Robert McCammon – (Matthew Corbett: 1) „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“ - Band I & II

Samstag, 22. November 2025

(Luzifer, 514 + 432 S., HC)
In den 1980er Jahren zählte Robert R. McCammon mit Romanen wie „Baal“, „Höllenritt“, „Wandernde Seelen“, „Nach dem Ende der Welt“ und „Botin des Schreckens“ noch zu den populäreren Vertretern des von Stephen King, Dean Koontz, Peter Straub, James Herbert, Clive Barker und Ramsey Campbell geprägten Horror-Genres, doch fühlte er sich zunehmend in seiner schriftstellerischen Freiheit eingeschränkt, weshalb er nach den beiden Thrillern „Durchgedreht“ und „Unschuld und Unheil“ eine langjährige Pause einlegte. Anfang der 2000er Jahre legte McCammon mit dem ersten Band um den jungen Gerichtsdiener und Hobby-Ermittler Matthew Corbett ein ebenso bemerkenswertes wie umfangreiches Comeback hin, denn die deutsche Ausgabe von „Speaks the Nightbird“ erschien im Luzifer Verlag in zwei Bänden: „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“.
Der fahrende Friedensrichter Isaac Woodward und sein zwanzigjähriger Gerichtsdiener Matthew Corbett, den er vor einigen Jahren in einem Waisenhaus aufgelesen hat, machen sich 1699 von Charles Town, Carolina, auf den beschwerlichen Weg nach Fount Royal, um einer mutmaßlichen Hexe den Prozess zu machen, nachdem der zuvor mit der Aufgabe betraute Richter Kingsbury sein Ziel nie erreicht hatte. Als sie unterwegs bei unwirtlichem Wetter eine Herberge finden, währt die Erleichterung nur kurz, denn der habgierige Wirt Shawcombe entwendet nicht nur Woodwards innig geliebte goldbestickte Weste, die sein einziges Andenken an seine in England verbliebene Ex-Frau Ann gewesen ist, sondern macht sich auch mit dem Rest der Habseligkeiten seiner Gäste aus dem Staub. Als Matthew im nahegelegenen Wald die Überreste eines menschlichen Skeletts entdeckt, ahnt er, dass sein Vormund und er selbst nur knapp einem ähnlichen Schicksal wie Richter Kingsbury entgangen sind. Als sie in endlich in Fount Royal ankommen, werden sie in ihrer verwahrlosten Erscheinung zunächst für Bettler gehalten, ehe sie beim wohlhabenden Gründer der Stadt, dem 47-jährigen Robert Bidwell, unterkommen. Er ist wie viele andere Bewohner der unglückseligen Stadt darauf erpicht, dass die inhaftierte Rachel Howarth möglichst schnell auf dem Scheiterhaufen verbrennt, bevor sie noch mehr Unheil in der Stadt anrichtet. Ihr wird nicht nur vorgeworfen, ihren Mann ermordet zu haben, sondern etliche Zeugen wollen auch beobachtet haben, wie die 26-jährige Schönheit mit portugiesischen Wurzeln Unzucht mit dem Teufel trieb. Der Richter wird jedoch bald von einem schrecklichen Fieber ergriffen, das Dr. Shields nicht so recht in den Griff bekommt, und Matthew wird des Hausfriedensbruchs angeklagt, nachdem er einen Jutesack in der Scheune des Schmieds untersuchen wollte. Die dreitägige Gefängnisstrafe nutzt er nicht nur, um die Aussagen der Zeugen für den angeschlagenen Richter zu protokollieren, sondern sich näher mit der intelligenten und selbstbewussten Mitgefangenen zu beschäftigen. Während der Richter ebenso wie die Bewohner von Fount Royal schon dazu neigt, Rachel Howarth zu verurteilen, stellen sich Matthew noch viele Fragen…

„Also, war sie eine Hexe oder nicht? Obwohl Matthew diverse gelehrte Werke gelesen hatte, in denen Hexerei mit Geistesgestörtheit, Dummheit oder ganz einfach boshaften Beschuldigungen erklärt wurde, konnte er es beim besten Willen nicht sagen. Und das machte ihm mehr Angst als alle Zeugenaussagen, die er gehört hatte. Aber sie ist so schön, dachte er. So schön und so allein. Wie konnte der Teufel eine solch schöne Frau durch Menschenhand sterben lassen, wenn sie ihm tatsächlich diente? Über Fount Royal grollte der Donner. Regen begann, an einem Dutzend mürber Stellen durch das Gefängnisdach zu tropfen. Matthew lag zusammengerollt in der Dunkelheit und kämpfte mit der zentralen Frage eines Geheimnisses, das von einem noch größeren Rätsel umgeben war.“ (S. 409)

So ganz hat Robert McCammon die Wurzeln seiner schriftstellerischen Karriere doch nicht verleugnen können, auch wenn der erste Band der Matthew-Corbett-Reihe eher als historischer Mystery-Krimi und Entwicklungsroman daherkommt. Der Autor nimmt sich viel Zeit, um das Leben in den britischen Kolonien anno 1699 zu beschreiben, das gesellschaftliche Gefüge ebenso wie die Gepflogenheiten, rassistischen Ressentiments und der besondere Umgang mit dem Glauben. Die Hexenprozesse von Salem finden hier ihren Niederschlag genauso wie heuchlerische Wanderprediger, die sich weniger um die Erlösung der Gefallenen scheren als um die eigene lasterhafte Bedürfnisbefriedigung. 
McCammon beschreibt dabei den in den Augen der Bewohner von Fount Royal verabscheuungswürdigen Verkehr der mutmaßlichen Hexe mit dem Teufel ebenso unverblümt wie sodomitische Praktiken. Die Spannung entwickelt sich dabei eher gemächlich, weil sich McCammon viel Zeit nimmt, die einzelnen Figuren sorgfältig einzuführen und die unterschiedlichen Auffassungen von Richter Woddward und seinem eigensinnigen Mündel darzulegen. Am Ende des ersten Bandes ist man zumindest überzeugt, dass Rachel Howarth unschuldig ist, aber noch muss Matthew Corbett beweisen, was die Zeugen, die auf die Bibel geschworen haben, zu ihren die junge Frau belastenden Aussagen bewogen hat.  
McCammon ist ein sprachlich sehr versierter literarischer Genre-Mix gelungen, der vor allem den titelgebenden Protagonisten nicht unverändert lässt. Man darf gespannt sein, wie der Autor die atmosphärisch dichte Geschichte fortführt und zum Ende kommen lässt. Der zweite Band vermag diese Spannung nicht bis zum Ende aufrechtzuerhalten, dafür verlegt McCammon die Handlung auch mal aus Fount Royal hinaus, um im Finale in bester Agatha-Christie-Manier die Morde in der eigentlich dem Untergang geweihten Stadt detailliert aufzuklären.

Robert R. McCammon – „Stadt des Untergangs“

Montag, 17. November 2025

(Knaur, 544 S., Tb.)
Eigentlich ist Robert McCammon mit Romanen wie „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“, „Nach dem Ende der Welt“ und „Das Haus Usher“ bekannt geworden und zumindest in zweiter Reihe nach den Stars der Horror-Szene wie Stephen King, Clive Barker, Peter Straub und Dean Koontz auch hierzulande geschätzt worden. Und irgendwann kam ihm – wie King, Barker und Straub – auch die Idee, sich im komprimierten Format der Kurzgeschichte auszuprobieren. „Stadt des Untergangs“ wartet mit insgesamt dreizehn Geschichten auf, von der die eröffnende, in der Originalausgabe titelgebende Story „Blue World“ mit gut 240 Seiten schon einem Kurzroman nahekommt und fast die Hälfte des Buches einnimmt. 
Darin macht der dreiunddreißigjährige Pfarrer John Lancaster im Beichtstuhl die Bekanntschaft der Porno-Darstellerin Debra Rocks, die ihre Trauer über den Mord an ihrer Freundin und Kollegin Janey alias Easee Breeze zum Ausdruck bringt. Der Pfarrer ist ebenso erregt wie verstört über dieses Bekenntnis und versucht, mehr über diese attraktive Frau mit der sinnlichen Stimme zu erfahren, leiht sich einige Filme mit Debra Rocks aus und ist fortan wie besessen von der Idee, diese Frau näher kennenzulernen. Als er in einem Supermarkt mit ihr zusammenstößt, begleitet er sie nach Hause und stellt sich ihr als Lucky vor. Er hat ihr nicht nur zu einem Gewinn in dem Supermarkt verholfen, sondern soll sie nun auch als Glücksbringer nach Hollywood begleiten, wo sie als seriöse Schauspielerin Fuß fassen will. Doch Lucky/John ist nicht der Einzige, der einen Narren an Debra gefressen hat, auch Janeys Mörder hat die Witterung aufgenommen…
In der sehr kurzen Titelgeschichte der deutschen Ausgabe wacht Brad nach einem Albtraum am Samstagmorgen auf und findet erst im Bett seiner Frau ein Skelett, dann die Stadt verlassen vor. „Des Teufels Wunschzettel“ stellt eine klassische Pakt-mit-dem-Teufel-Story dar, mit „Maske“ taucht McCammon in die klassische Universal-Horror-Ära der 1930er Jahre ein, um dann mit „Nacht ruft grünen Falken“ einen alternden Fernsehstar neuen Mut fassen lässt, als er sein altes Superhelden-Kostüm überstreift, um einen Serienkiller zu stoppen. Mit „Schattenjäger“ werden die Albträume eines Kriegsveteranen real, in „Das rote Haus“ kämpft der Ich-Erzähler gegen die Durchschnittlichkeit eines gewöhnlichen Lebens an…

„Und in diesem Moment dachte ich an Zahnräder. Millionen und Abermillionen von Zahnrädern, die auf diesem Fließband entlangliefen, alle haargenau gleich. Ich dachte an die Betonmauern in der Fabrik. Ich dachte an die Maschinen und ihren unablässigen, pochenden, verdammenden Rhythmus. Ich dachte an den Käfig aus grauen Schalbrettern, betrachtete das verängstigte Gesicht meines Dads in dem orangefarbenen Licht und erkannte, dass er Angst vor dem hatte, was außerhalb der grauen Schalbretter lag – Möglichkeiten, Alternativen, Leben. Er hatte eine Todesangst, und in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht der Sohn meines Vaters sein konnte.“ (S. 468)

Mit der Geschichtensammlung „Stadt des Untergangs“ beweist Robert McCammon, dass er nicht nur fesselnde Horrorromane schreiben kann, sondern das Grauen auch in kürzeren Formaten einzufangen versteht, von der klassisch knackigen Short Story bis zur atmosphärisch dichten Novelle. Die Ideen in dieser Sammlung mögen nicht alle besonders originell sein, dafür hat McCammon die sprachliche Virtuosität, um auch vertrautere Stoffe unterhaltsam zu vermitteln. 

 

Simon Beckett – (David Hunter: 3) „Leichenblässe“

Samstag, 15. November 2025

(Wunderlich, 416 S., HC)
Als Simon Beckett 2006 mit „Die Chemie des Todes“ den ersten Fall um den forensischen Anthropologen David Hunter präsentierte, sorgte schon die schlichte Cover-Gestaltung für Aufsehen, aber ein wenig sorgfältig konstruierte Thriller-Spannung gehörte natürlich auch dazu, um einen regelrechten Hype um den Roman zu entfesseln. Nach „Kalte Asche“ (2007) folgte 2009 mit „Leichenblässe“ bereits der dritte Band, doch allmählich machten sich erste Abnutzungserscheinungen bemerkbar.
Der forensische Anthropologe David Hunter leidet noch unter den – durch eine Narbe auch sichtbaren - Nachwirkungen eines Angriffs durch eine Serienmörderin, so dass sein alter Mentor Tom Lieberman es für eine gute Idee hielt, Hunter nach Knoxville, Tennessee, einzuladen, um mit ihm in der schlicht als „Body Farm“ bekannten Anthropology Research Facility zu arbeiten. Kaum hat er seinen alten Freund begrüßt, wird er auch schon in einen aktuellen Fall einbezogen – sehr zum Ärger des leitenden Ermittlers Dan Gardner vom Tennessee Bureau of Investigation (TBI). In einer Ferienhütte in den Smoky Mountains entdecken die Agenten eine durch die künstliche Aufheizung stark verweste Leiche eines Mannes, der an einen Tisch gefesselt worden ist. Der als Berater hinzugezogene Psychologe Alex Irving stellt dazu die Theorie um einen sexuell motivierten Serientäter auf, doch für Gardners Mitarbeiterin Diane Jacobsen greift diese Erklärung zu kurz. Einen Hinweis zur Identifizierung des Täters könnte eine in der Hütte gefundene Filmdose mit einem klar erkennbaren Fingerabdruck liefern. Während das Opfer im Leichenschauhaus mit Hilfe von Kyle Webster, einem Assistenten des Rechtsmediziners Dr. Hicks, und Toms Studentin Summer untersucht wird, stellt sich heraus, dass die Fingerabdrücke von Willis Dexter stammen, der jedoch bereits vor sechs Monaten bei einem Autounfall starb. Bei der Exhumierung von Dexters Leiche auf dem Steeple Hill Cemetery verhält sich der Friedhofsbesitzer Eliot York so auffällig, dass er nach weiteren Morden in Verdacht gerät und dann spurlos verschwindet, ebenso wie Alex Irving. Schließlich geraten die am Fall arbeitenden Forensiker immer mehr ins Visier des gerissenen Täters…
Auch wenn man die beiden vorangegangenen Bände nicht gelesen hat, erleichtert Beckett seinem Publikum den Einstieg, indem er seinen Protagonisten David Hunter ausführlich Revue darüber passieren lässt, warum er die Reise von London nach Tennessee angetreten hat. 
Ebenso breit dargelegt werden die verschiedenen Prozesse, die bei der Verwesung eines Körpers in Gang gesetzt werden, und im Verlauf der Handlung darf der Ich-Erzähler immer wieder mit seinem profunden Wissen und aufmerksamer Beobachtungsgabe glänzen. Was den Plot reizvoll macht, sind die vom Täter interessant zur Schau gestellten Leichen und die verwirrenden Hinweise, die zu anderen Opfern führen als denen, mit denen Gardner, Lieberman, Jacobson und Hunter momentan zu tun haben. So hangeln sich die Beteiligten und die Leser an neuen Leichen und ihren Obduktionen entlang, immer mal wieder durchbrochen von den kursiv eingeschobenen Gedanken des Täters. 
Das lässt sich alles flüssig lesen, denn Beckett verwendet eine einfache Sprache, präzise Dialoge und leider auch simpel gestrickte Figuren, die nahezu alle Klischees abdecken, die im Thriller-Genre zu finden sind, den egozentrischen, zwischen Talk-Shows und unzähligen Flirts pendelnden Psychiater, den grimmigen Leiter der Ermittlungen und die leicht verunsicherte Assistentin, für die der gute Hunter allerdings etwas übrighat. Fans von James Patterson werden mit seinem britischen Pendant angenehm, aber nicht besonders originell unterhalten. Der Erfolg gibt Simon Beckett nun mal Recht…

Simon Beckett – (David Hunter: 7) „Knochenkälte“

Donnerstag, 6. November 2025

(Wunderlich, 464 S., HC)
Zwar ist der ehemalige Journalist Simon Beckett bereits seit seinem 1994 veröffentlichten Romandebüt „Fine Lines“ (dt. „Voyeur“) als Schriftsteller unterwegs, doch erst mit der 2006 gestarteten Thriller-Reihe um den britischen Forensiker David Hunter ist der in Sheffield lebende Beckett auch international bekannt geworden. Nach sechs Jahren Pause, in der mit „Die Verlorenen“ eine neue Reihe an den Start gegangen ist, erscheint nun mit „Knochenkälte“ der von Fans lang erwartete siebte Roman mit David Hunter, dessen Fälle mittlerweile auch als Serie verfilmt worden sind.
Eigentlich ist David Hunter in seiner Funktion als forensischer Berater von London gut dreihundert Meilen nach Carlisle unterwegs, um bei einer Vermisstensuche zu helfen, doch durch einen Unfall auf der Autobahn zu einem Umweg gezwungen, verfährt er sich in den Cumbrian Mountains, wo er auch keinen GPS-Empfang für sein Navi bekommt. Er landet schließlich in einer Kneipe in Edendale, wo man ihm nahelegt, die Nacht im nahegelegenen Hotel Hillside House zu verbringen. Das sogenannte Hotel entpuppt sich als heruntergekommene Bruchbude, in der Hunter der einzige Gast ist. Die nächste böse Überraschung erwartet den forensischen Anthropologen, als er am nächsten Tag seine Fahrt fortsetzen will, muss er feststellen, dass die einzige Zugangsstraße von einem Felsabgang zerstört und das winterliche Edendale von der Außenwelt abgeschnitten ist, da es so gut wie keinen Handyempfang gibt und Strom- und Telefonleitungen durch den Vorfall an der Straße ebenfalls außer Gefecht gesetzt worden sind. Zu allem Überfluss entdeckt Hunter bei einem Spaziergang zum alten Armeelager Foss Ghyll eine skelettierte Leiche. Bei der Entdeckung ist Hunter allerdings nicht allein, und schon bald macht die Neuigkeit die Runde im Dorf. Offensichtlich handelt es sich bei dem Toten um Wynn Beddoes‘ vor Jahren verschwundenen Sohn Jed, doch das ist erst der Anfang einer Reihe von erschreckenden Entdeckungen, bei denen Hunter all seine Fähigkeiten einsetzen muss, um zu erkennen, warum sich einige Familien im Dorf auf den Tod nicht ausstehen können…

„Bisher hatte alles darauf hingedeutet, dass dies nicht mehr als ein Cold Case war. Alle gingen davon aus, dass Owen Reese Jed Beddoes ermordet hatte, und sechsundzwanzig Jahre später war hier der Beweis. Nur dass Owen Reese mit dieser Aktion nichts zu tun haben konnte. Sie führte lediglich vor Augen, dass irgendwer im Dorf panisch genug war, um mitten in der Nacht eine Kettensäge auf den Berg zu schleppen, und verhindern wollte, dass die Wahrheit in einem jahrzehntealten Mordfall ans Licht kam.“ (S. 188f.)

Dass sich Simon Beckett nach „Die ewigen Toten“ etwas mehr Zeit für den nächsten David-Hunter-Thriller genommen hat, ist nur verständlich, zählte der sechste Band der Reihe um den eher zurückgezogen lebenden Forensiker zu den schwächeren Romanen des Briten. Nun galt es, vor allem die fast zuvor etwas hölzerne Charakterisierung seiner Figuren zu verfeinern und den schleppenden Spannungsaufbau zu straffen. Indem Beckett die Handlung an einem Ort stattfinden lässt, an dem durch die Verkettung unglücklicher Umstände Zufahrtswege, Strom und Telefon gekappt sind, inszeniert er ein fast schon kammerspielartiges Psychoduell zwischen den Einwohnern von Edendale auf der einen und den Dorfbewohnern und dem Eindringling Hunter auf der anderen Seite. Auch wenn Hunter viele Zufälle in die Hände spielen, gelingt es dem Autor, vor allem die Isolation in der unwirtlichen Umgebung atmosphärisch dicht einzufangen und die Spannung sukzessive zu steigern, indem Hunter erst nach und nach die Art der Beziehungen zwischen den Verdächtigen entschlüsselt. Das wirkt zum Ende hin genretypisch etwas konstruiert, aber doch glaubwürdig genug, dass „Knochenkälte“ wieder an die besseren Werke der Reihe anzuknüpfen vermag.

Thomas Pynchon – „Schattennummer“

Mittwoch, 5. November 2025

(Rowohlt, 400 S., HC))
Seit seinem 1963 erschienenen Debütroman „V.“ ist der 1937 in Glen Cove auf Long Island in New York geborene Thomas Pynchon zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der Postmoderne avanciert. Mit „Schattennummer“ präsentiert der in völliger öffentlicher Abgeschiedenheit lebende Amerikaner zwölf Jahre nach seinem letzten Roman „Bleeding Edge“ seinen wahrscheinlich letzten großen Roman und bleibt seinen Themen und vor allem seinem Stil treu.
Während Amerika 1932 von der Großen Depression erdrückt wird, aber erleichtert der Aufhebung der Prohibition entgegensieht, Al Capone seine Haftstrafe im Bundesgefängnis in Atlanta absitzt, lauscht Privatdetektiv Hicks McTaggart in Milwaukee den Gerüchten über Ehekrächen im Gangstermilieu und beschlagnahmten Spritlieferungen, die Grund für die kürzlich erfolgte Explosion in der Nähe gewesen sein könnten. Als Hicks bei Unalmagamated Ops von seinem Chef Boynt Crosstown den Auftrag bekommt, die Tochter des im Exil lebenden Multimillionärs Bruno Airmont zurückzuholen, hat er auch ein persönliches Interesse an der Sache, schließlich hatte Hicks mit der Tochter des „Al Capone des Käses“ eine sehr kurze Liaison. Nun soll die junge, in wohlhabenden Verhältnissen verlobte Frau mit dem Klarinettisten einer Swingband durchgebrannt sein. Doch ehe er sich versieht, wacht Hicks auf einem Ozeandampfer auf und landet schließlich in Ungarn, wo er nicht nur Probleme mit der Sprache hat, sondern schnell Bekanntschaft mit dubiosen Nazis, sowjetischen und britischen Spionen, aber auch Vampiren und schönen Frauen macht.

„Hicks könnte darauf hinweisen, dass stillzusitzen und sich eine Geschichte anzuhören nicht immer das Gleiche ist, wie darauf hereinzufallen, aber er sieht keinen Anlass, eine Auseinandersetzung anzufangen, denn sie ist ihm keineswegs fremd, die altehrwürdige Übung, die Männer seit Anbeginn der Welt durchzustehen haben: begehrenswerten Frauen zuzuhören, während sie sich endlos über die Geschichte ihres Liebeslebens auslassen, dies alles in der wenn auch geringen Hoffnung, hier und jetzt in der fröhlich klimpernden Währung ausgelassener Zweisamkeit dafür entschädigt zu werden.“

Während Thomas Pynchon schon von Beginn an vor allem seine sprachliche Virtuosität ins Spiel bringt, lässt er sein Publikum zunächst im Glauben, mit dem Protagonisten ein skurriles Abbild von lakonisch zynischen Privatdetektiven wie Philip Marlowe, Sam Spade oder Lew Archer vor sich zu haben, der in einem typischen Hardboiled-Plot eine von der Oberfläche verschwundene Frau aufspüren soll. Doch sobald Hicks im fernen Osteuropa aufschlägt, überschlagen sich die Ereignisse, in denen ein geheimnisvolles U-Boot ebenso eine Rolle spielt wie explodierender Käse, eine erschreckend hässliche Lampe und Hitler vergötternde Swing-Musiker. Es wird gejagt, gedroht und geschossen, vor allem aber auch viel getanzt und noch mehr gesprochen. Pynchon erweist sich einmal mehr als Meister der vieldeutigen Hinweise auch auf das aktuelle politische Geschehen, lässt den Plot fast im Hintergrund wie entfesselt seinen Gang nehmen, während er an vorderster Front ein schillerndes Sprach-Feuerwerk zündet. Er verwischt damit jegliche Eindeutigkeit, sowohl hinsichtlich der Geschichte samt ihrer unzähligen Nebenstränge als auch der wie hingestreuten und selten nicht aufgesammelten Figuren. Das macht „Schattennummer“ zu einem äußerst vitalen, vieldeutigen Lesevergnügen jenseits aller literarischen Konventionen.