John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“

Sonntag, 24. Januar 2021

(Diogenes, 487 S., Tb.) 
Fred „Bogus“ Trumper leidet unter unspezifischen Problemen beim Wasserlassen. Nachdem ihm sein Vater, der Urologe ist, nicht weiterhelfen konnte, wendet sich Trumper in New York an den Franzosen Dr. Jean-Claude Vigneron, der seinem Patienten letztlich zwei Optionen anbietet, die seinem Leiden mit dem ungewöhnlich schmalen Urogenitaltrakt Abhilfe verschaffen könnten: eine Operation oder die Wassermethode, die vor allem darin besteht, vor und nach dem Geschlechtsverkehr viel Wasser zu trinken. Da Trumper sich nicht auf eine 48-stündige Schmerzphase nach einer Operation einlassen will, entscheidet er sich für die Wassermethode. 
Neben diesem gesundheitlichen Problem muss sich Trumper aber mit ganz existentiellen Nöten herumschlagen, nämlich seiner Doktorarbeit. Der Student der Sprachen an der University of Iowa plant, mit seiner Dissertation eine Übersetzung des Epos „Akthelt und Gunnel“ aus dem Altniedernordischen vorzulegen. Für einen Studienaufenthalt zieht es Trumper nach Österreich, wo er in Kaprun die erfolgreiche Skiläuferin Sue „Biggie“ Kunft kennenlernt. 
Als Biggie von Trumper schwanger wird und mit ihm nach Amerika zurückkehrt, streicht ihm sein Vater seine monetären Zuwendungen, so dass Trumper gezwungen ist, Aushilfsjobs wie das Verkaufen von Wimpeln in Sportstadien auszuüben. Die Beziehung zu Biggie geht in die Brüche, Trumper zieht es wieder nach Österreich, wo er seinen alten Freund Merrill Overturf besuchen will. Zwar findet er seinen Freund nicht, wird dafür aber in eine Drogengeschichte verwickelt. 
Die Rückkehr nach New York gelingt auf abenteuerliche Weise. Mit dem Drogengeld, das Trumper unerklärlicherweise zugesteckt bekommen hat, leistet er sich eine Taxifahrt nach Maine, wo Trumper seinen alten Freund Couth besuchen will. Dabei stellt er fest, dass Biggie und ihr gemeinsamer Sohn Colm bei Couth leben. Enttäuscht kehrt Trumper nach New York zurück. Ralph Tucker, für den Trumper schon früher als Tontechniker gearbeitet hat, will einen Dokumentarfilm über Trumper drehen und ihn „Der Griff in die Scheiße“ nennen. Bei den Dreharbeiten gerät auch Trumpers Beziehung zu seiner Freundin Tulpen ins Trudeln … 
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456) 
Mit seinem zweiten, 1972 veröffentlichten Roman, erzählt John Irving („Das Hotel New Hampshire“, „Owen Meany“) die Geschichte eines Mannes, der nie wirklich etwas zu Ende gebracht hatte, der als Ringer schon kurz vor dem Triumph stand und dann doch noch seinen Kampf verlor; der vor den Frauen flüchtet, sobald sie ihm nur die leiseste Ahnung vermitteln, dass sie fremdgehen könnten; der sich letztlich ein Dissertationsthema aussucht, das ebenso uninteressant wie schwierig zu bewältigen ist. Als Leser fällt es einem schwer, Sympathien für diesen wankelmütigen Hallodri namens Fred „Bogus“ Trumper zu entwickeln. Bereits seine Einführung mit dem Problem seines verengten Urogenitaltrakt taugt nicht dazu, eine persönliche Bindung zu dem Protagonisten aufzubauen, der mal als Ich-Erzähler auftritt, dann als zu beobachtendes Objekt in der dritten Person oder auch als Rolle in einem Drehbuch. So munter wie Irving zwischen den Erzählperspektiven hin- und herspringt, so wechselt er auch die Zeitebenen, was es schwierig macht, der Geschichte zu folgen. Dazu lässt der US-Amerikaner immer wieder ausgiebige Zusammenfassungen der (fiktiven) altniedernordischen Saga in den Plot einfließen, die das Lesevergnügen weiter schmälern, was umso schmerzlicher ist, als dass Irving ein wirklich einfallsreicher, sprachlich versierter und witziger Autor mit einem Gespür für seine ungewöhnlichen Figuren ist.


James Patterson – (Women’s Murder Club: 9) „Das 9. Urteil“

Dienstag, 19. Januar 2021

(Limes, 350 S, HC) 
Um sich mit ihrer heimlichen Geliebten Heidi ein neues Leben aufbauen zu können, ist die Highschool-Lehrerin Sarah Wells unter die Juwelendiebe gegangen. Sie bricht dabei so erfolgreich in die Häuser bestens situierter Menschen ein, während diese im Erdgeschoss Partys veranstalten oder ihr Abendessen einnehmen, dass sie bereits von der Presse den Spitznamen „Hello Kitty“ verpasst bekommen hat. Als sie allerdings in das Haus der bekannten Hollywood-Schauspielers Marcus Dowling und seiner Frau Casey eindringt, kommt das Ehepaar allerdings früher ins Schlafzimmer zurück als erwartet, und Sarah muss sich im Kleiderschrank verstecken, wo sie zunächst einen Streit, dann den Versöhnungssex hörte, um dann endlich aus dem Fenster zu klettern, nachdem sie die regelmäßigen Atemgeräusche der Schlafenden wahrgenommen hatte. 
Obwohl sie dabei ein Wandtischchen umwirft und Casey dadurch aufweckt, gelingt Sarah die Flucht. Doch dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass Casey erschossen wurde und sie selbst als Tatverdächtige gilt. Detective Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin übernehmen die Ermittlungen in diesem Raubmord übernehmen, haben es aber vor allem mit einer viel brutaleren Mordserie zu tun. Ein Mann, der in Parkhäusern belebter Shopping Malls junge Mütter und ihre Kinder tötet, hinterlässt jeweils das mit dem Lippenstift seiner Opfer geschriebene Kürzel FKZ in verschiedenen Kombinationen an den Tatorten. So bekommt Lindsay kaum Zeit, um die glückliche Beziehung mit Joe zu genießen, aber auch ihre Freundinnen, die Staatsanwältin Yuki Castellano, die Reporterin Cindy Thomas und die Pathologin Claire Washburn, bekommt sie kaum zu sehen. Schließlich wendet sich der Lippenstift-Mörder direkt an die Öffentlichkeit, verlangt zwei Millionen Dollar und bringt Lindsay als Überbringerin des Geldes in eine gefährliche Situation … 
„Ich gebe es zu. Für einen irrationalen Augenblick lang zuckte die Wut in mir auf. Das eigene Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, woran man glaubt, das ist eine Sache. Aber von einem Killer als Roboter benutzt zu werden, als Opfer bei einer Aktion, die man selbst für falsch, ja, für Wahnsinn hält … das ist etwas ganz anderes.“ (S. 201) 
Die Thriller-Serien, die James Patterson um den Polizeipsychologen Alex Cross und um den Club der Ermittlerinnen entwickelt hat, sind regelmäßig auf den vorderen Plätzen der internationalen Bestseller-Listen zu finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Patterson mit seinen Co-Autoren stets hochklassigen Lesestoff abliefert. „Das 9. Urteil“ – das Patterson wie seit dem 4. Band der Reihe um den Women’s Murder Club mit Maxine Paetro verfasst hat – baut vor allem auf rasante Action, die in meist zwei- bis dreiseitigen Kapiteln in großer Schrift abgehandelt wird. 
Dass bei zwei Fällen, die natürlich wieder miteinander zusammenhängen und jeweils Seriencharakter besitzen, auf 350 Seiten kaum Raum für die Schilderung detaillierter Ermittlungsarbeit noch feine Figurenzeichnung bleibt, dürfte jedem Leser bewusst sein. Ärgerlich wird es nur, wenn beide hier präsentierten Fallserien so unglaubwürdig in Motivation und Ausführung wirken. Eine verheiratete Highschool-Lehrerin wird auf einmal zu einer raffinierten Juwelendiebin, die in an sich hochgesicherte Privatanwesen eindringt und stets unentdeckt entkommt? Ein Kriegsveteran ist so traumatisiert, dass er Frauen und ihre Kinder umbringt? Allein diese Prämissen machen „Das 9. Urteil“ zu einem äußerst faden Ritt durch einen allein auf Action getrimmten Plot, dessen durchweg fehlende Glaubwürdigkeit durch immer neue abstruse Entwicklungen und Zusammenhänge getoppt wird. 
Kein Wunder, dass „Das 9. Urteil“ das vorletzte Buch der Reihe ist, das hierzulande in der Erstausgabe als Hardcover erschienen ist, ab Fall 11 nur noch als Paperback. 

Dan Simmons – „Das leere Gesicht“

Samstag, 16. Januar 2021

(Heyne, 350 S., Tb.) 
Der Mathematiker Jeremy Bremen verfügt über die seltene Gabe der Telepathie, die er glücklicherweise mit seiner Frau Gail teilt. Die intensive Art, wie sie einander Gedanken und Gefühle teilen, verbindet sie auf fast symbiotische Weise. Allein Gail ist auch in der Lage, mit den von ihr aufgebauten Gedankenschirmen für ihren Mann eine Art Schutzwall vor den unzähligen Gedankenströmen fremder Personen zu errichten, so dass er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren kann. Als sie jedoch nach schwerer Krankheit stirbt und Bremen den Schutz durch seine Frau gegen das sogenannte Neurobrabbeln verliert, versinkt Bremen in eine tiefe Depression. 
Er lässt sich von der mathematischen Fakultät in Haverford freistellen, zündet das gemeinsame Haus an und begibt sich auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der vor allem mit den fürchterlichen Gedanken und Begierden von Gewalt, Misstrauen, Hass, Neid und Gier in den Gedankenströmen der Menschen konfrontiert wird. Als Bremen in Miami in einer Fischerhütte strandet, beobachtet er, wie der Mafioso Vanni Fucci eine Leiche im Fluss entsorgt. Fucci bringt Bremen in seine Gewalt und will ihn als Zeugen von seinen Kollegen töten lassen, doch gelingt es dem Chaosforscher, in Disney World seinem Peiniger zu entkommen und mit dem Bus weiter nach Denver zu reisen. Dort wird er aber nach seiner Ankunft beraubt und krankenhausreif geschlagen. 
Mit Hilfe eines freundlichen Obdachlosen namens Soul Dad flieht er in einem geklauten 79er Pontiac, nachdem er den Vergewaltiger eines Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte. Bremen landet schließlich auf der Farm von Miz Morgan, die ihn als Farmarbeiter anheuert, aber letztlich nur daran interessiert ist, Bremen mit ihrem Metallgebiss zu töten und in das Kühlhaus zu den anderen Leichen zu hängen. Erst als er nach Las Vegas flüchten kann und Dank seiner telepathischen Kräfte beim Pokern satte Gewinne einstreicht, scheint sich das Blatt für Bremen zu wenden. Doch in einem der Casinos erkennt Vanni Fucci den Zeugen aus Miami wieder und unternimmt einen zweiten Anlauf, Bremen unter die Erde zu bringen. Wieder einmal wird Bremen den schrecklich primitiven Gedanken menschlicher Wesen ausgesetzt … 
„Die meisten brutalen Menschen, die Bremen mit seinem Geist berührte, waren dumm – viele erstaunlich dumm, viele unterstützten ihre Dummheit durch Drogen -, aber der Dunstkreis ihrer Gedanken und Gedächtniszentren war nichts im Vergleich mit der blutwitternden Klarheit des Jetzt, der Unmittelbarkeit dieser Sekunden der Gewalt, die sie suchten und genossen, die das Herz schneller schlagen ließen und Erektionen bescherten. Die Erinnerungen an solche Taten waren weniger in den Köpfen als vielmehr in den Händen und Muskeln und Lenden gespeichert. Gewalt bestätigte. Sie schuf einen Ausgleich für die vielen banalen Stunden des Wartens, der Beleidigung und Untätigkeit, die Stunden vor dem Fernseher, wohl wissend, dass man keines der strahlenden Wunder besitzen konnte, die dort vorgeführt wurden …“ (S. 136f.) 
Nachdem sich Dan Simmons mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ als preisgekrönter Horror-Autor etabliert hatte, der mit dem zweibändigen Epos um „Hyperion“ auch die Science-Fiction erfolgreich erobern konnte, legte er 1992 mit dem Roman „The Hollow Man“, der zwei Jahre darauf bei Heyne in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das leere Gesicht“ veröffentlicht wurde, ein weitaus schwerer zugängliches Werk vor. Das betrifft nicht nur den ungewöhnlichen Aufbau des Romans, der mit dem Sterben von Bremens Frau Gail beginnt und von der Schilderung von Erinnerungen sowie ungewöhnlichen Erzählperspektiven geprägt wird, sondern auch den sehr ausführlich dargelegten wissenschaftlichen Hintergrund, der Bremens Forschung betrifft. Eine besondere Rolle nimmt dabei die schicksalhafte Begegnung mit dem Neuroforscher Jacob Goldmann ein, dessen Arbeit sich wunderbar mit Bremens eigener Forschung zum menschlichen Gedächtnis als sich fortpflanzende Wellenfront ergänzt. 
Simmons lässt Bremen und Goldmann endlos lange über die Probleme der Quantenmechanik, Parallelwelten, Kartographie des menschlichen Bewusstseins und Wahrscheinlichkeitswellen diskutieren, was den Fluss der Handlung nicht nur ausbremst, sondern in seiner Detailverliebtheit auch nicht unbedingt zum Verständnis der Geschichte nötig ist. So präsentiert sich „Das leere Gesicht“ als extrem heterogenes, höchst komplexes Werk, das sich als Road Trip mit Elementen aus Horror, Fantasy und Science-Fiction erweist, sich aber auch mit grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen beschäftigt. 
Zum Ende hin gewinnt die Handlung an Tempo und Spannung, schließt auch einzelne Handlungsfäden und Überlegungen zusammen, doch erreicht „Das leere Gesicht“ letztlich nicht die bestechende Qualität früherer Simmons-Werke.


Michael Connelly – (Harry Bosch: 9) „Letzte Warnung“

Montag, 11. Januar 2021

(Heyne, 416 S., Tb.) 
Seit Harry Bosch seinen Job beim Los Angeles Police Department hingeschmissen hatte, hat er sich wie die meisten anderen ehemaliger Polizei-Kollegen routinemäßig eine Lizenz als Privatdetektiv zugelegt und ermittelt nun auf eigene Faust, aber ohne offiziellen Status. Dabei widmet er sich einem Fall, der ihn schon vor vier Jahren beschäftigt hat, aber nie abgeschlossen wurde. Damals wurde die 24-jährige Hollywood-Produktionsassistentin Angella Benton vor ihrem Apartmenthaus tot aufgefunden. Sie arbeitete für Alexander Taylors Firma Eidolon Productions, die zu jener Zeit einen Film produzierte, der wegen eines bewaffneten Überfalls ebenfalls für Schlagzeilen sorgte: Da der Regisseur des Films darauf bestand, mit echtem Geld beim Dreh zu arbeiten, ließ er sich von BankLA zwei Millionen Dollar bringen, doch bei der Übergabe erbeuteten Gangster das teilweise registrierte Geld. 
Bosch war zu der Zeit wegen der Ermittlung im Fall der erwürgten Angella Benton am Tatort und konnte einen der Täter niederstrecken, das Geld blieb allerdings verschwunden – bis einer der registrierten Scheine bei einem mutmaßlichen Terrorverdächtigen sichergestellt wurde. Das rief die noch junge ,Rapid Response Enforcement and Counter Terrorism‘-Einheit auf den Plan, so dass der Polizei der Fall entzogen wurde. 
Dabei mussten schon Bosch und seine beiden Kollegen von der Hollywood Division, Kiz Rider und Jerry Edgar, zuvor den Fall bereits an die Robbery-Homicide-Division abgeben. Kaum hatten Jack Dorsey und Lawton Cross den Fall übernommen, wurden sie bei einem Raubüberfall in einer Bar ins Visier genommen. Dorsey erlag noch am Tatort seinen Verletzungen, Cross ist seitdem querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt und wird von seiner Frau gepflegt. Harry Bosch lässt vor allem das Bild der getöteten Produktionsassistentin mit ihrem entblößten Körper, dem absichtlich platzierten Sperma und der wie flehend wirkenden Geste ihrer Hände nicht los. 
Eine weitere Spur seiner Ermittlungen führt zu der nach wie vor vermissten FBI-Agentin Martha Gessler, die ein Computer-Programm entwickelt hatte, um registrierte Geldscheine zu dokumentieren, bis sie in einem anderen Zusammenhang wieder auftauchten. Bosch muss sich zunächst auf die langsam zurückkehrenden Erinnerungen des damals ermittelnden Beamten Lawton Cross verlassen, da sowohl die Polizei als auch das FBI Bosch drängen, die Finger von der Sache zu lassen. Aber Bosch wäre nicht Bosch, wenn er sich durch solche Drohungen einschüchtern lassen würde. Schließlich kommt er auf einen Verdächtigen, den bislang niemand so recht auf dem Zettel hatte … 
„Ich hatte das Gefühl, dass Bewegung in die Sache kam, und das machte mich ganz kribbelig, denn instinktiv wusste ich, dass ich der Lösung des Rätsels ganz dicht auf der Spur war. Ich hatte zwar nicht alle Antworten, aber aus Erfahrung wusste ich, sie würden sich irgendwann von selbst ergeben. Was ich allerdings hatte, war die Richtung. Es war mehr als vier Jahre her, dass ich auf Angella Bentons Leiche hinabgeblickt hatte, und endlich hatte ich einen richtigen Verdächtigen.“ (S. 329) 
In seinem neuen Dasein als Privatdetektiv merkt Hieronymus „Harry“ Bosch sehr schnell, wie schwierig sich die Ermittlungen gestalten, wenn man bei Befragungen von Zeugen und Beamten anderer Dienststellen nicht mit seinem Abzeichen und Dienstausweis die entsprechende Befugnis bezeugen kann. Doch in seiner langjährigen Karriere als Detective beim LAPD hat Bosch eine Hartnäckigkeit entwickelt, die ihm auch bei dem noch unaufgeklärten Mord an einer jungen Filmproduktionsassistentin dienlich ist. 
Zwar legt sich Bosch nicht nur mit seinen ehemaligen Kollegen beim LAPD, sondern vor allem mit dem FBI an, doch kommt er nach und nach verschiedenen Umständen auf die Spur, die den Mord an Angella Benton mit den Raubüberfällen am Set und in der Bar sowie dem Verschwinden der FBI-Agentin Marty Gessler in Verbindung bringen. Dabei gerät Bosch sogar ins Visier der Täter und kann am Ende von Glück sagen, dass er lebend aus seinem Haus in Hollywood gekommen ist. 
Aber auch seine geschiedene Frau Eleonor, die mit offensichtlich großem Erfolg in Las Vegas professionell pokert, lässt Bosch nicht los. Michael Connellys neunter Band um Harry Bosch zählt zu den besten der langlebigen Thriller-Reihe, die ebenso erfolgreich als Serie von Amazon produziert worden ist. 
„Letzte Warnung“ enthält nämlich alles, was einen guten Cop-Thriller ausmacht, vor allem einen faszinierenden Fall, der immer weitere Komponenten und Querverweise auf andere Fälle aufweist, so dass sich ein komplexes Gerüst an Verwicklungen ergibt, die Bosch mit ebenso viel Geduld wie Hartnäckigkeit zu entwirren versteht. Dabei bringt Connelly gut zum Ausdruck, was die nach 9/11 auf den Weg gebrachten Antiterrormaßnahmen nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für andere Strafverfolgungsmaßnahmen für Folgen hat. Neben dem absolut packenden Plot mit vielschichtigen Wendungen bringt Connelly auch Boschs Privatleben gut zum Ausdruck, was sich zum einen in dessen Vorliebe für guten Jazz und seine nach wie vor tiefen Gefühle für seine Ex-Frau widerspiegelt.


Håkan Nesser – (Van Veeteren: 5) „Der Kommissar und das Schweigen“

Donnerstag, 7. Januar 2021

(btb, 318 S., HC) 
In dem idyllischen Touristenort Sorbinowo ist Polizeichef Malijsen gerade in den Urlaub gegangen, als sein Vertreter, Polizeianwärter Merwin Kluuge, Mitte Juli einem anonymen Hinweis auf ein verschwundenes Mädchen aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen nachgehen muss. Doch die Nachfragen bei dem Sektenführer Oscar Jellinek und seinen Helferinnen und den meist sehr jungen Mädchen ergeben nichts. Kluuge beschleicht allerdings das Gefühl, dass mehr an der Sache dran ist, und erhält Unterstützung von Kommissar Van Veeteren, der nicht nur kurz davor steht, seinen geplanten Urlaub auf Kreta anzutreten, sondern mal wieder mit dem Gedanken spielt, den Polizeidienst zu beenden und sich stattdessen auf eine Stellenanzeige eines Antiquariats zu bewerben. 
Kaum ist er in Sorbinowo eingetroffen, wird ein zweites Mädchen als vermisst gemeldet, dann beide vergewaltigt und erwürgt im Wald aufgefunden. Bevor Jellinek zu den beiden Morden befragt werden kann, verschwindet auch er. Den Polizisten gelingt es allerdings nicht, brauchbare Informationen von den im Lager verbliebenen Frauen und Mädchen zu erhalten, so dass Van Veeteren mit Jung und Reinhart, die er als Verstärkung kommen ließ, die Nachforschungen auf die Nachbarschaft ausdehnt. Doch auch hier machen die Ermittler kaum Fortschritte … 
„Also: insgesamt gesehen fühlte Van Veeteren sich nicht sehr viel schlauer, als er schließlich nach dem letzten Gespräch wieder ins befreiende Menschengewimmel tauchen durfte. Aber auch nicht sehr viel dümmer, und was lag da näher, als den ganzen Nachmittag einfach in Klammern zu setzen und ihn zu den Akten zu legen. Eine unter vielen.“ (S. 232) 
Van Veeteren will einfach nur weg, seinen zynischen Gedanken zu seiner Exfrau und seinem Beruf entfliehen, und so folgt er notgedrungen dem Hilferuf aus einem benachbarten Revier, mit dessen Leiter er Mitte der 1970er Jahre Bekanntschaft gemacht hat. Zunächst gibt es ja keinen wirklichen Fall, den Van Veeteren und der durchaus fähig erscheinende Polizeianwärter Kluuge da zu bearbeiten haben, aber als sich die unbestätigten Vermisstenanzeigen von anonymer Seite als abscheuliche Morde erweisen, kommt die immer größer werdende Ermittlertruppe überhaupt nicht weiter, weil alle möglichen Zeugen entweder ganz schweigen oder nur sehr wortkarg auf die Befragungen der Ermittler reagieren. 
Leider dümpelt der Plot deshalb auch eher nichtssagend vor sich hin. Van Veeteren paddelt mit dem Kanu durch die Gegend, probiert die fünf Möglichkeiten zu essen im Ort aus, unterhält sich mit dem Chefredakteur der Zeitung, der sich zudem als Cineast entpuppt. 
Als Krimi taugt Nessers fünfter Van-Veeteren-Fall nur bedingt. Die Ermittlung kommt eigentlich nie so recht in Gang, der einzig Verdächtige im Fall der beiden ermordeten Mädchen ist selbst verschwunden, und so gibt sich der berufsmüde Kommissar vor allem den anregenden Gesprächen und kulinarischen Genüssen mit dem Redakteur Przebuda hin. Selbst die sporadisch eingeführte Perspektive des zunächst namenlosen Täters verleiht dem Roman keine Tiefe. 
Wenn am Ende letztlich ein Schreibfehler - und damit laut Van Veeteren der Zufall - dabei hilft, den Täter zu identifizieren, passt das zu dem seltsam lustlos konstruierten Roman, der den beiden schrecklichen Morden, die es zunächst aufzuklären gilt, überhaupt nicht gerecht wird. Aber diese Agonie ist es wahrscheinlich auch, die Van Veeteren nach einer anderen Berufung Ausschau halten lässt. 

Dan Simmons – (Hyperion: 2) „Das Ende von Hyperion“

Sonntag, 3. Januar 2021

(Heyne, 636 S., Tb.) 
M. Joseph Severn, ein vom TechnoCore künstlich geschaffener Cybrid, wird von Meina Gladstone, der Präsidentin der Hegemonie, nach Esperance auf Tau Ceti Center eingeladen, um an der wohl wichtigsten Party im Netz teilzunehmen, die den offiziellen Beginn des Krieges zwischen der Hegemonie und den Ousters feiert. Innerhalb der illustren Runde, zu denen neben der Präsidentin auch der Verteidigungsminister, zwei Stabschefs von FORCE, vier Senatoren und die Projektion des TechnoCor-Ratgebers Albedo zählen, soll Severn die Perspektive des Künstlers einbringen. Er ist nämlich ein Cybrid von John Keats‘ besten Freund Joseph Severn, der ihn in Rom bis zu seinem frühen Tod durch Schwindsucht pflegte. Indem er in der Lage ist, die Träume seines vorangegangenen Cybriden John Keats zu träumen, dessen Implantat die Privatdetektivin Brawne Lamia in sich trägt, kann er die Pilger ausspionieren, die sich auf dem Weg nach Hyperion befinden. 
Mit seiner Ansicht, dass es töricht wäre, die Stabilität der Hegemonie, die seit ihrer Gründung vor siebenhundert Jahren an keinem Krieg teilgenommen hat, durch den geplanten Schlag gegen die Ousters auf die Probe zu stellen, erntet Severn allerdings fast ausschließlich Spott und Unverständnis. Allein Gladstones engster Vertrauter Leigh Hunt ist an Severns Gedanken interessiert. Severn berichtet der Präsidentin, dass alle Pilger - außer vielleicht der verschwundene Tempelritter Het Masteen – noch am Leben seien, auch wenn Pater Hoyt durch das Tragen der Kruziform große Schmerzen erleidet, der Dichter Martin Silenus ständig betrunken ist, weil er seine an der Merlin Krankheit leidende und dadurch umgekehrt alternde Tochter Rachel dem Shrike opfern soll, und Oberst Kassad von der Suche nach der geheimnisvollen Frau namens Moneta besessen ist, und der Konsul damit klarkommen muss, dass er durch sein geheimes Treffen mit den Ousters die Hegemonie verraten hat, indem er dafür sorgte, dass die Zeitgräber geöffnet wurden. Aber ebenso wie der Konsul folgt auch Meina Gladstone ihren eigenen geheimen Plänen. 
„Gladstone dachte zum hunderttausendsten Mal, dass es noch Zeit war, alles aufzuhalten. Im derzeitigen Zustand war der totale Krieg nicht unvermeidlich. Die Ousters hatten noch nicht auf eine Weise zurückgeschlagen, die die Hegemonie nicht außer Acht lassen konnte. Das Shrike war nicht frei. Noch nicht. Wenn sie hundert Milliarden Leben retten wollte, musste sie nur in den Senat zurückkehren, drei Jahrzehnte Täuschung und Doppelspiel enthüllen, ihre Ängste und Unsicherheit bloßlegen …“ (S. 189f.) 
Mit „Hyperion“, dem 1989 veröffentlichten, nach einem Gedicht von John Keats benannten, mit einem Hugo Award und einem Locus Award ausgezeichneten Science-Fiction-Roman, feierte der US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“) sein anspruchsvolles Debüt als Science-Fiction-Autor. Ein Jahr später ließ er mit „The Fall of Hyperion“ ein imponierendes Finale folgen, das sich in der Struktur gänzlich von dem ersten Roman unterscheidet. Während in „Hyperion“ die sieben Pilger im Fokus standen, indem jeder Teilnehmer der Fahrt nach Hyperion zum Tempel des Shrike seine Lebensgeschichte erzählte, lässt Simmons in „Das Ende von Hyperion“ den Blick in die ganze Welt der Hegemonie schweifen, wechselt die Perspektiven zwischen der Präsidentin und M. Joseph Severn auf der einen Seite, verfolgt durch die Träume des Künstler-Cybriden aber auch die Pilger auf ihrer Reise nach Hyperion. 
Ähnlich wie im ersten Teil des insgesamt über 1200-seitigen Epos bringt Simmons religiöse, philosophische, politische und literarische Themen in die Handlung einfließen, beschreibt unzählige Welten und Formen von Menschen, aber auch so viele Figuren, dass der Fluss der Handlung und die Spannungsdramaturgie immer wieder ins Stocken geraten und durch unnötig erscheinende Nebenhandlungen ausgebremst werden. 
Trotz der komplexen Struktur und der gelegentlichen Längen ist „Das Ende von Hyperion“ eine spannende Space Opera geworden, die den Blick auch darauf wirft, wie Menschen durch den Fortschritt der Technologie versklavt werden können. Insofern ist die „Hyperion“-Saga heute so aktuell wie nie zuvor.


Dan Simmons – (Hyperion: 1) „Hyperion“

Samstag, 26. Dezember 2020

(Heyne, 588 S., Tb.) 
Es ist eine jahrhundertealte Tradition, dass die Hegemonie eine Reise mit meist sieben Pilgern zum Shrike auf Hyperion organisiert, bei der alle bis auf einen umkommen. Dem Überlebenden gewährt das ebenso gefürchtete wie von seinen Jüngern verehrte Shrike angeblich die Erfüllung eines Wunsches. Die aktuelle Pilgerreise steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, denn es hat den Anschein, als würden sich die Zeitgräber öffnen und so dem Shrike ermöglichen, seinen Bewegungsradius auszudehnen. Da Regierungschefin Meina Gladstone nicht sicherstellen kann, dass die Einsatztruppe von FORCE:Weltraum rechtzeitig eintrifft, um die Bürger der Hegemonie von Hyperion zu evakuieren, bevor ein Wanderschwarm der rebellischen Ousters dort aufschlägt, beauftragt sie den Hegemonie-Konsul, an der Pilgerfahrt auf dem Baumschiff Yggdrasil der Tempelritter teilzunehmen. 
Begleitet wird er von dem Kapitän des Baumschiffts, Het Matsteen, dem Dichter Martin Silenus, Pater Lenar Hoyt, dem Philosophen Sol Weintraub und seiner rückwärts alternden Tochter Rachel, dem legendären Ex-FORCE:Weltraum-Oberst Fedmahn Kassad und der Privatdetektivin Brawne Lamia. Um sich während der Reise einander besser kennenzulernen und um herauszufinden, warum jeder einzelne von ihnen für diese Pilgerreise ausgewählt worden ist, erzählen sie nach einer ausgelosten Reihenfolge ihre jeweiligen Geschichten. So erzählt Pater Lenar Hoyt, wie sein Mentor Paul Duré durch das Tragen der Kruziform zur Unsterblichkeit verdammt wurde und er selbst die Kruziform annahm. 
Der palästinensische Oberst Kassad berichtet anschließend, wie er während einer Kriegssimulation von einer geheimnisvollen Frau gerettet wurde, mit der er immer wieder an verschiedenen Kriegsschauplätzen zusammenkam, die ihm aber erst in der Stadt der Dichter auf Hyperion ihren Namen verriet: Moneta, bevor sie für immer aus seinem Leben verschwand. Der trinkfreudige Dichter Martin Silenus erzählt von seinem Erfolg, den er mit seinem ersten Gedichtband „Die sterbende Erde“ feiern durfte, mit seinen „Gesängen“ aber kläglich unterging und sich dann in seelenlosen Fortsetzungen seines Bestsellers aufrieb, bevor das Shrike zu seiner Muse wurde. 
Da der Tempelritter Het Masteen während der Reise spurlos verschwindet und nur seine blutgetränkte Kammer zurücklässt, ist Sol Weintraub an der Reise, seine Geschichte zu erzählen, die ganz im Zeichen eines beunruhigenden Traumes steht, in dem eine donnernde Stimme den Gelehrten dazu auffordert, seine einzige Tochter Rachel nach Hyperion zu bringen und sie dem Shrike als Brandopfer darzubringen. 
Nachdem die Privatdetektivin Brawne Lamie von ihrem Auftrag erzählt, den Mörder ihres Klienten, des Cybrids John Keats, ausfindig zu machen, lässt der Konsul seine Erinnerungen an seine geliebte Siri Revue passieren, die während seiner Reisen durch die Welten der Hegemonie auf ihrem Heimatplaneten Maui-Covenant rasch alterte. Mit dem Zusammenfügen der einzelnen Erzählungen ergibt sich ein Gesamtbild der Geschichte von Hyperion, dessen Schicksal in den Gesängen des Dichters vorherbestimmt zu sein scheint. 
„,Hyperion‘ war das erste ernste Werk, das ich seit vielen Jahren in Angriff genommen hatte, und es war das beste, das ich je schreiben würde. Was als komisch-ernste Hommage an den Geist von John Keats begonnen hatte, wurde zu meinem letzten Grund zu leben, eine epische tour de force in einer Zeit der mittelmäßigen Farce. ,Hyperionische Gesänge‘ wurde mit einem Geschick geschrieben, wie ich es nie hätte aufbringen können, einer Meisterschaft, derer ich nie fähig gewesen wäre, und es wurde mit einer Stimme gesungen, die nicht meine eigene war. Das Dahinscheiden der Menschheit war mein Thema. Das Shrike war meine Muse.“ (S. 280) 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Science-Fiction-Werk „Hyperion“, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien, löste sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons aus der Schublade eines Horror-Autors („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“) und etablierte sich als ernst zu nehmender Autor genreübergreifender Literatur, wobei sein erster Ausflug in die Science-Fiction gleich mit einem Hugo Award und einem Locus Award belohnt wurde. Dabei besticht „Hyperion“ als vielschichtige Space Opera mit verschiedenen Themenschwerpunkten, die durch die Erzählungen der Teilnehmer an der Pilgerreise nach Hyperion an Gestalt gewinnen. 
Jede dieser Geschichten böte das Potential für einen eigenständigen Roman, aber in dem straffen Substrat eröffnen sich verschiedenste Aspekte des Lebens in einer Ära, in der die Alte Erde längst der Vergangenheit angehört und Menschen, KIs und Cybride die hunderte Welten der Hegemonie bevölkern. So ergibt sich ein schillerndes Panorama aus Krieg, Glaube, Zeitreisen, Liebe und Verrat, das nur durch eine sehr rudimentäre Rahmenhandlung zusammengehalten wird, aber neugierig macht auf die Fortsetzung „Das Ende von Hyperion“, die Simmons kurz darauf folgen ließ.


Robert Bloch – „Ich küsse deinen Schatten“

Mittwoch, 16. Dezember 2020

(Diogenes, 296 S., Tb.) 
Bevor Robert Bloch 1947 mit „The Scarf“ („Der Schal“) seinen ersten Roman veröffentlichte, machte er sich bereits als produktiver Autor von Kurzgeschichten einen Namen, wobei er seine erste Story bereits 1930 im zarten Alter von 13 Jahren (!) veröffentlichte, 1939 kam er sogar auf 20 Geschichten. Kein Wunder also, dass der hierzulande vor allem durch die Romanvorlage für Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ bekannte Schriftsteller im Laufe seiner Karriere etliche Kurzgeschichten-Sammlungen publizierte, von denen zum Glück auch einige hierzulande erschienen sind, darunter die im Original 1960 veröffentlichte Sammlung „Pleasant Dreams, Nightmares“, die 1989 von Diogenes unter dem Titel „Ich küsse deinen Schatten“ für den deutschsprachigen Raum herausgebracht worden ist. 
In vierzehn Geschichten beweist der 1994 verstorbene Bloch, dass er zu den vielseitigsten Horror-Autoren seiner Zeit zählte. So erzählt er in der Auftaktstory „Zucker für die Süße“, warum eine Haushälterin die Stellung bei dem Bruder des Rechtsanwalts Sam Steever aufgegeben hat, nämlich weil ihr die achtjährige Irma, für die sie letztlich das Kindermädchen sein sollte, wie eine Hexe erschien, die aber auch von dem Vater des Kindes misshandelt wurde. Als sich der Rechtsanwalt selbst ein Bild von der Situation im Haus seines Bruders machen will, erscheint ihm Irma wie eine hübsche Puppe, doch ist sie tatsächlich alles andere als das … 
Eine schöne Geschichte über das alte Hollywood der Stummfilmzeit präsentiert sich mit „Die Traumfabrikanten“. Ein Reporter des „Filmdom“-Magazins soll eine Story über große alte Filmschauspieler abliefern. Dazu besucht er den einstmals großen Stummfilmregisseur Jeffrey Franklin, der allerdings nach seinem letzten Flop aus dem Jahre 1929, als der Tonfilm aufkam, keinen Film mehr gedreht hatte. Zusammen mit anderen Filmemachern und Schauspielern beschloss er vor gut einem Vierteljahrhundert, Hollywood den Rücken zu kehren, während andere, die nicht diese Weitsicht hatten, im Hollywood des Tonfilms unter die Räder kamen. Schließlich reift in dem Reporter die Idee, ein Drehbuch über die noch jung gebliebenen Altstars zu schreiben und Franklin die Regie führen zu lassen. Doch der Filmemacher agiert nach einem eigenen Drehbuch. 
In „Der Zauberlehrling“ erzählt ein buckliger Junge namens Hugo, wie er, nachdem er aus einem Heim geflohen war, von dem großen Zauberer Sadini als Assistent eingestellt wurde. Als Hugo allerdings feststellt, dass seine schöne Frau Isabel eine Affäre mit dem Möchtegern-Zauberer George Wallace unterhält, geraten die Dinge außer Kontrolle. 
Bloch hat nicht nur Geschichten, die auf dem „Cthulhu“-Mythos von H.P. Lovecraft basieren, geschrieben, sondern hat mit „Der Leuchtturm“ auch die letzte – unvollendete – Geschichte von Edgar Allan Poe zu Ende geschrieben. Es ist das am 1. Januar 1796 begonnene Journal eines Leuchtturmwärters, der nach elf einsamen Tagen feststellen muss, dass sich etwas ihm Unbekanntes verändert hat, und einer Frau begegnet, die geradezu seinen Träumen entsprungen zu sein scheint. 
„Ihr Fleisch war wirklich – kalt wie die eisigen Wasser, aus denen sie kam, aber greifbar und dauerhaft. Ich dachte an den Sturm, an zertrümmerte Schiffe und ertrinkende Menschen, ein ins Wasser geworfenes Mädchen, das sich schwimmend in Richtung Leuchtfeuer kämpfte. Ich dachte an tausend Erklärungen, tausend Wunder, tausend Rätsel und Gründe außerhalb aller Vernunft. Aber nur eine Sache zählte – meine Gefährtin war da, und ich musste einen Schritt vorwärts machen und sie in meine Arme nehmen.“ (S. 197) 
„Das hungrige Haus“ erzählt von einem Paar, das sich ein Haus gekauft hat und schließlich alle Spiegel auf den Dachboden verbannen, weil sie unabhängig voneinander in ihnen Angst einflößende Erscheinungen wahrnehmen, die der tragischen Geschichte des Hauses geschuldet sind, doch der im Bellman-Haus umtriebige Geist findet andere Wege, seinen Hunger nach Blut zu stillen … 
Robert Bloch (1917-1934) hat mit „Ich küsse deinen Schatten“ ein faszinierendes Zeugnis seiner Erzählkunst abgelegt. Ob Blutsauger, böse Geister, Vampire oder Hexen – Bloch findet stets einen interessanten Weg, das Grauen aus alltäglichen Situationen glaubwürdig auferstehen zu lassen und seine Geschichten mit wunderbaren, schwarzhumorigen oder auch schockstarrenden Pointen zu versehen.


John Katzenbach – „Der Bruder“

Donnerstag, 10. Dezember 2020

(Droemer, 623 S., Pb.) 
Kurz vor ihrem Abschluss erhält die junge Architekturstudentin Sloane Connolly einen handschriftlichen Brief von ihrer Mutter, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr hatte. „Vergiss nicht, was dein Name bedeutet. Es tut mir so leid.“ Dieser eine Satz reicht aus, um Sloanes vorherigen Gefühle für ihre Mutter – viel Wut und ein Rest von Liebe – einer umfassenden Beunruhigung Platz weichen zu lassen, doch jeglicher Versuch, Kontakt zu ihr aufzunehmen, scheitert. Sloane gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei findet in der absolut aufgeräumten Wohnung von Maeve O’Connor aber nur ein offensichtlich für Sloane gedachtes Präsent. Wenig später finden die Cops den Wagen von Sloanes Mutter sowie ihre Schuhe in der Nähe eines Wanderweges zum Ufer des Connecticut Rivers, in dem Taucher schließlich auch eine Jacke finden, die Maeve hätte gehören können, doch von ihr selbst fehlt jede Spur.
Als Sloane schließlich das Päckchen, das ihre Mutter hinterließ, öffnet, findet sie einen .45er Colt Halbautomatik darin vor und einen weiteren Hinweis, mit dem ihre Mutter Sloane auffordert, alles zu verkaufen, mit der Waffe lernen umzugehen und sofort wegzulaufen. Doch das erweist sich als schwierig. Zum einen will sich ihr betrügerischer Ex-Freund Roger nicht mit der Trennung abfinden und scheut auch vor Gewalt nicht zurück, um Sloane zurückzugewinnen. 
Und dann erhält Sloane über den gut situierten Anwalt Patrick Tempter einen außergewöhnlichen Auftrag: Im Namen des anonymen Auftraggebers, den der Anwalt vertritt, soll Sloane ein Denkmal für sechs Personen entwerfen, die eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt haben. Der Auftraggeber erweist sich dabei als äußerst spendabel, lässt ihr ein schickes Büro einrichten, ein fettes Spesenkonto und Honorar springen. Doch Sloane stellt bei ihren Recherchen zu den sechs Personen, die sie in ihrem Denkmal verewigen soll, schnell fest, dass sie allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben sind. 
 „Sie hatte eine Menge in Erfahrung gebracht, nur dass sich die Informationen nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügten, geschweige denn, einen gemeinsamen Nenner erkennen ließen, die Grundlage für ein Denkmal. Was das alles für den Auftraggeber bedeutete, blieb ihr vorerst schleierhaft.“ (S. 224) 
Je mehr sich Sloane mit ihrem Projekt auseinandersetzt, desto deutlicher wird ihr bewusst, dass ihre spurlos verschwundene, offensichtlich tote Mutter ebenfalls eine Rolle bei diesem geheimnisvollen Auftrag spielen muss … 
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat mit Psycho-Thrillern wie „Die Anstalt“, „Der Patient“ und „Der Psychiater“ eindrucksvoll bewiesen, dass er außergewöhnliche Plots mit sorgfältig charakterisierten Figuren, sukzessivem Spannungsaufbau und raffinierten Wendungen zu kreieren versteht. Auch sein neues Werk „Der Bruder“ fasziniert mit einer mehr als ungewöhnlichen Ausgangssituation, die allerdings auch schon eine Schwäche in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Story offenbart. Lässt man sich als Leser aber erst einmal auf das Szenario ein, dass Katzenbachs sympathische Protagonistin sich gleichzeitig nicht nur gegen einen Stalker zur Wehr setzen und das Verschwinden ihrer Mutter verarbeiten muss, sondern es auch noch mit einem geheimnisvollen Auftraggeber zu tun bekommt, der ihr den Grundstein für eine beispiellose Karriere anbietet, wird man mit einer interessanten Schnitzeljagd belohnt, bei der die angehende Architektin nach und nach herausfindet, dass die sechs Personen, die durch ihr Denkmal geehrt werden sollen, nicht eines natürlichen Todes verschieden sind. 
Geschickt verwebt der Autor immer wieder Sloanes Ermittlungen mit den Querelen, die sie mit ihrem aufdringlichen Ex-Lover Roger hat, und den Kontakten zu ihrem Auftraggeber, die ausschließlich über dessen Anwalt laufen. Durch Katzenbachs detailreiche Schilderungen kommen dabei schon einige Längen auf, doch gipfelt der Plot in einem außergewöhnlichen Finale, das Psycho-Thriller-Fans begeistern dürfte. 

Stewart O’Nan – „Die Speed Queen“

Samstag, 28. November 2020

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Margie Standiford wartet in der Todeszelle eines Gefängnisses in Oklahoma auf ihre Hinrichtung durch eine Giftinjektion. Ihre letzten Stunden verbringt sie damit, dem Bestseller-Autor Stephen King, der über Margies Anwalt Mr. Jefferies die Rechte an ihrer Geschichte gekauft hat, ein Tape zu besprechen, auf dem sie die 114 Fragen beantwortet, die er ihr zu ihrer Lebensgeschichte gestellt hat. Das tut sie nicht nur, um ihren Sohn Gainey finanziell abzusichern, sondern vor allem ihre eigene Version der Geschichte zu veröffentlichen, die bereits ihre Freundin Natalie erfolgreich zu einem Buch vermarktet hatte, das aber eben – ihrer Meinung nach - nicht die Wahrheit erzählte. 
Der Fragenkatalog von Stephen King bietet ihr nun die Möglichkeit, ihre Version der Geschichte publik zu machen, wobei sie nach einer Einleitung mit ihrer Kindheit beginnt, mit dem Umzug aus der Nähe von Depew nach Kickingbird Circle in Edmond, wo ihr Vater Trainerassistent in einem Reitpark und ihre Mutter beim örtlichen Postamt beschäftigt waren. Margie verlebte eine ganz normale Kindheit, hatte Freundinnen und Spaß in der Schule, vor allem an Erdkunde, sang im Chor, spielte Softball, ging aber nicht in die Kirche – da sonntags die großen Pferderennen stattfanden. Am 26. Oktober 1984 lernte sie ihren späteren Mann Lamont kennen, als sie in einer Tankstelle arbeitete und sich die Zeit damit vertrieb, jede Nacht ein Fläschchen Wodka zu leeren. 
Lamont kam mit einem 442-Kabrio vorgefahren, verließ die Tankstelle, ohne zu bezahlen, kehrte dann aber zurück, um so Margie kennenzulernen. Mit ihm nahm auch Margies Drogenkonsum zu. Während sie zu High-School-Zeiten nur Bier und Wodka getrunken, an den Wochenenden Gras geraucht und bei Gelegenheit Downers eingeworfen hatte, kamen nun Acid und Speed dazu, dem sie schließlich ihren Spitznamen verdankte. Als sie wegen Drogenmissbrauchs sechs Monate in Clara Waters absitzen musste, lernte sie Natalie kennen, mit der sie eine Affäre begann, doch als Margie zu mutmaßen begann, dass Natalie auch mit Lamont schlief, kommt es zur Katastrophe. 
Bei einem gemeinsamen Roadtrip auf der Route 66 überfielen sie ein Schnellrestaurant, nachdem sie bereits ein älteres Ehepaar umgebracht hatten, schließlich erschossen sie sogar einen Polizisten, wofür sich Margie schließlich vor Gericht verantworten musste. 
„In der Zeitung bezeichnen sie die Morde immer als sinnlos. Die Leute waren vielleicht übel zugerichtet, aber zumindest gab’s einen Grund dafür. Dann ist das noch, dass sie uns als Serienmörder bezeichnen. Das ist einfach falsch – ein Serienmörder bringt immer nur einen um, aber das öfter. Das andere, was mich stört, ist die Bezeichnung ,mordlüstern‘. Ich glaub, das stimmt genausowenig. Lüstern hört sich an, als hätte uns die Sache gut gefallen, als wären wir ganz unbekümmert gewesen oder so, als hätt’s uns Spaß gemacht, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war.“ (S. 224) 
In seinem vierten, im Original 1997 veröffentlichten Roman „Die Speed Queen“ hat der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan eine eigenwillige Methode gefunden, die Geschichte seiner Protagonistin, der zum Tode verurteilten Marjorie Standiford, zu erzählen, nämlich als transkribierte Kassettenaufnahme, die der Bestseller-Autor Stephen King zu einem Roman formen soll, nachdem er der Todgeweihten einen Fragenkatalog zukommen ließ. Diese Form der Ich-Erzählung ist deshalb so interessant, weil die Leserschaft nur die schöngefärbte Perspektive der Erzählerin zu hören bekommt, die in ihrer Lebensgeschichte vor allem ihren Weggefährten Lamont und Natalie die Schuld an den Verbrechen zuschiebt, so als sei sie kaum beteiligt gewesen und habe sich nur um ihren Sohn gekümmert, während die beiden mutmaßlichen Verräter die Morde verübten. Die Fragen des – zwar an sich realen, in diesem Fall aber fiktiv eingebundenen – Autors Stephen Kings werden nicht aufgeführt, erschließen sich in der Regel aber aus der Art von Margies Antworten. 
„Die Speed Queen“ erweist sich als die tragische Geschichte einer sehr durchschnittlichen Frau, die sich mit Mindestlohn-Jobs über Wasser hält und voll in den Beziehungen zu Lamont und später auch Natalie aufgeht. Wie sie im späteren Verlauf ihnen die Schuld an den tödlichen Verbrechen gibt, wirkt wie ein Racheakt, weniger wie eine wahrheitsgetreue Aufarbeitung. Der Roman thematisiert aber auch den Umgang der Medien mit Gewalt und fehlgeleiteter Berühmtheit. Stephen King fungiert hier als Stellvertreter für ein mächtiges Sprachrohr, der mit seinen Millionenauflagen auch Margies letztlich bemitleidenswerte Geschichte möglichst breit bekannt machen soll. 
Auch wenn die sehr einfache Sprache, mit der O’Nan seine Protagonistin ihre Geschichte erzählen lässt, zunächst gewöhnungsbedürftig ist, entwickelt die Story bei allen Zeitsprüngen einen starken Sog, mit dem eine an sich unauffällige Figur an Persönlichkeit gewinnt.


Lee Child – (Jack Reacher: 13) „Underground“

Mittwoch, 25. November 2020

(Blanvalet, 446 S., HC) 
Jack Reacher, ehemaliger Militärpolizist in der 110th Investigative Unit der US-Army, ist in New York mit dem 6 Train um zwei Uhr morgens stadtauswärts unterwegs, als er gewohnheitsmäßig die übrigen Passagiere in Wagen 7622 abscannt und bei einer weißen Frau in den Vierzigern die 12-Punkte Liste zum Erkennen von Selbstmordattentätern durchgeht, die einst die israelische Spionageabwehr entwickelt hat. Reacher macht einige der relevanten Punkte bei der in Schwarz gekleideten Frau aus und entschließt sich, sie anzusprechen, sie zu bitten, die Hände aus den Taschen zu nehmen, worauf sie allerdings eine Waffe zieht und sich in den Kopf schießt. Bei den anschließenden Ermittlungen ist nicht nur das NYPD, sondern vor allem der Geheimdienst im Spiel. Der geht davon aus, dass die Frau, die als Susan Ward identifiziert wird und als Zivilangestellte in der Personalabteilung der United States Army gearbeitet hat. Bei dem Verhör, das sich Reacher durch den nicht näher definierten Geheimdienst unterziehen muss, fallen verschiedene Namen wie Lila Hoth und John Samson. 
Der Kongressabgeordnete aus North Carolina will Senator werden und hat eine glänzende Karriere bei den Special Forces hinter sich. Reacher gibt sich in jeder Hinsicht unwissend, vor allem gegenüber der ausgesprochenen Vermutung, dass Susan Mark ihm etwas übergeben haben muss, einen USB-Stick zum Beispiel. Reacher macht sich schließlich selbst auf die Suche nach dem Motiv, das Susan Mark in den Selbstmord getrieben hat, und macht nicht nur Bekanntschaft mit dem angehenden Senator, sondern auch mit der auffallend schönen Lila Hoth und ihrer angeblichen Mutter Swetlana, die Reacher Pässe aus der Ukraine vorlegen und ihm eine Geschichte auftischen, die mit dem Einsatz der Sowjets in Afghanistan und der Beteiligung von Samson zu tun hat. 
Mit Unterstützung der engagierten NYPD-Beamten Theresa Lee deckt Reacher nach und nach die wahren Hintergründe eines Einsatzes auf, das in Form eines Fotos auf dem gesuchten USB-Stick eine explosive Wirkung nach sich ziehen würde … 
„Ich erinnerte mich an alles, was sie gesagt hatten, wie ein Schreiner mit der Handfläche über gehobeltes Holz fährt, um raue Stellen auszumachen. Es gab ein paar. Es gab seltsame Halbkommentare, eigenartige Nuancen, nicht weiter erklärte Andeutungen. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Noch nicht. Aber allein die Tatsache, dass ich von ihrer Existenz wusste, war bereits nützlich.“ (S. 233) 
Mit dem ehemaligen hochdekorierten Militärpolizisten Jack Reacher hat Lee Child einen charismatischen Ermittler erschaffen, der nach dreizehn Jahren im Dienst der Army ohne festen Wohnsitz und nur mit den Sachen, die er am Leib trägt wahllos durch die Staaten zieht und dabei regelmäßig in Situationen gerät, bei denen seine ausgeprägte Beobachtungsgabe und analytischen Fähigkeiten seine Intervention für die gute Sache erfordern. 
In dem 2009 veröffentlichten 13. Reacher-Roman „Gone Tomorrow“, der drei Jahre später auch hierzulande mit dem passenden Titel „Underground“ erschien, wird die allgegenwärtige Gefahr durch den Terrorismus zum grundlegenden Thema, um das sich herum Politiker, Polizisten, Geheimdienste und - natürlich – Jack Reacher auf die Suche nach einem geheimnisvollen USB-Stick machen, der sowohl dem ambitionierten Kongressabgeordneten als auch fundamentalistischen Kräften Schaden zufügen konnte. So packend die Story um die Selbstmordattentäterin beginnt, verliert der Plot allerdings mit den sich in die Länge ziehenden Verhören und Streitigkeiten zwischen NYPD und Geheimdiensten, Reachers mühselig gewonnenen Erkenntnissen an Reiz zu verlieren. 
Lee Child hat sich stets als Meister der detaillierten Beschreibung und Analyse erwiesen, mit denen sein imponierend aussehender Held seine Umgebung erfasst, allerdings schießt er dabei in „Underground“ etwas übers Ziel hinaus. Erst zum Finale hin, wenn Reacher sich als Einzelkämpfer gegen eine ganze Truppe bewaffneter Terroristen durchpflügt und dem wahren Kern der ganzen Lügengeschichten näherkommt, findet Child zu gewohnter Stärke zurück. Nichtsdestotrotz bleiben sowohl die Story selbst als auch die nur rudimentär charakterisierten Personen im Vergleich zu anderen Reacher-Romanen sehr blass. 

Stewart O’Nan – „Die Armee der Superhelden“

Mittwoch, 18. November 2020

(Rowohlt, 208 S., Tb.) 
Der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan hat sich in seinem mittlerweile durchaus umfangreichen Oeuvre als Meister des schonungslosen Blicks auf das Gewöhnliche, auf den Alltag und die – oft gescheiterten - Beziehungen ganz normaler Menschen etabliert. Im Jahr 2000 erschien bei Rowohlt seine bereits 1993 im Original veröffentliche Story-Sammlung „Die Armee der Superhelden“, und selbst wer bislang nur wenige Bücher des amerikanischen Ausnahme-Autors gelesen haben sollte, wird sofort merken, dass im Zentrum der zwölf hier vereinten Geschichten alles andere als Superhelden stehen. 
So versucht der auf einer Mülldeponie arbeitende Carter in der Eröffnungsgeschichte „Der Finger“ noch immer einen Draht zu seiner Frau Diane zu finden, von der er seit einem Jahr getrennt lebt. Er fühlt sich nach wie vor verantwortlich, obwohl sie sich – wie er weiß – mit anderen Männern trifft, bringt ihr Umschläge mit Geld, wenn sie dringend welches benötigt, besucht sie und ihr gemeinsames Kind am Sonntag und führt Reparaturen in ihrem Haushalt durch. Doch als er eine Kommode von der Mülldeponie hübsch für Diane aufbereitet, findet er sie wenig später erneut im Müll wieder. In „Der 3. Juli“ versucht die verwitwete Mrs. May den heruntergekommenen Golf-Club in Schuss und die wenigen Gäste bei Laune zu halten, doch kann sie sich nicht auf ihren Angestellten Lawson verlassen, der bestimmte Arbeiten anfängt, sich dann aber anderen Beschäftigungen zuwendet wie das Beschützen seiner Tauben vor dem Falken. 
In „Die Versteigerung“ werden Farmen von bankrotten Leuten versteigert, in „Winter Haven“ versucht ein Polizeibeamter ein Haus zu verkaufen, nachdem er sich von seiner Frau Eileen getrennt hat, und nun ein Auge darauf wirft, dass ein Hausbesetzer, der am Strand ein Haus nach dem anderen in Beschlag nimmt, nicht auch sein Haus besetzt. In der Titelgeschichte versucht ein Mann, seine Einsamkeit dadurch zu lindern, dass er sich wie sein Sohn mit dem Sammeln von Comics beschäftigt, doch als sein Sohn kein Interesse mehr an den Comics hat und sie verkaufen will, wird seinem Vater die Einsamkeit umso schmerzlicher bewusst. 
In der abschließenden Geschichte „Econoline“ denkt Willie T. darüber nach, in Rente zu gehen, sich einen Bus zu kaufen und damit Leute aus einem Seniorenheim durch die Gegend zu fahren. Doch der Job drückt dem alten Mann zunehmend aufs Gemüt. 
„Aber selbst während seine Fahrgäste lachten und Witze rissen, vergaß Willie T. nie, dass sie bald sterben würden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, war leichter, als daran zu glauben. Christine war stolz auf ihn, Mr. Binstock war stolz auf ihn, Mr. Fergus war stolz auf ihn. Ungeachtet des Geldes wäre es dumm gewesen, gegen ihren vereinten Respekt anzukämpfen. Also fuhr er, angstvoll, skeptisch.“ (S. 203) 
Mit „Die Armee der Superhelden“ taucht Stewart O’Nan einmal mehr tief in die Seele einfacher amerikanischer Menschen ein, die am Ende ihres Berufslebens stehen und mit Sorge auf die Zeit danach blicken; die am Ende einer Ehe/Beziehung sind, sich aber mit den veränderten Lebensbedingungen nicht abgefunden haben; die sich mit Menschen umgeben, die einander nicht verstehen – da helfen auch keine Sprachkurse weiter wie in „Mr. Wu denkt“. In nahezu jeder Geschichte offenbart der Autor mit seiner schnörkellosen Sprache und seinem lakonischen Ton die emotionale Leere, die Einsamkeit seiner Figuren, die viel reden, aber letztlich wenig mitzuteilen haben und von ihren Gesprächspartnern wenig Verständnis erwarten können. 
Zum Glück sind es nur gut 200 Seiten, in denen O’Nans Leserschaft die niederschlagende, pessimistische Sicht auf den Alltag ganz gewöhnlicher Leute ertragen müssen. Auf der anderen Seite tragen die Geschichten hoffentlich dazu bei, sich selbst besser zu fühlen, weil man nicht ein so trostloses Leben führt. Im Gegensatz zu seinen meist sehr gelungenen Romanen, bei denen O’Nan tief in die Psyche der Protagonisten blicken lässt, präsentieren hier die kurzen Erzählungen nur einen kurzen Blick auf einzelne Situationen, als würde man als Kinobesucher zu spät in einen Film kommen und vor dem Finale wieder gehen, denn oft fehlt auch eine Pointe.


Henning Mankell – (Kurt Wallander: 6) „Die fünfte Frau“

Montag, 16. November 2020

(Zsolnay, 544 S., HC) 
Der achtundsiebzigjährige ehemalige erfolgreiche Autoverkäufer Holger Eriksson lebt allein auf seinem abgelegenen Hof und verbringt seine Zeit mit dem Schreiben von Gedichten über Vögel. Als er in einer Septembernacht des Jahres 1994 sein Haus verlässt, um draußen die Vogelzüge in den Süden zu verfolgen, bricht die an sich stabile Planke, die er über einen Graben gelegt hatte, und er wird von Bambusstangen im Graben aufgespießt. Ein Mann, der Eriksson zu einem verabredeten Termin Öl liefern sollte, berichtet das Polizeipräsidium in Ystad von seinem Verdacht, dass da etwas nicht stimme. Währenddessen denkt Kommissar Kurt Wallander an die Romreise mit seinem demenzkranken Vater zurück, die sie einander wieder nähergebracht hatte. Doch kurz nach seiner Rückkehr verstirbt sein Vater an einem Schlaganfall in seinem Atelier. 
Mit seiner aufgeweckten Kollegin Ann-Britt Höglund kümmert sich Wallander um einen Einbruch in einem Blumenladen, wo offensichtlich nichts gestohlen wurde, aber Blutflecken auf dem Boden entdeckt werden. Der Eigentümer, Gösta Runfeldt, wollte eine Reise nach Nairobi antreten, um Orchideen zu fotografieren, doch hat er nicht mal die Fähre in Kastrup erreicht. Drei Wochen später wird der Mann mit Seilen an einen Baum gebunden und erwürgt aufgefunden. Und schließlich wird ein Forscher gegen Milcheiweißallergien in einem Sack ertrunken im See gefunden. Zunächst scheint es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen diesen äußerst brutal ausgeführten Morden zu geben, doch mit der Zeit finden Wallander und seine Leute heraus, dass die Männer Frauen misshandelten, teilweise wahrscheinlich sogar umbrachten. Obwohl die Brutalität der Verbrechen eher auf einen Mann als Täter hindeutet, gelangen Wallander & Co. zunehmend zur Überzeugung, dass eine Frau sich für die an ihrem Geschlecht verübten Verbrechen rächt. Eine erste Spur führt dabei auf die Entbindungsstation eines Krankenhauses, wo eine Frau in Schwesterntracht bemerkt wird, die offensichtlich nicht zum Kollegium gehört. 
„Ihm war auf einmal klar, dass das Motiv nichts anderes sein konnte als Rache. Doch dies hier überstieg alle fassbaren Proportionen. Was rächte der Täter? Was war der Hintergrund? Etwas so Ungeheuerliches, dass es nicht ausreichte, einfach zu töten, sondern dass denen, die starben, auch bewusst werden sollte, was mit ihnen geschah. 
Dahinter verbergen sich keine Zufälle, dachte Wallander. Alles ist genau ausgedacht – und ausgewählt.“ (S. 335) 
Mit seinem sechsten Wallander-Roman knüpfte der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell thematisch an den vorangegangenen Krimi „Die falsche Fährte“ an, denn auch hier ist Rache für Verbrechen an Menschen, die dem Täter auf irgendeine persönliche Art nahestehen, das Motiv, aus dem sich die wiederum sehr brutalen Taten erklären. Dabei stehen die einzelnen Mordarten in direktem Zusammenhang mit den Verbrechen, die die Männer an Frauen begangen haben, und folgen somit einer alttestamentarischen Vergeltungsphilosophie. Die unvorstellbare Brutalität der Verbrechen macht die Ermittler nahezu fassungslos. 
Mankell verweist dabei aber auch immer wieder auf die Verrohung der schwedischen Gesellschaft, die Kürzungen im Polizeiapparat, so dass sich immer mehr Bürgerwehren formieren, um das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Darunter muss sogar Wallanders Kollege Martinsson leiden, dessen Tochter in der Schule misshandelt worden ist, nur weil ihr Vater Polizist ist. Wallanders private Baustellen kommen bei dem umfassend beschriebenen Gewalt-Thema leider etwas kurz, vor allem die Fernbeziehung mit Baiba, die noch unschlüssig scheint, ob sie zu ihrem Geliebten nach Schweden ziehen soll. Aber auch der plötzliche Tod seines Vaters und die Beziehung zu seiner Tochter Linda werden nur am Rande angerissen. Auf jeden Fall ist Mankell mit „Die fünfte Frau“ ein komplexer Krimi gelungen, bei dem er sein Publikum sehr detailliert an den Ermittlungen und Überlegungen teilhaben lässt. Dazu regt die drastisch inszenierte Gewalt, die sich über die zunächst im Zentrum stehenden Morde bis zu den Bürgerwehren erstreckt, nach wie vor zum Nachdenken über die Ausbreitung von Gewalt in der modernen, zivilisierten Welt an.


Dan Simmons – „Der Berg“

Mittwoch, 11. November 2020

(Heyne, 768 S., HC) 
Eigentlich hatte der amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Hyperion“, „Terror“) vor, einen in der Antarktis spielenden Roman zu schreiben, als er im Sommer 1991 in einer Seniorenresidenz in Delta, Colorado, Jacob „Jake“ Perry kennen, der 1934 an einer US-Expedition zum Südpol teilnahm, um Admiral Byrd zu retten, der fünf Monate allein in einer meteorologischen Station im Eis verharren musste. Simmons war zwar an einer persönlichen Schilderung der Ereignisse interessiert, hatte aber auch einen Thriller mit einem bedrohlichen Wesen im Sinn. Wie Simmons im Gespräch mit Perry erfährt, war der Expeditionsteilnehmer kein Wissenschaftler, sondern hatte in Harvard Anglistik studiert und war entschlossen, in Paris den jungen Ernest Hemingway nach seiner Meinung zu drei Erzählungen einzuholen, die er ihm vorlegte und mit dem Hinweis zurückbekam, dass er bei seinem Beruf bleiben solle. Erst später fand Simmons heraus, dass Perry an mehreren berühmten Bergexpeditionen teilgenommen hatte. Als Perry im Mai 1992 seinem Krebsleiden erlag, hat er Simmons ein Paket mit zwölf Notizbüchern mit einer Geschichte überlassen, die Simmons quasi nur als Herausgeber begleitet.
Bei einer 1924 initiierten Klettertour in den Alpen, die der junge Felskletterer Jake Perry mit dem siebenunddreißigjährigen Engländer Richard Davis „Diakon“ Deacon und dem fünfundzwanzigjährigen Franzosen Jean-Claude „J. C.“ Clairoux unternimmt, erfahren die Bergsteiger, dass George Leigh Mallory und A. C. Irvine beim Versuch, den Mount Everest zu besteigen, tödlich verunglückt sind. Mit ihnen sind zwei weitere Kletterer von einer Lawine mitgerissen und getötet worden, der zweiunddreißigjährige Lord Percival Bromley und der deutscher oder österreichischer Bergsteiger namens Kurt Meyer. Der Diakon, J. C. und der junge Jake Perry bekommen von Lady Bromley eine Expedition zum Mount Everest finanziert – mit dem Auftrag, den Leichnam des jungen Lord Bromley sicherzustellen. Zusammen mit Bromleys Cousine, der taffen Plantagenbesitzerin Reggie, Dr. Pasang und etlichen Sherpas nehmen sie 1925 mit verbesserter Ausrüstung den gefährlichen Aufstieg auf sich, der ihnen neben dem eigentlichen Auftrag auch einen langgehegten Traum erfüllen soll, nämlich den Mount Everest zu bezwingen. 
„Ich recke den schmerzenden Hals nach links, um zum Gipfel des Everest hinaufzublicken, der nur siebenhundert Meter über uns rötlich erglüht, wie von der Sonne gesegnet. Die schimmernden Schneefelder unter dem letzten steilen Abschnitt haben etwas Überirdisches an sich, als wären sie nicht von dieser Welt. Diese Höhe ist nicht von dieser Welt, mahnt eine dumpfe Stimme in mir. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht. Doch während sich in mir leise Panik regt, bildet sich ein völlig gegensätzlicher Gedanke: Hier will ich sein. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet.“ (S. 490f.)
Dan Simmons nutzt den geschickten Kniff, sich auf zwölf ihm überlassene Notizbücher des mehrfachen Expeditionsteilnehmers Jake Perry zu berufen, um eine größtmögliche Authentizität bei der Schilderung der ebenso körperlich wie psychisch herausfordernden Expedition zum Mount Everest zu erreichen. Tatsächlich nimmt er sich sehr viel Zeit, um die ausgiebigen Planungen, die Reisen, die optimierten Sauerstoffflaschen, Zelte, Seile und Kletterwerkzeuge zu beschreiben, was dem Leser aber auch die Möglichkeit eröffnet, die einzelnen Figuren näher kennenzulernen. Spannend ist dabei nicht nur das beschwerliche Besteigen des Berges, das Wechseln zwischen den einzelnen Lagern und die Rückschläge beschrieben, sondern der politische Hintergrund der Aktion. Denn offensichtlich ist Percy Bromley der Expedition von Mallory und Irvine nachgereist und hatte als britischer Spion einen außergewöhnlichen Auftrag, mit dem er Beweise sicherstellen sollte, die die in Deutschland aufstrebenden Nationalsozialisten in Verruf bringen würden. Deshalb wundern sich der Diakon und seine Truppe auch nicht, als nationalsozialistische Bergsteiger um einen Mann namens Sigl sich an ihre Fersen heften … Simmons erweist sich einmal mehr als Meister der stimmungsvollen Vermittlung historischer Ereignisse, wobei er sich hier einige Freiheiten erlaubt haben dürfte. Besonders krude wirken hier die ins Zentrum gerückten Fotos, die Perry sicherstellen konnte und schließlich entscheidend dafür gewesen sein sollen, dass Nazi-Deutschland England nicht angriff. Davon abgesehen bietet „Der Berg“ etwas zu langatmige und ausschweifende Beschreibungen eines bemerkenswerten Abenteuers, bei dem die majestätische Schönheit der Natur ebenso wunderbar vermittelt wird wie die unvorstellbaren körperlichen Strapazen und Gefahren, unter denen die Expeditionsteilnehmer ihre Mission durchführten. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 1) „Der Todesspieler“

Montag, 9. November 2020

(Blanvalet, 510 S., HC) 
Colter Shaw hat gerade einen unbekannten Mann in die Flucht geschlagen, der es offensichtlich auf sein Wohnmobil im Oak View Wohnmobilpark in der Bay Area abgesehen hatte, als er von seinen Nachbarn, die sein Haus in Florida hüteten, einen neuen Auftrag übermittelt bekommt. Colter ist nämlich Prämienjäger, der vor allem vermisste Personen aufspürt und dafür die ausgesetzten Belohnungen kassiert. Obwohl er gerade in privater Mission unterwegs ist, interessiert ihn der Fall eines vermissten Mädchens im Silicon Valley. Die neunzehnjährige Studentin Sophie „Fee“ Mulliner lebte mit ihrem Vater und dem Pudel Luka zusammen, den sie nie zurücklassen würde, wie Colter von ihrem Vater erfährt, der eine Belohnung von 10.000 Dollar für Hinweise auf den Verbleib seiner Tochter ausgesetzt hat. 
Die örtliche Polizei war bislang weitgehend untätig gewesen, da kein Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt und keine Lösegeldforderung eingetroffen ist. Colter knöpft sich zunächst Sophies Ex-Freund Kyle Butler vor, der aber aufrichtig erschüttert über Sophies Verschwinden wirkt. Im Quick Byte Café in Mountain View stößt Colter auf einen ersten Hinweis. Bei der Sichtung der Videoüberwachung entdeckt er einen Mann, der womöglich einen Peilsender bei Sophie angebracht haben könnte. Als er Sophies möglichen Weg mit ihrem Fahrrad zu rekonstruieren versucht, findet er tatsächlich an einer Böschung ihr Handy und Spuren, die auf einen Unfall mit ihrem Fahrrad hindeuten. Doch nach wie vor steckt die Polizei nicht viel Energie in die Sache. Im Quick Byte Café lernt Colter schließlich die attraktive Gamerin Maddie Poole kennen, die ihn in die Welt der Computerspiele einführt und ihm die nächste heiße Spur liefert: Nachdem Sophie von Colter nämlich in einem Fabrikgebäude gerettet werden konnte, scheinen sich die Hinweise zu verdichten, dass der Täter ein psychopathischer Spieler sein könnte, der nach dem Muster eines Spiels namens „Der flüsternde Mann“ vorgeht. 
Tatsächlich verschwindet kurz darauf mit dem homosexuellen Blogger Henry Thompson eine weitere Person. Zusammen mit Maddie versucht Colter, in der hart umkämpften Welt des Computerspiele-Markt die entscheidende Spur zu finden, denn mit den steigenden Levels wird es für die Opfer schwieriger, sich aus ihren prekären Situationen auch zu befreien … 
„Der Spieler folgte lediglich der vorgegebenen Handlung. Er war an den Schauplatz von Sophie Mulliners Gefangenschaft zurückgekehrt, um das Mädchen zu jagen. Hier hatte er das Gleiche getan. Er war eine Weile auf Abstand geblieben, damit Henry Thompson sein Signalfeuer entzünden könnte – genau wie Sophie eine Chance zum Ausbruch aus dem Raum erhalten hatte. Dann war er zurückgekommen, um das Spiel zu beenden.“ (S. 304) 
Seine Thriller-Reihe um den querschnittsgelähmten Ermittler Lincoln Rhyme hat Jeffery Deaver weltberühmt gemacht. Nun startet er mit „Der Todesspieler“ eine neue Serie um einen charismatischen Protagonisten, der einen höchst interessanten Hintergrund aufweist und seit zehn Jahren gegen Belohnung vermisste Personen aufspürt, womit er sich ganz bewusst von Kopfgeldjägern abgrenzt. Deaver startet seinen Roman gleich mit einer satten Portion Action und Spannung, führt den ebenso im Computerspiel unbewanderten Colter zusammen mit seiner Leserschaft immer tiefer in die Welt der virtuellen Abenteuer. Deaver erweist sich als Meister darin, die Spannungsschreibe konstant, aber langsam anzuziehen. Immer wieder erweist sich Colter dabei als cleverer als die Polizei. Erst mit dem lesbischen Detective Standish, die den zuvor tatenlosen Wiley abgelöst hat, erhält er kompetente Unterstützung, die ihm zuvor nur die Profi-Gamerin Maddie gewähren konnte. Bis sie den wahren Täter endlich identifizieren, nimmt der Plot allerdings etliche Wendungen, die nicht immer überzeugend wirken und die Geschichte unnötig in die Länge ziehen, aber dieses Spiel beherrscht Deaver virtuos. Das Computerspiel-Thema wird hier nicht nur vom wirtschaftlichen Aspekt her betrachtet, sondern bekommt hier im Zusammenhang mit dem Geschäft um gesammelte persönliche Informationen und auch Fake-News und Meinungsbildung eine beunruhigende Bedeutung. Seinen Protagonisten stellt er quasi nebenbei vor, immer wieder sorgen Colters Erinnerungen an seine Kindheit dafür, seinen familiären Hintergrund zu erhellen. So erfahren wir, dass Colter im Alter von vier Jahren mit seiner Familie aufs Land gezogen ist, auf ein riesiges Anwesen in den Ausläufern der Sierra Nevada, wo seine Eltern Ashton und Mary Dove ihn und seine Brüder Russell und Dorion in die Regeln des Spurenlesens, Jagens und Überlebens in der Wildnis einführten. Zusammen mit seinem erfolgreich absolvierten Jura-Studium hat Colter also die besten Voraussetzungen, um der Polizei beim Aufspüren der vermissten Personen zu helfen. Aber auch die private Mission, zu der Colter am Anfang aufgebrochen ist, hat es in sich und wird ihn und die gespannten Leser auch in den hoffentlich bald folgenden Fortsetzungen gut unterhalten. 

Raffaella Romagnolo – „Dieses ganze Leben“

Samstag, 7. November 2020

(Diogenes, 268 S., HC) 
Der 16-jährigen Paola Di Giorgio ergeht es wie vielen Mädchen ihres Alters, sie findet sich zu hässlich und zu dick. Bei einer Körpergröße von 1,74 Meter bringt sie 75 Kilo auf die intelligente Waage, die ihr sofort den BMI anzeigt und ihr Ernährungstipps mit auf den Weg gibt. Außerdem hadert sie mit ihren krummen Beinen, das Gefühl, nur einen einzigen fetten Oberschenkel zu haben, und mit ihrem stets verpickelten Gesicht. Da hilft ihr das gute Aussehen ihrer Mutter und das Leben in einer der reichen Familie der Stadt wenig. In der Schule wird sie deshalb gemieden und gemobbt, besonders ein auf Facebook veröffentlichtes Video hat ihr arg zugesetzt. Ihre Freizeit verbringt sie deshalb mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Riccardo, den sie mal Richi, dann auch Opf nennt. Er leidet an einer frühkindlichen Entwicklungsstörung, kann sich nicht deutlich artikulieren und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie beide zieht es vor allem in die wenig ansehnliche Margeriten-Siedlung, eines der Projekte, die Paolas Eltern umgesetzt haben. 
Doch Paolas Mutter, die die Firma sogar einst leitete und angeblich wegen Richi kürzer getreten ist und nur noch als Sekretärin für ihren Mann arbeitet, hasst diese Siedlung wie die Pest. Der Grund, warum es Paola trotzdem dahinzieht, heißt Antonio, ist zwei Jahre älter als sie und behandelt Paola ganz normal. Da Richi mit seinem Bruder Schach spielt (eine Fähigkeit, die ihr bislang verborgen geblieben war), lernen sich Antonio und Paola derweil näher kennen, doch als sie befürchtet, ihr Schwarm könnte auch was mit dem auf Facebook veröffentlichten Video zu tun haben, geht sie wieder auf Distanz. Sorgen bereitet ihr aber vor allem der Verdacht, dass das Bauunternehmen ihrer Eltern in einen Müllskandal verwickelt sein könnte … 
„Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich, und unsere Art ist das Schweigen. Über die auf Giftmüll gebauten Wohnanlagen, über Richis Krankheit, darüber, warum Mama nicht mehr die Chefin ist, obwohl sie es doch ist, die den Namen Costa trägt. Über die Margeriten-Siedlung. Darüber, wo sie heute Morgen hingeht. Das Schweigen klebt an dir, ist wie Leim, eine Angewohnheit wie das Rauchen, du möchtest aufhören, kannst es aber nicht.“ (S. 193) 
Nach ihrem episch angelegten Portrait zweier Frauen und ihrer Familien, das die italienische Gymnasiallehrerin und Schriftstellerin Raffaella Romangnolo in „Bella Ciao“ präsentierte, nimmt sie in ihrem neuen Roman einen ganz neuen Blickwinkel ein und taucht tief in die Welt eines pubertierenden Mädchens ein, das in materieller Hinsicht alles hat, was man sich nur wünschen kann, aber sich sonst sehr einsam fühlt. Dass Paola mit ihren gehandicapten Bruder abhängt, ist aber nicht einfach der Not an anderen Freundschaften geschuldet, sondern stellt für das Mädchen eine ganz normale wie elementare Beziehung dar. Tatsächlich stellt diese natürlich wirkende Bindung zwischen den beiden Außenseitern auch den stärksten Aspekt des Romans „Dieses ganze Leben“ dar. 
Als eine Art Tagebucheintrag erzählt die 16-jährige Protagonistin auf durchaus witzige, selbstironische Weise von ihrer Selbstwahrnehmung, von ihren Schlemmerorgien und ihren regelmäßigen Aufenthalten im Kosmetiksalon. Sie erstellt eine lange Liste von Dingen, die sie hasst und schweift immer mal wieder in die eigene Kindheit und Familiengeschichte ab, wobei sie sich vor allem für die Lebens- und Liebesgeschichte ihrer Oma erwärmt. Es geht in „Dieses ganze Leben“ aber nicht nur einfach um die Geschichte eines mit sich selbst unzufriedenen Mädchens, sondern durch die angedeutete Romanze zwischen Paola und Antonio wird der Blick auch auf den Gegensatz von Arm und Reich gerichtet. Das liest sich manchmal sehr klischeebehaftet, zumal die belesene Ich-Erzählerin die Dinge sonst sehr differenziert und klug betrachtet. Was den Roman reizvoll macht, ist der natürliche Umgang mit den Ausgestoßenen, Außenseitern und Zurückgebliebenen, den Verlierern. Da kommt ein deutliches Maß an Kapitalismuskritik durch, die aber nicht in der Tiefe weiterverfolgt wird. Das geschieht übrigens auch mit anderen Themen, die kurz angerissen werden, aber dann doch im ominösen Dunkeln bleiben. Letztlich ist „Dieses ganze Leben“ dann doch nur eine kurzweilige, humorvolle, aber auch nachdenkliche Selbstreflexion eines jungen Mädchens, das sich das erste Mal verliebt und einfach nur gern wissen möchte, was ihre Familie für ein – dunkles? - Geheimnis mit sich trägt.