David F. Ross – (Schottland-Trilogie: 1) „Schottendisco“

Donnerstag, 31. Oktober 2024

(Heyne Hardcore, 334 S., Pb.) 
Mit Irvine Welsh („Trainspotting“, „Porno“) und John Niven („Music from Big Pink“, „Gott bewahre“) hat Schottland seit den 1990er Jahren zwei Autoren hervorgebracht, die mit derbem britischem Humor, einem unverblümten, sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft und ausgefallenen Plots eine Ausnahmeerscheinung in der britischen Literaturszene darstellten. 2015 wurde dieses Duo um einen weiteren interessanten Namen erweitert. Da veröffentlichte David F. Ross nämlich seinen Debütroman „Last Days of Disco“, der hierzulande von Heyne Hardcore – der langjährigen Heimat von Welsh und Niven – unter dem Titel „Schottendisco“ veröffentlicht wurde und den Auftakt einer Trilogie bildete, die mit „Schottenrock“ und „Schotten dicht“ fortgesetzt worden ist. 
Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit ihrer Schulzeit die besten Kumpels, allerdings wissen die beiden Halbwüchsigen Anfang der 1980er Jahre in dem schottischen Kaff Kilmarnock wenig mit sich anzufangen. Während die Thatcher-Regierung mittlerweile drei Millionen Arbeitslose zu verantworten hat und auf den weit entfernten Falkland-Inseln ihr einst erobertes Territorium mit Waffengewalt zu verteidigen sucht, kommen Bobby und Joey auf die Idee, ihren Lebensunterhalt mit einer mobilen Disco zu verdienen. Allerdings ist die Unterhaltungsbranche fest in den Händen von Möchtegern-Corleone Fat Franny Duncan, der jede Art von Party mit seiner skurrilen Truppe beschallt. 
Bobbys Vater Harry, der nach einem Unfall in der Teppichfabrik als Hausmeister in der Schule arbeitet, macht ihn auf einen Aushang am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer aufmerksam, mit dem eine mobile Disco für eine private Party gesucht wird. Bobby und Joey nennen sich nach einem alten Soul-Klassiker Heatwave, leihen sich das nötige Equipment und müssen zunächst enttäuscht miterleben, wie ihre ersten Tantiemen nicht in ihre eigenen Taschen wandern. 
Doch nach einem holprigen Start mischen Heatwave die lokale Partyszene dermaßen auf, dass der Geschäftsmann Mickey Martin den beiden Jungs anbietet, den geplanten Mega-Nachtclub-Komplex am Foregate zu bespielen. Doch das kann Fat Franny natürlich nicht zulassen… 
„Fat Franny war clever, und er hatte die zunehmend distanzierte Haltung eines consigliere in den letzten Monaten durchaus bemerkt. Genau genommen hatte er sie sogar ganz oben auf die Liste von Gründen gesetzt, weshalb das Geschäft momentan nicht lief. Michael Corleone hätte ihn schon vor Wochen beseitigen lassen, aber der Don würde eine derart heikle Situation subtiler lösen.“ (S. 188) 
Mit „Schottendisco“ ist dem in Glasgow geborenen David F. Ross ein höchst unterhaltsames Romandebüt gelungen, das zwar vor allem die Musikszene Anfang der 1980er abfeiert (im Anhang findet sich eine Liste von knapp zwanzig Songs, die den Roman inspiriert haben, darunter „Heat Wave“ von The Jam, „Good Times“ von Chic, „Plan B“ von den Dexy’s Midnight Runners und „Don’t You Want Me“ von The Human League), aber bei den humorvoll inszenierten Bemühungen der beiden Protagonisten Bobby und Joey nicht vergisst, in welch desaströs-bedrückender politischer Atmosphäre die Handlung platziert ist. Dazu dienen Ross immer wieder eingestreute Thatcher-Zitate vor allem zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges, in den auch Bobbys Bruder Gary involviert wird, der sich aus Frust vor der Perspektivlosigkeit in seinem Leben zum Militärdienst gemeldet hat. 
Dieser Nebenstrang führt vor allem die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich und des Falkland-Konflikts im Besonderen vor Augen, erfährt aber eine wenig gelungene Auflösung. Da gibt das Tauziehen zwischen den aufstrebenden Heatwave-Jungs und dem alteingesessenen Fat Franny schon weitaus mehr Unterhaltungswert her, vor allem weil Ross seinen temporeichen Plot mit viel Liebe zum Detail entwickelt und den Zeitgeist zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung authentisch einfängt.

Hanns-Josef Ortheil – „Das Kind, das nicht fragte“

Samstag, 26. Oktober 2024

(btb, 432 S., Tb.) 
Der 1951 in Köln geborene Hanns-Josef Ortheil ist dafür bekannt, dass seine Romane stark autobiografisch geprägt sind. Das kommt vor allem in seinem 2012 veröffentlichten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ zum Ausdruck. Ortheil musste als jüngster von fünf Söhnen nicht nur den Tod seiner Eltern innerhalb von acht Jahren verkraften, sondern auch seiner Brüder, die während des Zweiten Weltkriegs und danach gestorben waren. Während die Mutter durch den Verlust ihrer Kinder ihre Sprache verlor, fand der jüngste Ortheil sie erst im Alter von sieben Jahren. Eine ganz ähnliche Biografie weist Ortheils Ich-Erzähler in „Das Kind, das nicht fragte“ auf. 
Der in Köln lebende Ethnologe Dr. Benjamin Merz fliegt im April nach Catania, um in Mandlica an einem Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ zu arbeiten. Er mietet sich in eine Pension ein, die von Maria geführt wird. Sie ist, wie Merz bald erfährt, vor fünfzehn Jahren mit ihrer Schwester Paula aus Bayern während einer Ferienreise nach Sizilien gekommen und geblieben, nachdem sich Paula in Lucio verliebt hatte. Die geplante Hochzeit kam jedoch nicht zustande, stattdessen heiratete Maria den Restaurantbesitzer, doch gehen sie mittlerweile ebenso getrennte Wege. Während Marias Aktivitäten ganz auf den Pensionsbetrieb beschränkt sind, hilft Paula im Restaurant, das zur Pension gehört, aus und arbeitet als Übersetzerin. 
Im Gegensatz zur scheu wirkenden Paula zeigt sich Maria jedoch als äußerst mitteilsam. Sie vermittelt ebenso die ersten Kontakte für Merz‘ ethnologischen Forschungen wie der Buchhändler Alberto. Mit seiner Fähigkeit, zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und viele Dinge zu ahnen, die zuvor ungesagt blieben, macht Merz in der Stadt auf sich aufmerksam, bis auch Bürgermeister Enrico Bonni bei einem Gespräch im Rathaus den Ethnologen bittet, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Mittlerweile hat Merz auch Paula näher kennengelernt und sich in sie verliebt. 
 „Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!“ (S. 165) 
Doch dann ist da auch noch Adrianna, die ebenso intelligente wie attraktive und selbstbewusste Tochter des Bürgermeisters, die Merz den Kopf verdreht… 
Ist einem die Biografie von Hanns-Josef Ortheil vertraut, kommt man nicht umhin, „Das Kind, das nicht fragte“ als Vergangenheitsbewältigung, als Familientherapie mit einem Hollywood-mäßigen Happy End zu begreifen. Indem der Autor seinen Protagonisten in das Sehnsuchtsland Italien reisen und ins Gespräch mit den Einwohnern einer sizilianischen Hochburg der Dolci-Produktion kommen lässt, macht die Figur einen erstaunlichen Entwicklungsprozess durch. 
Nachdem Merz als kleiner Junge erst durch die angeleitete Zwiesprache mit dem Herrn in der Kirche angefangen hatte, Fragen zu stellen und ein Verständnis für die Welt zu entwickeln, wird in der fiktiven Stadt Mandlica aus dem versierten Fragesteller und Beobachter selbst ein Erzähler des eigenen Lebens, aber bis dahin müssen natürlich einige Hürden genommen werden. 
Am interessantesten stellt sich schnell die Dreiecksgeschichte zwischen Maria, ihrer Schwester Paula und dem Restaurantbesitzer Lucio heraus, und der Ethnologe macht zunächst nicht den Eindruck, als würde er dieser Konstellation eine zusätzliche Dynamik verleihen können. 
„Das Kind, das nicht fragte“ präsentiert sich als leichter Feel-Good-Roman, überzeugt vor allem in der Darstellung des sizilianischen Alltagslebens und als Lehrbuch zur Ethnologie, weniger als Liebesroman. Vor allem die Episode mit Adrianna wirkt überzogen und wenig glaubwürdig, doch als selbsttherapeutischer Ansatz erfüllt der Roman sicher seinen Zweck. 

Don Winslow – „Die Sprache des Feuers“

Dienstag, 15. Oktober 2024

(Suhrkamp, 420 S., Pb.) 
Mit seinen Romanen um die Drogendealer Ben und Chon („Zeit des Zorns“, „Kings of Cool“) sowie die monumentale Reihe um den US-Drogenfahnder Art Keller (u.a. „Tage der Toten“, „Das Kartell“) hat Don Winslow nicht nur die internationalen Bestseller-Listen erobert, sondern durfte sich u.a. auch über den „Deutschen Krimi Preis 2011“ freuen. Mittlerweile hat Winslow eine Vielzahl weiterer – auch verfilmte - Einzelromane und Reihen veröffentlicht, mit denen er seine Meisterschaft, spannende Geschichten zu erzählen, immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Dazu zählt auch der im Original 1999 veröffentlichte Thriller „Die Sprache des Feuers“
Da keine Stellen im Morddezernat vom Orange County Sheriff Department frei waren, hat Jack Wade eine steile Karriere in der Abteilung für Brandstiftung gemacht und mit der attraktiven Kollegin Letty del Rio auch in der Beziehung das große Los gezogen. Doch der offensichtlich vorsätzlich gelegte Brand des Teppichlagers von Kazzy Azmekian wird Wade zum Verhängnis, weil er sich in Ermittlungen gegen die Russenmafia einmischt und sowohl Job als auch Freundin verliert. 
Nun wird er als Brandermittler der Versicherung California Fire & Life zu einem abgebrannten Haus geschickt, bei dem die Überreste der 34-jährigen Pamela Vale von den Sprungfedern ihres Bettes gekratzt werden müssen. Während sein Kollege Brian Bentley schnell dabei ist, den Brand als Unfall zu deklarieren, der durch den Wodka-Konsum der vermeintlichen Alkoholikerin und eine brennende Zigarette verursacht wurde, nimmt Wade das Haus näher in Augenschein und stößt nicht nur auf verschiedene Brandherde, sondern auch ein schlagkräftiges Motiv: Pamelas Mann Nicky, einst mit seinen Immobiliengeschäften der große Zampano im angesagten Dana Strands, steckt mächtig in den Miesen. Das überversicherte Haus mit dem wertvollen, antiquarischen Inventar würde ihm bei einer Schadensregulierung zu seinen Gunsten den Arsch retten. 
Doch egal, wie sehr Jack Wade sich zu beweisen bemüht, Vale den Mord an seiner Frau anzuhängen, scheinen alle daran interessiert zu sein, den Schaden zu regulieren. Es geht schließlich um Versicherungsprämien und den wachsenden Einfluss der Russenmafia. Der Brandermittler hat jedoch vor allem im Sinn, der ermordeten Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Tathergang überzeugend zu rekonstruieren: 
„Das Feuer schreibt seine Chronik selbst. Es ist so verdammt stolz auf sich, denkt Jack, dass es gleich anfängt zu reden, dir alles erzählt, was passiert ist. Deshalb steht Jack gleich am nächsten Morgen im Schlafzimmer der Vales. In diesem schwarzen Loch, wo es passierte, und er bleibt still stehen, um das Flüstern des Feuers zu hören. Na los, flüstert es, du bist doch so schlau. Lies mich. Ich habe dir alles aufgeschrieben, aber du musst meine Sprache verstehen.“ (S. 139) 
Mit wenigen kurzen Kapiteln versteht es Winslow, sein Publikum gleich zu Beginn in eine verzwickte Story hineinzuziehen, in der es natürlich um weit mehr geht, als nur einen Brand mit Todesfolge aufzuklären. Winslow hat mit Jack Wade einen sympathischen Protagonisten geschaffen, der mit viel Enthusiasmus „die Sprache des Feuers“ versteht, wobei ihm sein strenger Sinn der Wahrheitsfindung das Genick zu brechen droht, wie es ihm in der Vergangenheit bereits einige Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Winslow macht sich dabei sogar die Mühe, die Gesetzmäßigkeiten des Feuers haargenau und plastisch zu erläutern, ohne einen wissenschaftlichen Diskurs zu veranstalten. 
Vor allem gelingt es ihm in der Folge, in parallel verlaufenden Handlungssträngen und erhellenden Rückblicken das Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, juristischen Fallstricken und mafiösen Strukturen gerade die Elemente herauszuarbeiten, die der Story den besonderen Pfiff verleihen und die Spannung sukzessive zu erhöhen. 
Die leicht verständliche, pointierte Sprache, die kurzen, stakkatoartig aneinandergereihten Sätze, die messerscharfen Dialoge und der kompromisslos harte Plot machen „Die Sprache des Feuers“ zu einem rasanten, fesselnden und temporeichen Thriller der Extraklasse.


Robert Ludlum – (Jason Bourne: 1) „Die Bourne Identität“

Freitag, 11. Oktober 2024

(Heyne, 640 S., Tb.) 
Als Doug Liman im Jahr 2002 „Die Bourne Identität“ mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen verfilmte, war noch nicht abzusehen, dass er mit dem virtuos inszenierten Spektakel den Maßstab für das Action-Kino neu definierte und damit auch eine realistischere Ausrichtung des vergleichbaren James-Bond-Franchises bewirken sollte. Kaum vorstellbar war auch die Tatsache, dass „Die Bourne Identität“ auf einem Thriller beruht, den der 2001 verstorbene Genre-Spezialist Robert Ludlum bereits 1980 veröffentlicht hatte. 1988 verfilmte bereits Roger Young den Roman als Fernseh-Zweiteiler mit Richard Chamberlain und Jocelyn Smith in den Hauptrollen, wobei er sich weit enger an die Romanvorlage hielt als Liman 14 Jahre später. 
Kurz vor der französischen Küste bei Ile de Port Noir wird ein schwer verletzter Mann durch die Besatzung eines Fischerbootes geborgen und zu einem englischen Arzt auf die Insel gebracht. Geoffrey Washburn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen ungewöhnlichen Patienten, versorgt seine Schusswunden und entdeckt dabei ein Stück Zelluloid, das dem Mann unter die Haut an der rechten Hüfte eingesetzt worden war. Die Daten eines Nummernkontos bei der Gemeinschaftsbank in Zürich sind jedoch der einzige Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich an nichts vor seinem folgenschweren „Unfall“ erinnern kann, schon gar nicht an seinen Namen. 
Nach seiner Genesung lässt sich der Mann, der sich Jean-Pierre nennt, mit einem gefälschten Pass versorgen und nach Marseille bringen, um von dort nach Zürich zu fliegen, wo er in dem Schließfach der Bank nicht nur ein Guthaben von mehr als fünf Millionen Dollar und den Verweis auf eine Firma namens Treadstone Seventy-One vorfindet, sondern auch seinen Namen: James Charles Bourne! Doch noch bevor Bourne die Bank verlassen kann, wird er von Wachmännern attackiert. Bourne kann jedoch fliehen und sich in einem Hotel verstecken. Dort kidnappt er die kanadische Volkswirtschaftlerin Dr. Marie St. Jacques. 
Anfangs sträubt sich die Regierungsbeamte, Bourne bei seiner Flucht zu unterstützen, doch als sich ihre Wege trennen und Bourne sie später von ihrem Vergewaltiger befreit, verlieben sich die beiden und gehen gemeinsam den Hinweisen nach, die aufklären sollen, wer Jason Bourne wirklich ist. Dabei gibt es nicht nur Verbindungen zu einem weltweit operierenden Auftragskiller namens Cain, sondern dem allseits gefürchteten Killer Carlos, dessen Rang Cain offensichtlich ablaufen will. Die US-amerikanischen Geheimdienste sind mehr als beunruhigt über die Entwicklungen in Zürich und Paris, sehen jedoch eine Chance, Cain zu Carlos zu führen und damit beide unliebsamen Killer auf einen Schlag zu eliminieren. Bourne ist sich bewusst, dass er seine weiteren Schritte ohne seine Geliebte würde unternehmen müssen… 
„Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen – ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wusste, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage – wie er das vermutet hatte.“ (S. 311) 
Mit seinem ersten „Bourne“-Roman hat Ludlum einen modernen Klassiker des Agenten-Thrillers geschaffen, der allerdings nur das Grundgerüst für die 22 Jahre spätere Verfilmung durch Doug Liman bildet. Während Liman und seine Drehbuchautoren Tony Gilroy und William Blake Herron den Fokus auf die spektakulär inszenierte Nahkampf-Action, exotische Drehorte und eine zwingende Verschlankung des Plots und Figurenarsenals gelegt haben, hat sich Ludlum in „Die Bourne Identität“ ganz auf das Verwirrspiel der verschiedenen US-amerikanischen Abwehrdienste, die Jagd auf den internationalen Auftragsmörder Carlos (der in der Verfilmung überhaupt nicht vorkommt) und Jason Bournes Suche nach seiner wahren Identität konzentriert. 
Die Liebesbeziehung zwischen Bourne und Marie (die im Gegensatz zur naiv wirkenden Figur in der Verfilmung als aufgeweckte Wissenschaftlerin auf Augenhöhe mit Bourne agiert) ist Ludlum nicht unbedingt glaubwürdig gelungen, dafür bietet die Geschichte eines Agenten, der nur in bruchstückhaften Erinnerungen eine Idee von seiner wahren Natur vermittelt bekommt, genügend Stoff für häufige Ortswechsel, ein irgendwann unüberschaubares Figurenarsenal und moderate Action. 
Und die Auflösung hält ganz bewusst die Möglichkeit für weitere Fortsetzungen offen, die allerdings noch weniger mit den ebenfalls nachfolgenden Verfilmungen zu tun haben. 

Ray Bradbury – „Familientreffen“

Samstag, 5. Oktober 2024

(Diogenes, 228 S., Tb.) 
Mit – oft erfolgreich verfilmten – Romanen und Geschichten wie „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und natürlich „Fahrenheit 451“ zählt der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) zu den großen Schriftstellern der fantastischen Literatur, fühlte er sich doch gleichermaßen in den Genres des Kriminalromans, der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors zuhause. Ein frühes Beispiel seiner Erzählkunst bot der 1947 veröffentlichte und längst vergriffene Sammelband „Dark Carnival“, der Geschichten aus den Jahren 1943 bis 1947 vereinte. 1955 erschien mit „The October Country“ ein Band, der knapp die Hälfte der insgesamt 27 Stories aus „Dark Carnival“ in teils überarbeiteter Form zusammenfasste und um vier neue Geschichten erweitert wurde. Bradbury entführt seine Leser mit „Familientreffen“ - so der deutsche Titel - in Grenzbereiche der menschlichen Vorstellungskraft und macht uns mit Zirkusleuten, Vampiren und Schriftstellern mit Mordgelüsten vertraut. 
In „Der Zwerg“ besucht die titelgebende Figur allabendlich das Spiegelkabinett, wenn der Besucherandrang nicht mehr so stark ist, zahlt seine zehn Cent und rennt bis zum Langen Lulatsch durch. Doch dann treibt der Betreiber des Kabinetts einen makabren Scherz mit dem Zwerg… 
George Garvey hat zwar eine attraktive Frau, wird aber von seiner Umgebung als der langweiligste Typ überhaupt betrachtet. Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Garvey einen Besuch abzustatten, sich über Musik und Bücher auszutauschen, zu denen er nichts beitragen kann, und sich anschließend, als sie wieder unter sich sind, über den Mann herzuziehen, der offenbar Millionen Wege kennt, einen zu lähmen, in Tiefschlaf oder sogar ins Koma zu versetzen. Doch Garvey lässt die Schmach nicht auf sich sitzen, informiert sich und verblüfft seine Besucher durch sein überraschend profundes Wissen. Um seine Popularität aufrechtzuerhalten, sieht sich Garvey gezwungen, immer ausgefallenere Marotten zu entwickeln. Nachdem er eine abgetrennte Fingerspitze durch einen Fingerschutz eines Mandarins ersetzt hatte, plant er für den Verlust eines Auges einen besonderen Coup: „Der wachsame Poker-Chip von H. Matisse“ kann allerdings nicht verhindern, dass Garvey weiterhin ein Langweiler bleibt… 
„Das Skelett“ wiederum erzählt die Geschichte des Hypochonders Mr. Harris, dessen Hausarzt nichts gegen seine schmerzenden Knochen zu unternehmen vermag, weshalb der Mann Hilfe bei einem im Telefonbuch gelisteten Knochenspezialisten sucht. Mr. Munigant sieht das Problem psychischer Natur. Als Mr. Harris einen Ausflug nach Phoenix unternimmt, verschlimmern sich allerdings seine Schmerzen… 
In „Der Bote“ dient Dog für den zehnjährigen, durch eine Krankheit ans Bett gefesselte Martin die Verbindung zur Außenwelt. Über eine Mitteilung am Halsband des Hundes hofft der Junge auf Besuch. Meist ist es Miss Haight, die ihm kleine Törtchen und Bücher über Dinosaurier und Höhlenmenschen mitbringt und Domino, Dame oder Schach mit ihm spielt. Eines Tages kehrt Dog allerdings nicht mehr von seinen Ausflügen nach Hause zurück… 
„Noch lange nach Mitternacht lag Martin da und schaute hinaus auf die Welt draußen vor den kühlen, klaren Fensterscheiben. Jetzt war nicht einmal mehr Herbst, denn es war kein Dog da, um ihn ins Zimmer zu holen. Es würde keinen Winter geben, denn wer könnte Schnee anbringen, der dann in seinen Händen schmolz? Vater, Mutter? Nein, das war nicht dasselbe. Sie konnten nicht mitspielen, dieses Spiel mit den besonderen Regeln und Geheimnissen, mit seinen Geräuschen und Gesten. Keine Jahreszeiten mehr. Die Zeit würde stehenbleiben. Der Vermittler, der Bote, war im wilden Gedränge der Zivilisation verlorengegangen, vergiftet, gestohlen, unter ein Auto geraten, verendet in einem Kanalisationsschacht…“ (S. 108) 
Ray Bradbury vermag mehr, als nur ins Reich der Fantasie abzudriften und unmögliche Geschichten mit skurrilen Figuren zu erzählen, denn im Grunde genommen stecken hinter den Menschen und (sehr menschlich wirkenden) Fabelwesen ganz gewöhnliche Sehnsüchte, Ängste und Begierden, der Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Auch wenn nicht alle hier versammelten Geschichten zu fesseln vermögen, sind doch schon die spätere Meisterschaft und die sprachliche Brillanz des Autors zu erkennen, der „Familientreffen“ August Derleth, dem Schriftsteller und Verleger von Lovecrafts Werk, gewidmet hat, einem weiteren einflussreichen Wegbereiter der fantastischen Literatur.