Nach einer wieder mal langen Nacht macht sich die knapp dreißigjährige Barfrau Katrina Marino morgens um vier Uhr auf den Heimweg. Nachdem sie noch einen platten Reifen an ihrem Auto wechseln musste, freut sie sich nur noch auf ein warmes Bad. Sie hat schon den Wohnungsschlüssel im Schloss stecken, als sie von hinten an den Haaren gepackt wird und einen Messerstich an ihrer Schulter spürt. Der Täter sticht noch einmal zu und lässt sein Opfer blutend zurück. Einige von Kats Nachbarn beobachten den Vorfall oder sehen sie später am Hauseingang sitzen, fühlen sich aber nicht zuständig, ihr zu helfen oder die Polizei zu rufen.
Da ist Patrick, der seine todkranke Mutter pflegt und nicht weiß, wie er ihr beibringen soll, dass er zur Musterung aufgefordert worden ist und vielleicht nach Vietnam muss. Da ist die betrogene Ehefrau Diane Myers, die ihrem Mann Larry entlocken will, mit wem er sie betrügt. Da ist Larrys einsamer Bowling-Kumpel Thomas, der seinem armseligen Leben ein Ende setzen will. In einem anderen Apartment haben sich Peter Adams und sein Arbeitskollege Ron jeweils mit den Frauen des anderen vergnügt. Während all diese und einige weitere Menschen ihre eigenen kleinen wie großen Probleme zu bewältigen versuchen, nehmen sie irgendwann von der jungen Frau Notiz, die auf der anderen Straßenseite hilflos am Hauseingang sitzt, doch nichts unternehmen.
„Sie sieht sich um. Die meisten Gesichter, die vorher zu ihr heruntergeblickt haben, sind verschwunden. In den meisten Wohnzimmern ist das Licht gelöscht worden. Aber einige sind noch erleuchtet, und in anderen kann man, obwohl das Licht mehr brennt, Menschen sehen, die am Fenster stehen und sie beobachten. Vielleicht haben sie das Licht ausgemacht, um so einen besseren Blick zu haben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind da immer noch einige Gesichter mit weißen Augen, die zu ihr herunterblicken. ‚Helft … mir‘, sagt sie. ‚Bitte.‘ Es hatte ein Ruf werden sollen, aber es ist kaum ein Flüstern geworden. Eine schwache Brise. Ein Rascheln von Laub. Für mehr als das hat sie fast keine Kraft – aber sie versucht es. ‚Jemand‘, sagt sie mit brechender Stimme, ‚hilf mir! Bitte!‘ Sie hört die Verzweiflung in der eigenen Stimme. Die Menschen, die in ihren Wohnzimmern stehen und ihr zusehen, rühren sich nicht.“ (S. 123)Während Kat schwer verletzt versucht, in ihre Wohnung zu gelangen, um telefonisch Hilfe zu besorgen, bewegen sich ihre Nachbarn in ihrem eigenen Mikrokosmos. Sie haben zwar Notiz von der notleidenden Frau genommen, gehen aber davon aus, dass andere bereits Hilfe gerufen haben, und versuchen, ihre eigenen Probleme in den Griff zu bekommen.
Der amerikanische Autor Ryan David Jahn hat sich für sein Romandebüt „Ein Akt der Gewalt“ von dem Mord an Kitty Genovese inspirieren lassen, der 1964 in den Medien für Aufsehen sorgte und in der Kriminalgeschichte mit dem „Bystander-Effekt“ belegt worden ist. Jahn beschreibt das erschütternde Geschehen allerdings ohne erhobenen Zeigefinger. Die kämpferische Art, mit der das Opfer an seinem Leben festzuhalten versucht, einerseits und der nüchterne Stil, mit dem beschrieben wird, wie Kats Nachbarn die frühen Morgenstunden verbringen, hebt nur umso intensiver hervor, wie fassungslos man als (lesender) Beobachter das Geschehen verfolgt. Doch das Buch bietet noch weitere Themen, so werden Probleme der Sterbehilfe, des Rassismus und verschiedene Arten der Liebe angerissen, dass der Stoff durchaus für mehr als nur 270 Seiten gereicht hätte. Doch in der Kürze liegt bekanntlich die Würze, und „Ein Akt der Gewalt“ schafft es von Beginn an, den Leser mit der Schilderung der dramatischen Ereignisse zu fesseln und bis zum bitteren Finale nicht mehr loszulassen. Als Bonus präsentiert das Buch noch eine Leseprobe aus Jahns neuem Werk „Der Cop“.
Leseprobe Ryan David Jahn – „Ein Akt der Gewalt“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen