Mehr als 150 Jahre liegen zwischen der Erfindung des „Phonautographen“ oder Klangschreibers und der heute zu beobachtenden weitreichenden Digitalisierung der Musikwelt, die auf der anderen Seite die erfolgreiche Renaissance der Langspielplatte aus Vinyl feiert.
Der aus Irland stammende und in Paris lebende Autor Gareth Murphy hat sich der Herkules-Aufgabe gewidmet, die Entstehung der Musikindustrie, wie wir sie seit den 1960er Jahren mit der Beatlemania, dem Siegeszug von Elvis, den Rolling Stones und Bob Dylan kennengelernt haben, aus ungewohnter Perspektive aufzurollen, nämlich aus der Sicht sogenannter record men, die mit ihrem einzigartigen Gespür für neue Entwicklungen, Stars und Hits stets die treibenden Kräfte hinter dem zuweilen gigantisch aufgeblasenen Musikzirkus gewesen sind.
Murphy geht bei seiner „abenteuerlichen Reise ins Herz der Musikindustrie“ – so der Untertitel seiner umfassenden Geschichtslektion – streng chronologisch vor, beginnt etwas sehr ausufernd mit den Erfindungen von Klangaufzeichnungsgeräten und -schreibern, Patentstreitigkeiten und der Notwendigkeit, zu der entwickelten Hardware auch den entsprechenden Musikkatalog voranzubringen. Wir erleben mit der Geburt von His Master’s Voice und Columbia die Gründung der heute bekannten Musikindustrie, die Ende der 1920er Jahre mit der Verbreitung des Radios ihre erste große Krise bewältigen musste, mit John Hammond aber auch einen engagierten record man hervorbrachte, der zunächst für den britischen Melody Maker über die amerikanische Jazz-Szene schrieb und sich dann einen Namen als Produzenten von Stars wie Billie Holiday, Benny Goodman, Aretha Franklin, Count Basie und Bob Dylan machte, dem der Autor etwas mehr Aufmerksamkeit und Raum in seinem Buch schenkt.
Die weiteren Stationen decken Phil Spector und sein „Wall of Sound“ und die dem Baby-Boom zu verdankenden „Sixties“ ab, wobei die Karriere der Beatles und ihr Manager Brian Epstein wiederum ausführlicher beleuchtet werden. Je mehr sich die Majors wie EMI, Columbia, Capitol, CBS, Warner, Island, Atlantic bei Mega-Acts wie Led Zeppelin und Pink Floyd überboten, desto mehr kamen den Indies die Rolle zu, wirklich neue musikalische Strömungen zu entdecken, die über Plattenläden wie Rough Trade und Labels wie Factory, Mute, 4AD einem neugierigen Publikum zugänglich gemacht wurden.
„Praktisch hinter jedem stilbildenden Label versteckt sich eine sehr spezifische Geschichte, die gewöhnlich tief im Charakter des jugendlichen Gründers verankert ist. Dies sind die Schirmherren der musikalischen Gegenwart, dies sind die Propheten, die die Geschichte des Musikgeschäfts verinnerlicht haben und sich gleichzeitig in der Rolle des Richters und Schutzengels sehen.“ (S. 10f.)Gareth Murphy gelingt mit „Cowboys & Indies“ das seltene Kunststück, die eher unbekannte Seite des Musikgeschäfts, nämlich aus der Sicht der Manager, Talentscouts, Produzenten und Labelgründer zu rekapitulieren – und zwar chronologisch in ihrem soziokulturellen Kontext.
Natürlich kommt bei einer so turbulenten und umfassenden Geschichte einiges zu kurz, aber anhand von einigen wegweisenden record men und den Grabenkämpfen, die Majors wie Indies um ihr Überleben ausfechten mussten, entsteht ein umfassendes wie buntes Werk, das zuletzt auch die Herausforderungen durch die Digitalisierung thematisiert, auch wenn diese – wie viele andere Impulse – nur angerissen werden. Vor allem die exzentrischen Eigenheiten vieler record men und ihr schon geschäftsschädigendes Gebaren wird eindrücklich beschrieben.
Die vielen eingestreuten Zitate und Dialoge verleihen dem Buch fast schon den Charakter eines Augenzeugenberichts, machen es auf jeden Fall zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine weiterführende Bibliographie abgerundet wird.
Leseprobe Gareth Murphy - "Cowboys & Indies"
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