Eigentlich sollte der Webseitenentwickler Scott Carey mit seinem Gardemaß von über 1,90 Meter und der Wohlstandswampe locker über hundert Kilo auf die Waage bringen, doch in den letzten Wochen hat er auf unerklärliche Weise dreizehn Kilo abgenommen, ohne dass es ihm anzusehen wäre. Als er seinem Freund, dem pensionierten Hausarzt Bob Ellis, davon berichtet, muss dieser erstaunt feststellen, dass Scott sowohl mit Klamotten als auch nackt genauso viel wiegt.
Da Bob von so einem Fall noch nie gehört hat, kann er seinem Freund auch nicht helfen, aber er versteht, dass Scott keinen regulären Arzt aufsuchen will, um nicht zu einem medizinischen Versuchskaninchen Zudem hat er auch noch Probleme mit dem lesbischen Nachbarehepaar Deidre McComb und Missy Donaldson, das seine Hunde beim Joggen regelmäßig auf seinem Rasen ihre Geschäfte verrichten lässt. Seine Bemühungen, die beiden Damen für das Problem zu sensibilisieren, schlägt allerdings fehl.
Auf der anderen Seite kann Scott es aber auch nicht ertragen, wie die übrige Bevölkerung von Castle Rock über die beiden Restaurantbetreiberinnen herzieht. Der jährliche Stadtlauf trägt allerdings viel dazu bei, das weithin geächtete Paar doch in die Gemeinschaft zu integrieren. Und Scott hat damit begonnen, seinen Frieden mit dem unaufhaltbaren Prozess seines Gewichtsverlustes zu machen.
„Scott hatte Angst – alles andere wäre töricht gewesen -, war jedoch auch neugierig. Und noch etwas. Glücklich? War es das? Ja. Wahrscheinlich war das irrsinnig, aber es traf eindeutig zu. Auf jeden Fall fühlte er sich irgendwie auserwählt. Doctor Bob hätte das wohl für verrückt gehalten, aber Scott war da anderer Ansicht. Wieso sollte er sich schlecht fühlen, was er doch nicht ändern konnte?“ (S. 75)Ob nun als Autor unzähliger Kurzgeschichten oder von (selten) kürzeren und (in der Regel) umfangreichen Romanen, Stephen King hat sich seit seinem Durchbruch Mitte der 1970er Jahre zu einem vielseitigen Erzähler, der seine Leser in jeder Hinsicht zu packen versteht. Das gelingt ihm auch mit der Novelle „Erhebung“ auf Anhieb. Sein sympathischer Protagonist Scott weckt beim Leser sofort Neugier für sein außergewöhnliches Problem und Mitgefühl für das Schicksal, das ihm offensichtlich droht. Doch „Erhebung“ – der Titel deutet es bereits an – drückt überhaupt nicht auf die Tränendrüse, sondern versteht sich als Plädoyer für Toleranz und Offenheit, was gerade in Zeiten von Trumps Präsidentschaft ebenso wie weltweit populistischer Umtriebe ein wohltuendes Zeichen setzt. Wie sich Scott und die beiden zunächst etwas feindselig wirkenden Damen anfreunden und damit die ganze Stadt zu einem lebensfreundlicheren Ort machen, ist einfach bezaubernd geschrieben.
Leseprobe Stephen King - "Erhebung"
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