(btb, 352 S., HC)
Till Raether ist zwar mit einer Reihe von Kriminalromanen um den Hamburger Kommissar Danowksi und seinen Kolumnen und Artikeln in der „Brigitte“ und dem „SZ Magazin“ bekannt geworden, doch mit seinem Roman „Treue Seelen“ kehrt der 1969 in Koblenz geborene Autor ins Westberlin seiner Jugend zurück und lässt anhand zweier Beziehungen und einer Affäre die Lebenswelten im West- und Ostberlin nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl auferstehen.
Die aus dem Rheinland stammenden und seit der Ersti-Fete an der Uni liierten Barbara und Achim hat es vor allem beruflich nach Berlin gezogen. Dort war nämlich eine Stelle als Pyrotechniker in leitender Funktion beim Bundesamt für Materialprüfung ausgeschrieben. Es winkten eine lukrative Berlinzulage und Verbeamtung nach sechs Monaten.
Doch vor allem Barbara setzt die Spießigkeit in der Nachbarschaft und die Eintönigkeit in der viel zu großen Wohnung in Zehlendorf zu, während sie weiter Umzugskisten auspackt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, wenn er zusammen mit der ehemaligen Punkerin und jetzigen Laborantin Sonja Dobrowolski genügend Feuerwehrraketen getestet hat. Die Angst um radioaktive Strahlen setzt ihr so zu, dass es nur noch Fertiggerichte gibt und schließlich an Trennung denkt. So hat sie sich das dann doch nicht vorgestellt. Achim wiederum verliebt sich in die zehn Jahre ältere Nachbarin Marion, die vor dem Mauerbau aus Ost- nach Westberlin geflüchtet ist und nun in Dahlem im PX-Store der US-Army arbeitet, während ihr Mann Volker beim Bundesgrenzschutz angestellt ist.
Zunächst begegnen sich Achim und die zweifache Mutter auf dem Dachboden beim Wäscheaufhängen, dann unternehmen sie Ausflüge an Orte, an denen sie wahrscheinlich nicht erkannt werden, sogar in den Osten, wo sie Marions Schwester Sybille wiedersehen. Als Achim heimlich einen aus dem Labor entwendeten Geigerzähler zerlegt in einer Märklin-Modelleisenbahn nach Ost-Berlin schmuggelt, gerät die Geschichte aus den Fugen…
„Es begann eine Woche, in der sie einander aus dem Weg gingen. Am ersten Morgen dachte Achim noch: Na ja, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hat. Am ersten Morgen dachte Marion noch: Na, wie sieht es denn jetzt aus, wo ich mal eine Nacht nicht darüber geschlafen habe. Aber es sah nicht so gut aus, fand sie. Das war doch alles ihrs. Das hatte sie doch gerade alles erst zurückbekommen, ganz mühsam hatte sie einen winzigen Zipfel von dem erhascht, was mal gewesen war und was in Zukunft vielleicht irgendwie wieder sein könnte, oder einen Zipfel von etwas ganz anderem, Neuem, nicht mal das wusste sie, und dann kam er.“ (S. 305)
Bereits mit der ersten Seite steckt Till Raether das Terrain seines Romans „Treue Seelen“ ab. Die Tatsache, dass zweiunddreißig Menschen direkt bei der Kernschmelze eines Reaktors in Tschernobyl gestorben und halbe Million Sowjets komplett verstrahlt seien, hätte fast das Hoffest ausfallen lassen, doch Feste sollten gefeiert werden, wie sie fielen, und niemand wollte wirklich auf den berühmten Zwiebeldip von Frau Sudaschefski verzichten. Raether fängt die Stimmung des geteilten Berlins inmitten des Kalten Krieges absolut authentisch ein und inszeniert vor diesem Hintergrund eine absolut gewöhnliche Liebesgeschichte, die jedoch in aller Heimlichkeit ausgelebt werden muss, da die beiden Protagonisten doch noch anderweitig liiert sind.
Es ist auch weniger die Liebesgeschichte, die „Treue Seelen“ interessant macht, sondern die Vermittlung des Lebensgefühls, der enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen, die die Jugend aus der Provinz mit der Metropole verknüpft, in der immerhin auch David Bowie gewirkt hat. Doch abseits der Kreuzberger Szene und anderer Schmelztiegel ist das Leben in West-Berlin eben doch vor allem eins: eng und spießig. Da lässt sich auch schwer eine neue Liebe entfalten, zumal noch einige Altlasten mitgetragen werden.
So bildhaft und authentisch das Leben in Berlin Mitte der 1980er auch geschildert wird und so anschaulich Raether mit der Sprache spielt, verliert „Treue Seelen“ gerade im letzten Drittel an Sogkraft, wenn der politische Widerstand im Untergrund in Ost-Berlin thematisiert wird und die Beziehung zwischen Achim und den beiden Schwestern Marion und Sybille den Plot zerfasern lässt.
Am Ende hat Raether ein wenig zu viel gewollt und probiert, Liebesgeschichte und Heimatkunde, Zukunftsängste und Agenten-Thriller – hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.