Ross Macdonald – (Lew Archer: 9) „Mutter und Tochter“

Donnerstag, 22. November 2018

(Diogenes, 406 S., Pb.)
Nachdem der Ölmagnat Homer Wycherly von seiner zweimonatigen Luxus-Kreuzfahrt nach Meadow Farms zurückgekehrt ist, engagiert er den aus Los Angeles stammenden Privatdetektiv Lew Archer, um seine einundzwanzigjährige Tochter Phoebe zu suchen. Seit sie sich von ihm am 2. November im Hafen von San Francisco auf dem Schiff verabschiedet hatte, hat sie ihr Studium abgebrochen und ist nicht mehr aufgetaucht.
Das trifft zwar auch auf Catherine, Wycherlys Ex-Frau zu, doch da das Verhältnis zu ihr mehr als angespannt ist, kümmert ihn ihr Verbleib nicht allzu sehr. Tatsächlich untersagt Wycherly dem Detektiv, bei seinen Nachforschungen Kontakt zu Catherine aufzunehmen, deren Unterhaltszahlungen über die Anwälte geregelt werden. Doch da die letzte Begegnung zwischen dem Familienoberhaupt, seiner stark angetrunkenen Ex-Frau und seiner geliebten Tochter in der Schiffskabine beobachtet wurde, kann der akribisch arbeitende Archer gar nicht anders, als sich auf die Suche von Mutter und Tochter zu machen. Dabei reist er nicht nur von einer billigen Absteige zur nächsten, sondern erhofft sich vor allem von Phoebes Onkel und ihrem Freund Bobby wertvolle Hinweise auf den Verbleib der beiden Frauen. Allerdings stößt Archer bei seinen Ermittlungen auf seltsame Ungereimtheiten …
„Eine hartnäckig wiederholte Lüge kann sich seltsam im Gemüt niederschlagen. Was man lange genug behauptet, wird beinahe wahr. Ich ertappte mich dabei, selbst schon fast zu glauben, Phoebe sei meine Tochter. Falls sie tot war, würde ich Wycherlys Verlust mit ihm teilen.“ (S. 169) 
Ross Macdonald veröffentlichte den bereits neunten Band seiner bis heute gefeierten Reihe um den Privatdetektiv Lew Archer 1961, nun erscheint „Mutter und Tochter“ in einer gelungenen Neuübersetzung von Karsten Singelmann und mit einem exklusiven Nachwort von Donna Leon. Einmal mehr taucht der ehemalige Polizist und nun in Los Angeles wirkende Privatdetektiv Lew Archer tief in die Milieus sowohl der Ober- als auch der Unterschicht ein, hat mit Ölbaronen und vereinsamten Frauen ebenso zu tun wie mit schmierigen Kleinganoven und einfachen Hotelangestellten.
Macdonald, der neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zu den großen amerikanischen Krimi-Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, schickt seinen charismatischen Ermittler auf eine auch emotional oft verwirrende Odyssee zu den Orten, an denen sich Phoebe und ihre Mutter nach dem mutmaßlichen Verschwinden aufgehalten haben sollten. Dabei ertappt sich Archer gelegentlich dabei, sich nicht nur als Vater der vermissten Tochter auszugeben, sondern sich auch wie dieser zu fühlen. Und diese Empathie, die Archer für die Menschen empfindet, mit denen er zu tun hat, macht auch „Mutter und Tochter“ zu einem tiefgründigen Lesevergnügen. Denn bei Macdonald geht es nie nicht nur darum, den Täter zu entlarven, sondern auch die Motive des Täters zu ergründen, für die er oft genug Verständnis aufbringt. Der Autor taucht wie immer tief in die Milieus und Figuren ein, mit denen sein Protagonist zu tun hat, stattet seinen raffinierten Plot mit wunderbar pointierten Dialogen und Beschreibungen aus und enthält sich vorschnellen Urteilen über Verdächtige, Opfer und Täter. Die Auflösung gestaltet sich hier einmal mehr als sehr vertrackt, doch dabei geht Archer den Motiven der Beteiligten stets intensiv auf den Grund, gestattet dem Täter am Ende sogar eine Möglichkeit, einen persönlichen Ausweg zu nehmen.
Auf all die Qualitäten in Ross Macdonalds Romanen und speziell in „Mutter und Tochter“ geht auch Donna Leon in ihrem lesenswerten Nachwort ein, wobei sie sich selbst als großer Fan von Ross Macdonald erweist.
Leseprobe Ross Macdonald - "Mutter und Tochter"

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