Stephen King – (Der Dunkle Turm: 1) „Schwarz“

Mittwoch, 23. Januar 2019

(Heyne, 237 S., Pb.)
In einer postapokalyptischen Welt, die der unseren nicht ganz unähnlich ist, macht sich Roland von Gilead, seines Zeichens der letzte Revolvermann, in einer unwirtlichen Wüste, die nicht einmal Teufelsgras wachsen lässt, auf die Suche nach dem Mann in Schwarz. Seit über zwei Monaten ist er ihm auf der Spur und hat in den „endlos, schreiend monotonen fegefeuerähnlichen Einöden“ nicht mal die Spur eines Lagerfeuers des Gesuchten gefunden. Doch den Mann in Schwarz zu finden ist nur die erste Etappe seiner Reise sein, die ihn letztlich zum Dunklen Turm führen soll.
Als er nach ein paar Tagen auf eine Hütte und den darin wohnenden Grenzbewohner Brown trifft, erzählt er ihm von seinen Erlebnissen in der Geisterstadt Tull, wo er sich mit einem Mädchen namens Allie vergnügt, bis er auf eine dämonische Priesterin stößt, die vom Mann in Schwarz verzaubert wurde und den Revolvermann dazu bringt, die Bewohner der ganzen Stadt niederzuschießen. Schließlich stößt er in einem Rasthaus an einer längst vergessenen Kutschenstraßen auf den Jungen Jake, der in unserer Welt bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, und nun in Mittwelt noch einmal stirbt, weil ihn Roland auf seinem Weg zum Dunklen Turm opfern muss.
„So endet es, dachte er. Immer wieder endet es so. Es gibt Suchen und Straßen, die unablässig weiter führen, und alle enden am selben Ort … auf dem Schlachtfeld.
Abgesehen vielleicht von der Straße zum Turm.“ (S. 118) 
Als Roland den Mann in Schwarz endlich in einem Golgatha, einer Stätte der Schädel, eingeholt hat, kommt es nicht zum erwarteten Showdown zwischen dem geheimnisvollen Zauberer und dem letzten Revolvermann. Stattdessen sitzen sie am Lagerfeuer bei einer Zigarette zu einem Palaver beisammen, denn Roland braucht Antworten, die ihm nur der Mann in Schwarz geben kann, der sich schließlich als alter Bekannter aus der Heimat des Revolvermanns herausstellt …
Inspiriert von Robert Brownings erzählenden Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ hat Stephen King im März 1970 angefangen, sein letztlich acht Bände umfassendes, in über dreißig Jahren entstandenes Epos um den Dunklen Turm als Fortsetzungsroman zu schreiben. Die in „Schwarz“ versammelten Geschichten sind zwischen 1978 und 1981 zunächst in „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ veröffentlicht worden und 1982 erstmals vereint in Buchform erschienen. Eine klar definierte Erzählstruktur hat Stephen King in „Schwarz“ noch nicht gefunden. Immer wieder wird die Reise des Revolvermanns von Geschichten unterbrochen, die den Leser zurück in wegweisende Episoden aus Rolands Leben führt, unter denen die Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Cuthbert eine zentrale Bedeutung erfährt. Hier wird der Grundstein für eine epische Erzählung gelegt, die in einer unbestimmten Zeit spielt, mit Themen wie Verrat und Erlösung, Mut und Verzweiflung, Liebe und Zerstörung, Traum und Erinnerung, Leben und Tod spielt und dabei verschiedene Genres wie Horror, Western, Fantasy und Science Fiction streift.
Wenn am Ende dieses ersten, für Stephen King ungewöhnlich schmalen Romans der Mann in Schwarz dem Revolvermann die Tarotkarten legt, ist damit bereits der weitere Weg von Roland vorgegeben. King hat mit der Arbeit an seinem Lebenswerk bereits 1970 begonnen, als er sich von Brownings Gedicht, aber auch von Spaghetti-Western, der Artussage und Fantasy-Werken wie Tolkiens „Der Herr der Ringe“ inspirieren ließ. „Schwarz“ wirft dabei mehr Fragen nach Rolands Suche und dem Dunklen Turm auf, als sie zu beantworten, aber dafür nahm sich King schließlich noch weitere Jahre und Romane Zeit …
Leseprobe Stephen King - "Schwarz"

Lee Child – (Jack Reacher: 9) „Sniper“

Dienstag, 22. Januar 2019

(Blanvalet, 478 S., HC)
An einem Freitagnachmittag in einer Kleinstadt in Indiana eröffnet ein Scharfschütze vom Parkhaus aus das Feuer auf eine Menschenmenge auf der Plaza der Fußgängerzone. Fünf Menschen sterben. Emerson, Chef des Dezernats Schwerverbrechen, übernimmt die Ermittlungen in einem Fall, der nach Auswertung aller Spuren absolut wasserdicht scheint. Als Täter kommt nur der 41-jährige James Barr in Frage, ein vor vierzehn Jahren ehrenhaft entlassener Scharfschütze der U.S. Army. Sein Minivan wird neunzig Sekunden nach Eingang des ersten 911-Notrufs auf den Überwachungskameras beim Verlassen des Parkhauses gefilmt, seine Fingerabdrücke werden auf einer Patronenhülse, auf dem Markierungskegel am Tatort und einem Quarter festgestellt, den er in die Parkuhr geworfen hat. Als ein SWAT-Team sein Haus stürmt, werden auch seine Waffe und die am Tatort verwendeten Schuhe sichergestellt.
Als Staatsanwalt Alex Rodin Anklage erhebt, verlangt James Barr nach Jack Reacher, der durch eine Fernsehübertragung von Barrs Festnahme erfährt. Reacher ist Barr Anfang der 1990er in seiner Funktion als Offizier der Militärpolizei bei einem Vorfall in Kuwait City begegnet, als Barr von einem Parkhaus vier amerikanische Unteroffiziere erschossen hat. Da sich diese im Nachhinein als Räuber und Vergewaltiger herausgestellt haben, wurde der Vorfall unter Verschluss gehalten, aber Reacher nahm Barr das Versprechen ab, ihn zu erledigen, sollte er sich jemals wieder zu seiner Tat hinreißen lassen. Doch bevor Reacher mit Barr sprechen kann, wird der Gefangene von Mithäftlingen ins Koma geprügelt.
„Reacher beschloss, noch vierundzwanzig Stunden zu bleiben. Vielleicht gab es bis dahin eine klare Prognose, was Barrs Zustand betraf. Vielleicht konnte er irgendwie bei Emerson vorbeischauen und sich einen besseren Überblick über das Beweismaterial verschaffen. Vielleicht hatte er dann keine Bedenken mehr, den Fall Alex Rodins Dienststelle – gewissermaßen mit eingeschaltetem forensischem Autopiloten – zu überlassen.“ (S. 94) 
Tatsächlich erscheinen Reacher die sichergestellten Beweise zu gut. Zusammen mit Barrs Schwester Rosemary, und seiner Anwältin Helen Rodin, die erst am Anfang in ihrer Karriere steht und sich gleich mit ihrem Vater als Gegner anlegt, und dem Ermittler Franklin macht sich Reacher auf die Suche nach den Hintermännern und zieht damit unerwünschte Aufmerksamkeit skrupelloser russischer Verbrecher auf sich, die Reacher aber erst recht davon überzeugen, dass Barr ein weiteres Opfer in dieser Verschwörung darstellt …
Bereits die ersten acht Bände um Jack Reacher, den ehemaligen erstklassigen Ermittler der Militärpolizei, hätten das Potenzial für eine Verfilmung gehabt, doch erst mit dem 2005 erschienenen und drei Jahre später auch in deutscher Sprache erhältlichen Roman „Sniper“ wurde daraus Wirklichkeit, als Star-Schauspieler Tom Cruise in die Rolle des notorischen, unauffindbaren und ziellos durch Amerika ziehenden Einzelgängers schlüpfte. „Sniper“ präsentiert den charismatischen wie intelligenten und schlagkräftigen Ermittler auch in Höchstform.
Lee Child gelingt es, von Beginn an ein packendes Setting zu etablieren und einen Verdächtigen einzuführen, an dessen Schuld es wenig zu rütteln gibt. Doch die Russen um den ehemaligen Gulag-Inhaftierten „der Zec“ mischen sich für Reachers Geschmack zu sehr in die Ermittlungen ein, machen ihm selbst das Leben schwer, als dass sich der Ex-Militärpolizist mit den vordergründig stichfesten Beweisen begnügen würde. Der Autor hat Reachers Spurensuche so spannend in kurzen, klaren Sätzen beschrieben, dass das Erzähltempo locker mit der Handlung mithält, die immer wieder durch einzelne Nahkampf-Aktionen akzentuiert wird und auf ein furios inszeniertes Finale hinausläuft. Viel besser hat man Jack Reacher seither kaum erleben dürfen!
Leseprobe Lee Child - "Sniper"

Josephine Rowe – „Ein liebendes, treues Tier“

Montag, 21. Januar 2019

(Liebeskind, 208 S., HC)
Anfang der Neunzigerjahre steht die Familie des Kriegsveteranen Jack Burroughs vor unrettbaren Trümmern. Seine schlechten Träume der über zwanzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit können nicht mal die Beruhigungspillen vertreiben. Als auch noch sein geliebter Hund von einer Wildkatze buchstäblich zerrissen wird, sieht er den herumliegenden Körperteilen gleichsam die Überreste seines eigenen verpfuschten Lebens und verschwindet spurlos – diesmal für immer, wie seine Tochter Ruby glaubt.
Offensichtlich hat ihr Vater nie eine echte Chance gehabt. Erst seine Mutter, die in ihrem Selbstmordversuch auch ihre Kinder mit in den Tod reißen wollte und in einer psychiatrischen Anstalt landete, dann der Vietnamkrieg, dessen Echo noch immer in seinem Schädel dröhnt. Sein Bruder Les hat sich sogar die Finger abgehackt, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen.
Die drei Frauen in Jacks Leben gehen jeweils auf ihre eigene Weise mit dem Unglück um, das Jack in ihr Zuhause gebracht hat. Lani, die älteste Tochter, vertickt nicht nur die Beruhigungspillen ihres Vaters auf Partys, sondern gerät auch so immer wieder in Schwierigkeiten. Ihre kleine Schwester Ruby verliebt sich in einen Mann aus anderen Verhältnisse und lernt erstmals eine Familie kennen, die mehr zu bieten hat als pure Verzweiflung und unerfüllte Träume. Jacks Frau Evelyn fühlt sich einfach um ein besseres Leben betrogen, geht an der Unterstützung, die sie Jack zu geben versucht, selbst zugrunde.
„Hier ist was schwer durcheinandergeraten, wie durch den Fleischwolf gedreht. Jemand anderes hat sich ihr Leben geborgt und gurkt damit durch die Gegend, macht Strecke, wie man das mit einem geklauten Auto tut. Aber irgendwann ist Schluss damit. Irgendwann ist man zermürbt vom schlechten Gewissen. Keine Spritztour kann ewig dauern. Eines Tages wird Ev aufwachen, und dann ist es wieder da, ihr wahres Leben, steht ordentlich geparkt vor dem Haus und glänzt.“ (S. 45) 
Die 1984 im australischen Queensland geborene Josephine Rowe wurde nach Aufenthalten in den USA und Kanada 2016 mit dem Elizabeth Jolley Prize für ihre Kurzprosa ausgezeichnet, die u.a. bei McSweeney’s und in der Paris Review erschienen sind, und veröffentlichte im selben Jahr ihren Debütroman, der nun in der deutschen Übersetzung als „Ein liebendes, treues Tier“ bei Liebeskind vorliegt.
Darin verleiht sie den Figuren rund um den Kriegsveteranen Jack Burroughs und seiner Familie jeweils eine eigene Perspektive, einen individuellen Erzählton. Das ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, oft genug besteht die Sprache nur aus abgehackten Satzfetzen (so Jacks vereinzelte, aneinandergereihte Erinnerungen an den Krieg), unzusammenhängend wirkenden Gedanken, die deutlich machen, wie zerrüttet das Leben der Burroughs ist.
Eine konventionelle Dramaturgie sucht der Leser in dem gerade mal gut zweihundert Seiten umfassenden Bändchen vergebens, dafür wird er mit scharfen Beobachtungen und düsteren Gedanken konfrontiert, die in einer ebenso klaren wie verwirrend aufwühlenden und dann wieder zutiefst poetisch betörenden Sprache niedergeschrieben sind.
Wer sich darauf einlassen kann, wird mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis und einer zutiefst melancholischen Geschichte über unerfüllte Träume und die Folgen grausamer menschlicher Triebe belohnt.

Richard Bachman – „Todesmarsch“

Sonntag, 13. Januar 2019

(Heyne, 316 S., Tb.)
In einer vom Militär beherrschten Zukunft, in der die Menschen meistgehend verarmt sind, bietet allein der jährliche „Todesmarsch“ männlichen Jugendlichen zwischen 14 und 17 die Möglichkeit, lebenslangen Luxus zu erreichen. Allerdings ist die vom „Major“ organisierte Veranstaltung für alle Beteiligten die reinste Tortur, und nur der einzig Überlebende darf sich über den Gewinn freuen. Alle anderen werden nach drei Warnungen, die auf jeweilige Unterschreitung der Schrittgeschwindigkeit von vier Meilen die Stunde folgen und die jeweils erst nach einer weiteren Stunde gestrichen werden, von Soldaten aus einem den Marsch begleitenden Panzerfahrzeug erschossen.
Unter den einhundert Teilnehmern befindet sich auch der 16-jährige Raymond Davis Garraty aus Pownal, Maine. Zu Beginn des Marsches freundet er sich mit verschiedenen Jungs an, mit dem durchtrainierten Peter McVries, dem unterhaltsamen Hank Olson, dem geselligen Südstaatler Art Baker und Harkness, der über den Marsch später ein Buch schreiben will, aber schon früh aus dem Rennen scheidet. Mit dem rätselhaften Stebbins und dem aggressiv auftretenden Gary Barkovitch sind aber auch einige nicht so angenehme Zeitgenossen mit von der Partie. Die Gespräche unter den Teilnehmern drehen sich meist um die Familien und die Motivation, an dem Marsch teilzunehmen, und vielen der jungen Menschen wird klar, dass ihnen der tödliche Ernst der Angelegenheit gar nicht bewusst gewesen ist. Ray sehnt sich vor allem danach, seine Freundin Janice, die er über alles liebt, mit der er aber noch nicht geschlafen hat wiederzusehen. Sie wartet zusammen mit seiner Mutter in Freeport auf ihn. Doch bis dahin ist es ein ziemlich langer Weg …
„Dies war das erste Mal, dass er sich wirklich wünschte, diesen Marsch zu gewinnen. Selbst am Start, als er sich noch frisch und kräftig gefühlt hatte – zu der Zeit, als die Dinosaurier noch die Erde bevölkerten -, hatte er nicht bewusst den Wunsch gehabt zu gewinnen. Das war das Ganze nur eine Herausforderung gewesen. Aber die Gewehre schossen keine kleinen roten Zettel ab, auf denen PÄNG! geschrieben stand. Dies war kein Baseball und auch kein anderes Spiel, es war die brutale Realität.“ (S. 286) 
Ähnlich wie in seinem nachfolgenden Roman „Menschenjagd“, den Stephen King ebenfalls unter seinem Pseudonym Richard Bachman veröffentlichte, entwirft der 1979 entstandene Roman „Todesmarsch“ eine düstere Zukunftsvision einer desillusionierten, verarmten Gesellschaft, die von skrupellosen Militärschergen regiert wird und die durch makabre, aber die Massen begeisternde Spiele die unwahrscheinliche Möglichkeit (hier stehen sie bei 1:100) haben, ihr zukünftiges Leben in Reichtum und Luxus zu verbringen.
Wie weit auseinander Traum und Realität liegen, müssen die einhundert jugendlichen Teilnehmer des Todesmarsches auf die ganz bittere Art erfahren, wenn sie nach und nach ihre eben noch neben ihnen laufenden Kameraden dabei beobachten müssen, wie sie kraftlos auf der Straße in sich zusammensacken und von gezielten Gewehrschüssen niedergestreckt werden.
King begnügt sich wieder mit sehr rudimentären Skizzierungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in der nicht näher definierten Zukunft. Hier sorgen allein die Gespräche zwischen den Gehern für ein paar Hintergründe (so wurde Rays Vater eines Tages einfach von Soldaten abgeholt und nicht mehr wiedergesehen). Interessant ist vor allem der fortschreitende körperliche wie psychische Verfall der Teenager-Jungen, was dem Autor sehr glaubwürdig gelingt. Je mehr Ray zum Ende des Marsches hin erleben muss, wie die ihm ans Herz gewachsenen Freunde/Konkurrenten wegsterben, umso deutlicher wird ihm bewusst, wie sinnlos die Teilnahme am Todesmarsch gewesen ist.
Der existentiellen Geschichte entspricht ein ebenso reduzierter Schreibstil, der sich ganz auf die Begebenheiten auf der Marschstrecke konzentriert und neben den Beobachtungen, wie der körperliche Verfall der Teilnehmer voranschreitet, vor allem die psychischen Befindlichkeiten wiedergibt, die in den Gesprächen der Jugendlichen untereinander zum Ausdruck kommen. Der Leser wird so nie vom Geschehen abgelenkt und läuft quasi mit den Jugendlichen mit, teilt ihre Sehnsüchte und Todesängste.
Leseprobe Richard Bachman - "Todesmarsch"

Richard Bachman – „Menschenjagd“

Mittwoch, 9. Januar 2019

(Heyne, 254 S., Tb.)
Im Jahre 2025 klafft die Schere zwischen Arm und Reich so weit auf wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Davon weiß auch der arbeitslose Benjamin Richards ein Lied zu singen, der mit seiner Frau Sheila und seiner anderthalbjährigen Tochter Cathy in Co-Op-City lebt, einer Slum-ähnlichen Wohnsiedlung in der Südstadt, die durch einen Kanal von den in der Nordstadt lebenden Reichen getrennt ist. Um die in den Sozialwohnungen untergebrachten Unterprivilegierten ruhig zu halten, sorgen die öffentlichen Fernsehanstalten über die kostenlos installierten Fernseher mit einer Flut von Unterhaltungsshows für Dauerberieselung, darunter so populäre Shows wie „Tretmühle zum Reichtum“, bei der jeder der chronisch Herz-, Leber- oder Lungenkranken, für jede Minute, die sie auf dem Laufband überleben, zehn Dollar erhalten.
Als Bens Tochter an einer Lungenentzündung zu sterben droht, weil sich die Familie keine Medizin leisten kann und Ben seine Frau für den Lebensunterhalt auch nicht anschaffen lassen will, durchläuft er beim örtlichen Fernsehsender das Bewerbungsprogramm für die Shows und wird schließlich für die populärste Show angenommen: Bei „Menschenjagd“ bekommt er zwölf Stunden Vorsprung vor seinen Jägern und erhält – bzw. seine Ehefrau, denn bislang hat keiner der Kandidaten überlebt – für jede Stunde, die er seinen Häschern entkommen konnte, einhundert Dollar. Dafür muss er allerdings jeden Tag zwei Kassetten mit Aufnahmen von jeweils zehn Minuten zum Sender schicken, mit denen er beweisen kann, dass er sich noch unter den Lebenden befindet.
Allerdings gibt er durch den Poststempel auch seinen Aufenthaltsort preis. Hinweise aus der Bevölkerung werden gut belohnt, doch gelingt es Richards, einige Helfer zu finden, die ihm neue Papiere und eine gute Tarnung verschaffen. Doch die Angst weicht dem Flüchtigen nicht von der Seite …
„Richards lief rasch ins Badezimmer. Er war völlig ruhig und ignorierte seine Angst wie ein Mann auf einem hohen Felsvorsprung, der nicht an den Abgrund denkt, der sich vor ihm auftut. Wenn er überhaupt einen Ausweg finden sollte, dann nur, indem er einen klaren Kopf behielt. Wenn er in Panik geriet, würde er bald sterben.“ (S. 87) 
Gut ein Vierteljahrhundert bevor seine US-amerikanische Kollegin Suzanne Collins ihre Jugendbuch-Trilogie „Die Tribute von Panem“ vorlegte, schrieb Stephen King in seinem vierten Roman unter seinem kurzzeitigen Pseudonym Richard Bachman 1982 seinen düsteren Sci-Fi-Thriller „Menschenjagd“, der auch als Vorlage für die Verfilmung „Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle (1987) diente. King braucht nur wenig Raum, um seine Leser in das vertraute „Brot und Spiele“-Szenario einzuführen. Die grassierende Arbeitslosigkeit, die tiefe Riss in der Gesellschaft, die einlullende Macht des Fernsehens, die Gier nach Blut und die Sehnsucht nach Erlösung sind die Eckpfeiler, auf denen der Plot von „Menschenjagd“ aufgebaut ist.
Sein Protagonist Ben Richards ist King als rebellischer, aber familienliebender und tapferer Underdog von Anfang an so sympathisch gelungen, dass der Leser gleich mit dessen Schicksal mitzufiebern beginnt. Zwischenzeitlich werden noch einige wenige andere Figuren eingeführt, wovon sich Mrs. Williams als Geisel zum Ende hin als die interessanteste erweist. Trotz einiger unglaubwürdiger Entwicklungen im Schlussviertel bietet „Menschenjagd“ ein bei allen gesellschaftskritischen Aspekten nicht besonders tiefgründiges, aber temporeiches und kurzweiliges Lesevergnügen.

Richard Bachman – „Der Fluch“

Sonntag, 6. Januar 2019

(Heyne, 347 S., Tb.)
Bisher hat der übergewichtige Anwalt William „Billy“ Halleck satte 249 Pfund auf die Waage gebracht, doch durch einen folgenschweren Autounfall hat sich Halleck den Fluch eines Zigeuners mit verfaulender Nase eingefangen, der ihm nach dem anhängigen Gerichtsverfahren an der Wange berührte und ein „Dünner“ zuraunte. Zu dem Gerichtsverfahren kam es überhaupt erst, weil Halleck von seiner ansonsten eher prüden Frau Heidi während einer Autofahrt erstmals mit der Hand befriedigt wurde und er durch sein vermindertes Reaktionsvermögen im Augenblich seines Orgasmus eine Zigeunerin zu Tode gefahren hat, die plötzlich zwischen zwei parkenden Autos hindurch auf die Straße gelaufen war.
Da der Polizeibeamte vor Ort es versäumte, bei Halleck einen Alkoholtest zu machen, der örtliche Polizeichef Duncan Hopley den Vorfall nicht mit der nötigen Sorgfalt verfolgte und schließlich auch der mit ihm befreundete Richter Carry Rossington Halleck schließlich freigesprochen hat, konnte Halleck wieder seinen Angelegenheiten nachgehen, während die ungeliebten Zigeuner der Stadt verwiesen wurden.
Doch da er erschreckend schnell an Gewicht verliert, fängt Halleck wirklich an den Fluch zu glauben, denn weder sein Hausarzt Dr. Houston noch der Aufenthalt in einer privaten Spezialklinik können keine körperliche Ursache für Hallecks rapiden Gewichtsverlust finden. Als auch noch Rossington und Hopley von ähnlichen Verwünschungen betroffen zu sein scheinen, bleibt Halleck nichts anderes übrig, als den Vater der Toten, Taduz Lemke, ausfindig zu machen, um ihn dazu zu bewegen, den Fluch wieder zurückzunehmen. Er engagiert zunächst einen Privatdetektiv, um die Spur des reisenden Zigeunervolks nachzuvollziehen, und schließlich den Mafioso und Restaurantbesitzer Richard Ginelli, ihn bei der zu leistenden Überzeugungsarbeit zu unterstützen. Der nimmt diesen Freundschaftsdienst ernster, als Halleck zunächst lieb ist. Mit der Zeit beginnt Halleck aber auch auf seine Frau wütend zu werden …
„Ja, es war ihre Schuld gewesen, aber das hatte der alte Zigeuner nicht gewusst, und deshalb hatte Halleck den Fluch abbekommen und mittlerweile insgesamt einundsechzig Pfund in kürzester Zeit abgenommen. Und sie saß da und hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Haut war viel zu bleich, aber diese dunklen Ringe würden sie nicht töten, nicht wahr? Nein. Und auch die bleiche Haut nicht. Der alte Zigeuner hatte sie nicht angefasst.“ (S. 84) 
„Der Fluch“ war 1984 der letzte von insgesamt fünf Romanen, die Stephen King unter dem Pseudonym Richard Bachman seit 1977 veröffentlicht hatte, bevor die wahre Identität des Autors durch einen aufmerksamen Buchhändler gelüftet wurde. Der 1996 durch Tom Holland unter dem Titel „Thinner – Der Fluch“ verfilmte Roman passt auch qualitativ am ehesten in die Werksbiografie von Stephen King, der im Roman selbst seinen Protagonisten sagen lässt, dass sich seine Geschichte wie ein Stephen-King-Roman anhört.
Mit dem Fluch durch den Zigeuner fügt Bachman alias Stephen King seiner Geschichte genau den übernatürlichen Aspekt hinzu, der einen Großteil seiner Romane und Kurzgeschichten ausmacht, und der Autor erweist sich auch in „Der Fluch“ als Meister darin, das Grauen in den Alltag einer gutbürgerlichen Familie einzuführen. Er thematisiert mit dem Roman aber auch das nach wie vor leider sehr aktuelle Ausgrenzen gesellschaftlicher Minderheiten und die Selbstverständlichkeit, mit der Dinge so lapidar geregelt werden, dass den „Stützen der Gesellschaft“ möglichst wenig ans Bein gepinkelt wird. Sobald Halleck allerdings den mit ihm befreundeten Mafioso um Mithilfe bittet, entgleitet Bachman/King die Glaubwürdigkeit der Story etwas, ehe sie mit einem augenzwinkernden Finale wieder die Kurve bekommt.

Richard Bachman – „Sprengstoff“

Donnerstag, 3. Januar 2019

(Heyne, 344 S., Tb.)
Ein Jahr, nachdem der Ausbau der Stadtautobahn beschlossene Sache ist, besorgt sich der vierzigjährige Barton George Dawes in Harveys Waffengeschäft im November 1973 eine .44er Magnum und ein vierhundertsechziger Weatherbee-Gewehr. Zwar weiß George noch nicht so recht, was er damit anfangen will, aber auf jeden Fall lässt er es sich nicht ohne weiteres gefallen, dass durch den geplanten Ausbau der 784 seine ganze Existenz den Bach runtergeht. Denn mit den Baumaßnahmen ist auch der Abriss seines Hauses in der Crestallen Street West verbunden, in dem er mit seiner Frau Mary seit zwanzig Jahren lebt, ebenso wie des Gebäudes der Blue-Ribbon-Wäscherei.
Während sein Chef Steve Ordner davon ausgeht, dass sich George darum kümmert, das Fabrikgebäude in Waterford als Ersatz zu kaufen, denkt auch Mary, dass sich ihr Mann um ein neues Heim kümmert. Doch George denkt gar nicht daran, kampflos den Platz zu räumen. Als Ordner erfährt, dass George den Deal hat platzen lassen, setzt er ihn vor die Tür, kurz darauf trennt sich auch Mary von ihm und zieht zu ihren Eltern. George, der es bis heute nicht verwunden hat, dass er vor drei Jahren seinen Sohn durch einen Gehirntumor verlor, nimmt derweil Kontakt zum Mafioso Magliore auf, der ihm eine große Menge Sprengstoff besorgen soll. Sein Plan, den Ausbau der Autobahn zu sabotieren, nimmt immer konkretere Formen an …
„Was machte er hier auf dem Fußboden in seinem Wohnzimmer, seine Knie umklammernd und zitternd wie ein Alkoholiker in der Gosse? Oder ein Geisteskranker, ein bescheuerter Psychopath, das kam der Sache wohl näher. War er das wirklich? War er geisteskrank? Nicht so etwas Komisches und Harmloses wie ein Spinner oder ein Knallkopf oder einfach nur ein Verrückter, sondern ein wirklicher, echter Psychopath? Der Gedanke erfüllte ihn erneut mit Schrecken.“ (S. 160f.) 
Zwischen 1977 und 1984 veröffentlichte Stephen King unter dem Pseudonym Richard Bachman fünf Romane, 1985 kam ein Buchhändler hinter dieses gut gehütete Geheimnis, was King aber nicht daran hinderte, noch einmal als Bachman 1996 zunächst „Regulator“ und schließlich 2007 „Qual“ zu veröffentlichen.
„Sprengstoff“ ist 1981 nach „Amok“ (1977) und „Todesmarsch“ (1979) der dritte Bachman-Roman und weist überhaupt keine übernatürlichen Elemente auf. Stattdessen erzählt der Roman von dem einsamen Kampf eines Mannes, dem im Leben durch den Tod seines Sohnes schon alles Wichtige genommen worden ist und nun nicht auch noch seinen Arbeitsplatz und sein Heim aufgeben will. Stattdessen setzt er die Entschädigung für die Enteignung seines Hauses dazu ein, den Stadtvätern einen Denkzettel zu verpassen. Schließlich ist es zur Zeit der Energiekrise für George absolut nicht nachzuvollziehen, warum eine neue Autobahn gebaut werden muss. Er steigert sich so in sein Vorhaben hinein, von dem ihm auch die andere Stimme in seinem Kopf nicht abhalten kann, den Bau zu sabotieren.
Wie verbohrt George dabei ist, macht sich vor allem in der Beziehung zu seiner Frau bemerkbar, um die er sich überhaupt nicht mehr bemüht. Und auch wenn Georges Beweggründe nachvollziehbar sind, driftet er zunehmend in den Wahnsinn ab. King gelingt es, die Story sehr geschickt und komprimiert so zu erzählen, dass der Leser Sympathien für George entwickelt und unbedingt erfahren will, wie sich dessen Pläne weiterentwickeln. Hier erweist sich King als Meister der psychologischen Thrillers.

John Katzenbach – „Der Verfolger“

Montag, 31. Dezember 2018

(Droemer, 492 S., Pb.)
Am Abend seines 53. Geburtstages fand der New Yorker Psychiater Dr. Frederick Starks im Wartezimmer seiner Praxis einen Brief mit der Überschrift „Willkommen am ersten Tag Ihres Todes“ vor – unterschrieben von „Rumpelstilzchen“. Was Starks zunächst für einen üblen Scherz gehalten hatte, entwickelte sich zu einem mörderischen Katz-und-Maus-Spiel, denn der Psychiater hatte nur fünfzehn Tage Zeit, die wahre Identität des Briefeschreibers zu ermitteln, sonst würde er Starks‘ Familie umbringen - wenn er sich nicht selbst opfern wollte.
Am Ende konnte Starks die Konfrontation mit einer mörderischen Familie überleben, nachdem er mit Richard Lively eine neue Identität angenommen hatte.
Fünf Jahre später hat Starks zwar wieder seinen eigentlichen Namen angenommen, aber die Welt der Upper-Class-Psychiatrie in Manhattan verlassen, um in New Orleans nach dem Wüten des Hurrikans schwer traumatisierte Kinder zu behandeln. Mittlerweile hat er in Miami eine neue Praxis unter seinem richtigen Namen eröffnet, doch auf den Tag genau kehrt der Alptraum in das Leben des Psychiaters zurück. Der Mann, den er als Rumpelstilzchen kannte und eigentlich erschossen hatte, begrüßt ihn am Jahrestag der vermeintlich tödlichen Konfrontation mit einer Video-CD, auf der die Geschwister von Mr R, die Schauspielerin Virgil und der Anwalt Merlin, in einer inszenierten Szene zu sehen sind, die Starks schließlich deuten soll.
Offensichtlich werden Mr Rs Geschwister nun selbst von einem Unbekannten bedroht, und Starks fällt die Aufgabe zu, das Bedrohungspotenzial auszuschalten. Erst dann würden sich die Wege zwischen ihnen für immer trennen. Marks setzt Stück für Stück die auf der CD präsentierten Puzzleteile zusammen, die ihn zum Bühnenstück „Der Tod und das Mädchen“ und schließlich zu einem Mann führen, den Starks insgeheim als Jack the Paddington Ripper bezeichnet.
Doch Starks geht es nicht nur darum, die Identität des unbekannten Killers zu lüften. Ebenso will er sich ein für allemal die drei Geschwister vom Leib halten, die ihm vor fünf Jahren das Leben zur Hölle machten.
 „Ihm war klar, dass sich zwei Mörder lebhaft für seine Pläne interessierten. Einen kannte er bereits. Einen würde er noch kennenlernen. Doch beide musste er abschütteln, um die Motive für das drohende Verbrechen zu ergründen, eine Möglichkeit zu finden, wie es sich vereiteln ließ, und dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein.“ (S. 148) 
2006 ebnete der Thriller „Der Patient“ (ebenso wie „Die Anstalt“) dem ehemaligen Gerichtsreporter John Katzenbach den Weg zum Bestseller-Autor in Deutschland und bildete die Grundlage für das Geschehen, mit dem der Psychiater Dr. Frederick Starks nun in der Fortsetzung „Der Verfolger“ konfrontiert wird. Nach etwas umständlichen Beginn mit den Beschreibungen der rätselhaften Szenen, die Starks auf der CD präsentiert werden, die das neue Katz-und-Maus-Spiel eröffnet, gewinnt der Thriller deutlich an Klasse. Dabei verbindet Katzenbach in seinem Protagonisten sowohl psychologische Analysemethoden als auch detektivischen Spürsinn. Schließlich hat es Dr. Starks auch mit äußerst raffinierten Psychopathen zu tun, für die er kein leichtes Opfer sein will, sondern denen er selbst das Handwerk legen muss, um zu überleben.
Dabei hat er am Ende nicht nur seine ebenso reiche wie liebenswerte Patientin Mrs. Heath, sondern auch die Vollwaise Roxy und den ebenfalls durch ihn betreuten Charlie auf seiner Seite. Bis zum Showdown bei einer Beerdigung schlägt die Handlung so einige überraschende Haken, doch da Katzenbach seinen Protagonisten so glaubwürdig charakterisiert hat, folgt ihm der Leser gern mit atemloser Spannung durch den komplexen Plot. 
Katzenbachs Thriller heben sich durch ihre psychologische Vielschichtigkeit und die klug inszenierten Plots wohltuend von der Masse der Genre-Literatur ab. „Der Verfolger“ macht da zum Glück keine Ausnahme.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Verfolger"

Philippe Djian – „Doggy Bag. Eins“

Mittwoch, 26. Dezember 2018

(Diogenes, 274 S., Tb.)
Vor zwanzig Jahren hätten sich die beiden Brüder Marc und David Sollens wegen Édith beinahe umgebracht. Mittlerweile führen sie gemeinsam und sehr erfolgreich ein Autohaus, das seine Verkäufe vor allem der umtriebigen Sekretärin Béa verdankt, die ihren Kunden durch sexuelle Gefälligkeiten immer wieder Rabatte unterzuschieben versteht, aber eigentlich in ihre Chefs verschossen ist. Als Édith wie versprochen auf den Tag genau nach zwanzig Jahren wieder auftaucht, gerät das Leben der Sollens-Familie arg ins Wanken.
Nach unsachgemäßen Tiefbauarbeiten, in deren Folge Marcs Büro in der Erde verschwindet, will der 41-Jährige die gesamte Stadtverwaltung verklagen, beginnt aber eine neue Beziehung mit Édith, die ihre zwanzigjährige Tochter Sonia im Schlepptau hat, bei der sowohl David als auch Marc als Vater in Frage kommen. David unterhält dagegen eine Affäre mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne, die sich nach einem traumatischen Erlebnis aber auf keinen Geschlechtsverkehr einlässt …
„Er fühlte, dass Édith und Marc in diesem Augenblick zusammen waren, und das machte die Sache nicht besser. Es war zwar zunächst nur ein leichter Stich, ein verschwommener Schatten, der dem Nebel entwich, den die Reibereien mit Josianne erzeugten und der alles einhüllte. Aber dennoch ein Stich, eine zusätzliche Last, die er sich gern erspart hätte.“ (S. 200) 
Mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ oder „Blau wie die Hölle“ hat sich der französische Autor Philippe Djian eine treue Fangemeinde erschlossen, die vor allem seine lebendige Sprache und das erotische Prickeln in den komplizierten Beziehungen seiner Protagonisten zu schätzen wissen. Mit der sechsteiligen Reihe „Doggy Bag“ versuchte sich Djian Mitte der 2000er Jahre an einer literarischen Soap Opera, um den allzu flach inszenierten Dramen des Prime-Time-Fernsehens etwas entgegenzusetzen.
Sein Ziel, jene Menschen wieder zum Buch zurückzuführen, die längst ans Fernsehen verloren gegangen sind, dürfte er nicht annähernd erreicht haben. Stattdessen dürfte Djian seine Fans mit einer kaum glaubwürdigen Abfolge zunehmend absurder erscheinenden Sex-Abenteuer wenn nicht gänzlich vergrault, dann doch enttäuscht haben.
Wer hier mit wem alles eine mehr oder weniger heimliche Affäre eingeht oder wenigstens von einer solchen träumt, wirkt allzu beliebig und irgendwann auch nicht mehr unterhaltsam. Dabei besitzen einzelne Figuren durchaus einen gewissen Charme und haben in den nachfolgenden Bänden hoffentlich noch Gelegenheit, an Kontur zu gewinnen, ohne zu wahllosen Objekten verschiedener sexueller Begierden zu werden.

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 3) „Die Tote in Paradise“

Montag, 24. Dezember 2018

(Pendragon, 310 S., Tb./eBook)
Seit Jesse Stone sowohl seinen Job bei der Mordkommission in Los Angeles als auch seine Ex-Frau Jenn dort zurückgelassen hat, übt er nun seinen Dienst als Polizeichef in der Kleinstadt Paradise aus, wo er drei Abende die Woche in der „Paradise Men’s Softball League“ spielt und irgendwie seine Beziehung zu Jenn neu definieren muss. Die Wetterfee ist ihm nämlich nach Paradise nachgezogen, weil sie ebenso wie Jesse feststellen musste, dass die beiden trotz Jesses Alkoholproblemen und Jenns Seitensprüngen nicht so recht miteinander, aber auch auf keinen Fall ohne einander können.
Doch während Jenn bereits eine Therapie macht, muss sich Jesse erst mit dem Gedanken anfreunden, sich professionelle Hilfe zu holen, denn er ist sein ganzes Leben entweder Baseball-Spieler oder Cop gewesen und zählt so definitiv nicht zur üblichen Klientel für Psychiater. Seine Aufmerksamkeit wird aber gerade auch durch einen besonders grausigen Leichenfund gebunden: Der Körper des Mädchens, das im nahegelegenen See gefunden wurde, ist so stark verwest, dass das Opfer nur anhand eines Ringes festgestellt werden kann. Offenbar handelt es sich um ein Mädchen, das als „Dorfmatratze“ bekannt war und von seinen Eltern längst verstoßen wurde.
Über eine Nonne in Boston, die sich um obdachlose Mädchen kümmert, erhält Stone eine erste brauchbare Spur. Die weiteren Ermittlungen führen nicht nur zum Bestseller-Autor Norman Shaw, sondern auch zu dem Gangster Gino Fish und seinem Handlanger Alan Garner.
 „Was für ein Motiv gab es, ein Mädchen wie Billie zu erschießen? Vielleicht war sie ja nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Aber mit dieser Theorie kam er nicht weiter. Es war plausibler, sich an ihre Promiskuität zu halten. Er nahm noch einen Schluck Scotch und Soda. Sex war das einzig mögliche Motiv, das sie in den Tod getrieben haben konnte.“ 
Mehr als den vorangegangenen beiden Fällen um den alkoholkranken Polizeichef Jesse Stone nimmt in „Die Tote in Paradise“ das Privatleben des charismatischen Protagonisten fast ebenso viel Raum ein wie der zu lösende Kriminalfall. Das liegt nicht nur an der sehr offenen Kommunikation, die er bei den regelmäßigen Zusammenkünften mit Jenn am Mittwochabend führt, sondern auch an Dix, der ihm von Jenn empfohlen wird und selbst unter Alkoholproblemen litt, bevor er beschloss, anderen bei der Bewältigung ihrer Sucht zu helfen. Und schließlich ist da noch die attraktive Schulleiterin Lilly Summers, mit der Jesse eine Affäre anfängt. Sie erhofft sich schließlich mehr als nur ein Abenteuer, bekommt durch Jesse aber deutlich zu verstehen, dass er seine Beziehung zu Jenn noch zu kitten hofft.
Die Aufklärung des Mordes an dem jungen Mädchen erweist sich dazu als extrem zeitraubend, weil sich einfach keine Beweise für die Zusammenhänge finden lassen, die Stone und sein Team herstellen. „Die Tote in Paradise“ ist als Krimi nicht so spannend wie die ersten beiden Jesse-Stone-Bände, weil sich die Ermittlungen und die Auflösung auf vorhersehbaren Bahnen bewegen. Doch dieser dritte Fall bringt uns die Figur des mit den süßen Versprechungen des Alkohols kämpfenden Protagonisten auf persönlicher Ebene sehr viel näher, wobei die komplexe Beziehung, die er mit seiner Ex-Frau führt, nicht unbedingt nachvollziehbar sein muss.
Dafür sind Parker die Beschreibungen der Verlockungen, denen Jesse Stone immer wieder zu erliegen droht, sehr glaubhaft gelungen.

Neil Gaiman – „Der Ozean am Ende der Straße“

Samstag, 22. Dezember 2018

(Eichborn, 238 S., HC)
Anlässlich einer Beerdigung kehrt ein Mann in mittleren Jahren in seine Heimatstadt zurück und fährt nach dem Gottesdienst ziellos durch die Gegend, bis er zu seinem Elternhaus gelangt, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Doch da er kaum Erinnerungen an seine Jugend hat, zieht es den Heimkehrer weiter bis hinaus zum Gehöft der Hempstocks, wo er von der alten Mrs. Hempstock begrüßt wird, die ihm schon als Kind warme Milch direkt von den Kühen zu trinken gegeben hatte.
Hier holen ihn dann doch die Erinnerungen ein: Nach seinem siebten Geburtstag, zu dem keines der eingeladenen Kinder gekommen ist, leiden seine Eltern unter Geldmangel und müssen das kleine Zimmer vermieten, in dem der Junge bislang lebte. Doch nicht nur die wechselnden Bewohner des vermieteten Zimmers hinterlassen einen Eindruck bei dem Jungen, auch die Tatsache, dass eines Tages das Auto seines Vaters am Ende der Straße von der Polizei gefunden wird, mit der Leiche des aktuellen Untermieters auf dem Rücksitz. Um nicht länger dem grausigen Anblick ausgesetzt zu sein, verbringt der Junge den Tag bei den Hempstocks und lässt sich von der elfjährigen Lettie ihren Ozean zeigen, der eigentlich nur ein kleiner Ententeich ist. Zu gern würde der Junge den Rest seines Lebens bei Lettie und in ihrer magischen Welt leben, zumal die hübsche Haushaltshilfe Ursula Monkton, die seine Mutter engagiert hat, als sie eine Anstellung als Apothekerin findet, sein Leben zur Hölle macht. Nur Lettie scheint zu erkennen, um was es sich bei der Frau in Wirklichkeit handelt …
„Ich vertraute Lettie, wie ich ihr schon vertraut hatte, als wir uns unter dem orangen Himmel auf die Suche nach dem flatternden Ding begeben hatten. Ich glaubte an sie, und das bedeutete, dass mir nichts passieren würde, solange ich mit ihr zusammen war. Das wusste ich, so wie ich wusste, dass Gras grün war, dass Rosen spitze Dornen hatten und dass Frühstücksflocken süß waren.“ (S. 153) 
Eigentlich wollte Neil Gaiman („Niemalsland“, „Coraline“) nur eine Kurzgeschichte über den Mann, der sich in dem Auto des Vaters des Ich-Erzählers umgebracht hatte, und die Familie Hempstock schreiben, doch beim Schreiben wuchs die Geschichte zu einem märchenhaften Roman aus, der einmal mehr demonstriert, wie real der Autor selbst die ungewöhnlichsten Ereignisse zu erwecken versteht. „Der Ozean am Ende der Straße“ ist zwar aus der Sicht des mittlerweile zu einem Erwachsenen gereiften Mannes geschrieben, dessen Ehe seit einem Jahrzehnt gescheitert ist und dessen erwachsenen eigenen Kinder aus dem Haus sind, aber die geschilderten Erinnerungen sind maßgeblich von den Eindrücken eines siebenjährigen Junges geprägt, der in der vier Jahre älteren Lettie eine ganz besondere Freundin findet und deren Mutter und Großmutter über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen.
Es ist eine einfühlsame, bewegende und spannende Geschichte über die Macht von Freundschaft und Vertrauen, über den ewigen Kampf guter Geister gegen böse Mächte und natürlich über die Kraft der Phantasie.
Leseprobe Neil Gaiman - "Der Ozean am Ende der Straße"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 13) „Der Komponist“

(Blanvalet, 608 S., HC)
Als am helllichten Tag der Geschäftsmann Robert Ellis in der New Yorker Upper East Side niedergeschlagen und in den Kofferraum einer dunklen Limousine geworfen wird, ist nur die neunjährige Morgynn Zeuge des Vorfalls. Allein die Tatsache, dass das Mädchen am Tatort einen Galgenstrick in Miniaturgröße gefunden hat, ruft den weltberühmten, aber seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme auf den Plan. Wenig später ist auf einer Streamingseite das Live-Video eines Mannes zu sehen, der mit einer Schlinge erdrosselt wird. Besonders schaurig wirkt die Übertragung durch die musikalische Untermalung, bei der ein menschliches Keuchen aufgenommen und zur Melodie von „An der schönen blauen Donau“ eingespielt worden ist. Am Ende des Videos erscheint auf dem Bildschirm eine Signatur: Der Komponist.
Mit der Unterstützung von Rhymes Verlobten Amelia Sachs, seinem ehemaligen NYPD-Partner Lon Sellitto und FBI-Special Agent Frank Dellray kann Ellis gerade noch ausfindig gemacht und gerettet werden, aber vom Komponisten fehlt jede Spur.
Als kurz darauf in Neapel ein ähnlicher Entführungsfall durch den Forstwachtmeister Ercole Benelli gemeldet wird, fliegen Rhyme und Sachs umgehend nach Italien, um die dortigen Behörden zu unterstützen. Während sich vor allem Oberstaatsanwalt Dante Spiro gegen die amerikanische Einmischung sträubt, erweist sich Benelli als sehr pfiffiger Ermittler.
Rhyme, Sachs und die italienischen Strafverfolgungsbehörden bekommen es in der Folge aber nicht nur mit Entführungen aus einem Flüchtlingslager, sondern auch mit einem sexuellen Übergriff durch einen Amerikaner und schließlich einem bislang unbekannten amerikanischen Geheimdienst zu tun. Als der Komponist erfährt, wer ihm in Italien auf der Fährte ist, ist er vor allem von Amelia Sachs besonders angetan, die er mit der griechischen Göttin Artemis vergleicht …
„Er wusste, er durfte hier nicht bleiben, lag aber trotzdem verkrümmt am Boden und zitterte vor Verzweiflung. Irgendwo in der Nähe zirpte ein Insekt, rief eine Eule, zerbrach ein großes Tier einen Zweig und ließ das trockene Gras rascheln. Doch die Geräusche brachten ihm keine Linderung …“ (S. 305) 
Seit ihm vor einigen Jahren an einem Tatort ein Balken ins Genick gefallen war und ihn querschnittsgelähmt machte, hat Lincoln Rhyme sich zu einem genialen Forensik-Experten ausgebildet, dessen Grundlagenwerk auch in Italien bekannt ist (wo es allerdings noch auf seine Übersetzung wartet). Doch die beratenen Tätigkeiten, die er in der Regel im Auftrag seines alten Partners Lon Silletto erledigt, führte er bislang - von seltenen Ausnahmen abgesehen – von zuhause aus, während Amelia Sachs die Laufarbeit übernahm.
Die besonderen Umstände führen Rhyme und Sachs in ihrem dreizehnten Abenteuer erstmals nach Italien. Immerhin kann Rhyme nach einigen operativen Eingriffen mittlerweile wieder Teile seines rechten Arms und der Hand bewegen, aber er ist nach wie vor auf die Hilfe körperlich voll funktionsfähiger Ermittler angewiesen, um die ihm angetragenen Fälle lösen zu können. Das gestaltet sich in Neapel besonders schwierig, weil der eigensinnige Staatsanwalt hier besondere Befugnisse besitzt, aktiv an den Ermittlungen teilzunehmen und Befugnisse einzugrenzen. Doch Rhyme & Co. wird während der Jagd nach dem Komponisten klar, dass der Fall viel komplexer liegt, als zunächst angenommen.
Jeffery Deaver erweist sich einmal mehr als versierter Spannungsautor, der einen komplexen Fall zu konstruieren versteht. Dabei wechselt er gelegentlich die Erzählperspektive von Rhyme und Benelli zu der des Komponisten, der aber bis auf wenige Momente ebenso blass bleibt wie die Hauptfiguren Rhyme und Sachs. Außer der Tatsache, dass Rhyme mit seinem Pfleger Thom Reston mögliche Ziele für seine Hochzeitsreise diskutiert und italienische Spirituosen zu schätzen lernt, bleiben private Momente des außergewöhnlichen Ermittler-Duos nämlich außen vor. Die besser konturierte Figur in diesem Roman ist nämlich der Forstwachtmeister Benelli, der diesen Fall als Chance sieht, zur Staatspolizei wechseln zu können.
Zum Ende hin übertreibt es Deaver etwas mit seinen für das Genre obligatorischen Wendungen, doch bietet „Der Komponist“ nicht nur für Fans von Rhyme und Sachs unterhaltsamen Thrill vor der außergewöhnlichen Kulisse Neapels.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Komponist"

Paolo Coelho – „Hippie“

Donnerstag, 13. Dezember 2018

(Diogenes, 298 S., HC)
Seit seinem Welt-Bestseller „Der Alchemist“ zählt der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho zu den spirituellen Gurus seiner Zunft und bringt seinen Lesern in leicht verständlicher Sprache Weisheiten aus unterschiedlichen esoterischen Traditionen nahe. Mit seinem neuen Buch, das passend zum fünfzigjährigen Jubiläum des legendären Jahres 1968 erscheint, als die bekannte Mehrheitsgesellschaft mit ihren leistungsorientierten, konservativen Werten durch die Hippie-Bewegung aufgebrochen wurde und eine Gegenkultur entstand, die eine antiautoritäre und enthierarchisierte Weltordnung anstrebte, lässt Coelho seine eigene Geschichte Revue passieren.
Statt aber die autobiografische Variante der Ich-Perspektive zu wählen, entschied sich der Autor, „Hippie“ in der dritten Person zu erzählen, um auch den anderen Figuren, mit denen der junge Coelho damals zu tun hatte, eine eigene Stimme zu geben.
Im September 1970 galten der Piccadilly Circus in London und der Dam in Amsterdam als die hippesten Orte der Welt. Statt sich über die traditionellen Medien zu informieren und auszutauschen, gab es unter den Hippies eine sogenannten „Unsichtbare Zeitung“, eine Mund-zu-Mund-Informationskette, in der sich über anstehende Konzerte und angesagte Reiserouten unterhalten wurde. Dabei war Arthur Frommers „Europe On Five Dollars a Day“ ein unverzichtbarer Ratgeber. Um sich wie viele seiner Gleichgesinnten auf einen sogenannten Hippie-Trail begeben zu können, zieht es den dreiundzwanzigjährigen Paulo zunächst nach Amsterdam, von wo er sich für hundert Dollar in einem „Magic Bus“ über die Türkei, den Libanon, Iran, Irak, Afghanistan, Pakistan und Indien bis nach Kathmandu begeben würde. Als seine engste Reisegefährtin erweist sich die hübsche Holländerin Karla, der von einer Wahrsagerin prophezeit wurde, dass sie einen Begleiter finden würde.
Gemeinsam mit ihren Freunden Rahul, Ryan und Mirthe suchen sie nach spiritueller Erleuchtung. 
„Viele Gefühle bewegen das Herz des Menschen, wenn er beschließt, sich dem spirituellen Weg zuzuwenden. Es kann aus einem edlen Beweggrund sein wie etwa Glaube, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit. Oder es kann nur aus einer Laune heraus geschehen, aus Angst vor dem Alleinsein, aus Neugier oder aus dem Wunsch heraus, geliebt zu werden. Letztlich spielt es keine Rolle, welches der ursprüngliche Beweggrund war. Der wahre spirituelle Weg ist stärker als die Gründe, die uns zu ihm geführt haben.“ (S. 129) 
Doch der Weg zum Glück jenseits konventioneller Konsumfreuden und kleinbürgerlicher Werte ist von etlichen Gefahren gesäumt. So muss der „Magic Bus“ wegen des Bürgerkriegs in Jordanien etwas länger Station in Istanbul machen als geplant, und Paolo wird das Angebot gemacht, als Drogenkurier einen guten Schnitt zu machen. Natürlich widersteht er der dämonischen Versuchung und wendet sich lieber den Derwischen in Istanbul zu …
„Hippie“ stellt fünfzig Jahre nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 auch ein Prequel zu Coelhos schriftstellerischem Werk dar. Als sich der Autor damals auf den Hippie Trail begab, war zwar schon der Wunsch vorhanden, Schriftsteller zu werden, doch fehlte dem jungen Mann noch die Lebenserfahrung, um interessante Geschichten schreiben zu können. Vor allem im letzten Drittel des Buches, als Paulo in Istanbul der Derwisch-Tradition auf den Grund zu gehen versucht, geben sich die spirituellen Weisheiten ein munteres Stelldichein. Das wirkt oft sehr plakativ, als würden Sinnsuchende die Lehren von Rabindranath Tagore, Paulus von Tarsus, Rumi und Kabir in ihrer Essenz auf leicht verständliche Weise aneinandergereiht, so dass der Leser zumindest ein Gefühl dafür bekommt, wohin die eigene spirituelle Reise hinführen könnte. Auf jeden Fall gewährt „Hippie“ einen interessanten Einblick in einen Lebensabschnitt des Autors, der auch weniger schöne Ereignisse aus dem Jahre 1968 rekapituliert, der sein weiteres Leben und Schaffen prägen sollte.
Leseprobe Paolo Coelho - "Hippie"

Lee Child – „Der Einzelgänger“

Mittwoch, 12. Dezember 2018

(Blanvalet, 448 S., HC)
Jack Reacher ist neben James Bond, Jason Bourne und John McClane mit Sicherheit der coolste Actionheld der Film-, aber vor allem der Literaturgeschichte. Seit 1997 legt Lee Child alljährlich ein neues Abenteuer des hochdekorierten Veteranen der Militärpolizei vor, der nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst meist per Anhalter oder Bus das Land erkundet, von dem er dank seiner militärischen Familiengeschichte bislang wenig zu sehen bekam. Dabei gerät er immer wieder in Situationen, in denen seine Fähigkeiten als begnadeter Ermittler gefragt sind.
Seit 2011 hat Lee Child neben den Jack-Reacher-Romanen auch immer wieder mal eine Kurzgeschichte zu seinem charismatischen Helden verfasst, die dann in Magazinen oder Anthologien wie „Esquire“, „Manhattan Mayhem“, „Country Life“ oder „Stylist“ bzw. als e-only veröffentlicht wurden.
Mit „Der Einzelgänger“ werden diese elf Einzelstorys erstmals zusammengefasst und um die bislang unveröffentlichte Eröffnungsgeschichte „Zu viel Zeit“ ergänzt. Darin wird Reacher in einer Kleinstadt in Maine Zeuge, wie in einer sehr belebten Fußgängerzone ein Junge auf eine etwa zwanzigjährige Frau zuläuft, ihr die Stofftasche von der Schulter reißt und mit der Beute flüchtet – genau auf Reacher zu. Der bringt den Jungen souverän zu Fall. Während die junge Frau überraschenderweise flüchtet, wurde die Szene auch von zwei Cops in Zivil beobachtet, die sich bei Reacher für seine Hilfe bedanken und ihn zur Aufnahme seiner Aussage ins Revier bitten. Doch aus den veranschlagten zehn Minuten wird plötzlich eine Anklage, die Reacher eine Beteiligung an dem Coup vorwirft. Die unerfahrene Pflichtverteidigerin ist ihm keine große Hilfe, aber Reacher weiß sich natürlich auch diesmal aus der Klemme zu befreien.
 Mit „Der zweite Sohn“ lernen wir Reacher als jungen Burschen kennen, der 1974 als dreizehnjähriger Sohn eines Verbindungsoffiziers beim Marine Corps zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Joe nach Okinawa gehen muss, wo die beiden Jungen erstmals in ihrer abwechslungsreichen Schulkarriere einen Einstufungstest ablegen müssen. Während Joe versucht, in der Schule an die Fragen zu kommen, bekommt Reacher Ärger mit einem Nachbarsjungen und freundet sich mit Helen an, die auch erst seit einer Woche in Okinawa ist. Den fetten Jungen mit dem Geschwür am Hals besiegt Reacher leicht, schwerer wiegt das Problem, dass seinem Vater das Codebuch gestohlen wurde …
Drei Jahre später begibt sich Reacher während der Schulferien nach New York City, wo er in eine regelrechte „Hitzewelle“ gerät und eine Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau auf der Straße beendet. Wie sich herausstellt, hat sich Reacher diesmal mit dem Mafioso Croselli angelegt, der sich die Demütigung, von einem gerade mal fünfzehnjährigen, wenn auch hünenhaften Jungen zurechtgestutzt zu werden, nicht auf sich beruhen lassen wird. Die Frau, der Croselli gegenüber handgreiflich geworden ist, erweist sich als suspendierte FBI-Agentin, die hofft, durch Beweise für Crosellis kriminelle Machenschaften wieder Karriere beim FBI machen zu können. In den übrigen Geschichten ist Reacher allerdings als erwachsener Ermittler zu erleben, der nicht nur einen ausgeprägten Sinn für wichtige Details und die großen Zusammenhänge unter Beweis stellt, sondern in den entscheidenden Momenten auch nicht zögert, seinem Gegner bei einer Auseinandersetzung zuvorzukommen.
„Ein kluger Mann fragte: Wann ist die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen? Ein kluger Mann antwortete: vor fünfzig Jahren. Und wann ist die beste Zeit, eine Entscheidung zu treffen? Ein kluger Mann antwortete: fünf Sekunden vor dem ersten Schlag.“ (S. 248) 
Die Qualität der Geschichten fällt dabei unterschiedlich aus. So erhellend beispielsweise die Hintergründe sind, unter denen Reacher als Sohn eines Captains des United States Marine Corps in der ganzen Welt herumgekommen ist, so nimmt man ihm doch schwer ab, dass er schon in Teenagerjahren so versiert informiert und couragiert unterwegs gewesen ist, wie Lee Child ihn in „Zweiter Sohn“ oder „Hitzewelle“ beschreibt. In „James Penneys neue Identität“ taucht Reacher sogar erst am Ende in einer Nebenrolle auf. Die kürzeren Geschichten zum Ende hin – manchmal keine zehn Seiten lang – wirken wie kleine Momentaufnahmen, die leidlich unterhaltsam sind, weil sie weder Spannung noch Stimmung aufbauen können. Dagegen bieten „Zu viel Zeit“, „Tief drinnen“ und „Kleinkriege“ genau die Art von vertrackten Rätseln, die Jack-Reacher-Fans erwarten und die ihr Held natürlich am Ende geschickt aufzulösen versteht.
Auch wenn nicht alle Storys das Qualitätsniveau eines Reacher-Romans erreichen, rechtfertigen die richtig guten unter die Lektüre von „Der Einzelgänger“.
Leseprobe Lee Child - "Der Einzelganger"

Andrew DeGraff/A.D. Jameson – „Cinemaps“

Sonntag, 9. Dezember 2018

(Heyne Encore, 160 S., großformatiges HC)
Der in Main lebende und arbeitende Illustrator Andrew DeGraff ist ein Kind der 1980er Jahre und zählt damit zur ersten Generation von Kinogängern, die ihre Lieblingsfilme immer wieder in Videotheken ausleihen und auf Videorekordern sehen konnten, wann immer ihnen danach gewesen ist. Dabei konnten sie Lieblingsszenen so oft wiederholen und analysieren, bis sie Dialoge nachsprechen konnten und die Eigenheiten der Regisseure und das Design von Raumschiffen studiert hatten. Dass aus diesen neuen „on demand“-Möglichkeiten eine Leidenschaft für das Kartographieren von Filmsets entstand, ist nur ein Teil von DeGraffs Biografie, der im Jahre 2001 seinen Abschluss am Pratt Institute in Kommunikationsdesign machte und von 2009 bis 2014 dort selbst zukünftige Illustratoren unterrichtete, bevor er ans Maine College of Art wechselte.
Die Grundlage für DeGraffs Begeisterung für das Zeichnen von Karton wurde nämlich in seiner Kindheit gelegt, als die Wände seines Zimmers mit bunten Karten aus den „National Geographic“-Ausgaben seines Vaters tapeziert wurden und seine Bettdecke mit allen Bundesstaaten und ihren Hauptstädten bedruckt war. Erst als DeGraff gebeten wurde, für ein Reisemagazin einige Landkarten zu erstellen, entdeckte er die Herausforderung, sich zum Erstellen einer Karte nicht nur mit den geografischen Fakten auszukennen, sondern auch Prioritäten setzen und gut vorausplanen zu können, damit einem die geografischen Feinheiten und die Beschriftung keinen Strich durch die Rechnung machten.
Irgendwann begann der Künstler, seine beiden Hauptinteressen für Landkarten und Filme zu verbinden, und zeichnete das Höhlensystem aus Richard Donners „Die Goonies“ und das Sommercamp aus David Wains „Wet Hot American Summer“. Als DeGraff feststellte, wie gut seine Zeichnungen bei den Leuten ankamen, wurden seine nachfolgenden Illustrationen detaillierter: Für die Karte zu Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ legte er Richtungspfeile für die Hauptfigur Roger Thornhill an, bei „Krieg der Sterne“ und „Indiana Jones“ kamen weitere, jeweils andersfarbige Pfeile für die wichtigsten Filmfiguren hinzu.
Über die Jahre sind viele weitere Karten zu Filmsets entstanden, die in diesem Jahr in der „Gallery1988“ in Los Angeles ausgestellt wurden und nun in dem Band „Cinemaps“ auch in Buchform erscheinen.
„Für mich ist jede dieser Karten das maßstabsgetreue Modell eines Blockbusters, ein Diagramm der ungefähr hundertzwanzig Minuten zwischen Vor- und Abspann. Als Zuschauer und Fans haben wir jeden Zentimeter dieser Landschaften bereist. Wir haben uns durch Wälder und den Dschungel geschlagen, wir sind zu den Planeten und Weltraumstationen geflogen. Und dennoch kehren wir immer wieder dahin zurück. Diese Karten geben uns die Möglichkeit, unsere Lieblingsfilme noch einmal aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Reise bleibt dieselbe, doch die Pfade sind neu und aufregend“, schreibt DeGraff in seinem Vorwort (S. 9). 
Für „Cinemaps“ hat er nun aus über zweihundert vorhandenen Karten fünfunddreißig ausgewählt, die sich zwar hauptsächlich auf die Blockbuster der 1970er und 1980er Jahre konzentrieren, mit denen DeGraff aufgewachsen ist, aber der großformatige Band berücksichtigt frühe Filmklassiker wie Fritz Langs „Metropolis“ (1927) und „King Kong“ von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack (1933) ebenso wie aktuellere Werke wie James Gunns „Guardians of the Galaxy“ (2014) und George Millers „Mad Max: Fury Road“ (2015).
Die mit Gouache auf Papier angefertigten Zeichnungen stellen einzigartige Kunstwerke dar, die wie gewünscht einen neuen, umfassenderen Blick auf das Filmset eines Blockbusters ermöglichen. Das reicht von dem gelb-orangenen Stadtplan zu Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ mit Bewegungspfeilen zu insgesamt siebzehn Figuren über die bunte Dschungelwelt von Steven Spielbergs „Jurassic Park“ bis zu den großartigen Naturlandschaften von Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Trilogie.
Doch „Cinemaps“ wäre nicht halb so unterhaltsam, wenn nicht der Filmwissenschaftler A.D. Jameson zu jeder der 35 Karten äußerst informative Essays zu den dazugehörigen Filmen verfasst hätte, die neben Inhaltsangaben und Entstehungsgeschichte auch einen sehr persönlichen Blick auf die Werke präsentieren.
Leseprobe "Cinemaps"

John Jay Osborn – „Liebe ist die beste Therapie“

Sonntag, 2. Dezember 2018

(Diogenes, 286 S., HC)
Steve und Charlotte sind Mitte Dreißig, haben zwei Kinder und eigentlich alles, was zu einem glücklichen Leben gehört. Allerdings sind Charlotte als Universitätsdozentin und Steve als Teilhaber einer großen Private-Equity-Firma so stark in ihren jeweiligen beruflichen Alltag eingebunden, dass die Ehe darüber zerbrochen ist. Nun leben sie seit einigen Monaten getrennt, haben das Haus, das Steve beleihen musste, um seine Teilhaberschaft zu finanzieren, für zweihunderttausend Dollar verkauft und in neue Wohnungen gezogen. Doch obwohl erst Steve und dann auch Charlotte eine außereheliche Affäre hatten, hängen sie zu sehr aneinander, um sich einfach scheiden zu lassen.
Um ihrer Ehe noch eine Chance zu ermöglichen, suchen sie die bereits zweifach geschiedene Paartherapeutin Sandy auf, die durch ihren Art der Fragestellungen tatsächlich dafür sorgt, dass sich Steve und Charlotte nach und nach die Dinge anvertrauen, die sie in der Ehe gestört haben, wie sie sich jetzt fühlen mit dem Wissen um die Affären und die Verletzungen, die sie einander zugefügt haben. Alte Gewissheiten werden hinterfragt, Vertrauen muss wiederaufgebaut werden, doch scheinen gewisse Verabredungen nicht förderlich für die schrittweise Annäherung zu sein. 
„Abmachungen sorgten für Stagnation, fand Sandy. Warum sollte man den Status quo solch einer Ehe erhalten wollen? Warum waren die beiden denn sonst hier, wenn nicht, um gründlich etwas zu ändern?“ (S. 67) 
Gleich mit seinem ersten Roman „The Paper Chase“ (1971) hat der US-amerikanische Anwalt, Jura-Professor und Autor John Jay Osborn einen Bestseller veröffentlicht, der 1973 erfolgreich mit Timothy Bottoms und dem für seine Darstellung Oscar-prämierten John Houseman verfilmt worden ist. Bis 1981 veröffentlichte Osborn drei weitere Romane. Nachdem er auch Drehbücher für Fernsehserien und -filme wie die Serien-Adaption von „The Paper Chase“, „L.A. Law“ und „Spenser: For Hire“ geschrieben hatte, legt er nach vielen Jahren mit „Liebe ist die beste Therapie“ wieder einen Roman vor, der sich wie ein äußerst intimes Kammerspiel liest.
Die Handlung spielt sich nämlich nur in der Praxis von Paartherapeutin Sandy ab. Ereignisse wie ein Wochenende, das Steve beispielsweise mit seiner privaten Kochlehrerin Gabriella verbringt, werden dann erst im Nachhinein während der Therapiesitzungen aufgearbeitet. Auffällig ist nur der grüne Sessel im viktorianischen Stil, der so gar nicht zu der übrigen Einrichtung passt, aber im Verlauf der Therapie eine immer wichtigere Rolle spielt.
Doch die eigentliche Spannung bezieht der Roman aus der Frage, ob es Steve und Charlotte gelingt, mehr aus der Chance von 1 zu 1000 herauszuholen, ihre Ehe retten zu können. Hier sorgt Sandy mit teils überraschenden, nachbohrenden und teilweise provozierenden Fragen dafür, dass sich ihre Patienten ihrer wahren Gefühle bewusst werden und diese auch so kommunizieren. Denn sehr schnell wird klar, dass weder materielle Nöte, noch zu wenig Liebe zur Trennung geführt haben, sondern eine fehlerhafte Kommunikation. Wie sich Steve und Charlotte unter professioneller Anleitung miteinander unterhalten und dabei ganz neue Erkenntnisse gewinnen und Veränderungen im eigenen Verhalten ebenso wie in dem des Gegenübers wahrnehmen, macht „Liebe ist die beste Therapie“ durchaus lesenswert, ist aber in erster Linie für diejenigen interessant, die auch mal an diesem Punkt einer Beziehung standen. Davon abgesehen gelingt es Osborn sehr gut, seine Figuren allein durch die Gesprächskultur, die er in Sandys Praxis entwickelt, zu charakterisieren, allerdings ist in diesem Rahmen die Entwicklung der Figuren auch vorhersehbar, der Spannungsbogen entsprechend moderat ausgefallen.
Leseprobe John Jay Osborn - "Liebe ist die beste Therapie"

Bill Beverly – „Dodgers“

Donnerstag, 29. November 2018

(Diogenes, 398 S., HC)
Der sechzehnjährige East zählt zu einer Truppe von Jungs im LA-Viertel The Boxes, die dafür sorgen sollen, dass die Deals, die in dem von ihnen bewachten Drogenhaus über die Bühne gehen, kein unbeabsichtigtes Aufsehen erregen. Doch eines Tages lassen sich die Jungs von einer Feuerwehrsirene und einer zum Himmel aufsteigenden Rauchsäule ablenken und merken zu spät, dass mehrere Polizeiwagen vor dem Haus aufkreuzen. Im anschließenden Schusswechsel kommt ein unbeteiligtes Mädchen, das sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort befand, ums Leben.
East kann zwar flüchten, hat aber kein Haus mehr, um das er sich kümmern kann, also auch keinen Job, doch sein Boss Fin hat einen neuen Auftrag für ihn: Zusammen mit seinem schießwütigen kleinen Bruder Ty, dem zwanzigjährigen Gamer Michael Wilson und dem siebzehnjährigen Aushilfslehrer Walter soll sich East auf den Weg quer durch die USA machen, um einen Richter zu töten. Doch auch dieses Vorhaben weist seine Tücken auf, bringt die Jungs in neue Schwierigkeiten, ermöglicht East aber in Ohio – ohne seine Kumpel und nur vorübergehend – einen Neuanfang. Dann holt ihn seine Vergangenheit wieder ein …
„Auf der Fahrt quer durchs Land hatten sie zueinandergefunden – ein Team. Eine Crew – stimmt’s? Jetzt waren sie vom Winde verweht. Sie hatten den Richtigen mit Kugeln durchsiebt – den Auftrag erledigt. Doch East fühlte sich einfach nur vollkommen fertig. Das war der Preis. Die Woche war eine Wunde, die zu betrachten er sich noch nicht traute. Und doch spürte er, dass sie blutete.“ (S. 281) 
Mit Bill Beverlys Debütroman „Dodgers“ hat der Diogenes-Verlag wieder einmal ein literarisches Juwel entdeckt. Der an der Trinity University in Washington, DC, US-amerikanische Literatur und Schreiben lehrende Beverly präsentiert hier eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, ein intensives Road Movie und ein eindringliches Gang-Drama, dessen einzelne Elemente nahtlos miteinander verschmelzen. Besonders viel Mühle hat sich der Autor mit der Charakterisierung der sensiblen Hauptfigur East gegeben, aber auch sein taffer Bruder Ty hinterlässt einen bleibenden Eindruck.
East entpuppt sich dabei als zuverlässiges Stehauf-Männchen, das für sein Alter ebenso zuverlässig für einen Drogengangster arbeitet wie später für einen schwerkranken Paintball-Arena-Betreiber, dessen Vertrauen er sich sehr schnell verdient. In einer Welt, die er nicht kennt und die East eher bedrohlich als freundlich erscheint, bietet ihm sein eigener moralischer Kompass die einzige Sicherheit. Obwohl er weiß, dass die hundert Dollar, die er täglich bei Perry verdient, zu wenig sind, beklagt er sich nicht, schläft in einem Bett aus Kartons, will seinem Chef bloß nicht zur Last fallen, sondern nur zuverlässig seine Arbeit verrichten.
Bill Beverley beweist ein wunderbares Gespür für seine jugendlichen Protagonisten, ihre Sprache und Gefühle. „Dodgers“ stellt für East ebenso wie für die Leser ein außergewöhnliches Abenteuer dar, bei dem die vertraute Welt des eigenen Viertels in Los Angeles plötzlich verlassen werden muss und ein Trip ins Unbekannte neue Herausforderungen bereithält.
Leseprobe Bill Beverly - "Dodgers"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 10) „Mutter und Tochter“

Donnerstag, 22. November 2018

(Diogenes, 406 S., Pb.)
Nachdem der Ölmagnat Homer Wycherly von seiner zweimonatigen Luxus-Kreuzfahrt nach Meadow Farms zurückgekehrt ist, engagiert er den aus Los Angeles stammenden Privatdetektiv Lew Archer, um seine einundzwanzigjährige Tochter Phoebe zu suchen. Seit sie sich von ihm am 2. November im Hafen von San Francisco auf dem Schiff verabschiedet hatte, hat sie ihr Studium abgebrochen und ist nicht mehr aufgetaucht.
Das trifft zwar auch auf Catherine, Wycherlys Ex-Frau zu, doch da das Verhältnis zu ihr mehr als angespannt ist, kümmert ihn ihr Verbleib nicht allzu sehr. Tatsächlich untersagt Wycherly dem Detektiv, bei seinen Nachforschungen Kontakt zu Catherine aufzunehmen, deren Unterhaltszahlungen über die Anwälte geregelt werden. Doch da die letzte Begegnung zwischen dem Familienoberhaupt, seiner stark angetrunkenen Ex-Frau und seiner geliebten Tochter in der Schiffskabine beobachtet wurde, kann der akribisch arbeitende Archer gar nicht anders, als sich auf die Suche von Mutter und Tochter zu machen. Dabei reist er nicht nur von einer billigen Absteige zur nächsten, sondern erhofft sich vor allem von Phoebes Onkel und ihrem Freund Bobby wertvolle Hinweise auf den Verbleib der beiden Frauen. Allerdings stößt Archer bei seinen Ermittlungen auf seltsame Ungereimtheiten …
„Eine hartnäckig wiederholte Lüge kann sich seltsam im Gemüt niederschlagen. Was man lange genug behauptet, wird beinahe wahr. Ich ertappte mich dabei, selbst schon fast zu glauben, Phoebe sei meine Tochter. Falls sie tot war, würde ich Wycherlys Verlust mit ihm teilen.“ (S. 169) 
Ross Macdonald veröffentlichte den bereits neunten Band seiner bis heute gefeierten Reihe um den Privatdetektiv Lew Archer 1961, nun erscheint „Mutter und Tochter“ in einer gelungenen Neuübersetzung von Karsten Singelmann und mit einem exklusiven Nachwort von Donna Leon. Einmal mehr taucht der ehemalige Polizist und nun in Los Angeles wirkende Privatdetektiv Lew Archer tief in die Milieus sowohl der Ober- als auch der Unterschicht ein, hat mit Ölbaronen und vereinsamten Frauen ebenso zu tun wie mit schmierigen Kleinganoven und einfachen Hotelangestellten.
Macdonald, der neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zu den großen amerikanischen Krimi-Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, schickt seinen charismatischen Ermittler auf eine auch emotional oft verwirrende Odyssee zu den Orten, an denen sich Phoebe und ihre Mutter nach dem mutmaßlichen Verschwinden aufgehalten haben sollten. Dabei ertappt sich Archer gelegentlich dabei, sich nicht nur als Vater der vermissten Tochter auszugeben, sondern sich auch wie dieser zu fühlen. Und diese Empathie, die Archer für die Menschen empfindet, mit denen er zu tun hat, macht auch „Mutter und Tochter“ zu einem tiefgründigen Lesevergnügen. Denn bei Macdonald geht es nie nicht nur darum, den Täter zu entlarven, sondern auch die Motive des Täters zu ergründen, für die er oft genug Verständnis aufbringt. Der Autor taucht wie immer tief in die Milieus und Figuren ein, mit denen sein Protagonist zu tun hat, stattet seinen raffinierten Plot mit wunderbar pointierten Dialogen und Beschreibungen aus und enthält sich vorschnellen Urteilen über Verdächtige, Opfer und Täter. Die Auflösung gestaltet sich hier einmal mehr als sehr vertrackt, doch dabei geht Archer den Motiven der Beteiligten stets intensiv auf den Grund, gestattet dem Täter am Ende sogar eine Möglichkeit, einen persönlichen Ausweg zu nehmen.
Auf all die Qualitäten in Ross Macdonalds Romanen und speziell in „Mutter und Tochter“ geht auch Donna Leon in ihrem lesenswerten Nachwort ein, wobei sie sich selbst als großer Fan von Ross Macdonald erweist.
Leseprobe Ross Macdonald - "Mutter und Tochter"