(Diogenes, 496 S., Pb.)
Der britische Schriftsteller Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studierte und als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift arbeitete, veröffentlichte bereits in den 2000er Jahren vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm, ehe er 2010 mit dem Roman „Slow Horses“ eine Reihe um ausgemusterte Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes MI5 ins Leben rief, die seit 2018 mit wachsendem Erfolg auch in Deutschland ihr Publikum begeistert.
Mit „London Rules“ veröffentlicht Diogenes nun den fünften Roman um Jackson Lamb, der als Leiter der verächtlich als „Slow Horses“ betitelten Truppe in Slough House wieder einmal alle Hände voll zu tun hat, seine kuriose Truppe unter Kontrolle zu halten und das Versagen des MI5 auszubügeln.
Als eine fünfköpfige Söldnertruppe mit Abbotsfield ein ganzes Dorf in Derbyshire auslöscht und spurlos untertaucht, steht Claude Whelan, Chef des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, unter Druck, zumal die Attentäter wenig später auch ein Pinguingehege im Londoner Zoo in die Luft sprengen.
Ob der Anschlag mit einem Auto auf den Ober-Nerd Roderick Ho, den seine Slough-House-Kollegin Shirley Dander im letzten Augenblick verhindern konnte, auch zu dieser Reihe von Attentaten zu zählen ist? Jedenfalls beschließt Shirley mit ihren Kollegen River Cartwright und Louisa Guy, Roddy ein paar Tage lang im Auge zu behalten. Dass der Nerd eine so erstklassig aussehende Freundin wie Kim haben soll, kann nur bedeuten, dass sie ihn ausnutzt.
Tatsächlich verschwindet sie nach den Attentaten
Den Premierminister plagen indes andere Probleme. Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union könnte ihn die Karriere kosten, zumal sein Konkurrent Dennis Gimball wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, unterstützt von seiner Frau Dodie, die laufend ätzende Kommentare in ihrer Kolumne gegen den PM veröffentlicht. Die Agenten in Slough House kommen auf den Gedanken, dass die Attentäter es nun auf einen politischen Führer abgesehen haben könnten. Doch die Maßnahmen, die Lambs Agenten trotz des angeordneten Lockdowns durch Lady Di ergreifen, machen die Situation nur schlimmer…
„Nach den London Rules baute man seine Mauern hoch, und die Reihenfolge, in der man seine Leute darüberwarf, stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Solange er also nützlicher war als Cartwright, ging er nicht als Erster über die Mauer. Coe fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, aber er fühlte sich lebendig, und das war das Allerwichtigste. Zunächst mal saßen sie alle im selben Boot – bis auf Weiteres. Auch das entsprach den London Rules.“ (S. 344)
Mick Herron schrieb „London Rules“ bereits 2018 – kurz nach dem Referendum, als sowohl die „Brexit“-Befürworter als auch -Gegner in einer Art Schockzustand waren und noch nicht absehen konnten, was der Brexit für die Briten bedeuten würde. Herron nutzt diese Atmosphäre für eine erfrischende Farce, in der sowohl die Politik als auch die Geheimdienste ihr Fett wegkriegen.
Im Zentrum steht einmal mehr Jackson Lamb, der es sich als Leiter in Slough House bequem eingerichtet hat und über so viel brisante Informationen verfügt, dass er sich auch den „echten“ Agenten in Regent’s Park gegenüber nicht in Zurückhaltung zu üben braucht. Genüsslich lässt er seine ehemalige Kollegin Lady Di, die es auf Whelans Posten abgesehen hat, immer wieder auflaufen, liefert sich mit ihr messerscharfe Dialoge.
Aber auch Lambs Truppe sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Obwohl allesamt unter der einen oder anderen psychischen Störung leiden, versuchen sie doch, aus der Langeweile ihrer öden Bürojobs auszubrechen und echte Agenten zu sein – mit immer wieder fatalen Folgen, aber letztlich gutem Ende.
Mick Herron beweist einmal mehr, dass er mit der Reihe um Jackson Lamb eine der unterhaltsamsten, vor allem aber ungewöhnlichsten Spionage-Romanreihe geschaffen hat, die mittlerweile auf Apple TV+ als Fernsehserie mit Gary Oldman, Kristin Scott Thomas und Jonathan Pryce verfilmt worden ist. „London Rules“ knüpft mit einem temporeichen Plot, wunderbar spritzigen Dialogen und liebenswert skurrilen Figuren nahtlos an die vier vorangegangenen Romane an und macht neugierig auf die weiteren Fälle, mit denen es Lamb und seine Slow Horses zu tun bekommen werden.
In England ist mit „Bad Actors“ dieses Jahr schon der achte Band der Reihe erschienen.