Nicht mal zwei Wochen nach dem Kollaps von Lehman Brothers bekommt auch die ambitionierte Anwältin Samantha Kofer die Nachwehen der Immobilienkrise zu spüren. Drei Jahre nachdem sie bei Scully & Pershing, der größten Anwaltskanzlei der Welt angefangen hatte, wird sie von ihrem Chef Andy Grubman mit sofortiger Wirkung freigestellt. Sie nimmt allerdings das Angebot an, ein Jahr ohne Gehalt, aber mit Krankenversicherung bei S&P unter Vertrag zu bleiben, wenn sie in dieser Zeit für eine ausgewählte gemeinnützige Organisation tätig wird.
Samantha verschlägt es schließlich zur Mountain Law Clinic in Brady, wo sich Mattie Wyatt und ihre Leute um Menschen kümmern, die sich keinen Anwalt leisten können. Die Kleinstadt lebt vor allem vom Kohleabbau, leidet unter hoher Arbeitslosigkeit und noch höherem Meth-Missbrauch.
Zunächst fühlt sich Samantha noch etwas unsicher in einem juristischen Bereich, der ihr im Vergleich zu den drögen Immobiliengeschäften in New York dann immer mehr zusagt. Schließlich hilft sie hier Menschen mit echten Problemen, Bergarbeitern, die sich buchstäblich zu Tode schuften, wenn sie sich erst eine unheilbare Staublunge einfangen und dann von den Kohleunternehmen vor die Tür gesetzt werden, wenn sie ihre Arbeit nicht mehr erledigen können.
Sie übernimmt den Fall des schwer erkrankten Buddy Ryzer, der bereits seit 1997 an einer Staublunge leidet und entsprechende Entschädigungsleistungen bei Lonerock Coal beantragt, doch ließen die Anwälte von Casper Slate eigene Gutachter den Gesundheitszustand von Ryzer überprüfen und den entscheidenden Beweis verschwinden. Wie rigide diese Anwälte arbeiten, muss Samantha bald am eigenen Leib erfahren, denn Matties Neffe Donovan Gray hat seinerseits Beweise entwendet, die das kriminelle Verhalten der Kohleindustrie dokumentieren. Diese hetzen nicht nur das FBI auf die Kanzlei von Donovan und die Mountain Law Clinic, sondern schrecken auch vor der Inszenierung tödlicher Unfälle nicht zurück …
Zusammen mit ihrem Vater, der sich nach dem Verlust seiner Anwaltslizenz und dem Absitzen einer Haftstrafe auf Prozessfinanzierung spezialisiert hat, und ihrer Mutter, die als leitende Juristin im Washingtoner Justizministerium ein paar Hebel in Gang setzt, kämpft Samantha für das Recht ihrer hilfsbedürftigen Mandanten. Es gibt so viel zu tun, dass Donovan ihr sogar einen Job in seiner Kanzlei anbietet, was sie aber wiederholt ablehnt.
„Sie erinnerte ihn daran, dass (a) sie sich immer noch nicht für Schadenersatzklagen erwärmen konnte und nicht nach einem Job suchte, (b) sie nur auf der Durchreise und sozusagen eine Leihgabe war, bis sich der Staub in New York wieder gelegt hatte und sie wusste, wie die nächste Phase ihres Lebens aussah, die aber ganz sicher nichts mit Brady, Virginia, zu tun haben würde, und (c) sie eine Verpflichtung gegenüber der Law Clinic eingegangen war und richtige Mandanten hatte, die sie brauchten.“ (S. 290)John Grisham hat in den meisten seiner anfangs auch oft verfilmten Bestseller („Die Firma“, „Die Jury“) immer wieder den Kampf des kleinen Mannes gegen übermächtig erscheinende Konzerne thematisiert. In seinem neuen Roman „Anklage“ ist es die Kohleindustrie, die sich mit unlauteren Mitteln gegen jede Art von Entschädigungszahlungen gegenüber Bergarbeitern zu drücken versucht, die nachweislich an Staublunge erkrankt sind und einen langsamen, qualvollen Tod zu erwarten haben.
Grisham bleibt sich auch seiner Gewohnheit treu, diesen aussichtslos erscheinenden Kampf von Anwälten ausfechten zu lassen, die kaum die nötige Erfahrung besitzen, um die juristischen Spitzfindigkeiten anwenden zu können, die bei so langwierigen Prozessen eine nicht unerhebliche Rolle spielen, aber auch in „Anklage“ bringt der amerikanische Bestseller-Autor eine junge Anwältin ins Spiel, die ihre mangelnde Erfahrung durch ihr empathisches Wesen, durch Kampfgeist und Leidenschaft wettmacht.
Grisham konstruiert „Anklage“ dabei weniger als konventionellen Thriller, bei dem sich die Spannung sukzessive aufbaut, sondern fast schon als eindringliche Milieustudie einer kleinen Bergarbeiterstadt, wobei die Beschreibung des Arbeitsalltags in einer Non-Profit-Kanzlei viel Raum einnimmt. Er beschränkt sich dabei auf wenige Fälle und Figuren, schafft es aber so, den Leser stärker an das Schicksal der armen Leute zu binden, denen auf unrechtmäßige Weise der Schadenersatz versagt wird.
„Anklage“ erweist sich nicht unbedingt als Pageturner, ist aber wie immer gut geschrieben und macht einmal mehr eindringlich auf Missstände im amerikanischen Justiz- und Wirtschaftssystem aufmerksam.
Leseprobe John Grisham - "Anklage"
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