Jim Thompson – „Der King-Clan“

Donnerstag, 25. Mai 2023

(Diogenes, 272 S., Tb.) 
Obwohl James Myers „Jim“ Thompson bereits 1942 seinen ersten, hierzulande erst 2011 unter dem Titel „Jetzt und auf Erden“ erschienenen Roman veröffentlichte, zumindest in Literaturkreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen und in Hollywood auch als Drehbuchautor (für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“) arbeiten konnte, wurde er erst posthum auch international für seine rabenschwarzen Noir-Romane geschätzt. Als Sam Peckinpah 1972 mit „Getaway“ die erste Verfilmung eines Thompson-Romans vorlegte, stand der aus Oklahoma stammende Autor bereits am Ende seiner Karriere und veröffentlichte 1973 mit „King Blood“ seinen letzten Roman, bevor er verarmt, von Alkoholsucht und diversen Schlaganfällen dahingerafft, 1977 verstarb. 
Critchfield „Critch“ King hat vor dreizehn Jahren mit seiner Mutter die Ranch seines Vaters Isaac „Ike“ King verlassen und wurde von Raymond Chance, dem Liebhaber seiner Mutter, in die Welt des Betrugs und Verrats eingeweiht. Doch da es an der Zeit ist, dass der alte Ike einen Erben für seine riesigen Ländereien in Oklahoma sucht, ist es für Critch an der Zeit, nicht nur nach Hause zurückzukehren, sondern auch einen so guten Eindruck bei seinem Dad zu hinterlassen, dass dieser nur ihn als rechtmäßigen Erben bestimmen kann. Doch dazu benötigt Critch noch etwas mehr Geld, als er dem Anwalt Dying Horse abgenommen hatte. 
Um seine beiden älteren Brüder Arlington („Arlie“) und Bosworth („Boz“) auszustechen, die auf der Ranch King’s Junction lebten und arbeiteten, muss Critch schon ein anderes Kaliber auffahren. Da kommt ihm die Bekanntschaft einer allein reisenden Frau im Bahnhof von Tulsa gerade recht. Durch einen Trick nimmt er ihr, als sie seinem Vorschlag nachkommt, sich auf der Toilette frisch zu machen, die beiden Koffer ab und versetzt sie beim Pfandleiher. 
Wie sich herausstellt, kommt Critch so in den Besitz von zweiundsiebzigtausend Dollar. Er weiß allerdings nicht, dass die Dame, die er um ihr Geld erleichtert hat, die professionelle Mörderin Anne-Emma ist, die mit ihrer Schwester mehr als vierzig gutbetuchte Männer auf ihrem Gewissen hat. Auf der Ranch angekommen, sieht sich Critch im Nu als Teil eines durchaus blutigen Wettkampfs zwischen den Brüdern, bei denen auch Arlies und Boz‘ Indianer-Frauen Joshie und Kay munter mitmischen… 
„Vorläufig musste er sich zurückhalten. Musste Arlie Zeit lassen, damit dessen Wachsamkeit nachließ und er unvorsichtig wurde; musste sich bei Old Ike noch mehr einschmeicheln; musste sich jeden zum Freund machen, der ihm später vielleicht nützlich sein konnte. Er brauchte nichts weiter zu tun als das, was er die ganze Zeit getan hatte. Arbeiten – und auf eine günstige Gelegenheit warten. Und für zweiundsiebzigtausend Dollar war er bereit, unbegrenzt zu warten.“ (S. 147) 
Mit seinem letzten Roman holt Thompson noch einmal zum großen Schlag aus und präsentiert eine bunte Schar an Dieben, Betrügern, Verrätern und Mördern, wobei er kein Blatt vor den Mund nimmt. Ausgiebig lässt der Autor seine durchweg unsympathischen Protagonisten über ihre kriminellen Pläne und Gewaltfantasien schwadronieren. Vor seinem eigenen biografischen Hintergrund entfesselt Thompson eine wilde Odyssee, bei der nicht nur die drei King-Brüder sich für das anstehende Erbe ihres Vaters in die beste Ausgangsposition manövrieren wollen, sondern die beiden Killer-Schwestern auch die von Critch gestohlenen zweiundsiebzigtausend Dollar zurückholen wollen. 
Beim Sex geht es dabei ebenso derb und unverblümt zu wie bei den immer mal wieder tödlichen oder doch zumindest blutigen Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zu den eher subtil agierenden Femmes fatale des Noir-Genres sind Thompsons Weibsbilder in „Der King-Clan“ um keine Anmache und brutalen Attacken verlegen, sie stehen den Männern in nichts nach. Wer also auf bitterbösen, derben und kompromisslosen Thriller-Klamauk steht, ist mit „Der King-Clan“ gut bedient.


David Baldacci – (Amos Decker: 5) „Flashback“

Sonntag, 21. Mai 2023

(Heyne, 542 S., HC) 
Seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ aus dem Jahr 1996 hat sich der US-amerikanische Schriftsteller David Baldacci zu einem Bestseller-Autor etabliert, der mittlerweile eine ganze Reihe von erfolgreichen Thriller-Serien veröffentlicht hat. Unter den jüngeren Roman-Reihen entwickelt sich neben den ebenfalls bei Heyne erscheinenden Reihen um John Puller und Atlee Pine vor allem diejenige um den sogenannten „Memory Man“ zu einem verlässlichen Bestseller-Garanten. 
Amos Decker leidet seit seinem 22. Lebensjahr nach einem schweren Zusammenstoß auf dem Football-Feld nicht nur unter Synästhesie (was ihn Empfindungen mit bestimmten Farben in Verbindung bringen lässt), sondern auch unter Hyperthymesie, einem nahezu fast perfekten Gedächtnis, was für ihn Fluch und Segen zugleich ist. 
Während diese durch die schwere Hirnverletzung hervorgerufene Fähigkeit in seinem Job als Cop und Berater für das FBI von unschätzbarem Wert ist, kann der Mittvierziger auf der anderen Seite nicht vergessen, wie seine Tochter Molly, seine Frau Cassie und sein Schwager in seinem Haus in Burlington brutal ermordet worden sind, wofür Decker sich nach all den Jahren noch immer die Schuld gibt. Am 14. Geburtstag seiner Tochter reist Decker zusammen mit seiner Partnerin, der FBI-Beamtin Alex Jamison nach Burlington, Ohio, um am Grab seiner Liebsten zu trauern. Auf dem Friedhof wird er von einem ausgezehrten alten Mann namens Meryl Hawkins angesprochen. Er wurde des Mordes an dem Kreditberater Donald Richards, dessen beiden Kindern und dem Restaurantbetreiber David Katz für schuldig gesprochen, nachdem ihn ein Fingerabdruck auf einem Lichtschalter und DNA-Spuren unter den Fingernägeln von Richards‘ Tochter Abigail überführt hatten. 
Es war einer der ersten Fälle für die jungen Detectives Amos Decker und seiner Partnerin, der immer noch in Burlington lebenden Mary Lancaster. Nun behauptet der wegen seiner tödlichen Krebserkrankung vorzeitig entlassene Hawkins, dass er unschuldig gewesen sei, und bittet Decker darum, seinen Namen reinzuwaschen. Doch als Decker den Mann später in seinem Hotel aufsucht, findet er ihn erschossen in seinem Zimmer vor. Als Tatverdächtige gerät zunächst Susan Richards in Betracht, die Witwe des ermordeten Bankers, doch sie verschwindet wenig später spurlos. 
Offenbar scheint mehr an Hawkins‘ Behauptung dran zu sein als zunächst gedacht. Während Jamison mit einem neuen Fall für das FBI beauftragt wird, bleibt Decker in seiner alten Heimatstadt und versucht mit seiner früheren Partnerin Mary und seinem Freund Melvin Mars den alten Fall neu aufzurollen. Doch ein versierter Auftragskiller mit auffälligen Tätowierungen eliminiert sukzessive jeden möglichen Zeugen, der Licht in die damaligen Vorfälle bringen könnte. Außerdem sind Polizeichef Childress und Detective Natty alles andere als begeistert von Deckers Ermittlungen in ihrem Bezirk. 
„Dass Childress ihm nun auch noch im Nacken saß, würde es ihm noch schwerer machen, den Fall aufzuklären. Als wäre es nicht schon schwierig genug. (…) Deckers Gedächtnis war ein machtvolles Werkzeug, das ihm in vielen Situationen die Arbeit erleichterte. Zugleich aber war es ein Kerker, aus dem es kein Entkommen gab.“ (S. 180) 
„Flashback“ ist nach „Memory Man“, „Last Mile“, „Exekution“ und „Downfall“ bereits der fünfte Roman in der Reihe um Amos Decker, den Memory Man, und es lassen sich zum Glück noch keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Mit der Rückkehr an den Ort seines traumatischen Verlusts wird Amos Decker als Mann eingeführt, den die Vergangenheit und seine eigene Verantwortung für die tödlichen Vorfälle einfach nicht loslässt. 
Nachdem Decker in den vorangegangenen Fällen vor allem als diensteifriger und ambitionierter Ermittler ohne besondere empathische Fähigkeiten portraitiert worden ist, wirkt er in „Flashback“ von Beginn an einfühlsamer, was offenbar mit seinen von Übelkeit begleiteten Anfällen zusammenhängt, die Decker das Gefühl vermitteln, dass sein Gehirn allmählich die außergewöhnlichen Fähigkeiten verliert. Gerade in den Befragungen von Zeugen und in den Gesprächen mit der an frühzeitiger Demenz erkrankten Mary Lancaster zeigt sich Deckers neues Wesen, was dem Roman spürbar guttut. 
Doch vor allem sorgt die für einige Beteiligte tödliche Auseinandersetzung mit Hawkins‘ Fall für packende Unterhaltung, denn Decker und seine Mitstreiter müssen sehr ausgiebig verschiedenen Spuren folgen, Aussagen bewerten und natürlich lebensgefährliche Situationen überstehen. 
Baldacci erweist sich als mit leichter Sprache hantierender, routinierter Thriller-Autor, der einen komplexen Plot mit interessanten Figuren entwickelt hat, die für die eine oder andere Wendung und Überraschung gut sind. Auch wenn Baldacci vielleicht ein paar Haken zu viel schlägt und zum Finale etwas dick aufträgt, zählt „Flashback“ doch den besten Romanen der Memory-Man-Reihe.  

Andrea De Carlo – „Als Durante kam“

Donnerstag, 18. Mai 2023

(Diogenes, 468 S., HC) 
Mit Romanen wie „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Zwei von zwei“ avancierte der aus Mailand stammende Fotograf, Maler, Filmemacher, Rockmusiker und Schriftsteller in den 1980er Jahren zum internationalen Bestseller-Autor, der hierzulande mit dem Diogenes Verlag seine literarische Heimat gefunden hat. 2010 erschien mit „Als Durante kam“ De Carlos bereits 15. Roman, der fraglos zu den besten Werken des Schriftstellers zählt. 
Pietro und seine österreichische Freundin Astrid haben dem städtischen Treiben den Rücken gekehrt und sich im Val del Poggio, dem östlichen Teil des Apennins, niedergelassen, das von rauem Klima und Menschen geprägt wird, die meist über einen zurückhaltenden und ernsten Charakter verfügen. Hier weben sie Stoffe aus Wolle, Baumwolle und Seide von eigener Hand und verkaufen sie an kleine Geschäfte und Privatkunden. Eines Tages hält ein Mann mit Cowboyhut aus Stroh bei ihnen und fragt nach einem Reitstall im benachbarten Tal. Während Astrid von Durante sogleich fasziniert ist und ihm bereitwillig die Webstühle im Haus zeigt, keimt in Pietro bereits die Eifersucht. Durante heuert bei Ugo und Tiziana Morlacchi als Reitlehrer an, bietet an, die baufälligen Boxen und Paddocks instand zu setzen, und verzückt vor allem die Frauen in der Gegend. Als Durante mit seiner unverblümt offenen, manchmal naiv wirkenden Art auch noch den britischen Historiker Tom Fennymore nach einem Autounfall wie durch ein Wunder aus dem Koma holt, macht sich Durante aber nicht nur Freunde. Besonders Pietro beobachtet ihn mit skeptischem Blick und ist entsetzt, dass Durante nicht nur Astrid in den Bann schlägt, sondern vor allem deren attraktive Schwester Ingrid, in die Pietro verliebt ist, seit er sie – leider erst nach Astrid – kennengelernt hat. Als sich Pietro und Astrid zunehmend entfremden, nimmt sich Astrid eine Auszeit, fährt zurück nach Graz. Durante bietet Pietro an, ihn nach Graz zu fahren, schiebt unterwegs aber unangekündigt immer wieder einen Halt bei einer seiner Teilzeit-Familien an, wo die verschiedenen Mütter seiner Kinder gar nicht so erfreut über den spontanen Besuch sind. Der Road Trip öffnet aber bei Pietro den Blick auf bislang unentdeckte Charaktereigenschaften und Lebensauffassungen… 
„Bald hörte ich auf, mich zu fragen, ob seine Geschichte ganz oder nur teilweise der Wahrheit entsprach, ich war zu fasziniert von seiner Art, etwas Normales überraschend und etwas Überraschendes ganz normal zu finden. Ich verstand einfach nicht, ob seine Haltung gesucht oder schlicht die Äußerung einer Lebenseinstellung war; auch hier änderte ich meine Meinung beinahe von Sekunde zu Sekunde.“ (S. 239) 
Andrea De Carlo entführt seine Leser mit „Als Durante kam“ in eine fiktive Gegend östlich des Apennins und damit in eine nicht nur klimatisch raue Welt. Die Menschen leben hier mehr für sich, die Nachbarn sind meist weiter entfernt, man trifft sich gelegentlich, ohne sich wirklich zu kennen. Mit Pietro hat De Carlo einen Ich-Erzähler etabliert, der stellvertretend für das Wesen der hier lebenden Menschen steht, die sich mehr oder weniger bewusst für ein Leben abseits der Metropolen und der dort herrschenden hektischen Betriebsamkeit entschieden haben. Doch Pietro und Astrid leben und arbeiten eher aus Gewohnheiten miteinander. Als der weltoffene, kommunikationsfreudige Durante auftaucht, hinterfragen nicht nur Pietro und Astrid ihre Beziehung, sondern werden mit einer ungewohnten Sicht auf die Welt konfrontiert, die sie ihre eigene zumindest stark hinterfragen lässt. 
De Carlo gelingt es auf gewohnt sprachlich virtuose Weise, unterschiedlichste Charaktere aufeinandertreffen zu lassen, wobei die lebendigen, mal witzigen, mal nachdenklich stimmenden Dialoge auch voller Lebensweisheiten stecken, die Pietro während der gemeinsamen Autofahrt über Genua nach Graz allmählich zu verstehen lernt. Wie die beiden anfangs so unterschiedlichen Männer zu Freunden werden, wie sie die Probleme des Alltags, aber auch die Fallstricke von Freundschaften und Liebschaften zu meistern lernen, beschreibt De Carlo auf so authentische, lebensnahe Weise, dass man meint, mit den Protagonisten im Wagen zu sitzen. Dabei ist „Als Durante kam“ so leichtfüßig, humorvoll und tiefsinnig geschrieben, dass man hofft, die Reise würde nie zu Ende gehen.


James Herbert – „Moon“

Sonntag, 14. Mai 2023

(Bastei Lübbe, 304 S., Pb.) 
Obwohl der britische Schriftsteller James Herbert bereits Mitte der 1970er mit „The Rats“ und „The Fog“ seine ersten beiden Horror-Romane veröffentlicht hatte, wurde er in Deutschland erst im Zuge der von Stephen King eingeleiteten Horror-Welle bekannt, auf neben heute noch vertrauten US-amerikanischen Autoren wie Peter Straub, Dan Simmons und Dean Koontz auch einige britische Kollegen wie Clive Barker, Ramsey Campbell und eben James Herbert mitschwammen. Von seinen britischen Weggefährten war der 2013 verstorbene James Herbert sicher der literarisch am wenigsten ambitionierte Schriftsteller, aber zumindest mit seinen ersten beiden Romanen „Die Ratten“ und „Unheil“ verbreitete er doch wenigstens handfestes Grauen. Mit seinem 1985 veröffentlichten Roman „Moon“ lieferte er allerdings eines seiner schwächsten Werke ab. 
Vor drei Jahren hat Jonathan Childes mit seinen Vorahnungen dazu beigetragen, einen Serienmörder dingfest zu machen, auch wenn dieser sich vor seiner Entdeckung bereits selbst gerichtet hatte. Die traumatischen Ereignisse, in deren Verlauf Childes selbst in den Fokus der Ermittler geraten war, ließen seine Ehe mit Fran scheitern, seinen Job als Computer-Spezialisten an den Nagel hängen und vom Festland auf eine Insel fliehen, wo er als Teilzeitlehrer an drei schulischen Einrichtungen den Schülern Computer-Kenntnisse vermittelt. Am La Roche Mädchen-College hat Childes auch die junge Kollegin Aimée „Amy“ Sebire kennengelernt, mit der er eine schwierige Beziehung eingeht, denn Amys einflussreicher Vater ist alles andere als begeistert von der Wahl seiner Tochter. Als Amy aber immer mehr Zeit mit Jonathan verbringt, wird sie auch Zeuge, wie ihr Geliebter von unheimlichen Visionen heimgesucht wird, die ihn einmal fast haben ertrinken lassen, dann ausgerechnet bei einem Diner im Haus ihrer Familie zu einem Ohnmachtsanfall geführt haben. Sie stehen in Verbindung mit neuen Mordfällen, bei denen nicht nur die Organe der Opfer entfernt worden sind, sondern auch Mondsteine eine Rolle spielen. 
Die Vorfälle rufen auch Inspektor Overoy auf den Plan, der angesichts der unangemessenen Medienhetze gegen Childes damals das Gefühl hat, bei ihm etwas gutmachen zu müssen. Ihm Gegensatz zu seinem Insel-Kollegen Robillard vertraut Overoy nämlich den übersinnlichen Begabungen des Lehrers und hofft, mit dessen Hilfe auch die neuen Morde aufklären zu können. Besonders beunruhigt wird Childes schließlich durch Visionen, die seine geliebte Tochter Gabby betreffen… 
„Und nun kehrten die Visionen zurück, brachen in seine Gedanken ein, bestürmten ihn mit neuer Intensität. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich über die Boshaftigkeit, die den anderen Geist beherrschte. Für Childes waren die letzten Tage erfüllt gewesen mit äußerster geistiger Konzentration, und allein seine zunehmende Annahme dieser seiner einzigartigen Macht hatte ihm die Kraft für dieses Unternehmen verliehen. Er setzte dem, was er unterbewusst längst kannte, keinen Widerstand mehr entgegen, und dieses persönliche Anerkennen stachelte seine Sinne an und gab seiner rätselhaften Fähigkeit zusätzliche Kraft.“ (S. 273) 
James Herbert lässt „Moon“ mit ein zwei unzusammenhängenden Horror-Szenen beginnen, um dann nahtlos mit dem erneuten Auftreten von Jonathan Childes‘ unheilvollen Visionen anzuknüpfen. Diese unbeholfen wirkende Einführung setzt sich in der dramaturgischen Entwicklung der Geschichte, aber auch in der Charakterisierung der Figuren fort. Während die Beziehung zwischen Childes und Amy den emotionalen Anker von „Moon“ bildet, bleibt alles um die beiden Figuren herum nur Stückwerk. Weder wird die Vorgeschichte von Childes‘ übersinnlichen Fähigkeiten und den Vorfällen vor drei Jahren ansprechend aufgearbeitet, noch gelingt eine atmosphärisch überzeugende Überleitung und Entwicklung der neuen Serienmörder. 
Wie „es“ in den Geist von Childes‘ eindringt und seine eigene Sicht auf die abscheulichen Taten schildert, spottet jeder Beschreibung. Besonders schlimm ist allerdings das vermeintlich actionreiche und spannende Finale ausgefallen. Spätestens hier verliert Herbert seine letzten bis dahin tapfer ausharrenden Leser und bekommt auch nicht mehr die Kurve zu einer sinnvollen Erklärung der Ereignisse. 

 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 20) „Zwei Wahrheiten“

Dienstag, 9. Mai 2023

(Kampa, 432 S., Klappenbroschur) 
Der ehemalige Kriminal- und Polizeireporter Michael Connelly zählt nicht von ungefähr zu den beliebtesten Krimi-Autoren, schließlich haben Amazon Studios die 1992 begonnene Reihe um den LAPD-Detective Hieronymus „Harry“ Bosch“ ebenso als Serie adaptiert wie jüngst Netflix die Reihe um Boschs Halbbruder Mickey Haller, den „Lincoln Lawyer“. Mit dem bereits 2017 veröffentlichten, aber erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Band „Two Kinds of Truth“ feiert Bosch seinen zwanzigsten Einsatz, doch zeigt die Reihe langsam erste Abnutzungserscheinungen. 
Seit Harry Bosch vor drei Jahren vom LAPD zwangspensioniert worden ist, stellt er seine fachlichen Kompetenzen ehrenamtlich dem San Fernando Police Department zur Verfügung, wo er in einer umgebauten alten Gefängniszelle alte ungelöste Fälle bearbeitet. 
Bevor er sich aber mit dem Fall der seit fünfzehn Jahren vermissten Esme Tavares befassen kann, bekommt Bosch unangekündigten Besuch von der Conviction Integrity Unit, die sich um die Überprüfung nachträglich angefochtener Urteile befasst. Staatsanwalt Alex Kennedy, Boschs frühere Partnerin Lucia Soto und ihr neuer Kollege Bob Tapscott informieren Bosch darüber, dass der zum Tode verurteilte Sexualstraftäter Preston Borders kurz vor seiner Freilassung steht, nachdem Bosch ihn vor dreißig Jahren durch seine Ermittlungen zur Strecke gebracht hatte. Durch die neuen Möglichkeiten, DNA-Spuren zu analysieren, ist auf einem Pyjama des Mordopfers Danielle Skyler ein winziger Spermafleck nun einem anderen, allerdings bereits verstorbenen verurteilten Vergewaltiger zugeordnet worden, Lucas John Olmer. Da Borders behauptet, ein anderes Beweisstück, das zu seiner Verurteilung geführt hatte, sei ihm von Bosch untergeschoben worden, steht nun die Reputation des ehemaligen LAPD-Detectives auf dem Spiel. Bosch beauftragt seinen Halbbruder Mickey Haller damit, herauszufinden, wie der Spermafleck auf den Pyjama in der versiegelten Beweismittelkiste gekommen sein kann. 
Er selbst muss sich allerdings um einen aktuellen Fall kümmern. Mit seiner Partnerin Bella Lourdes wird Bosch zum Tatort eines Doppelmordes in einer Apotheke gerufen. Offenbar sind Vater und Sohn Opfer eines gezielten Attentats geworden. Die ersten Ermittlungen führen zu einer kriminellen Vereinigung, die im großen Stil opiumsüchtige Obdachlose dafür einsetzt, immense Mengen an Oxycodon auf Rezept zu organisieren. Um den Drahtziehern auf die Schliche zu kommen, verschafft sich Bosch in einem riskanten Undercover-Einsatz als Opiumsüchtiger Zugang zur Klinik, in der von einem mit der Drogenmafia zusammenarbeitender Arzt die entsprechenden Rezepte ausstellt. Interessanter entwickelt sich jedoch die Geschichte mit Borders und seinen Mitverschwörern. 
„Er wusste, dass es auf dieser Welt zwei Arten von Wahrheit gab. Die Wahrheit, die das unerschütterliche Fundament des Lebens und der Mission eines Menschen war. Und die andere, formbare Wahrheit, die Wahrheit von Politikern, Scharlatanen, korrupten Anwälten und ihren Mandanten, die Wahrheit, die sich für eigene Zwecke verdrehen und verfälschen ließ.“ (S. 139) 
Ähnlich wie viele seiner Kollegen nutzt auch Michael Connelly in „Zwei Wahrheiten“ ein Setting, in dem zwei unabhängig voneinander thematisierte Fälle durch Wechsel zwischen den Personen, Orten und Sachbezügen Tempo erzeugt wird, was allerdings oft auf Kosten psychologischer Tiefe und der Homogenität in der Dramaturgie geht. Auf der einen Seite ermittelt Bosch recht souverän in dem Doppelmord an den beiden Apothekern, wobei er auch seinen ehemaligen LAPD-Partner Jerry Edgar wiedertrifft, der nun beim Medical Board arbeitet, sich aber wieder nach der Action im Polizeidienst sehnt. In diesem Teil des Romans schildert Connelly recht anschaulich das tatsächlich gravierende Problem der kriminellen Beschaffung von Opiaten auf Rezept, doch verläuft Boschs Undercover-Einsatz trotz seiner Enttarnung unglaubwürdig schnörkellos. 
Da Boschs Kampf um seine eigene Reputation sehr viel Raum einnimmt, bleibt allerdings auch nicht viel Raum, um hier spannende Wendungen einzubauen. Die Zusammenarbeit mit seinem Halbbruder Mickey Haller an dem Preston-Fall bildet auch das eigentliche Prunkstück des Romans, denn gerade das im Gerichtssaal stattfindende Finale erinnert an die besten John-Grisham-Fälle. Zu guter Letzt kehren Connelly und Bosch auch noch zu dem eigentlich dritten Fall, dem Verschwinden von Esme Tavares zurück, aber auch hier verläuft alles zu glatt und zu komprimiert, um überzeugen zu können. 
„Zwei Wahrheiten“ beschert dem Leser neben dem Wiedersehen mit alten Bosch-Vertrauten wie Jerry Edgar, Mickey Haller und dessen Ermittler Cisco kurzweilige, aber weitgehend konventionelle Krimi-Unterhaltung, die immerhin mit einem grandiosen Finale aufwartet, aber sicher nicht zu Connellys besten Werken zählt. 

 

Anthony McCarten – „Going Zero“

Sonntag, 7. Mai 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Der 1961 geborene Neuseeländer Anthony McCarten hatte in den 1980er und 1990er Jahren schon etliche Theaterstücke (u.a. das preisgekrönte „Ladies‘ Night“ und das später als „Familienglück oder andere Katastrophen“ verfilmte „Via Satellite“) aufzuweisen, bevor er 1999 mit „Spinners“ (2011 als „Liebe am Ende der Welt“ in deutscher Übersetzung erschienen) sein Romandebüt vorlegte. Zwar folgten mit „Englischer Harem“, „Superhero“, „Hand aufs Herz“, „Ganz normale Helden“, „Funny Girl“ und den beiden Biopics „Licht“ (über die beiden Erfinder Thomas Edison und J.P. Morgan) und „Jack“ (über das Beatnik-Idol Jack Kerouac) noch weitere Romane, doch in den letzten Jahren fokussierte sich McCarten eher auf die Filmwelt, schrieb die Drehbücher zu den Biopics „Die dunkelste Stunde: Churchill – Als England am Abgrund stand“ und „Die zwei Päpste“ sowie zu den Musikfilmen „Bohemian Rhapsody“ und „Whitney Houston: I Wanna Dance with Somebody“. Auch mit seinem neuen Roman „Going Zero“ legt McCarten, der 2016 in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen worden ist, eine filmreife Geschichte vor. 
Die unscheinbare Bibliothekarin Kaitlyn Day zählt zu den zehn auserwählten Personen, die am „Going Zero“-Betatest der Fusion-Initiative teilnehmen dürfen, einem gemeinschaftlichen Projekt von WorldShare und der Bundesregierung, namentlich der CIA. Kaitlyn und ihre neun Mitstreiter:innen müssen ab dem 1. Mai um 12 Uhr mittags genau dreißig Tage völlig unter dem Radar bleiben, so dass sie nicht mal von den hochspezialisierten Geheimdiensten aufgespürt werden können. Cy Baxter, der einst durch die Erfindung eines Computer-Spiels zum Multimilliardär geworden ist und mit seiner Partnerin Erika Coogan die Fusion-Muttergesellschaft WorldShare gegründet hat, wettet mit der Regierung, dass sein Unternehmen mit seiner neuesten technischen Entwicklung in der Lage ist, jeden Menschen aufzuspüren. 
Sollte ihm das gelingen, winkt ihm ein neunzig Milliarden Dollar schwerer Auftrag, die Geheimdienste zukünftig dabei zu unterstützen, Terroristen und andere Verbrecher möglichst vor geplanten schweren Gewaltakten zu identifizieren und festzusetzen. Schlägt das Experiment fehl, winken jedem der „Going Zero“-Teilnehmer, der am Ende der 30 Tage unentdeckt bleibt, eine Prämie von drei Millionen Dollar. Nach dem Startschuss gelingt es dem Heer von WorldShare-Mitarbeitern recht schnell, anhand von Biografien, Bewegungsprofilen, Kameraüberwachungen, persönlichen Beziehungen und schwer abzulegenden Gewohnheiten viele der Teilnehmer ausfindig zu machen, darunter auch die fünf Kandidaten, die aus dem Umfeld der Geheimdienste stammen und eigentlich bessere Voraussetzungen gehabt haben, länger unter dem Radar zu bleiben. Doch ausgerechnet die unauffällige Bibliothekarin entpuppt sich als harte Nuss für Baxter, der nicht davor zurückscheut, auch illegale Mittel einzusetzen, um Kaitlyn auf die Spur zu kommen. Die verfolgt derweil eine ganz eigene Mission durch ihre Teilnahme an „Going Zero“… 
„Sie ist müde, hat Schmerzen, macht Fehler, kann sich nicht mehr konzentrieren. Sie wird schwächer, aber ihr Gegner behält seine Kraft, ja er wird, je mehr Informationen er sammelt, vermutlich immer stärker. Die Waagschale senkt sich immer mehr zugunsten der anderen. Aber sie hat sie nun, den Probelauf in Boston mitgezählt, schon zum dritten Mal überlistet, und das wird auch ihnen zu denken geben. Die Lösung liegt auf der Hand: Da ihre körperlichen Kräfte schwinden, muss sie die Entschlossenheit erhöhen.“ (S. 165f.) 
Es ist kein allzu futuristisches Szenario, das Anthony McCarten mit „Going Zero“ entfesselt, George Orwells „1984“ und Dave Eggers‘ „The Circle“ lassen grüßen. Schließlich dürfte mittlerweile jedem bekannt sein, welch immensen Daten Google, Facebook & Co. über uns sammeln. Was für die Betreiber sozialer Medien ein wahrer (Geld-)Segen ist, führt bei den Usern schon mal zu mehr als nur leichter Besorgnis. McCarten nutzt dieses Potential, um anschaulich vorzuführen, wie mit Gesichtserkennungssoftware, umfänglichen Recherche-Tools und Analysen vom Nutzungsverhalten der betreffenden Personen ein nahezu vollständiges Persönlichkeitsprofil von nahezu jedem Menschen erstellt werden kann. Der Autor hält sich allerdings wenig mit der Charakterisierung seiner Figuren auf, außer Kaitlyn Day gewinnt kaum eine der Figuren wirklich Profil, nicht mal der skrupellose Cy Baxter, der wie eine überzeichnete Karikatur eines Bösewichts daherkommt und sogar das Klischee erfüllt, mit einer ihm unterstellten, viel jüngeren Mitarbeiterin zu schlafen. 
Was „Going Zero“ an psychologischer Tiefe fehlt, macht der Roman an Tempo wett, aber die teils recht konstruiert wirkenden Wendungen und der nicht gerade originelle Plot lassen „Going Zero“ weit schwächer erscheinen als McCartens vorangegangenen Werke. Fast scheint es, als hätte der Autor schon zu viel Zeit in Hollywood verbracht und darüber vergessen, überraschende Geschichten mit faszinierenden Figuren zu schreiben.  

John Irving – „Der letzte Sessellift“

(Diogenes, 1088 S., HC) 
Der US-amerikanisch-kanadische Schriftsteller John Irving zählte noch nie zu den Bestseller-Autoren, die im Jahrestakt einen Roman veröffentlichen. So sind seit seinem 1968, hierzulande erst 1985 unter dem Titel „Lasst die Bären los!“ veröffentlichten Debüt meist im Abstand von drei bis vier Jahren bis 2015 insgesamt vierzehn Romane erschienen, einige davon sogar sehr erfolgreich verfilmt (u.a. „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“). Mittlerweile ist der Romancier 81 Jahre alt und legt sieben Jahre nach „Straße der Wunder“ mit „Der letzte Sessellift“ sein fast 1100 Seiten umfassendes Opus Magnum vor, ein Generationen und Präsidenten wie Ronald Reagan, Bill Clinton, Barack Obama und Donald Trump übergreifendes Werk, das im vertrauten Ton ebenso vertraute Themen wie Sport, Film, Sex, Gewalt und Tod miteinander vereint. 
Da seine ledige Mutter Rachel „Little Ray“ Brewster als Skilehrerin gerade in den Wintermonaten oft abwesend ist, wächst der am 18. Dezember 1941 und damit, wie seine Mutter immer wieder betont, zehn Tage zu spät geborene Adam bei seinen Großeltern in Exeter, New Hampshire, auf. Für Adam hat der Spruch, das Leben sei ein Film, deshalb eine besondere Bedeutung, weil sein Leben als Drehbuchautor für ihn tatsächlich ein Film ist, wenn auch ein nicht gedrehter. Während seine Mutter zusammen mit der Skiretterin Molly im gut zweihundert Meilen entfernten Stowe lebt, treibt Adam vor allem die Frage nach seinem ihm unbekannten Vater um. Alles, was er darüber weiß, lässt sich auf eine Nacht im Hotel „Jerome“ zurückführen, die seine Mutter dort mit Adams Erzeuger verbracht hat. 
Doch auch ohne die Identität seines Vaters zu kennen, gestalten sich Adams Familienverhältnisse unterhaltsam. Sein Großvater Lewis war einst Rektor an der Phillips Exeter Academy, spricht aber nicht, so dass der Junge früh den Eindruck gewann, sein Grandpa sei schon als Schuldirektor im Ruhestand auf die Welt gekommen. Adams wichtigtuerische Tanten Martha und Abigail haben ständig etwas zu nörgeln und wachen mit Argusaugen über das uneheliche Kind, während ihre Ehemänner, die beiden norwegischen Brüder Johan und Martin Vinter, letztlich dafür verantwortlich waren, dass die Brewster-Mädchen überhaupt erst zum Skifahren gekommen sind. Adam konnte sich allerdings nie fürs Skifahren begeistern und ließ sich stattdessen lieber von seiner Großmutter und Winter-Mom Mildred aus Melvilles „Moby-Dick“ vorlesen. Seine Mutter heiratet schließlich den kleinen Englischlehrer und Wrestling-Coach Elliot Barlow, der eine Geschlechtsumwandlung vollzieht und für Adam zum Ersatzvater wird. Seine lesbische ältere Cousine und Seelenverwandte Nora avanciert mit ihrer Freundin Emily „Em“ MacPherson, die sich zu sprechen weigert, in New York zum erfolgreichen Nischen-Comedy-Duo „Zwei Lesben, eine spricht“. Ein Attentat in der Gallows Lounge verändert das Leben aller Beteiligten für immer. Adam und Em verfolgen ihre Schriftstellerkarrieren und beobachten entsetzt, wie ihr Land erst unter republikanischen Präsidenten und Kardinal O’Connor vor die Hunde geht. 
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581) 
John Irving hat in seiner langen Schriftstellerkarriere schon einige sehr umfangreiche Romane veröffentlicht. Sowohl „Garp und wie er die Welt sah“ „Owen Meany“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ als auch „Zirkuskind“ und „Bis ich dich finde“ kommen locker über 800 Seiten. 
Nun soll „Der letzte Sessellift“ der letzte „große“ Roman des Bestseller-Autors sein, der einmal mehr eine interessante Sammlung skurriler Persönlichkeiten und ihre Leidenschaften wie Literatur, den Ski- und Ringer-Sport, den Film noir und das Leben an sich vereint. 
Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster erweist sich als das große Verbindungsglied zwischen all den Figuren, die sich durch ihre sexuelle Orientierung ebenso auszeichnen wie durch ihren respektvollen, wertschätzenden Umgang miteinander. Natürlich stattet Irving seine Figuren traditionell mit bemerkenswerten Eigenschaften aus, so wird Em nicht nur durch ihre selbstauferlegte Sprachlosigkeit, sondern auch durch ihre ohrenbetäubend lauten Orgasmen beschrieben, Adams Freundinnen scheißen sich entweder ein, bluten ständig oder sind so schwer verletzt, dass der Sex zu einer schwierigen Akrobatik-Nummer wird. 
Irving nutzt die Lebensgeschichten seiner Figuren aber auch, um die gesellschaftlichen Zustände in den USA unter die Lupe zu nehmen. Hier stechen vor allem Präsident Reagan mit seiner Ignoranz zur AIDS-Pandemie heraus, aber generell wird an Republikanern und der katholischen Kirche, aber auch an Demokraten, die die Wahl Trumps (der vor allem als „Mösengrapscher“ tituliert wird) ermöglicht haben, kein gutes Wort gelassen. 
„Der letzte Sessellift“ thematisiert immer wieder das Filmemachen und die Botschaft, dass nicht realisierte Drehbücher besonders lange nachwirken. Irvings Spätwerk wirkt dagegen wie eine erfolgreiche Fernsehserie, die sich über mehrere Staffeln ausführlich mit den Problemen, Herausforderungen, Schlüsselerlebnissen und Reifeprozessen der Figuren beschäftigen kann. Zwar weist der Roman auch einige Längen auf, doch die Figuren schließt man schnell ins Herz, und es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Art der Beziehungen zwischen ihnen verändert. Vor allem stellt „Der letzte Sessellift“ ein feinfühliges Plädoyer für mehr Toleranz in Bezug auf sexuelle Orientierungen und Meinungen dar. 

Jim Thompson – „Muttersöhnchen“

Samstag, 22. April 2023

(Diogenes, 230 S., Tb.) 
Seit seinem 1942 erschienenen Debütroman „Now and on Earth“, der erst 2011 in deutscher Übersetzung als „Jetzt und auf Erden“ in der Heyne-Hardcore-Reihe erschienen ist, hat sich Jim Thompson zu einem der renommiertesten Noir-Autoren entwickelt, dem aber trotz seiner Arbeit in Hollywood, wo er in den 1950er Jahren die Drehbücher für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ ablieferte, und der 1972 einsetzenden Verfilmung seiner Romane (beginnend mit Sam Peckinpahs Klassiker „Getaway“) der verdiente Erfolg versagt geblieben ist. 
Nach mehreren, durch seinen exzessiven Alkoholkonsum verursachten Schlaganfällen starb Thompson verarmt und verbittert 1977 in Hollywood. Sein 1963, vier Jahre nach „The Getaway“ veröffentlichter Roman „The Grifters“ wurde zwar 1990 unter der Regie von Stephen Frears mit Anjelica Huston, John Cusack und Annette Bening verfilmt, zählt aber zu den eher schwächeren Romanen des längst zum Kult-Autor avancierten Thompson
Roy Dillon verdient sich seinen Lebensunterhalt als kleiner Trickbetrüger in Los Angeles, wo in einer Suite im Hotel Grosvenor-Carlton lebt. Seine Freundin Moira Langtry, eine geschiedene Frau in den Dreißigern, drängt darauf, dass er sich beruflich weiterentwickelt, um mit ihr ein gemeinsames Leben aufbauen zu können, doch Roys Mutter Lilly, die gerade mal vierzehn Jahre älter als ihr Sohn ist und mehr als nur mütterliche Gefühle für ihn zu hegen scheint und selbst in der Betrugsbranche für den Buchmacher Bobo Justus tätig ist, verfolgt andere Pläne für ihren Liebling, zumal sie selbst langsam zu alt für das Geschäft wird. 
Nachdem sie einen Einsatz auf der Rennbahn La Jolla verpasst hat und ihrem Chef so ein dickes Loch in der Kasse beschert hat, revanchiert er sich mit der Verbrennung ihrer Hand durch eine Zigarette. Als Roy ebenfalls bei einem Betrugsversuch erwischt und verprügelt wird, lässt Lilly ihren Sohn im Krankenhaus durch die Krankenschwester Carol aufpeppeln und sorgt dafür, dass die ihr verhasste Moira Roy nicht zu sehen bekommt. Obwohl Roy nach einigen Woche wieder genesen ist, lässt Lilly ihren Sohn in ihr Apartment am Sunset Strip östlich der Stadtgrenze von Beverly Hills verfrachten und verlängert die Fürsorge durch Carol, in die sich Roy – wie von Lilly geplant - schließlich verliebt. Doch als Moira versucht, die Dreieinigkeit zwischen Carol, Roy und Lilly zu zerstören, kommt es zur Katastrophe… 
„Vielleicht hatte sie ihn zu hart angefasst; kein Mann ließ sich gern herumkommandieren. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich so sehr für Lilly Dillon zu interessieren; jeder Mann war empfindlich, wenn es um seine Mutter ging. Aber wie auch immer, ihr Vorschlag war richtig und vernünftig. Sie würden beide davon profitieren. Es musste einfach so sein. Und wehe, wenn er nicht…!“ (S. 189) 
Nachdem „The Grifters“ zunächst in der Übersetzung von Jürgen Behrens 1983 bei Ullstein unter dem Titel „Die Abzocker“ veröffentlicht und dann in der gleichen Übersetzung zur Verfilmung des Romans als „Grfiters“ neu aufgelegt worden ist, erschien der Titel 1995 bei Diogenes als „Muttersöhnchen“ – diesmal von André Simonoviescz übersetzt. 
Wieder einmal stammen Thompsons Protagonisten aus eher ärmlichen Verhältnissen, die sich durch Betrügereien über Wasser halten. Insofern bietet „Muttersöhnchen“ wenig Neues. Interessant ist vor allem die Viererkonstellation, in der sich der intelligente, aber wenig ehrgeizige Roy Dillon durch die Hingabe gleich dreier Frauen manövrieren muss, wobei diese teilweise nicht die geringsten Skrupel besitzen, ihre Ansprüche an Roy und seine Ersparnisse durchzusetzen. Im Gegensatz zu Thompsons besseren Werken fehlt es bei diesem Werk an dem psychologischen Einfühlungsvermögen. Dass sich in „Muttersöhnchen“ einmal mehr keine wirklichen Sympathieträger ausmachen lassen, verwundert nicht, aber die überraschungsarme Dramaturgie der Story schon. 

 

Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

Philippe Djian – „Kriminelle“

Freitag, 7. April 2023

(Diogenes, 244 S., HC) 
In den 1980er Jahren avancierte der französische Schriftsteller Philippe Djian zum Liebling der Literaturszene. In Romanen wie „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ ließ Djian seinen Ich-Erzähler als sein Alter ego auf erfrischend frivole wie leichtfüßige und humorvolle Weise über Sex, Gefühlschaos und Schreibblockaden schwadronieren, dass es eine Freude war, sich in die turbulenten Stories zu stürzen. Ende der 1990er Jahre war von diesem schwungvollen Flair nur noch wenig übrig geblieben. 
1994 legte er mit „Assassins“ (dt. „Mörder“ bzw. „Ich arbeite für einen Mörder“) den Auftakt einer Trilogie vor, die er zwei Jahre später mit „Kriminelle“ fortsetzte. 
Francis hat es nicht leicht. Er hat keinen Job, einen scheinbar kaputten Rücken, und das Verhältnis zu seiner fünfundvierzigjährigen Freundin Élisabeth gestaltet sich ebenso kompliziert wie das zu seinem Bruder Marc oder seinem Sohn Patrick, der sich in Théos Frau Nicole verguckt hat, was Francis gut nachvollziehen kann, hat er sich, bevor er mit Élisabeth zusammengekommen ist, doch selbst gut ein Dutzend Mal sich auf Nicole einen runtergeholt. Nun will seine Ex-Frau Christine Patrick mit ihrem neuen Mann Robert, der im Zuckerrohrgeschäft tätig ist, nach Guatemala auswandern. 
Zu allem Überfluss muss sich Francis entscheiden, was er mit seinem Vater anstellen soll, der zu einem Pflegefall geworden ist. Mit seinem Bruder, der als Schriftsteller arbeitet, hat er sich immer wieder über den Tod ihrer Mutter in die Haare bekommen, nachdem sie in ihrer Badewanne ertrunken war. Da für Marc seine Mutter sein Ein und Alles gewesen ist, lässt er sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass sie von dem zur Gewalt neigenden Vater der beiden Brüder umgebracht worden sei. Die befreundeten Paare haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Während Monique verzweifelt ist, dass sie keinen Orgasmus mehr bekommt, ist ihr Mann Ralph nur noch an seinem Rennpferd interessiert. Bei einem Picknick an der Sainte-Bob im Mai treten die Konflikte zwischen den Paaren offen zutage… 
„Ich habe die Abenteuer meiner Ex, Patricks Mutter, nie verkraftet. Ich musste älter als fünfzig werden, um mir einen blasen zu lassen, ohne deshalb alle Frauen zum Kotzen zu finden. Aber man wird diese Sachen nie ganz los. Mit Élisabeth würde ich mich gern im Schlamm wälzen und in weißen Laken wach werden. Ich lebe damit, und ich wüsste nicht, was ich anderes tun könnte. Ich glaube, dass ich mich nicht mehr ändere.“ (S. 102) 
Veränderung ist das große Thema in Djians „Kriminelle“. Insofern passt das dem Roman vorangestellte Zitat „Im Grunde könnte jeder irgendein anderer sein. Man muss sich entscheiden.“ von Richard Ford wie die Faust aufs Auge. Allerdings leidet nicht nur Philippe Djians Ich-Erzähler unter dem Mangel am nötigen Willen dazu, auch Francis‘ Mitmenschen verspüren zwar den Drang zu einer Veränderung in ihrem Leben, werden aber nicht glücklich bei dem Versuch, wenigstens mit kleinen Schritten zu einer Verbesserung ihres Lebensgefühls beitragen zu wollen. 
An Handlung ist „Kriminelle“ so arm wie sonst kaum einer von Djians Romanen. Stattdessen beschränkt sich der einst gefeierte Autor darin, die unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren in recht substanzlosen, aber ausufernden Dialogen zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sich an der Situation der Beteiligten etwas ändert. Zum Ende hin kommt Francis zur Erkenntnis, dass doch alles ganz einfach sei, worauf Élisabeth entgegnet: „Meine Güte, das sagst du, Francis. So einfach nun doch wieder nicht.“ Diese wenigen Zeilen sind bezeichnend für „Kriminelle“, denn es sind keine wirklich schwerwiegenden Probleme, die Francis & Co. hier zu lösen haben. Sie kreisen einfach um sich selbst, dramatisieren unnötig, kommen nicht voran. Diesen Stillstand vermag Djian zwar wie gewohnt sprachlich brillant einzufangen, doch außer den einfallsreichen Beschreibungen einiger erotischer Momente langweilt „Kriminelle“ einfach nur. 

 

Jim Thompson – „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“

Mittwoch, 5. April 2023

(Diogenes, 268 S., Tb.) 
Die Karriere von Jim Thompson kam erst spät in Gang. Obwohl er seine ersten Romane bereits in den 1940er Jahren veröffentlicht und vergeblich versucht hatte, in Hollywood Fuß zu fassen, blieb er in der Literaturszene ein Geheimtipp und bekam kaum noch seine Alkoholprobleme in den Griff, bevor er in den 1950er Jahren nicht nur eine Flut von Romanen schrieb, sondern auch von Stanley Kubrick beauftragt wurde, die Drehbücher zu seinen beiden Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) zu schreiben. Doch erst in den 1970er Jahren wurde Thompson so richtig bekannt, als erst Sam Peckinpah „Getaway“ (1972) verfilmte und dann andere Filmemacher nachzogen. So nahm sich der französische Regisseur Bertrand Tavernier 1981 mit „Der Saustall“ des 1964 erschienenen Romans „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ an, der zu den witzigsten Werken des 1977 verstorbenen Autors zählt. 
Nick Corey ist Sheriff im Potts County und lebt mit seiner anstrengenden, ewig schimpfenden und respektlosen Frau Myra und ihrem leicht debilen Bruder Lennie im 1280-Seelen-Kaff Pottsville. Für seine zweitausend Dollar im Jahr macht Nick eigentlich nichts, außer den Status quo zu erhalten, allerdings beschleicht ihn vor der anstehenden Wahl das mulmige Gefühl, dass die Bürger in dem Bezirk nicht mehr so zufrieden mit ihm sein könnten. 
Wenn er wirkliche Probleme zu lösen hat – wie zum Beispiel die Beseitigung eines öffentlichen Aborts oder die Eliminierung zweier unbequemer Zuhälter -, reist Nick in den Nachbarbezirk zu seinem Kollegen Ken Lacey, der ihm stets mit Rat und Tat zur Seite steht. Doch die wahren Probleme bereiten ihm die Frauen, denn neben seiner pöbelnden Ehefrau haben auch Rose Hauks und die Prostituierte Amy Mason Ansprüche auf den Sheriff angemeldet. Um sich durch diese kniffligen Herausforderungen zu manövrieren, lässt Corey nicht nur Amys Zuhälter und Roses prügelnden Ehemann Tom über die Klinge springen, sondern lenkt die Ermittlungen in den Mordfällen geschickt in die von ihm gewünschte Richtung, so dass andere Verdächtige in den Fokus rücken… 
„Ich war fast soweit gewesen, hatte fast einen Plan gehabt, wie ich mit einem Schlag nicht nur Rose loswerden konnte, ohne sie mehr als einmal zu sehen, sondern auch gleichzeitig noch das Problem mit Myra und Lennie lösen würde. Und dann hatte Amy gesprochen, und Teile des Plans waren in alle Himmelsrichtungen verweht worden. Ich wusste, dass es mir verdammt schwerfallen würde, sie alle wieder zusammenzubringen – wenn es mir überhaupt jemals wieder gelingen würde.“ (S. 186) 
Auch wenn Jim Thompson gemeinhin dem Noir-Genre zugerechnet und mit Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Robert B. Parker in einem Atemzug genannt wird, stechen seine Werke doch in ihrer einzigartigen Konzeption und Figurenzeichnung besonders heraus. „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ stellt dabei ein Paradebeispiel für Thompsons zutiefst schwarzen, herrlich lakonischen Humor dar. Sein Protagonist, der ebenso faule wie geile Sheriff Nick Carey, tritt als Ich-Erzähler auf und macht nie einen Hehl daraus, dass er eigentlich nur seine Ruhe haben will, dass er dabei aber alle Mühe hat, die sexuellen Avancen seiner Frauen zu befriedigen und sie glauben zu lassen, dass er ihnen allein gehöre. Zwar wirkt Carey zunächst etwas beschränkt, doch bei der Verschleierung seiner Verbrechen stellt er eine gewitzte Bauernschläue unter Beweis, die Kollegen wie Kontrahenten in arge Bedrängnis bringt. 
Bei aller humorvollen Ausrichtung präsentiert sich „1280 schwarze Seelen“ aber auch als faszinierende Milieustudie der Unterschicht im US-amerikanischen Süden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier werden noch keine raffinierten Beweisführungen verlangt und auch keine rasenden Verkehrssünder zur Rechenschaft gezogen. In Pottsville geht alles seinen langsamen Weg, wird das Miteinander noch von Hörensagen und Rassismus geprägt. Identifikationsfiguren bietet der Roman natürlich nicht, dazu sind sowohl der Ich-Erzähler als auch seine Mitmenschen zu dumpfbackig, zu verdorben oder zu gerissen, aber Spaß macht es natürlich trotzdem. 
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Wolfram Knorr, der nicht nur die eigenartige Natur von Thompsons Helden unter die Lupe nimmt, sondern auch das Werk des heute so gefeierten Schriftstellers mit seinem starken Bezug zur amerikanischen Provinz als „wütende Reflexe eigener Erfahrungen“ beschreibt. 

 

Robert Bloch – „Psycho 2“

Samstag, 1. April 2023

(Heyne, 254 S., Tb.) 
Robert Bloch (1917-1994) hatte zwar schon 1947 angefangen, Romane zu veröffentlichen, aber erst die durch Alfred Hitchcock 1960 verfilmte Geschichte von „Psycho“ wurde Bloch weltberühmt, woraufhin er auch in Hollywood als Drehbuchautor hofiert wurde. So lieferte Bloch die Vorlagen für Filme wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1961), „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ (1966), „Totentanz der Vampire“ (1969) und „Asylum“ (1972). Als die Frage nach einer Fortsetzung von Hitchcocks Spannungs-Klassiker konkreter thematisiert wurde, schrieb Bloch 1982 „Psycho 2“, der allerdings nicht die Vorlage für den gleichnamigen Film aus dem Jahr 1983 liefern sollte. 
Zwanzig Jahre nach den Vorfällen in Bates Motel hat Norman Bates in den Gesprächen mit Dr. Clairborne ein Verständnis dafür entwickelt, dass er nicht seine eigene Mutter, sondern eine Person für sich ist, und fühlt sich geheilt. Schließlich braucht er keine Zwangsjacke mehr, keine Gummizelle und keine Medikamente zur Ruhigstellung. Als Bibliothekar kann er sich in dem Sanatorium sogar recht frei bewegen. Als er Besuch von der Nonne Schwester Barbara erhält, die am College Psychologie studiert hat und sich für den Fall interessiert, nutzt Bates die Chance zur Flucht, indem er erst Schwester Barbara außer Gefecht setzt und sich ihrer Kleidung bemächtigt, dann unterwegs auch ihre Begleiterin Schwester Cupertine mit einem Wagenheber erschlägt. 
Als Norman Bates‘ Flucht bemerkt wird, ist die Aufregung natürlich groß. Während er nach Fairvale unterwegs ist, um sich an Mary Cranes Schwester Lila und ihrem Mann Sam Loomis zu rächen, die erst für die Enthüllung der Morde an Mary Crane und den Detektiv Arbogast gesorgt haben, plant Hollywood-Produzent Marty Driscoll mit „Verrückte Lady“ gerade eine Verfilmung von Norman Bates‘ Geschichte. Als die Filmemacher von Norman Bates‘ Flucht erfahren, droht das Projekt zunächst zu platzen, doch gerade die für die Rolle der Mary Crane vorgesehene Jan Harper sieht in dem Film die letzte Chance, ihre Karriere noch voranzubringen, und setzt sich erfolgreich für die Fortsetzung der Planungen ein, schließlich sorgt die Flucht von Norman Bates für zusätzliche Werbung für den Film. Dr. Clairborne soll als fachlicher Berater fungieren und das Drehbuch von Roy Ames auf Herz und Nieren prüfen. Doch Clairbornes Bedenken wegen der Gewaltverherrlichung werden nicht besonders ernst genommen, denn Sex und Gewalt locken nun mal das Publikum in die Kinos. 
Vor allem Regisseur Santo Vizzini will sich nicht auf die Reduzierung der Gewaltdarstellung einlassen, doch als sich merkwürdige Ereignisse auf dem Studiogelände häufen, werden alle Beteiligten etwas nervös… 
„,Verrückte Lady‘ würde ein Triumph werden, denn der Streifen würde die Wirklichkeit zeigen, beinahe so echt wie der Kokain-Film. Es war das Dokumentarische, worauf es ankam. Driscoll verstand das nicht; das einzige, was ihn interessierte, war Geld. Für ihn war der Bankauszug wichtig, aber für den kreativen Künstler war nur der Film von Bedeutung. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit in einer Welt, in der die Frauen ihr schmutziges Geheimnis unter den Röcken verbergen. Man musste ein Mann sein wie er selbst, ein Mann wie Norman, um dieses Geheimnis zu enthüllen, um das Böse zu entlarven und zu bestrafen.“ (S. 218) 
Dass die Universal Studios kein großes Interesse an der Verfilmung von Robert Blochs Romanfortsetzung von „Psycho“ zeigten, lässt sich nur zu gut nachvollziehen. Zunächst spielt Norman Bates in dem Roman „Psycho 2“ nur in den ersten Kapiteln eine tragende Rolle, dann verschwindet er vollkommen in der Versenkung, während sich die Handlung nach Norman Bates‘ Flucht aus der Nervenheilanstalt ganz auf die geplante Hollywood-Produktion konzentriert. Hier kommen nicht nur Robert Blochs intimen Kenntnisse der Filmproduktion zum Tragen, sondern auch sein Faible für psychologisch fundierte Charakterisierungen, die stellvertretend für den Autor der Psychiater Dr. Clairborne und später auch sein Chef Dr. Steiner vornehmen. 
Doch im Gegensatz zu „Psycho“ gelingt es der Fortsetzung nicht, die interessante Ausgangssituation durch Norman Bates‘ Flucht, die mit dem Start der Filmproduktion über sein Leben zusammenfällt, bis zum Finale dramaturgisch packend weiterzuführen. Stattdessen geht Bloch mit der Prämisse von Sex und Gewalt in Hollywood-Produktionen hart ins Gericht, was Universal ein weiterer Dorn im Auge gewesen sein dürfte, um ein eigenes Drehbuch für die Fortsetzung von „Psycho“ in Auftrag zu geben und Robert Bloch bei den Filmvorbereitungen außen vor zu lassen und ihn nicht zu einer Vorführung einzuladen. 
So interessant die Einblicke in die Prozesse und Motivationen hinter einer Filmproduktion auch sind, kommt bei „Psycho 2“ einfach keine Spannung auf. Gerade der psychologisch arg konstruiert wirkende Schluss verleiht dem Roman seinen Todesstoß. 

 

John Grisham – „Feinde“

Freitag, 31. März 2023

(Heyne, 542 S., HC) 
Seit seinem 1989 veröffentlichten Debütroman „Die Jury“ vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein neuer John-Grisham-Roman erscheint. Allerdings hat sich der Hype um seine spannungsgeladenen Justiz-Thriller, die in den 1990er Jahren von so renommierten Filmemachern wie Sydney Pollack („Die Firma“), Alan J. Pakula („Die Akte“), Joel Schumacher („Der Klient“, „Die Jury“) und Francis Ford Coppola („Der Regenmacher“) längst gelegt. Tatsächlich findet Grisham auch kaum noch so sensationell spannende Themen, die Leser und Kinopublikum fesseln. In seinem neuen Roman wärmt der ehemalige Anwalt und demokratische Politiker vertraute Themen auf und spult routiniert einen unterhaltsamen, aber überraschungsarmen Plot runter. 
Biloxi galt schon vor hundert Jahren als „Meeresfrüchte-Hauptstadt der Welt“, verschickte anno 1925 zwanzig Millionen Tonnen an Austern und Garnelen in den Rest des Landes. Verarbeitet wurden die Meeresfrüchte meist von Einwanderern aus Osteuropa, vornehmlich aus Kroatien, und die Einwanderungsbehörden amerikanisierten die für sie oft unaussprechbaren Nachnamen. In der Zeit der Prohibition bekam man in Biloxi nichts von dem Verbot des Handels und Transports von Alkohol mit. Etliche Bars und Clubs florierten in der für Touristen attraktiven Stadt, gegen das florierende Glücksspiel und die kaum verhüllte Prostitution ging die Polizei nicht vor, bekamen die vielen korrupten Beamten doch ein schönes Stück vom Kuchen ab. 
Allerdings zog diese offen zur Schau getragene Akzeptanz illegaler Aktivität auch Verbrecher und Gangster der sogenannten „Dixie-Mafia“ an. Die 1948 geborenen Jungen Keith Rudy und Hugh Malco entwickelten sich als Zehnjährige zu talentierten Baseballspielern und wurden Freunde. Doch als die Jungs älter werden und klar wird, dass sie keine Profikarriere im Sport einschlagen werden, entwickeln sie sich auseinander. Während Hugh seinen Vater Lance früh dabei unterstützt, die Clubs mit dem Glücksspiel am Laufen zu halten, ist Keith von der juristischen Arbeit seines Vater Jesse Rudy fasziniert und unterstützt ihn bei der Kandidatur zum Bezirksstaatsanwalt. 
Zwar geht die erste Wahl, bei dem Jesse mit dem Versprechen angetreten ist, mit dem Verbrechen aufzuräumen, noch verloren, doch im zweiten Anlauf schlägt er seinen Kontrahenten Rex Dubisson. Doch der Kampf gegen das organisierte Verbrechen erweist sich als schwierig. Kontrahenten schalten sich gegenseitig aus, indem sie Auftragskiller nach Biloxi kommen lassen, und Lance Malco agiert immer skrupelloser, um seine Geschäfte zu schützen. 
Als Keith Rudy und Hugh Malco in die Fußstapfen ihrer Väter treten, spitzt sich die Situation nach einem Bombenattentat im Gerichtsgebäude zu, denn Keith lässt nichts unversucht, seinen Freund aus Kindertagen aus dem Verkehr zu ziehen. Da er sich auf die örtlichen Behörden nicht verlassen kann, zieht er State Police und FBI hinzu, die auch erste Erfolge im Kampf gegen das Verbrechen erzielen. Doch an die Malcos heranzukommen, erweist sich als schwieriger… 
„Sie suchten nach professionellen Auftragsmördern, deren Spuren längst erkaltet waren. Sie wateten durch den Morast einer Unterwelt, die ihnen fremd war. Sie kämpften um Gerechtigkeit für Opfer, die selbst Kriminelle waren. Sie versuchten, ohne Aussicht auf Erfolg Bargeldströme nachzuverfolgen.“ (S. 365)
Nach über vierzig Romanen (zu denen neben den Justiz-Thrillern auch Sportlerdramen und eine Jugendbuchreihe zählen) hat John Grisham die Lust am Geschichtenerzählen nicht verloren, allerdings versteht er es nicht mehr zwangsläufig, sein Publikum mit außergewöhnlichen Fällen, faszinierenden Wendungen und starken Figuren in den Bann zu ziehen. 
„Feinde“ liest sich fast wie eine nüchterne Dokumentation über die Geschichte kroatischer Einwanderer, die in der Küstenstadt Biloxi arbeiten und Familien gründen. Grisham lässt sich über den Werdegang der Malcos und Rudys ebenso lang aus wie über die Entwicklung der Stadt vom prosperierenden Handelsschwerpunkt für Meeresfrüchte zu einer Bastion des Glücksspiels und der Prostitution. Dabei gelingt es dem Autor nie, die Distanz zwischen seinen Figuren und seiner Leserschaft zu überbrücken. „Feinde“ spult recht uninspiriert die Lebensläufe, Gemeinsamkeiten und schließlich todbringenden Konflikte zwischen den Rudys und den Malcos ab, ohne dem Plot interessante Akzente oder Wendepunkte zu verleihen, um etwas Spannung zu erzeugen. Zwar zieht Grisham zum Ende hin das Tempo etwas an, doch kommt auch im Finale nicht mehr genügend Schwung auf, um dem Roman Klasse verleihen zu können. 

Dan Simmons – „In der Schwebe“

Donnerstag, 23. März 2023

(Heyne, 332 S., Tb.) 
Dan Simmons wird nicht nur von Kollegen wie Stephen King, Peter Straub und Dean R. Koontz als „brillant“ verehrt, sondern auch wegen seiner Geschichten, die sich mal dem Horror-Genre, dann wieder der Science-Fiction und schließlich des historischen Abenteuerromans zuordnen lassen. Nachdem Simmons für seinen 1985 veröffentlichten Debütroman „Song of Kali“ (dt. „Göttin des Todes“) mit dem renommierten World Fantasy Award ausgezeichnet worden war, legte er 1989 mit dem Horror-Roman „Carrion Comfort“ (dt. „Kraft des Bösen“), dem zum Klassiker avancierten Science-Fiction-Epos „Hyperion“ und „Phases of Gravity“ gleich drei, ganz unterschiedliche Nachfolgewerke vor. 
Während die beiden erstgenannten Romane mehrfach prämiert wurden, fällt „Phases of Gravity“ qualitativ leider stark ab. Der Roman wurde im deutschsprachigen Raum 1994 zunächst unter dem Titel „In der Schwebe“ veröffentlicht, 15 Jahre später unter dem neuen, unnötigen und etwas irreführenden Titel „Monde“ neu aufgelegt. 
Vor sechzehn Jahren war Richard E. Baedecker ein gefeierter Astronaut, der zu den wenigen seiner Zunft zählte, der je einen Fuß auf den Mond gesetzt hat. Mittlerweile ist der über Fünfzigjährige geschieden und arbeitet für eine Flugzeugfirma in St. Louis. Achtzehn Monate nach der Challenger-Explosion macht sich Baedecker auf den Weg nach Indien, um seinen Sohn Scott zu besuchen, der in einem Ashram in Poona nach dem Sinn des Lebens sucht. Während die Begegnung mit seinem Sohn enttäuschend kurz ausfällt, verbringt Baedecker viel Zeit mit Scotts Freundin Maggie Brown, die ihm die wirklichen Sehenswürdigkeiten in Indien nahebringt und ihm von Orten der Macht erzählt. 
Zurück in den USA kündigt Baedecker seinen Job und besucht Glen Oak, wo als Ehrengast zum Old-Settlers-Wochenende eingeladen wurde. Dabei hat der ehemalige Astronaut vor zweiundvierzig Jahren gerade mal drei Jahre mit seiner Familie in dem kleinen Dorf in Illinois gelebt. Seine neue Ungebundenheit nutzt Baedecker, um mit Maggie nach ihrer Heimkehr aus Indien eine Affäre anzufangen und seine beiden Gefährten der Mondmission aufzusuchen. Während Tom Gavin zu einem fundamentalistischen religiösen Eiferer mutierte, machte Dave Muldorff Karriere als Kongressabgeordneter von Oregon. Als Muldorff unter ungeklärten Umständen bei einem Hubschrauber-Absturz ums Leben kommt, verspricht Baedecker dessen schwangerer Frau, seine eigenen Ermittlungen über die Unfallursache anzustellen. 
„,Wiedergeboren zu werden bedeutet nicht, dass man irgendwo angekommen ist‘, sagte Dave. , Es bedeutet, man ist bereit, die Reise anzutreten. Die Pilgerfahrt zu weiteren Orten der Macht, die zum Scheitern verurteilte Suche, um Menschen und Dinge, die man liebt, davor zu bewahren, von den Schlingpflanzen erwischt und nach unten gezogen zu werden.‘“ (S. 255) 
Im Gegensatz zu seinen anderen Werken lässt sich „In der Schwebe“ keinem für Dan Simmons typischen Genres zuordnen. Der Roman erzählt nicht einfach die Lebensgeschichte des bekannten, fiktiven Astronauten Richard E. Baedecker, sondern von der vielleicht wichtigsten Reise seines Lebens, die er nach dem Flug zum Mond unternommen hat. 
Simmons setzt seine Geschichte aus verschiedenen Episoden in Baedeckers Leben zusammen, die aus den Erinnerungen des Protagonisten gespeist werden. Doch wirklich nahe kommt man Baedecker dabei nicht. Sowohl seine Beziehungen zu seinem Sohn als auch zu seinen NASA-Kameraden werden zu oberflächlich abgehandelt, so dass der Leser nur eine Ahnung von deren Charakter vermittelt bekommt. Nicht mal die seltsam geartete Liebesbeziehung zu Maggie verhilft hier nicht zu mehr Klarheit. Zwar bereist Baedecker eine Vielzahl von Orten in diesem Roman, doch scheint das Ziel die Reise selbst zu sein, denn ein signifikanter Erkenntnisgewinn, eine Wandlung in der Persönlichkeit ist nicht auszumachen. Dabei hätte am Ende die Begegnung mit dem weisen Cheyenne-Indianer Robert Sweet Medicine auf dem Bear Butte einige Möglichkeiten geboten, dem Roman eine fundamentale Wendung zu geben. 
So treibt „In der Schwebe“ dem programmatischen Titel folgend etwas ziellos ohne jegliche Spannung dahin. Allein Simmons‘ gewohnt gefälliger Schreibstil verhindert, dass der Roman gänzlich enttäuscht. Wer vorher kein anderes Werk des versierten Schriftstellers gelesen hat, wird dies nach der Lektüre von „In der Schwebe“ bzw. „Monde“ wohl auch nicht mehr tun. 

 

Robert Bloch – „Werkzeug des Teufels“

Donnerstag, 16. März 2023

(Rotbuch, 208 S., Tb.) 
Lange bevor Robert Bloch mit der 1959 veröffentlichten Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks Spannungs-Klassiker „Psycho“ weltberühmt wurde, begann bereits in den 1930er Jahren erste, von H.P. Lovecraft beeinflusste Geschichten für das Magazin „Weird Tales“ zu schreiben, ehe er auch andere Pulp-Magazine bediente. Insofern war Bloch von früh an in seiner schriftstellerischen Karriere mit den Mechanismen der sogenannten „Schundliteratur“ vertraut. Bloch veröffentlichte 1947 mit „Der Schal“ seinen ersten Roman, startete aber erst 1954 als Romanautor voll durch, als neben dem hierzulande noch unveröffentlichten Roman „The Will to Kill“ und „The Kidnapper“ (dt. „Die Psycho-Falle“) auch noch der Roman „Spiderweb“ als Teil der Ace-Double-Reihe von Ace Pocketbooks zusammen mit David Alexanders „The Corpse in My Bed“ erschien. Der Rotbuch Verlag veröffentlichte „Spiderweb“ schließlich in der deutschen Erstveröffentlichung als „Werkzeug des Teufels“ in seiner Reihe Hard Case Crime, doch im Vergleich zu früheren Veröffentlichungen in der Reihe von Ed McBain, Mickey Spillane, Lawrence Block und Donald E. Westlake wirkt Blochs „Werkzeug des Teufels“ recht zahm. 
Eddie Haines hätte in seiner Heimatstadt Des Moines, Iowa, eine Karriere als Fernsehsprecher einschlagen können, doch er träumt natürlich wie so viele von dem ganz großen Durchbruch in Hollywood. Doch der will sich durch seinen Agenten Larry Rickert, dem er bereits dreihundert Dollar gezahlt hat, auch nach zwei Monaten einfach nicht einstellen. Haines will in seiner kleinen Einzimmerwohnung gerade mit einem Rasiermesser sein Leben beenden, als es an der Tür klopft, ein Hundertdollarschein unter der Tür durchgeschoben wird und sich der Besucher als Professor Hermann vorstellt, der Großes mit Haines vorhat und ihm Ruhm und Reichtum in Aussicht stellt. 
Hermanns ausgeklügelter Plan beginnt damit, Haines eine neue Identität als Dr. Judson Roberts zu verleihen, ihn unzählige Traktate aus den Bereichen Metaphysik, Okkultismus, Theologie und vor allem Psychologie und Psychiatrie lesen zu lassen, damit er als gutaussehender Lebensberater für betuchte Hollywood-Prominenz fungieren kann. 
Als erstes Opfer, das es zu schröpfen gilt, soll das Filmsternchen Lorna Lewis herhalten, die sich in einer unglücklichen Ehe befindet. Roberts sorgt für das plötzliche Ableben des Mannes, Hermann tarnt den Mord als Autounfall und hat nicht nur seinen Komplizen in der Hand, sondern kassiert ein üppiges Schweigegeld von Lorna. In diesem Sinne soll die Zusammenarbeit zwischen Hermann und Haines/Roberts fortgesetzt werden, doch allmählich bekommt Haines Skrupel bei seinem unmoralischen Tun, das ihn längst nicht zu dem reichen Mann werden lässt, wie der Professor es versprochen hatte. 
Als sich Haines auch noch in Ellen Post, eine wohlhabende Nichte des Senators Leland Post, verliebt, den Hermann auszunehmen gedenkt, plant er, den Spieß umzudrehen und Hermann zu erpressen. Doch der kluge Professor scheint immer einen Schritt voraus zu sein… 
„Nun, da hätten wir es, Mike Drayton war tot, Edgar Caldwell saß in der Patsche und würde es nicht mehr lange machen, und Ellen Post war die Nächste auf der Liste. Ich brachte jedem Unheil, der sich mit mir einließ. Denn ich war eine Marionette namens Judson Roberts, und der Professor hielt die Fäden in der Hand. Allerdings würde er für eine Weile verreist sein. Mir blieben vier oder fünf Tage. Vier oder fünf Tage, um alles wieder in Ordnung zu bringen und zusammen mit Ellen für immer zu verschwinden. Das war meine einzige Chance. Ich musste mir alles genau überlegen und rasch handeln.“ (S. 160) 
Robert Bloch ist nicht nur ein Mann der Horror-, Kriminal- und Science-Fiction-Kurzgeschichten (die in Bänden wie „Die besten Science-Fiction-Stories von Robert Bloch“, „Horror-Cocktail“, „Die Pension der verlorenen Seelen“ und „Boten des Grauens“ erschienen sind), sondern auch der kurzen Romane. In der Effizienz seiner erzählerischen Dramaturgie gleicht er heutigen Bestseller-Autoren wie James Patterson, die sich wenig um eine ausdifferenzierte Figurenzeichnung bemühen, sondern alles auf die Handlungsebene, auf Tempo und Atmosphäre fokussieren. 
Insofern bietet „Werkzeug des Teufels“ auf gerade mal 200 Seiten eine zwar temporeiche Story mit viel Sinn für die Psychologie der Figuren, doch bleiben diese doch recht blutleer. Weder taugt der Ich-Erzähler Eddie Haines als sympathische Identifikationsfigur, noch gewinnen die beteiligten Damen Lorna Lewis und Ellen Post an Profil. Und auch der genial-raffinierte Professor Hermann und sein Handlanger wirken wie Klischees. Dem Etikett „Hard Case Crime“ wird „Werkzeug des Teufels“ also nicht gerecht, doch bietet der Krimi ein solides Lesevergnügen mit dem für Bloch typischen lakonischen Humor.