An einem Novembertag vor acht Jahren lernte Daniel den gleichaltrigen Luke auf dem Spielplatz gegenüber dem Metropolitan Museum kennen und weicht seitdem nicht mehr von seiner Seite. Wie selbstverständlich gehört er seit jenem Tag zum Haushalt seines neuen Freundes und dessen Mutter Claire, die als Verlegerin eines Krimi-Kleinverlages arbeitet. Daniel wird so Zeuge der Trennung von Lukes Eltern, der Depression seiner Mutter, die tagelang ihr Arbeitszimmer nicht zu verlassen scheint.
Doch Claire Nightingale sträubt sich gegen die Freundschaft ihres Sohnes mit Daniel und schickt ihn zum Psychiater Dr. Claymore. Daniel animiert seinen neuen Freund zu Taten, die sich dieser so nicht zugetraut hätte, doch mit der Zeit entwickelt sich eine Rivalität zwischen den beiden Jungen. Daniel wird zunehmend aus dem Leben seines Freundes gedrängt, der sich wiederum immer neue Ideen einfallen lassen muss, Lukes Zuneigung zurückzugewinnen.
„Luke wurde älter, einige Dinge in seinem Leben veränderten sich, andere nicht. Die wirklich wichtigen Dinge veränderten sich nicht. In der Schule machte er seine Sache recht ordentlich und pflegte die Freundschaft zu Omar. Er ging regelmäßig zu Dr. Claymore und nahm seine Medikamente ein. Seinen Vater sah er so gut wie nie. Im Grunde lebte er eigentlich nicht, sondern existierte einfach nur. Am Tag ließ er sich in der Schule, am Abend zu Hause bei Claire treiben, während sich Wochen, Monate und Jahre ansammelten wie neuer Schnee, der leise auf den alten herabrieselt. Ich stemmte mich gegen die Innenwand seines Schädels, aber es war zwecklos. Er konnte mich nicht hören, ich war gefangen. So wartete ich, wie jeder andere Gefangene auch. Ich saß die Zeit ab und setzte mein Vertrauen in die Vorstellung, dass sich etwas ändern musste und dass mein Vertrauen schließlich belohnt würde.“ (S. 92)Dem Leser wird schnell klar, dass Luke eine gespaltene Persönlichkeit ist und Daniel als imaginären Freund heraufbeschwört, den der Seelenklempner gefälligst zu exorzieren hat. Bei aller sprachlicher Souveränität lässt „Der Andere“ allerdings vor allem eins vermissen: Spannung. Nach dem fulminanten Auftakt mit den beiden Sätzen „Ich betrete den Eingangsbereich des Apartmenthauses, in dem Claire Nightingale lebt. Ich will ihr sagen, dass ich ihren einzigen Sohn umgebracht habe“ wartet man nicht nur vergeblich auf eine Auflösung, sondern auf eine Dramaturgie, in der sich die Ereignisse, die zu dieser Tat geführt haben, zuspitzt. Stattdessen entpuppt sich „Der Andere“ als stilistisch wundervoll verfasstes Psychogramm eines schizophrenen Jungen, dessen dunkle Seite aber keine wirklich entsetzlichen Taten verübt.
Lesen Sie im Buch: Brian DeLeeuw "Der Andere"
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