Christian Schünemann – „Bis die Sonne scheint“

Donnerstag, 27. Februar 2025

(Diogenes, 252 S., HC)
Der 1968 in Bremen geborene Christian Schünemann ist bislang durch seine bei Diogenes veröffentlichte Krimiserie um den Starfrisör Tomas Prinz sowie die zusammen mit Jelena Volič verfassten Kriminalromane um die serbische Amateurdetektivin Milena Lukin bekannt geworden. Nun wagt er sich mit seinem neuen Buch „Bis die Sonne scheint“ an einen melancholisch-heiteren Familienroman.
Für Daniel Hormann ist 1983 noch alles in Ordnung, wie er der Postbeamtin Frau Pieper am Schalter bestätigt. Noch träumt er davon, dass er seine Konfirmation mit blauem Samtsakko und grauer Flanellhose begehen darf und mit reichlich Bargeldgeschenken beehrt wird. Doch dann hört er eines Abends ein Gespräch seiner Eltern mit und erfährt, dass die Lage mehr als ernst ist. Nicht nur, dass das Wasser durch das Dach des eigenen Bungalows tropft, auch das Konto ist leer. Dabei hat sich Daniels Vater Siegfried erfolgreich von einem angestellten technischen Zeichner bei der Stadt zu einem Firmengründer für das Entwickeln von Häusern im Selbstbau-Verfahren gemausert. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise mit ungünstigen Zinsen geht die Nachfrage nach Hormann Massivhäusern so stark zurück, dass Daniels Vater sich als Vertreter von Wasserfiltern versucht und seine Mutter Marlene einen Wollladen in der Einkaufspassage eröffnet. Davon dürfen die Großeltern Lydia und Henriette natürlich nichts erfahren, der Schein muss um jeden Preis gewahrt bleiben. Dass Geld, das durch die Vertreter-Provisionen und Marlenes Laden reinkommt, wird aber nicht etwa verwendet, um den Gerichtsvollzieher zu besänftigen und die Schulden zu begleichen, sondern um es sich mit der ganzen sechsköpfigen Familie mal richtig gutgehen zu lassen, sei es in schicken Restaurants oder bei spontanen Kurztrips in die Sonne…

„An der B6 sah ich meinen Vater im Auto, wie er in unseren Weg einbog. Ein Familienvater, der von der Arbeit kam, während meine Mutter auf dem Sofa Pullover strickte. Ein schönes, friedliches Bild. In Wirklichkeit hatte mein Vater nur unnötig Benzin verfahren und Wasserfilter angepriesen, die kein Mensch haben wollte, während meine Mutter die Nadeln heißlaufen ließ, weil wir Bargeld für den nächsten Einkauf brauchten.“ (S. 185)

Wie der Autor in seinem interessanten Nachwort beschreibt, kam Christian Schünemann die Idee zu „Bis die Sonne scheint“ nach einem Besuch bei seiner Tante in einem Vorort von Chicago, wo er sich Kopien von dem umfassenden Briefwechsel zwischen ihr und seiner Mutter machte. So setzte sich eine Familiengeschichte zusammen, die teils anders erzählt worden ist, als Schünemann sich erinnerte, was ihn zu der Erkenntnis brachte, dass jeder seine eigenen Erinnerungen und seine eigene Wahrnehmung habe. Von diesem Eindruck lebt dieser Roman, mit dem Schünemann die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. 
Was zunächst wie eine Coming-of-Age-Geschichte des pubertierenden Ich-Erzählers anmutet, entwickelt sich schnell zu einer zumindest zeitlich umfassenden Familienchronik, die bis zum Kennenlernen von Siegfrieds Eltern zurückreicht, die Kriegszeiten und die Jahre des Wiederaufbaus berücksichtigt, die mühsame Gründung einer Familie mit gesichertem Einkommen mit den Einkünften als Beamter und Buchhalterin ebenso wie der dann doch rapide anmutende wirtschaftliche Abstieg, von dem niemand etwas mitbekommen soll.
Das ist wunderbar flüssig und mit augenzwinkerndem Humor geschrieben, doch werden auf den gerade mal 250 Seiten so viele Figuren vorgestellt und so oft zwischen den Epochen gewechselt, dass eine tiefere Verbundenheit mit den Hormanns kaum aufkommt, was der Sympathie für die unternehmungslustige und einfallsreiche Familie keinen Abbruch tut. Doch Daniels Geschwister beispielsweise werden kaum mit einem Wort erwähnt, das Skizzieren der Familienchronik gewinnt mehr Bedeutung als die Beschreibung der innerfamiliären Beziehungen. Entweder hätte der Autor seinen Figuren mehr Raum zur Entfaltung verleihen oder das Figurenarsenal beschränken müssen, um einen nachhaltigen Lesegenuss zu gewährleisten.

Takis Würger – „Für Polina“

Mittwoch, 26. Februar 2025

(Diogenes, 296 S., HC)
Der 1985 in Hohenhameln geborene Takis Würger hat nach seiner journalistischen Ausbildung u.a. für den Spiegel viel aus dem Ausland berichtet und wurde 2010 vom Medium Magazin als einer der „Top 30 Journalisten unter 30“ ausgezeichnet. Auch mit seinem ersten, 2017 bei Kein & Aber veröffentlichten Roman „Der Club“ ließ Würger aufhorchen. Nun legt der Autor nach „Stella“, „Noah. Von einem, der überlebte“ und „Unschuld“ mit „Für Polina“ sein Diogenes-Debüt vor.
In den Sommerferien vor ihrem Abitur reist Fritzi Prager mit Regionalzügen und per Anhalter ins italienische Lucca, wo sie in günstiges Zimmer in einer Pension bezieht und im Schatten der alten Stadtmauer ihre mitgebrachten Bücher liest. Sie genießt die Spaziergänge durch die Gassen, das italienische Essen und die Tatsache, allein zu sein, was sie nicht abhält, sich in die Leben anderer Menschen hineinzuträumen. Sie lernt einen Hamburger Natursteinhändler kennen und wird von ihm schwanger, was ihre weiteren Lebenspläne durchkreuzt. Statt Jura in München zu studieren, wofür sie als Jahrgangsbeste bereits eine Zusage hat, wird sie nun Mutter eines kleinen, speckigen Jungen mit blonden Haaren. Sie lernt Güneş kennen, die neben ihr auf der Entbindungsstation liegt und ihre Tochter in Anlehnung an Dostojewskis Geliebte Polina genannt hat. 
Aus dieser Bekanntschaft entwickelt sich eine jahrelange Freundschaft. Fritzi bekommt durch Güneş einen Reinigungsjob in einer Netto-Filiale vermittelt und zieht in eine heruntergekommene Villa im Moor, wo der wortkarge Heinrich Hildebrand vor allem an Hannes einen Narren gefressen hat. Güneş und Fritzi sehen sich, wann immer es ihre Zeit erlaubt, und so verbringen auch Polina und Hannes bis in ihre Teenagerjahre viel Zeit miteinander. Obwohl sich die beiden Teenager ineinander verlieben und später miteinander schlafen, steht ihre Beziehung unter keinem guten Stern. 
Durch Missverständnisse und Versäumnisse verlieren sie sich sogar völlig aus den Augen - bis Hannes, der seinen Lebensunterhalt bei einem Hamburger Transportunternehmen für Klaviere verdient, auf einem der Instrumente, das er mit seinem Kollegen Bosch von einer Wohnung in die andere zu bringen hat, mitten in der Innenstadt eine herzzerreißende Melodie spielt und das Video von der unorthodoxen Darbietung viral geht…

„Hannes spielte, und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht. Die Besucher des kleinen italienischen Nudelrestaurants auf der anderen Straßenseite verstummten, erst verdutzt, dann ergriffen. Due Studentinnen auf dem Weg ins Philosophieseminar verlangsamten ihre Schritte, kamen näher und blieben stehen. Die Kellner vergaßen ihre Bestellungen, die Babys in ihren Kinderwagen lauschten. Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch. Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“ (S. 222)

Takis Würgers „Für Polina“ ist ebenso ein Coming-of-Age- wie Liebesroman. Auf der überschaubaren Länge von nicht mal 300 Seiten entfaltet der in Leipzig lebende Autor eine berührende, selten die Grenze zum Kitsch streifende Geschichte einer problematischen Liebesbeziehung, deren Dramatik sich vor allem aus der Ungewissheit speist, wo sich Polina überhaupt befindet. Die mehr oder weniger aktiv betriebene Suche nach Polina wird durch allerlei Krisen zurückgeworfen, aber auch durch Hannes‘ Weigerung, seinem Kompositionstalent eine Chance zu geben. Würger gelingt es, seinen allesamt irgendwie sympathischen, eigenwilligen Figuren auf wenigen Seiten Charakter zu verleihen, und vor allem zwischen Bosch und Hannes, aber auch zwischen Heinrich und Hannes entwickeln sich prägende Freundschaften fürs Leben. Dadurch wird der melancholischen Geschichte nicht nur Humor, sondern auch Zuversicht verliehen.
Die stärksten Momente weist „Für Polina“ in der einfühlsamen, bildreichen Sprache und den leisen Tönen auf, mit denen Würger vor allem die Empfindungen durch das Spielen und Komponieren klassischer Musik beschreibt, aber auch die Sehnsüchte Liebender, die einander unerreichbar fern erscheinen. Da sind märchenhafte Zuspitzungen wie Hannes‘ Karriere eigentlich völlig unnötig. Dafür hätten feinere Einsichten in Hannes‘ Gefühlsleben die Intensität der Geschichte vielleicht noch verstärkt. Aber auch von diesen kleinen Schwächen abgesehen ist „Für Polina“ eine zauberhafte kleine Geschichte über den Wert wahrer Freundschaften und die Kraft der Liebe – vor allem auch zur Musik – geworden.

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 10) „Sein letzter Fall“

Mittwoch, 5. Februar 2025

(btb, 537 S., HC)
Seit Anfang der 1990er Jahre hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser mit dem in der fiktiven nordeuropäischen Stadt Maardam wirkenden Hauptkommissar Van Veeteren eine Kultfigur des Skandinavien-Krimis geschaffen, die ähnlich beliebt zu sein scheint wie Henning Mankells Kommissar Wallander. 2003 legte Nesser mit „Sein letzter Fall“ den vorerst letzten Band der Reihe vor, ehe er Van Veeteren fünfzehn Jahre später für den Roman „Der Verein der Linkshänder“ wieder reaktivierte.
Im Jahre 1987 wird der Privatdetektiv Maarten Verlangen von der Amerikanerin Barbara Hennan damit beauftragt, ihren Mann Jaan G. Hennan zu observieren. Ins Detail geht die Frau, die erst vor ein paar Monaten mit ihrem Mann aus den USA nach Linden gezogen ist, nicht. Für Verlangen ist „G.“ kein Unbekannter, hat er ihn 1975, als er noch Polizist war, doch hinter Schloss und Riegel gebracht. Als Verlangen seinem Zielobjekt in eine Kneipe folgt, wird er von „G.“ angesprochen und als der Polizist wiedererkannt, der ihn damals festgenommen hatte. Doch von Feindseligkeit keine Spur. Stattdessen kippt er mit dem ehemaligen Polizisten Whisky, Cognac und Bier an der Theke, bis er angetrunken in sein Hotelzimmer torkelt. Am Tag darauf meldet Jaan G. Hennan, dass er am Morgen seine Frau tot im Swimmingpool aufgefunden habe. Offensichtlich hat sie nicht gemerkt, dass ihr Mann am Tag zuvor das Wasser aus dem Pool gelassen hatte. 
Als Van Veeteren, der damals noch mit seiner Frau Renate verheiratet gewesen war, mit dem Fall betraut wird, kann er gegen das wasserdichte Alibi, das Hennan zum Todeszeitpunkt vorweist, nichts ausrichten, obwohl er wie seine Kollegen felsenfest davon überzeugt ist, dass Hennan seine Frau umgebracht hat, um die 1,2 Millionen Gulden aus der Lebensversicherung zu kassieren, die er erst kürzlich abgeschlossen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass Hennan diese Nummer offensichtlich schon mit seiner vorherigen Frau abgezogen hat. Da aber keine Beweise für ein Verbrechen vorliegen, wird Hennan vor Gericht freigesprochen… 
Fünfzehn Jahre später ist Van Veeteren nicht nur geschieden, sondern auch pensioniert und in einem Buchantiquariat beschäftigt. Eines Tages bekommt er Besuch von einer Frau, die ihren Vater Maarten Verlangen als vermisst gemeldet hat und von Kommissar Münster zu ihm geschickt worden ist. Die einzige Spur zu ihm befindet sich auf einem Zettel mit den Zahlen „14.42“ und der Zeile „G. Verdammt noch mal, jetzt aber“. Tatsächlich wird die Leiche des Privatdetektivs wenig später in einem Wald entdeckt, und Van Veeteren und seine Kollegen machen sich erneut auf die Jagd nach Jaan G. Hennan…
„Das also ist mein letzter Fall, dachte er plötzlich. Mein unwiderruflich letzter Fall. In dem Geschäft, das mein Leben bestimmt hat. Der Mörderjagd. Er musste zugeben, dass der Gedanke stimmte. Unabhängig vom Resultat. Unabhängig davon, ob sie G. auf Grund der vagen Spur finden würden, die Verlangen hinterlassen hatte, oder nicht. Unabhängig davon, ob sie überhaupt etwas erreichen würden. So sah es nun einmal aus. Sein letzter Fall.“ (S. 395)
Ebenso wie in Håkan Nessers früheren Werken dient auch die Krimihandlung in „Sein letzter Fall“ vor allem dazu, die Befindlichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen und die Gemütszustände der Protagonisten zu erforschen. Nesser nimmt sich viel Zeit, um die Figuren einzuführen, um auch Van-Veeteren-Neulinge mit dem Wesen und der Biografie des (ehemaligen) Hauptkommissars vertraut zu machen. Doch auch in der Folge bleibt das Erzähltempo mehr als verhalten. 
Im Vergleich zur US-amerikanischen Spannungsliteratur erlaubt sich Nesser auch fast nichtssagende Dialoge, die wenig mit der Auflösung des Falls zu tun haben, aber ein Gefühl für die Personen vermitteln. Das liest einerseits angenehm erfrischend und macht die Romanfiguren sehr menschlich, doch bei über 500 Seiten führt dieser Schreibstil auch schon mal zur Ermüdung der Aufmerksamkeit, die am Ende sogar einem Stirnrunzeln weicht, wenn Nesser den Kriminalfall etwas arg konstruiert und unglaubwürdig enden lässt.