Als der erfolgreiche Schriftsteller Jasper Gwyn eines Tages seinen Spaziergang durch den Regent’s Park unternimmt, wird ihm bewusst, dass die Art, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, nicht mehr zu ihm passt. Um den Entschluss auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, schreibt er für den Guardian einen Artikel, der aus einer Liste von 52 Dingen besteht, die Gwyn nie mehr zu tun beabsichtigt, darunter Artikel für den Guardian zu verfassen und Bücher zu schreiben. Der Artikel erscheint auf Wunsch des 43-jährigen Ex-Schriftstellers eine Woche später und stößt bei seinem Freund und Agenten Tom Bruce Shepperd auf wenig Verständnis. Nach einem Urlaub auf Grenada und der Rückkehr nach London fasst Gwyn den Entschluss, als Kopist zu arbeiten, weil damit Tugenden wie Diskretion, Geduld und Bescheidenheit verbunden sind.
Er unterhält sich mit einer ehemaligen Lehrerin, die ihn im Wartezimmer einer Ambulanz erkennt, über seine Absichten und bekommt von ihr den Tipp, Menschen zu kopieren. Doch bis sich dieser Vorsatz in die Tat umsetzen lässt, bemerkt Gwyn, wie schwierig es ist, auf einmal nicht mehr zu schreiben.
„Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass der Beruf des Schriftstellers für ihn unmöglich geworden war, und jetzt sah er sich gezwungen festzustellen, dass es ohne diesen Beruf sehr schwierig für ihn werden würde, weiterzumachen. So begriff er schließlich, dass er sich in einer Situation befand, die zwar vielen Menschen vertraut, deswegen aber nicht weniger leidvoll ist: Das Einzige, was sie fühlen lässt, dass sie am Leben sind, ist etwas, was sie langsam umbringen wird.“ (S. 35)Gwyn besucht eine Kunsthändlerin und beschließt, Portraits nicht zu malen, sondern zu schreiben. Er mietet sich ein ruhiges Atelier, beauftragt seinen Freund David Barber mit der Komposition eines Samples, das mit 62 Stunden etwas lang ausgefallen ist, und bestellt Glühbirnen, die nach 32 Tagen Betriebsdauer sterben sollen. Gwyn bittet seinen Verleger-Freund, dessen Assistentin Rebecca ausleihen zu dürfen, um von ihr das erste Portrait zu schreiben. Als sie am Ende der einmonatigen Sitzungen das Ergebnis zu lesen bekommt, ist sie begeistert, und weitere Portrait-Aufträge fallen für Gwyn an. Doch als ein junges, hübsches Mädchen als Kundin auftaucht, kann Gwyn schwerlich seine berufliche Distanz wahren …
Nach seinen erfolgreich verfilmten Romanen „Seide“ und „Novecento“ legt der italienische Literaturzeitschriften-Verleger, Dozent und Schriftsteller Alessandro Baricco mit „Mr. Gwyn“ einen wunderbar elegant und poetisch geschriebenen Roman vor, der dem Leser nicht nur den kreativen Schaffensprozess vor Augen führt, sondern ihn vor allem mit lebendigen Figuren vertraut macht und mit der besonderen Beziehung zwischen Künstler und Modell, zwischen dem, was gezeigt, und dem, was gesehen wird.
Natürlich spielen dabei auch existentielle Themen wie Leben und Tod, Liebe und Schmerz, Hoffnung und Verlust eine Rolle. All das verwebt Baricco gekonnt zu einem vergnüglichen Künstler-Roman, der durch die ebenfalls sehr lesenswerte Novelle „Dreimal im Morgengrauen“ ergänzt wird, die als fiktives Buch in „Mr. Gwyn“ eine Rolle spielt. Baricco erweist sich mit diesen beiden Erzählungen als wahrhaftiger Magier, der sowohl seinen Mr. Gwyn als auch seine Leser in sich hineinhorchen lässt.
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