mit der Feindschaft zwischen Hong und ihrem mächtigen Bruder Ya Ru thematisiert Mankell die enorme Herausforderung, mit der das kommunistische China die Armut im eigenen Land bekämpfen will. Ya Ru macht sich dafür stark, dass Millionen von armen Bauern nach Afrika umgesiedelt werden, um dort in fruchtbaren Flussgebieten sich eine neue Existenz aufbauen zu können. 
Die Krimihandlung gerät dabei komplett in den Hintergrund, und das rote Band, das am Tatort in Hesjövallen gefunden wird und zu einem China-Restaurant führt, verkommt zu einem Hitchcock-typischen MacGuffin. Vielmehr ist dem Autor daran gelegen, sich mit der Geschichte Chinas auseinanderzusetzen und dabei vor allem den Maoismus in den Vordergrund stellt. So interessant seine Ausführungen auch sind, nehmen sie dem Krimi-Plot die Zugkraft, und in den konstruierten Verbindungen zwischen den Schweden, Chinesen, Amerikanern und zuletzt auch Afrikanern verliert Mankell vollends den Faden. Zwar versucht er zum Ende hin, die losen Fäden wieder zusammenzufügen, doch gelingt ihm das nur sehr bedingt. Damit zählt „Der Chinese“ mit seinem überfrachteten, überambitionierten Plot und der am Ende recht eindimensionalen Analyse der chinesischen Kultur und Politik zu den schlechteren Romanen des 2015 verstorbenen Autors. 

 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 18) „Die 18. Entführung“

Sonntag, 30. Juli 2023

(Blanvalet, 432 S., Pb.) 
Für sein Erstlingswerk „The Thomas Berryman Number“ (dt. „Der Auftrag“) wurde James Patterson, ehemaliger Werbetexter und Leiter einer Werbeagentur, 1977 noch mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Debütroman ausgezeichnet, doch mit der literarischen Qualität ist es bei dem Oeuvre des US-amerikanischen Bestseller-Autoren, der 2010 mehr Bücher verkauft haben soll als seine prominenten Kollegen Dan Brown, John Grisham und Stephen King zusammen, nie besonders gut bestellt gewesen. Dass seine Romane ganzjährig in den internationalen Bestsellerlisten vertreten sind, dafür sorgt nicht zuletzt Pattersons Legion von Co-Autoren, die seine Entwürfe zu fertigen Romanen verarbeiten. So ist Maxine Paetro bei der 2001 begonnenen Erfolgsreihe den „Women’s Murder Club“ oder „Club der Ermittlerinnen“ bereits seit dem vierten Band mit am Start. Der 18. Band „Die 18. Entführung“ setzt die Thriller-Reihe recht unspektakulär fort. 
Als die gebürtige Bosnierin Anna Sotovina in der Nähe ihrer Wohnung in San Francisco Slobodan Petrović entdeckt, traut sie kaum ihren Augen. Der serbische Kriegsverbrecher, der auch für den Tod ihres Mannes und ihres gemeinsamen Babys verantwortlich gewesen ist, wurde doch von dem internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag rechtskräftig verurteilt und dürfte sich ganz gewiss nicht frei in San Francisco bewegen. Nachdem ihre Anzeige beim FBI nicht weiterverfolgt wird, macht sie zufällig die Bekanntschaft von FBI-Special Agent Joe Molinari, der der völlig verstörten jungen Frau mit der entsetzlichen Brandnarbe im Gesicht schnell Glauben schenkt, nachdem er auf eigene Faust eigene Ermittlungen aufgenommen hat. Offenbar hat Petrović einen Deal ausgehandelt, bei dem er vermeintlich höherrangige Offiziere denunzierte und Immunität genießt, solange er keine Straftat begeht. 
Während der FBI-Mann Petrović, der unter dem Namen Antonije „Tony“ Branko ein Steak-Restaurant in der Stadt führt. Währenddessen ermittelt Molinaris Frau, Detective Lindsay Boxer, mit ihrem Partner Rich Conklin im Fall von drei spurlos verschwundenen Lehrerinnen. 
Als mit Carly Myers die erste der drei Freundinnen misshandelt, vergewaltigt und erdrosselt in der Dusche eines Motelzimmers aufgefunden wird, scheint den Kriminalbeamten die Zeit davonzulaufen, denn alles deutet darauf hin, dass der/die Täter nicht zum ersten und letzten Mal so vorgegangen sind. Schließlich wird sogar Petrović mit den Entführungen und Misshandlungen der drei Lehrerinnen in Zusammenhang gebracht, doch Beweise lassen sich dafür schwer finden… 
„Welchen Wert hatte die Aussage eines namenlosen Zeugen, der Petrović vielleicht nur deshalb angeschwärzt hatte, um das Gericht milde zu stimmen? Selbst der Bericht über die Menschenjagden im Wald war ja durch nichts sonst belegt. Joe und ich sprachen darüber und kamen zu dem naheliegenden Schluss, dass weder das SFPD noch das FBI diese in Europa begangenen und von namenlosen Zeugen benannten Verbrechen näher untersuchen konnten.“ (S. 328) 
Patterson und Paetro setzen bei dem 18. Fall des „Women’s Murder Club“ auf hochgradig emotionale Themen. In der zufälligen Begegnung zwischen dem verurteilten serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Petrović und einem seiner Opfer wird die Problematik angerissen, fundierte Beweise für die unzähligen Schreckenstaten von Kriegsverbrechern vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorlegen zu können, doch liegt der Fokus in dem vorliegenden Roman auf der persönlichen Tragödie, die Anna Sotovina im Bosnien-Krieg erleiden musste und den schrecklichen Erinnerungen, die sie durch das Wiedersehen mit ihrem Schänder in ihrer neuen Wahlheimat in San Francisco heimsuchen. 
Lindsay Boxers Weggefährtinnen, die Bloggerin Cindy Thomas, die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Staatsanwältin Yuki Castellano, spielen bei diesem Fall kaum eine oder gar keine Rolle, vielmehr spielen sich SFPD-Beamtin und der Special Agent die Bälle zu, um sowohl Beweise dafür zu finden, dass Petrović wieder straffällig geworden ist, als auch das Verschwinden der Lehrerinnen bzw. die damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. Das wird in gewohnt einfacher Sprache in kurzen Kapiteln routiniert abgespult und kommt ohne große Wendungen zu einem früh vorhersehbaren und Ende. Echte Spannung kommt bei einem so geradlinig inszenierten, wendungsarmen Plot leider kaum auf. 

Robert McCammon – „Boy’s Life“

Freitag, 28. Juli 2023

(Luzifer Verlag, 582 S., HC) 
Nach seinem 1978 veröffentlichten Debüt „Baal“ avancierte der 1952 geborene US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon in den 1980er Jahren mit Romanen wie „Bethany’s Sin“ (dt. „Höllenritt“), „The Night Boat“ (dt. „Tauchstation“), „They Thirst“ (dt. „Blutdurstig“), „Usher’s Passing“ (dt. „Das Haus Usher“) und „Swan Song“ (dt. „Nach dem Ende der Welt“) nach Stephen King, Peter Straub, Clive Barker und Dean Koontz zu einem der interessantesten Horror-Autoren, doch sorgte offenbar ein Zerwürfnis mit seinem damaligen Verleger über die von McCammon gewünschte Ausweitung seiner Genre-Vorlieben für eine zehnjährige Schaffenspause. 
Zuvor erschien 1991 mit „Boy’s Life“ einer der besten Romane des Schriftstellers. Nachdem Knaur den Titel 1992 im Taschenbuch als „Unschuld und Unheil“ erstveröffentlicht und Area 2004 eine günstige Hardcover-Ausgabe nachgeschoben hatte, legte der Luzifer Verlag 2020 eine broschierte Neuauflage mit dem Originaltitel „Boy’s Life“ nach. 
Der zwölfjährige Cory Jay Mackenson lebt 1964 in der Kleinstadt Zephyr im Süden Alabamas. Wenn er nicht gerade mit seinen Freunden Johnny Wilson, Davy Ray Callan und Ben Sears abhängt, vergnügt er sich mit Superhelden-Comics und Magazinen wie „Berühmte Monster der Filmgeschichte“, „Screen Thrills“, „National Geographics“ und „Popular Mechanics“. Eines Märzmorgens begleitet Cory seinen Vater auf dessen Milchtour, auf die er auch Kunden südlich in der Nähe von Saxon’s Lake beliefert. Als sie am Park vorbei aus Zephyr hinaus in den Wald fahren, als plötzlich ein Auto aus der bewaldeten Kurve auf sie zufährt, von der Route Ten abkommt, die Böschung hinunterfährt und in den tiefen See stürzt. Sein Vater will den Fahrer retten, kann aber nur noch registrieren, dass dieser bereits tot war, splitternackt, mit ans Lenkrad gefesselten Händen und einer Tätowierung mit einem Totenkopf mit nach hinten zeigenden Flügeln auf der Schulter, bevor der Wagen für immer auf den Grund des Sees sinkt. Als Sheriff Amory mit den Ermittlungen beginnt, wird die Identität des unbekannten Toten nicht gelüftet. 
Der einzige weitere Hinweis auf die Tat stellt eine grüne Feder dar, die Cory unter seinem Schuh entdeckt, und eine Gestalt, die der Junge am Waldrand gesehen hat. Während sein Vater fortan von nächtlichen Alpträumen heimgesucht wird, verbringt Cory die nachfolgenden Sommerferien vor allem damit, das Geheimnis um die Feder und den vielleicht sogar aus Zephyr stammenden Mörder zu ergründen. Dabei macht Cory auch die Bekanntschaft der übersinnlich begabten Lady, die Corys Vater schließlich den vielleicht entscheidenden Tipp gibt. 
Cory verfügt nicht nur über eine blühende Fantasie, sondern auch ein enormes Ausdrucksvermögen, so dass er seine Erlebnisse in eine Geschichte einfließen lässt, die nicht nur einen Preis beim jährlichen Literaturwettbewerb der Stadt gewinnt, sondern auch dem Mörder signalisiert, dass Cory vielleicht mehr gesehen hat, als seine Geschichte andeutet. Als im Herbst noch immer keine Spur zu dem Mörder zu führen scheint, macht Cory zunehmend beunruhigende Entdeckungen…
„Was ich in der stillen Oktoberluft spürte, wenn Halloween näher rückte, waren nicht die Spukgestalten aus Plastik, sondern gigantische, mysteriöse Kräfte, die am Werk waren. Diese Kräfte konnte man nicht benennen. Man konnte sie weder als kopflosen Reiter, heulenden Werwolf noch grinsenden Vampir bezeichnen. Diese Kräfte waren so uralt wie die Welt und das Gute oder Böse in ihnen so rein und unverfälscht wie die Naturelemente. Statt Monster unter meinem Bett zu sehen, sah ich die Armeen der Nacht ihre Schwerter und Äxte für einen Kampf in Nebelschwaden schärfen.“ 
In der langen Aufzählung seiner Danksagung erwähnt Robert R. McCammon so unterschiedliche Einflüsse wie die Produktionen der Hammer Film Studios und ihre Stars Peter Cushing und Christopher Lee, aber auch Edgar Allan Poe, Edgar Rice Burroughs, Roger Corman, James Bond, Hans Christian Andersen, Vincent Price und nicht zuletzt Ray Bradbury, der in seinen Romanen und Erzählungen wohl am eindrücklichsten seine ausgeprägte Fabulierkunst dazu nutzte, um den Zauber und die Magie kindlicher Vorstellungskraft zu beschreiben. 
In „Boy’s Life“ macht der Ich-Erzähler Cory Mackenson gleich zu Beginn klar, dass der 1500-Seelen-Ort Zephyr voller Magie sei, und obwohl ebenfalls schnell der Mord an dem Mann in den Fokus rückt, der nackt, ans Lenkrad gefesselt und bereits ermordet mit seinem Auto für immer im Saxon’s Lake versinkt, dreht es sich bei dem epischen Roman nicht nur um „Die Suche nach einem Mörder“, wie der Untertitel andeutet, sondern um eine tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte, in der der junge Protagonist viel zu schnell mit den Schrecken des Todes konfrontiert wird, aber auch die Magie von Urzeitmonstern und rasenden Fahrrädern kennenlernt. 
McCammon erzeugt mit seiner bildgewaltigen Sprache einen magischen Sog, entwickelt ein Gespür für interessante Figuren und lässt seinen kindlichen Helden ganz gewöhnliche, aber auch ebenso besondere Abenteuer erleben, bis er mit hartnäckig ausgeprägter Sherlock-Holmes-Logik dem Mörder auf die Spur kommt. In der packenden Mischung aus Entwicklungs-, Mystery- und Kriminalroman hat Robert R. McCammon Anfang der 1990er Jahre ein großartiges literarisches Werk kreiert, das locker in einem Atemzug mit Stephen Kings „Es“ und Dan Simmons„Sommer der Nacht“ genannt werden muss. 

Lee Child – (Jack Reacher: 25) „Der Sündenbock“

Mittwoch, 26. Juli 2023

(Blanvalet, 416 S., HC) 
Allein die Tatsache, dass bereits zwei von Lee Childs Jack-Reacher-Romanen mit Hollywood-Superstar Tom Cruise in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt worden sind, untermauert die Sonderstellung, die der in England geborene Lee Child in den literarischen Kreisen der Thriller-Liebhaber genießt. Seit er 1997 mit „Killing Floor“ (dt. „Größenwahn“) sein preisgekröntes Schriftsteller-Debüt und den ersten Band seiner Reihe um den ehemaligen Militärpolizisten veröffentlicht hat, der nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst meist per Anhalter und mit leichtem Gepäck durch die USA reist, legt Child im zuverlässigen Jahrestakt einen neuen Band seiner Erfolgsreihe vor. 
„Der Sündenbock“ ist dabei nicht nur das bereits 25. Abenteuer von Jack Reacher, sondern auch das erste, das Lee Child (der mit bürgerlichem Namen James Dover Grant heißt) mit seinem jüngeren Bruder Andrew Child verfasst hat, der wiederum unter seinem richtigen Namen Andrew Grant bereits eigenständige Romane veröffentlichte. 
Jack Reacher hat in einer Bar in Nashville gerade (unter angemessener Gewaltanwendung) dafür gesorgt, dass eine Band, die dort gespielt hat, auch ihr mit dem Besitzer ausgehandeltes Honorar erhält, lässt er sich von einem Versicherungsvertreter im Auto in eine Kleinstadt bei Pleasentville mitnehmen, wo er auf der Suche nach einem Coffeeshop beobachtet, wie mehrere Typen versuchen, einen jungen Mann in ihre Gewalt zu bringen. 
Reacher entschärft die Situation auf gewohnte Weise und erfährt, dass es sich bei dem Mann, dem er aus der Klemme geholfen hat, um Rusty Rutherford handelt, einen bei der Stadt angestellten IT-Experten, den man fristlos entlassen hat, weil er dafür verantwortlich gemacht wird, dass die komplette Infrastruktur der Stadt lahmgelegt werden konnte und Hacker ein millionenschweres Lösegeld fordern. Doch Reacher merkt sehr schnell, dass mehr hinter der Sache steckt. 
Detective Goodyear will Reacher sofort aus der Stadt haben, nachdem er in zwei Prügeleien verwickelt gewesen ist. Doch Reacher hat andere Pläne. Zusammen mit Rutherford und seiner Freundin Sarah Sands, mit der ein Programm entwickelt hat, das solche Hackerangreife abwehren soll, versucht Reacher herauszufinden, nach welchen Dokumenten die Erpresser suchen, die sich offensichtlich auf den Servern der Stadt befunden haben. Dabei stoßen sie auf einen Mann namens Klostermann, der im Zusammenhang mit dem Tod der Journalistin Toni Garza steht… 
„… an der Sache mit der Familiengeschichte war etwas faul. Dass er sie für seinen Sohn aufschreiben wollte. Ihm mit einer goldenen Schleife überreichen. Nein. Viel wahrscheinlicher war, dass die Familie eine Leiche im Keller hatte. Etwas Illegales. Etwas Peinliches. Etwas, das Klostermann begraben wollte. Oder umdeuten. Etwas, das zehntausend Dollar wert war, bloß damit er’s sehen durfte. War es auch Toni Garzas Leben wert? Oder das von Rutherford?“ (S. 216) 
Wenn man sich erst einmal mit der Prämisse angefreundet hat, dass Jack-Reacher-Romane stets damit beginnen, dass der hünenhafte Ex-Militärpolizist entweder per Anhalter oder per Bus irgendwo strandet, wo er instinktiv in eine so problematische Situation hineinmanövriert wird, dass nur seine profunden Erfahrungen als Ermittler zur Bereinigung des Problems führen, bekommt Lee Childs liebevoll als „Reacher Creatures“ bezeichnetes Publikum die gewohnte Mischung aus effizient inszenierter Action und sorgfältiger Ermittlungsarbeit geboten, die diesmal zwar die mittlerweile vertraute Hacker-Thematik als Ausgangspunkt aufweist, sich dann aber mit fortlaufender Handlung als Mischung aus Agenten-Hatz und Vertuschungsmanövern erweist. 
Viel Raum für ausgefeilte Charakterisierungen der Figuren bleibt bei dem handlungsgetriebenen Plot nicht, doch das Spannungslevel wird auf konstant hohem Niveau gehalten, wie es die Reacher-Fans lieben. Allerdings weist die Thriller-Reihe erste Ermüdungserscheinungen auf, was auch ein Grund dafür sein dürfte, dass Lee Child seinen jüngeren Bruder nicht nur als Co-Autoren ins Boot geholt hat, sondern ihm mittelfristig auch ganz das Zepter für die Fortsetzungen übergeben will. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 15) „Dunkle Tage im Iberia Parish“

Samstag, 22. Juli 2023

(Pendragon, 480 S., Pb.) 
Zwar hat der 1936 im texanischen Houston geborene James Lee Burke bereits seit Mitte der 1960er Jahre (hierzulande noch unveröffentlichte) Romane wie „Half of Paradise“ (1965), „To the Bright and Shining Sun“ (1970), „Two for Texas“ (1982) und „The Lost Get-Back Boogie“ (1986) veröffentlicht, doch internationale Anerkennung heimste der Südstaaten-Autor erst mit der 1987 begonnenen Reihe um den Vietnam-Veteranen, Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux ein. 
Der 2006 erschienene 15. von insgesamt 23 Bänden, „Dunkle Tage im Iberia Parish“, zählt zu den besten Werken der Reihe, aus der sowohl „Heaven’s Prisoners“ als auch „In the Electric Mist“ verfilmt worden sind. 
In den 1980er Jahren nahm Dave Robicheaux vom NOPD an einem Austausch-Programm mit der Trainingsakademie für Polizeischüler im Dade County, Florida, teil, wo er in der Mordkommission des Miami Police Department arbeitete und Strafrecht an einem College in der Nähe der Kleinstadt Opa Locka unterrichtete. Vor allem war diese Zeit aber durch exzessiven Alkoholkonsum geprägt, was dazu führte, dass er nicht verhindern konnte, dass sein einziger Freund, der wegen seiner Spielsucht hochverschuldete Kriegsheld Dallas Klein, von Handlangern des Buchmachers Whitey Bruxal getötet worden ist, als der Geldtransporter der Firma, für die Klein arbeitete, überfallen wurde. 
Zwei Jahrzehnte später sind der Raubüberfall und der Mord an Dallas Klein noch immer unaufgeklärt, doch Robicheaux wird zwei Jahrzehnte später noch immer von Schuldgefühlen geplagt. Mittlerweile ist er Detective im Iberia Parish Sheriff‘s Department und lebt mit seiner Frau, der ehemaligen Nonne Molly, am Bayou Teche. Als eine junge Frau mit einem gekennzeichneten 100-Dollar-Schein im Casino Chips eintauschen will, stellt Robicheaux fest, dass es sich bei der jungen Dame um Trish Klein handelt, Dallas Kleins Tochter. Wenig später wird die Kellnerin Yvonne Darbonne nahe der Zuckerfabrik tot aufgefunden. Offensichtlich hat sich die 18-Jährige mit dem neben ihrer Hand liegenden .22er Revolver selbst erschossen. Die Obduktion ergibt, dass das Mädchen jede Menge Alkohol, Gras und Ecstasy intus und kurz vor ihrem Tod Sex mit mehreren Partnern hatte. 
Die Ermittlungen führen zunächst zu dem Unternehmer Bello Lujan, mit dessen Sohn Tony die Tote liiert gewesen sein soll und der auch in einen Vorfall von Fahrerflucht verwickelt ist, bei dem ein Obdachloser ums Leben kam. Tonys Freund Slim wiederum ist der Sohn von Whitey Bruxal, dessen Handlanger Tommy „Lefty“ Lee Raguza kurzen Prozess mit allen macht, die seinem Chef in die Quere kommen. Am meisten verdächtigt wird allerdings der schwarze Drogenhändler Monarch Little. Ebenfalls vor Ort ist FBI-Agentin Betsy Mossbacher, die vor allem hinter Bruxals illegalen Machenschaften her ist. Robicheaux ist vor allem besorgt, dass sein bester Kumpel Clete Purcel etwas mit Trish Klein angefangen hat, die mit ihren merkwürdigen Freunden offenbar vorhat, sich an Bruxal für den Mord an ihrem Vater zu rächen… 
„Es war einer dieser Momente, in denen die Wahrheit nichts als wehtun würde. Hatte Clete vielleicht recht? Waren wir am Ende des Weges angelangt und führten einen aussichtslosen Kampf gegen Kräfte, die längst von Gesellschaft und Staat anerkannt wurden? Waren wir wie zwei Narren, die auf einem sinkenden Schiff die Sektkorken knallen ließen? Redeten wir uns ein, dass wir ewig jung bleiben würden, wenn wir ab und an einen Scheißkerl verprügelten, und dass die Party niemals enden würde?“ (S. 329) 
Oft genug wird James Lee Burkes rechtschaffender Protagonist Dave Robicheaux von den Dämonen seiner Vergangenheit heimgesucht, die von ihm während des Vietnamkriegs Besitz ergriffen haben und sich in Form alkoholindizierter Delirien bemerkbar machen. Diesmal ist es ein unaufgeklärter Mord an seinem damaligen einzigen Freund Dallas Klein, der den Detective wieder stärker umtreibt, als Kleins Tochter Trish unvermittelt in seinem Bezirk auftaucht und offensichtlich mehr vorhat, als nur das hiesige Casino zu erleichtern. 
Zusammen mit seinem Partner Clete hat Robicheaux alle Mühe, die losen Fäden zusammenzuführen, die der Mord an der 18-jährigen Kellnerin, die Fahrerflucht mit einem toten Obdachlosen als Folge und rassistische Vorfälle, in denen der Sohn des einflussreichen Bello Lujan, ein schwarze Drogendealer und der Buchmacher Whitey Bruxal verwickelt sind, hinterlassen haben. 
Die komplexe Krimi-Handlung reichert Burke wie gewohnt mit bilderreichen Beschreibungen der Landschaft und Kultur in Louisiana sowie gesellschaftskritischen Überlegungen an, die die Bobbsey Twins vor allem immer dann anstellen, wenn sie es mit besonders selbstgefälligen Exemplaren der menschlichen Spezies zu tun haben, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Reichtums glauben, sich alles erlauben zu können. 
Trotz aller brutalen Gewalt spart Burke nicht an der Hoffnung auf eine bessere Welt, zu der jeder ein wenig beitragen kann, indem er nur das Richtige tut.  
„Dunkle Tage im Iberia Parish“ ist somit nicht nur ein starkes Stück Kriminalliteratur, sondern auch ein zutiefst moralisches Lehrstück mit zwei charismatischen Protagonisten, wie sie das Genre noch nie erlebt hat. 

 

Engman & Selåker – (Wolf & Berg: 1) „Sommersonnenwende“

(Ullstein, 592 S., Pb.) 
Pascal Engman hat seit seinem Thriller-Debüt „Der Patriot“ aus dem Jahr 2017 bereits mit „Feuerland“ und „Mörderische Witwen“ zwei Romane veröffentlicht, in der die schwedische Kriminalkommissarin Vanessa Frank ermittelt. Für seinen neuen Roman hat er sich nicht nur mit dem renommierten Journalisten Johannes Selåker zusammengetan, der bei Aftonbladet, Expressen und Aller Media als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig gewesen ist, sondern gleich eine weitere vielversprechende Reihe ins Leben gerufen, in der Kriminalkommissar Tomas Wolf und die Journalistin Vera Berg einen etwas holprigen Start bei der Suche nach dem Mörder einer jungen Frau in einem Stockholmer Vorort erwischen. 
Die Bilder, die sich Tomas Wolf im Oktober 1993 bei seinem Einsatz als Mitglied der schwedischen UN-Soldaten in Bosnien-Herzegowina in den Kopf gebrannt haben, lassen den Kriminalkommissar nicht mehr los, vor allem aber nicht die Bekanntschaft der jungen Frau Azra, die er aus einem Versteck in einem von Kroaten verwüsteten Dorf gerettet hat. Seit er wieder daheim ist, plagen Wolf ganz andere Probleme. Für seine Frau Klara und die beiden Kinder Alexander und Ebba wollte Wolf eigentlich die Anzahlung für ein neues Haus leisten, doch das dafür zurückgelegte Geld hat er anderweitig ausgegeben, was zu einer handfesten Ehekrise führt. Auf dem Weg zu seinem Bruder, der ihm noch Geld schuldet, landet er in dem schäbigen Vorort Märsta an einem Tatort, wo eine junge Migrantin unter einer Plane vergewaltigt und erdrosselt aufgefunden worden ist. 
Derweil hat sich die Journalistin Vera Berg in Malmö von ihrem drogenschmuggelnden, unzuverlässigen Freund Jonny Müller getrennt und sich mit dessen sechsjährigen Sohn Sigge heimlich nach Stockholm aufgemacht, wo sie als überregionale Journalistin in der Hauptstadtredaktion der Kvällsposten einen neuen Job antritt und gleich die Berichterstattung über diesen Mordfall übernimmt. 
Wolf und Berg gehen allerdings auf unterschiedliche Weise bei der Suche nach dem Mörder vor, denn im Gegensatz zu dem Kommissar weiß die Journalistin von einem ähnlichen Fall aus Malmö, wo ebenfalls eine vor dem Bosnienkrieg geflüchtete Frau vergewaltigt und ohne Slip aufgefunden worden war. Und sie verfügt – wenigstens für kurze Zeit - über eine Zeichnung, die eine Freundin des einen Opfers vom Täter angefertigt hat. 
Wolf gerät aufgrund seiner neonazistischen Vergangenheit selbst in den Kreis der Verdächtigen, aber auch der der bekannte schwedische Schauspieler und Frauenliebling Micael Bratt sowie der LKW-Fahrer Jörgen Waltz werden von den Ermittlern ins Visier genommen. 
„Was wusste sie eigentlich über Wolf? Er war als Jugendlicher in der White-Supremacy-Bewegung gewesen. Er hatte es als Jugendsünde abgetan. Aber wenn das stimmte, warum hatte er dann nicht mit seinem Bruder gebrochen, der noch immer ein Vollblut-Nazi war?“ 
Das schwedische Autoren-Duo Engman & Selåker hat sich mit „Sommersonnenwende“ gleich mehrerer brisanter Themen angenommen, den Gräueln des Bosnien-Krieges ebenso wie der Flüchtlings-Thematik mit dem damit verbundenen Rassismus neonazistischer Gruppierungen, zu denen Kriminalkommissar Tomas Wolf mehr als nur berufliche Verbindungen aufweist. Schließlich entwickelt sich auch das frauenverachtende Verhalten von Männern zu einem wesentlichen Punkt, wobei Selåker als Journalist selbst einen wesentlichen Beitrag zur #MeToo-Untersuchung geleistet hat. 
Dies alles vermengt das Duo zu einem packenden Thriller, der im schwedischen Sommermärchen des Jahres 1994 angesiedelt ist, als die schwedische Fußballnationalmannschaft bei der WM in den USA überraschend den 3. Platz belegte. Engman & Selåker nehmen sich viel Zeit für ihre beiden so unterschiedlichen Protagonisten, wobei ihre Wege lange Zeit nebeneinanderher verlaufen und sowohl Wolf als auch Berg nebenbei ihre privaten Probleme in den Griff bekommen müssen. 
Das ist vielleicht etwas viel Stoff für einen Auftaktroman einer neuen Serie und wird der Komplexität der Themen kaum gerecht, aber die interessanten Protagonisten und der tempo- und abwechslungsreiche Plot machen „Sommersonnenwende“ zu einem kurzweiligen Thriller-Vergnügen.  

Dan Simmons – „Flashback“

Freitag, 7. Juli 2023

(Heyne, 638 S., Pb.) 
Seit Dan Simmons seinen Beruf als Grundschullehrer aufgegeben und 1985 mit „Song of Kali“ seinen ersten Roman veröffentlicht hat, bewegt er sich souverän zwischen den Genres, schreibt Horror- und Psycho-Thriller ebenso wie rasante Detektiv-Thriller und vor allem Science-Fiction-Epen, wofür er gerade zu Anfang seiner Karriere mit etlichen renommierten Preisen wie dem World Fantasy Award, Locus Award, Bram Stoker Award, Hugo Award und British Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Seit 2007 hat Simmons mit „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ vor allem epische Historien-Abenteuer veröffentlicht, dazwischen aber mit „Flashback“ (2011) auch wieder einen Science-Fiction-Roman. 
In den 2030er Jahren steht die Welt vor dem wirtschaftlichen Kollaps. In den einst so mächtigen USA setzt der als Weltkalifat bezeichnete Islam seinen Expansionskurs durch die Welt fort, nachdem er sich bereits einen Großteil Europas einverleibt und Israel mit einem atomaren Angriff ausgelöscht hat. Aber auch die Reconquista und einflussreiche japanische Millionäre ringen um die Macht in den wirtschaftlich wie politisch und sozial zerrütteten USA. 
Die Bevölkerung ist weitgehend von der „Flashback“-Droge abhängig, die es den Konsumenten ermöglicht, wieder und wieder die schönsten Stunden ihres Lebens nachzuempfinden. Davon macht auch der ehemalige Detective des Denver Police Department, Nick Bottom, Gebrauch, um den Verlust seiner vor fünf Jahren bei einem Autounfall getöteten Frau Dara zu verarbeiten. Allerdings hat er sich durch dieses Verhalten sowohl von seinem Sohn Val entfremdet als auch von seinem in Los Angeles lebenden Vater, den emeritierten Philosophieprofessor George Leonard Fox, bei dem Val seit dem Tod seiner Mutter lebt. Vor allem um seine durch exzessiven Flashback-Konsum in die Höhe geschossenen Schulden zu begleichen, nimmt Bottom einen Job als Privatermittler für den einflussreichen japanischen Diplomaten Hiroshi Nakamura an. 
Zwar gelang es Bottom schon vor sechs Jahren nicht, mit seiner Mannschaft beim DPD den Mord an Nakamuras Sohn Keigo aufzuklären, aber Nakamura will endlich Gewissheit haben und lässt Bottom von seinem Sicherheitschef Hideko Sato begleiten, der – wie Bottom schnell herausfindet – ebenfalls auf der Party anwesend war, in deren Verlauf Keigo Nakamura getötet worden ist. Während sein Vater auf Flashback noch einmal die alten Ermittlungsakten und die von Sato bereitgestellten Kameraaufnahmen durchgeht, plant Val mit seiner Gang in Los Angeles ein Attentat auf den japanischen Berater Daichi Omura. Dass sein Großvater zufällig direkt nach dem geplanten Anschlag mit Val Kalifornien nach einer Terrorwarnung verlassen und nach Denver gehen will, passt ihm gut in den Kram. Doch der angedachten Familienzusammenführung steht noch einiges im Weg. Vor allem ist Nick nach der überraschenden Entdeckung, dass seine Frau, die als Assistentin von Staatsanwalt Harvey Cohen vor sechs Jahren ebenfalls in der Nähe des Mord-Tatorts gesehen worden ist, dabei, eine große Verschwörung aufzudecken, doch der Weg zur Erkenntnis aller Zusammenhänge gestaltet sich steinig… 
„Was jetzt? Er war sicher, dass er alle Fakten kannte, die er für die Klärung dieses Verbrechens benötigte, doch selbst die gottverdammten Fakten schienen immer wieder zu verschwimmen und sich zu verschieben. Nick kam sich vor wie ein blinder Künstler mit einem Haufen Murmeln. Im Wesentlichen war er nicht weiter als sein Team von Ermittlern vor sechs Jahren, das damals zu dem Schluss gelangte, dass Keigo und nebenbei auch seine Freundin Keli Bracque möglicherweise von einem der Zeugen ermordet worden waren.“ (S. 541) 
Dan Simmons, der mit der „Hyperion“-Tetralogie und epischen Werken wie „Ilium“ und „Olympos“ seinen Stempel in der Science-Fiction-Literatur hinterlassen hat, gelingt auch mit seinem hierzulande vorletzten veröffentlichen Roman ein großer Wurf, der einen pessimistischen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft präsentiert. Demnach stehen sich nicht die beiden Weltmächte USA und Russland als Endgegner gegenüber, sondern das islamische Weltkalifat und Japan, wobei die immensen Kosten für das Sozialsystem als Verursacher für den Niedergang der USA ausgemacht werden. 
Aus dieser Konstellation entwickelt Simmons einen packenden und vielschichtigen Thriller-Plot, der spannende Fragen zur politischen Lage in der Welt, zur Verwirklichung von Allmachtsphantasien, Korruption und Eskapismus in einer nicht mehr lebenswert erscheinenden Welt erörtert. 
Darüber hinaus stellt „Flashback“ aber auch eine tiefgründige Familiengeschichte dar, in der sich Vater und Sohn nach ihrer Entfremdung zwangsläufig wieder annähern müssen. So provokativ einige von Simmons‘ Thesen in „Flashback“ auch ausfallen, lohnt sich eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen auf jeden Fall. Und wer einfach nur einen spannenden Thriller lesen möchte, wird ebenfalls bestens bedient. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 3) „Vatermörder“

Donnerstag, 6. Juli 2023

(Blanvalet, 478 S., HC) 
Mit seiner 1997 initiierten Reihe um den querschnittsgelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme und seiner Assistentin, der jungen Polizistin Amelia Sachs, hat Jeffery Deaver längst ein internationales Publikum in den Bann gezogen, zog eine Kinoadaption mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen ebenso nach sich wie eine zehnteilige Fernsehserie, die allerdings nach einer Staffel abgesetzt worden ist. Ähnlich wie sein Kollege David Baldacci hat Deaver aber längst weitere Romanreihen entwickelt und schreibt davon unabhängige Werke. 
Nach „Der Todesspieler“ und „Der böse Hirte“ legt der US-amerikanische Bestseller-Autor nun mit „Vatermörder“ den dritten Band um Colter Shaw vor, dessen Profession darin besteht, vermisste Personen aufzuspüren. 
Colter Shaw will die Mission seines ermordeten Vaters Ashton fortführen. Also legt er mit seiner Yamaha eine weite Reise bis zum Mission District von San Francisco zurück, wo sich in der Alvarez Street das Versteck des ehemaligen Fachmanns fürs Überleben befindet. Colters Vater hatte als Professor und Amateurhistoriker ein immenses Misstrauen gegenüber einflussreichen Konzernen, Unternehmern, Politikern und Institutionen entwickelt, die die Grauzone zwischen Legalität und Illegalität ausnutzen, um ihre ganz eigenen Interessen durchzusetzen. 
Im Kampf gegen diese Art der Korruption war Ashton Shaw mit einigen Freunden und Kollegen auf die BlackBridge Corporate Solutions gestoßen, die nicht nur im Bereich der Wirtschaftsspionage tätig ist, sondern auch einen besonders schmutzigen „urbanen Image-Plan“ verfolgt, bei dem ganze Stadtviertel mit kostenlosen Drogen überschwemmt werden, um die Kriminalitätsrate in die Höhe und die Grundstückspreise in den Keller schießen zu lassen, worauf die Bauunternehmen die begehrten Objekte zu Spottpreisen aufkaufen können. Wie Colter bei seinen weiteren Recherchen erfährt, ist BlackBridge hinter einem Dokument her, das Amos Gahl, ein ebenfalls getöteter Freund von Colters Vater, in einer BlackBridge-Kuriertasche entwenden konnte. 
Während BlackBridge nichts unversucht lässt, um an dieses Dokument zu gelangen, bekommt Colter unerwartete Schützenhilfe von seinem Bruder Russell, den er immer verantwortlich für den Mord an Ashton Shaw gehalten hat. Gemeinsam machen sie sich auf eine ungewöhnliche Schnitzeljagd. 
„Bevor sein Vater zum Anwesen zurückgekehrt und wenig später ums Leben gekommen war, hatte er sich ein letztes Mal in San Francisco aufgehalten. Womöglich hatte er genau in diesem Sessel die Hinweise zusammengetragen, die jemanden – seinen Sohn, wie sich herausstellt – dazu bringen sollten, seine Mission fortzuführen und BlackBridge Corporate Solutions zu Fall zu bringen, sofern Ashton keinen Erfolg haben würde.“ (S. 370) 
Mit dem dritten Band um den Vermissten-Aufspürer und Spurenexperten Colter Shaw präsentiert Jeffery Deaver nicht nur einen gewohnt spannenden Thriller-Plot, sondern taucht auch tiefer ein in die bislang kaum entschlüsselte Familiengeschichte. Auch in „Vatermörder“ erinnert sich der Serienheld an das Überlebenstraining, das Ashton Shaw seinen beiden Söhnen und deren Schwester angedeihen ließ, aber vor allem rückt das schwierige Verhältnis zwischen Colter und seinem älteren Bruder Russell, der mittlerweile seine eigenen Wege geht und für eine geheime Regierungsorganisation arbeitet, in den Fokus. Allerdings geht Deaver dabei nicht besonders in die Tiefe. Da die beiden Brüder kaum ein Wort miteinander reden, gewinnt ihre Beziehung noch kein tiefes Profil, bietet aber Raum für Entwicklung in den nachfolgenden Romanen. 
Die Thriller-Handlung rund um BlackBridge ist zwar actionreich und spannend, folgt aber durchweg konventionellen Pfaden und bietet kaum Überraschungen. Dass Colter nebenbei noch versucht, das Leben einer ganzen Familie zu retten, für die ein Tötungsbefehl existiert, sorgt zwar für Abwechslung, zerfasert aber auch die dramaturgische Stringenz. 
An die Klasse der ersten beiden Colter-Shaw-Bände kann „Vatermörder“ nicht ganz anknüpfen, doch bewegt sich der Thriller leicht über dem Genre-Durchschnitt.  

Andrea De Carlo – „Das Traumtheater“

Montag, 26. Juni 2023

(Diogenes, 464 S., HC) 
In den 1980er und 1990er Jahren avancierte Andrea De Carlo mit (zumindest in seiner italienischen Heimat) preisgekrönten Romanen wie seinem Debüt „Creamtrain“ und den Folgewerken „Vögel in Käfigen und Volieren“, „Macno“, „Yucatan“ und „Zwei von zwei“ zum absoluten Kultautor. An diese Erfolge kann der aus Mailand stammende ehemalige Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini zwar längst nicht mehr anknüpfen, doch für kurzweilige Unterhaltungsliteratur ist De Carlo noch immer gut, wie sein neuer Roman „Das Traumtheater“ zeigt. 
Veronica Del Muciaro ist nicht nur eine populäre Journalistin, die mit ihren Live-Reportagen für die Sendung „Tutto qui!“ für hohe Einschaltquoten sorgt, sondern präsentiert ihren Followern in den sozialen Medien mit unzähligen Selfies auch nahezu jeden Aspekt ihres Alltags. Dieser Tick wird ihr allerdings fast zum Verhängnis, als sie im ältesten Café von Suverso beim Fotografieren fast an einer Brioche erstickt. Während die meisten Gäste den Überlebenskampf der Fernsehfrau eher neugierig als besorgt verfolgen, packt ein Unbekannter beherzt zu und lässt das festgesetzte Stück Brioche im hohen Bogen aus ihrem Mund fliegen. 
Die Reporterin fällt zunächst in das verhasste Stottern aus ihrer Kindheit zurück, sammelt sich aber schnell und beginnt, das Gespräch mit ihrem Retter zu filmen. Offensichtlich ist der Mann namens Guiscardo Guidarini ein Archäologe, der seine jüngste Entdeckung in der hiesigen Provinz gemacht haben will. Diese Nachricht verbreitet sich in Windeseile über die Grenzen der Kleinstadt Cosmarate hinaus und entfacht einen mit allen Bandagen ausgetragenen Machtkampf zwischen Massimo Bozzolao, dem der Wende® angehörende Bürgermeister von Cosmarate, Annalisa Sarmani, der zuständigen Stadträtin für Kultur und Tourismus der Gemeinde Suverso, und den übergeordneten Parteivorsitzenden, die das von Guidarini freigelegte antike Theater für ihre Zwecke ausschlachten wollen. 
Aber auch Veronica Del Muciaro hat alle Hände voll zu tun, den Schwung, den sie durch die Erstberichterstattung mitgenommen hat, für die weitere Story-Entwicklung auszubauen. Je mehr Personen des öffentlichen Lebens auf der Bildfläche in Cosmarate auftreten, desto größer wird das Spektakel und die Hemmungslosigkeit, mit der sich die einzelnen Parteien bekämpfen. 
„… wie sollte sie bloß mit diesem merkwürdigen Marchese und Archäologen umgehen? Sollte sie sich mit ihm verbünden oder ihn lieber entmachten? Aber der machte nun wahrlich nicht den Eindruck, als ließe er sich das ohne Weiteres gefallen, und die Tatsache, dass er das Theater aus eigener Kraft in nur drei Jahren ausgegraben hatte, sagte ja wohl alles über seine Entschlossenheit. Aber wieso hatte er alles geheim gehalten, was waren wohl seine wahren Gründe? Extreme Ungeduld? Mangelndes Vertrauen in die zuständigen Behörden? Oder vielleicht beides und wer weiß was noch?“ (S. 147) 
In seinem neuen Roman kommt kaum einer ungeschoren davon. Vor dem Hintergrund einer vermeintlich sagenhaften historischen Entdeckung nutzt De Carlo die Profilierungssucht der Protagonisten gnadenlos aus, um die für Italien berühmt-berüchtigte Trägheit, Oberflächlichkeit und Korruption der Lächerlichkeit preiszugeben. Das fängt mit der geschwätzigen, sensationssüchtigen, geltungssüchtigen, aber auch unerschrockenen Reporterin Veronica Del Muciaro und ihrer zuständigen Studio-Chefin in Rom an und setzt sich in einem munteren Reigen fort, bei dem sich immer prominentere Politiker in den Vordergrund drängen, um das Theater als Aushängeschild für ihre öffentlichkeitswirksame Agenda zu vereinnahmen. Allein der Marchese bleibt bei dem wilden Treiben recht ruhig, sorgt durch seine auch körperliche Nähe zu Suversos Stadträtin Sarmani für eine leicht romantische Note in dem Plot. Die beiden stellen letztlich auch die einzigen Sympathieträger in „Das Traumtheater“ dar, wohingegen beim eskalierenden politischen Gemetzel zum Finale hin De Carlo genüsslich die Schwächen in der politischen und medialen Landschaft in Italien freilegt. Die interessante Ausgangslage, die lebendige Sprache und die zwar an sich klischeehaft wirkenden, letztlich durchaus vielschichtig angelegten Figuren machen „Das Traumtheater“ zu einem durchweg humorvollen Lesevergnügen.  

Stewart O’Nan – „Ocean State“

Dienstag, 20. Juni 2023

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Stewart O’Nan hat es in seiner über fünfunddreißigjährigen Schriftstellerkarriere immer wieder hervorragend verstanden, die Befindlichkeiten und das allgemeine soziale Gefüge gerade der amerikanischen Arbeiterschicht und damit der breiten Bevölkerung seines Landes zu sezieren und auf mitfühlende Weise in oft tragischen Geschichten zu beschreiben. Da macht sein 2022 erschienener Roman „Ocean State“ keine Ausnahme. In Rhode Island, dem sogenannten „Ocean State“ und kleinsten US-Staat, haben die Menschen schwer mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Die Arbeiterstadt Westerly ist von nach dem Bankencrash leeren Häusern an der Küste geprägt. Im nahegelegenen Ashaway lebt die nach ihrer Scheidung von Frank alleinerziehende Carol als Pflegerin in einem Altenheim, bringt sich und ihre beiden Teenagertöchter Marie und Angel gerade so über die Runden und hofft, durch neue Beziehungen mit Männern ihren Status zu erhöhen, was ihr in zunehmenden Jahren immer schlechter zu gelingen scheint. 

Bricht die Beziehung auseinander, muss Carol für sich und ihre beiden Töchter eine neue Bleibe suchen. Momentan ist es ein unscheinbares Haus am Fluss, gegenüber der leer stehenden Garn- und Schnur-Fabrik Line & Twine, in deren Gängen die Mädchen Rollschuh fahren. 
Der Mord an der Highschool-Schülerin Birdy erschüttert die Kleinstadt. Sie hat sich in den aus wohlhabendem Haus stammenden Myles verliebt, der allerdings mit Maries älterer Schwester Angel liiert gewesen ist. Aus einem Abstand von einigen Jahren lässt nicht nur Marie die Ereignisse Revue passieren, die mit Birdys Tod endeten. 
„Wie alles im Fernsehen schien der Fall einer anderen Welt anzugehören, obwohl sich das Ganze direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite abspielte. Ich kannte diesen Flussabschnitt besser als jeder andere und stellte mir vor, wie ich sie entdeckte, schlaff und blass wie ein Fisch, hängen geblieben im Wehr, und meine Geschichte einem Reporter erzählte. Jeden Abend gaben sie uns einen Hinweis, als wäre es ein Spiel. Ihre Mutter sagte, als sie losgefahren sei, habe sie ihre Uniform getragen, doch ihr Chef bestritt, dass sie Dienst hatte. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem langjährigen Freund getrennt, den die Polizei für eine Person von besonderem Interesse hielt.“ (S. 180) 
Auch wenn „Ocean State“ mit der Erwähnung eines Mordes beginnt, handelt es sich bei O’Nans neuen Roman natürlich nicht um einen Krimi mit klassischem Whodunit-Plot, denn die (Mit-)Täterin wird gleich im ersten Satz miterwähnt.
Stattdessen bewegt sich der aus Connecticut stammende Autor auf vertrautem Terrain, portraitiert einfühlsam die Lebensumstände (nicht nur) junger Menschen, die sich durch Highschool, Nebenjobs, Liebesgeschichten und das Leben kämpfen, nach und nach ihre Träume begraben und desillusioniert von einer unglücklichen Beziehung in die nächste schlittern. O’Nan lässt die Geschichte aus der wechselnden Perspektive der vier Frauen Carol, Marie, Angel und Birdy erzählen, was dem Roman eine besondere Note verleiht, denn die Männer wirken ohnehin eher schwach. Myles sieht zwar gut aus und kommt aus reichem Hause, verfügt aber über keinen nennenswerten Charakter, vermag sich nicht so recht zwischen Angel und Birdy entscheiden, was die tragischen Ereignisse vielleicht erst in Gang setzt. 
In den persönlichen Erinnerungen der vier Protagonistinnen wird vor allem das Ringen um Liebe und Anerkennung in einer Welt deutlich, die den Figuren am Rande der Gesellschaft sonst nichts zu bieten hat. Gewohnt eindringlich fühlt sich O’Nan in die Träume, Sehnsüchte und Ängste seiner Figuren ein und bleibt diesen auch bis nach dem eigentlichen Ende der Geschichte treu, wirft noch einen kurzen Blick in die Zukunft der vier Frauen. So entsteht das Bild einer Gesellschaft, die vor allem durch die Ungleichheit der Chancen und des Vermögens geprägt ist. Darin ist und bleibt O’Nan einfach ein Meister. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 23) „Verschwinden ist keine Lösung“

Donnerstag, 15. Juni 2023

(Pendragon, 472 S., Pb.) 
22 Jahre nach seinem ersten Roman legte der in Houston, Texas, geborene und in Louisiana aufgewachsene James Lee Burke 1987 mit „Neon Rain“ den Grundstein für eine der außergewöhnlichsten Krimi-Reihen. Denn in den Südstaaten-Krimis um den Vietnam-Veteranen, ehemaligen Detective des New Orleans Police Departments und Alkoholiker Dave Robicheaux verstand es der u.a. mit dem Edgar Allan Poe Award, dem Hammett Prize, dem Deutschen Krimi Preis und dem Gold Dagger ausgezeichneten Schriftsteller, auf atmosphärisch dichte Weise die außergewöhnliche Südstaaten-Landschaft und -kultur mit ungewöhnlichen Kriminalfällen zu verbinden, in denen fast ausnahmslos Mafia-Größen, Großgrundbesitzer, skrupellose Unternehmer und korrupte Politiker involviert gewesen sind. 
Nun soll nach über dreißig Jahren Schluss sein, der 23. Band „Verschwinden ist keine Lösung“ wird als letzter Band der Reihe um den charismatischen Cop Dave Robicheaux angekündigt. 
Der musikalisch begnadete Johnny ist nach dem Tod seiner Eltern von seinem Onkel Mark Shondell großgezogen worden, einem Mann, der – Robicheaux‘ Meinung nach - sein Geld „auf dem Rücken Anderer“ erworben hat und Familiengeheimnisse hütete, bei denen es um „Sex mit anderen Ethnien und die Ausbeutung der außerehelichen Kinder ging, die sie zeugten“. 
Als sich Johnny ausgerechnet in die minderjährige Isolde Balangier verliebt, die Tochter eines rivalisierenden Clans, liegt natürlich Ärger in der Luft, denn Isolde soll als Friedensangebot an Mark Shondell ausgeliefert werden, dessen Familie Frachter, Segeljachten und Plantagen in Chile, Costa Rica und Kolumbien besaßen und oft Besuch von lateinamerikanischen Diktatoren bekamen. Als der berüchtigte Mafia-Auftragskiller Marcel La Forchette aus dem Gefängnis entlassen wird, trifft Robicheaux ihn auf dem Shondell-Anwesen, wo der Detective versucht, Informationen zum Aufenthaltsort des jungen Liebespaares zu erhalten. Zusammen mit seinem alten Kumpel Clete Purcel bekommt es Robicheaux nicht nur mit unangenehmen Schergen sowohl der Shondell- als auch der Balangier-Sippe zu tun, er verliebt sich auch noch ausgerechnet in Adonis Balangiers Frau Penelope und die ehemalige Prostituierte Leslie Rosenberg, bekommt es schließlich mit einem selbsternannten „Offenbarer“ zu tun, Gideon Richetti, der seit dem 17. Jahrhundert sein Unwesen auf der Erde zu treiben scheint und bei den Bobbsey Twins übernatürliche Empfindungen hervorruft. 
„… in unserer Mitte befand sich das Böse, und es war unsere eigene Schöpfung und hatte nichts mit dem Zeitreisenden aus dem Jahr 1600 zu tun. Das Böse, über das ich rede, wurde als Mann mit Sorbonne-Ausbildung wiedergeboren, dessen Familie seit Generationen unter uns lebte. Er hatte geschworen, Hollywood und die Juden darin zu zerstören, war vermutlich ein Kinderschänder und hatte die Morde an seinen Feinden angeordnet. Wir fürchteten seine Macht und seinen Namen und wir logen uns an, zogen den Hut und taten so, als würden wir einfach an einer vornehmen Kultur aus früheren Zeiten festhalten.“ (S. 368) 
Am – voraussichtlichen - Ende der Reise blickt Dave Robicheaux auf drei verstorbene Ehefrauen und seine abwesende Adoptivtochter Alafair zurück, so dass er im Kampf gegen böse, vermeintlich übernatürliche Kräfte diesmal allein auf Clete Purcel bauen kann. Mit einem deutlich reduzierten Figurenensemble und recht klar definierten Fronten bekommen es die unerschrockenen Bobbsey Twins einmal mehr mit narzisstischen, selbstgerechten reichen Familien zu tun, die ihre Interessen über die der Allgemeinheit stellen und rücksichtslos selbst über das Schicksal ihrer Jüngsten bestimmen. Was den Plot angeht, präsentiert Burke wenig Neues, hinter neuen Namen verbergen sich vertraute Strukturen und Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus, Korruption und Prostitution. 
Allein das übernatürliche Element wird stärker hervorgehoben, untergräbt damit aber leider auch die Glaubwürdigkeit der Story. Im Gegensatz zu früheren Romanen, in denen vor allem Purcel sich mit den falschen Frauen einlässt, ist es diesmal Robicheaux, der unangebrachte Leidenschaften für die Frau eines Mafia-Bosses und eine ehemalige Prostituierte entwickelt. 
Seine größten Stärken entwickelt „A Private Cathedral“, so der 2020 veröffentlichte Originaltitel, im Zusammenspiel der Bobbsey Twins, die sich immer wieder selbst und einander versichern müssen, dass sie auf der rechten Seite kämpfen, dabei aber natürlich wie gewohnt immer wieder über die Stränge schlagen, bis sie sich im actionreichen Finale aus arger Bedrängnis befreien müssen. Bis dahin bietet „Verschwinden ist keine Lösung“ literarisch anspruchsvolle, allerdings recht vorhersehbare Krimi-Kost, die nicht das große Finale einer der bedeutendsten Krimi-Reihen der letzten Jahrzehnte darstellt, das man sich erhofft hatte. Noch darf man ja träumen, dass Burke noch etwas Großes nachlegt… 

 

Sinclair McKay – „Berlin – 1918-1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte“

Donnerstag, 8. Juni 2023

(HarperCollins, 556 S., HC) 
Der Zweite Weltkrieg hat es dem Briten Sinclair McKay angetan. Sein auch hierzulande unter dem Titel „Die Nacht als das Feuer kam - Dresden 1945“ veröffentlichtes Werk „Dresden. The Fire and the Darkness“ zählte 2020 bei der Sunday Times zu den besten Büchern des Jahres. Davon abgesehen bereitete er mit „The Lost World of Bletchley Park: The Illustrated History of the Wartime Codebreaking Centre“ die Bedeutung der Frauen von Bletchley Park auf, jener geheimen militärischen britischen Dienststelle, die im Zweiten Weltkrieg – vor allem deutsche - kodierte Nachrichten entschlüsselte. Unter dem weitreichenden Titel „Berlin – 1918-1945. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte“ setzt sich McKay nun mit den Auswirkungen auseinander, die der Zweite Weltkrieg vor allem auf das Leben der Ost- und West-Berliner mit sich brachte. 
Für Sinclair McKay ist Berlin eine „nackte Stadt, (…) die ihre Wunden und Narben offen zur Schau stellt“, wie der Literaturkritiker der britischen Zeitungen „The Telegraph“ und „The Spectator“ sein ausführliches Vorwort zu seinem neuen Sachbuch einleitet. Darüber, was die angesprochenen Wunden und Narben verursacht hat, lässt sich der Brite auf den folgenden mehr als 500 Seiten in aller Breite aus, angefangen bei den Nachwehen der Weimarer Republik, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Kämpfen zwischen den Kommunisten und dem von der Regierung unterstützten Freikorps über die Machtübernahme der Nazis, den Entbehrungen und des Genozids während des Zweiten Weltkriegs und der Trennung der Stadt im Machtkampf zwischen der kommunistischen Sowjetunion einerseits und den demokratischen Siegermächten USA, Frankreich und England auf der anderen Seite bis zum erlösenden Fall der Mauer im Jahr 1989. 
Der Autor spannt dabei einen weiten Bogen über das Leben und die Kultur in Berlin, setzt sich mit der Architektur von Bauhaus-Gründer Walter Gropius, Heinrich Tessenow und Albert Speer ebenso auseinander wie mit den Filmproduktionen von später in die USA emigrierten Regisseuren wie Billy Wilder und Fritz Lang, den Werken der Schriftsteller Erich Kästner und Berthold Brecht, den weltberühmten Berliner Philharmonikern und dem jungen Dirigenten Herbert von Karajan. Berücksichtigung finden auch so einflussreiche Wissenschaftler wie Albert Einstein, Otto Hahn, Gustav Hertz und Lise Meitner sowie Wernher von Brauns Raketenexperimente. Auf leicht zu lesende populärwissenschaftliche Weise verknüpft McKay Biografien der vorgestellten Personen mit dem Alltag der Berliner Menschen, untermauert seine Beschreibungen immer wieder mit Anekdoten einfacher Menschen, deren Schicksale vor allem von der ZeitZeugenBörse in Berlin dokumentiert werden – bis zum Fall der Berliner Mauer. 
„Die Teilung war absolut. Für manche Künstler und Schriftsteller gelten Mauern als Symbol für den Tod, da man nicht sehen kann, was dahinterliegt. Die krasse Unerbittlichkeit der Berliner Mauer verlieh ihr sofort eine globale Relevanz als Grenze des neurotischen Kalten Krieges, als Trennlinie mit Bedeutung für die ganze Welt. Von Anfang an ertrugen manche Berliner die neue Begrenzung ihres Lebens nicht. Das waren jedoch nicht die Insulaner, sondern die Ost-Berliner, die theoretisch die Freiheit eines ganzen Kontinents im Osten hatten.“ (S. 496) 
Dabei wird vor allem deutlich, dass sich die Berliner nie haben unterkriegen lassen, während des Krieges monatelang hungernd und frierend in unterirdischen Räumen ausgeharrt, aber nie ihren Humor verloren haben. Auch wenn McKays Berlin-Buch kaum neue Erkenntnisse vermittelt, beschreibt er auf anschauliche Weise die Auswirkungen von wissenschaftlichen Entwicklungen, künstlerischen Strömungen und politischen Entscheidungen auf das Leben in Berlin. Wer allerdings hofft, dass der Autor die Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso ausführlich abhandelt wie die Kriegsjahre, wird enttäuscht. Die Jahre bis zum Bau und dem Fall der Mauer werden vergleichsweise kurz thematisiert, ebenso der Einfluss, den die Entwicklung in Berlin auf das 20. Jahrhundert gehabt haben soll. Ausgewählte Schwarzweiß-Bilder und ausführliche Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln runden das Werk gelungen ab.  

Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

Dienstag, 6. Juni 2023

(Diogenes, 310 S., HC) 
Der aus Pueblo, Colorado stammende Kent Haruf war bereits 41 Jahre alt, als er 1984 mit „The Tie That Binds“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Es war der erste von insgesamt sechs Romanen, die allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt sind. Berühmt wurde er durch seinen letzten, 2015 – posthum - veröffentlichten Roman „Our Souls at Night“, der hierzulande als „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen und 2017 mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt worden ist. Nun erscheint mit „Das Band, das uns hält“ endlich die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kent Haruf, der 2014 verstarb. 
Kurz vor ihrem achtzigjährigen Geburtstag liegt Edith Goodnough im Krankenhaus und wartet darauf, dass ihr der Prozess gemacht wird. Ihr Nachbar Sanders Roscoe scheint der einzige in Holt, Colorado, zu sein, der die Geschichte hinter dem mutmaßlichen Verbrechen kennt, doch lässt er auch einen Reporter von der Denver Post abblitzen. Stattdessen erzählt Roscoe dem in der Stadt weilenden Leser die wahre Geschichte, die im Jahr 1895 mit der Heirat des 25-jährigen eigenbrötlerischen und raubeinigen Roy Goodnough und der zwei Jahre älteren Ada Twamley beginnt, mit einer Reise von Iowa nach Colorado, wo Roy ein Stück Land erwirbt, das er bewirtschaften kann, und seiner Frau ein Holzhaus baut. Wenig später bringt die zarte Ada erst Edith und dann Lyman zur Welt. 
Als Ada 1914 stirbt und Lyman Haus und Hof verlässt, um die Welt kennenzulernen, ist es an Edith, sich um den Haushalt und das Melken der Kühe zu kümmern. Eine Beziehung zu ihrem Nachbarn John Roscoe unterbindet der griesgrämige Roy, der bei einem Unfall fast alle Finger verliert und Edith noch mehr terrorisiert. Den einzigen Trost findet sie in den Postkarten, die Lyman ihr aus all den Städten schickt, die er besucht. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt, nimmt das Drama seinen Lauf… 
„Egal, wie sehr man es sich wünschte, dass sie mal für eine Weile losließ, wenn auch nur für eine Woche, sagen wir, oder einen Tag oder bloß eine Stunde, sie tat es nicht. Sie tat es einfach nicht. Ich glaube, sie hätte auch gar nicht gewusst, wie man das macht. Es war, als hielte sie die Zügel der Welt mit beiden Händen fest und hätte genug Alte-Männer-Finger gesehen, verstümmelt und mit Spreu bedeckt in den Stoppeln hinter der Mähmaschine, genug Krankenhäuser mit toten Babys, Fehlgeburten nach einem Autounfall, und hätte einfach Angst loszulassen, wenn auch nur für eine Minute.“ (S. 260) 
Bereits mit seinem Romanerstling bewies Haruf Mitte der 1980er Jahre ein ausgeprägtes Gespür für die seelischen Befindlichkeiten seiner Landsleute im ländlichen Colorado. Aus der Perspektive eines Nachbarn, der in der Rolle des Ich-Erzählers von allen Außenstehenden die Lebensgeschichte der Goodnough-Familie am besten kennt, entfaltet der Autor die zermürbende Eintönigkeit eines fremdbestimmten Lebens, das unter durchaus vorstellbaren anderen Umständen einen glücklicheren Verlauf hätte nehmen können. Mit einfühlsamer Präzision schildert Haruf das Psychogramm eines narzisstischen Patriarchen, der nicht nur seine Frau frühzeitig unter die Erde gebracht hat, sondern auch das Leben seiner Kinder zur Tortur werden ließ. In vielen kleinen, lebensnah inszenierten Episoden wird nach Lymans Weggang deutlich, wie Ediths Lebenskraft unter dem ständigen Druck, die Farm am Laufen zu halten und sich um den psychisch wie physisch angeschlagenen Vater zu kümmern, dahinwelkt, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, dem Leid ein Ende zu bereiten. 
Auch wenn Haruf und sein Ich-Erzähler früh erkennen lassen, welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entfaltet die Erzählung einen packenden Sog um Themen wie Pflichtbewusstsein, zerstörerische Familienbande, aufgegebene Träume und tödliche Verzweiflung, die aus jahrzehntelanger Entbehrung erwächst.