Laure van Rensburg – „Nur du und ich“

Donnerstag, 30. Juni 2022

(Ullstein, 384 S., Pb.) 
Seit im Zuge des im Oktober 2017 veröffentlichten Missbrauchsskandals um den einflussreichen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein die #metoo-Bewegung auf das Ausmaß sexueller Belästigung und Übergriffe aufmerksam machte, ist das Thema nicht nur weitgehend im Feuilleton der Medien, sondern ist längst auch in Filmen und Büchern abgehandelt worden. Insofern entspricht der Debütroman der gebürtigen Französin, in London lebenden Laure van Rensburg den Zeitgeist. Ein großer Wurf ist ihr mit dem Psychothriller, mit dem die Autorin ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema verarbeitet hat, aber nicht gelungen. 
Der renommierte Literaturprofessor Steven und die Collegestudentin Ellie sind seit sechs Monaten ein Paar, weshalb Ellie zu ihrem kleinen Jubiläum ein abgelegenes Haus in Chesapeake Bay fürs Wochenende gemietet hat. Es soll ihre erste, aber unvergessliche Reise zusammen sein, ihr erstes gemeinsames Wochenende nur zu zweit. Ellie hat Dostojewskis „Die Dämonen“ in der Hoffnung mit eingepackt, etwas Zeit zum Lesen und so Material für das Essay über den russischen Dramatiker zu finden. Steven denkt vor allem an hemmungslosen Sex, wird aber durch nervende SMS seiner ehemaligen Liebschaft J. abgelenkt. 
Steven ist der Sohn des berühmten Stewart Harding, aus dessen Schatten er nie heraustreten wird können, und hat während seiner akademischen Karriere immer wieder die Colleges wechseln müssen, wartet nach wie vor auf den erhofften Karrieresprung und eine Festanstellung an einer renommierten Universität. Das häufige Wechseln seiner Dozentenstellen ermöglichte Steven allerdings, die lockeren Affären mit seinen Studentinnen unkompliziert beenden zu können. Erst mit Ellie hat er eine erste ernsthafte Beziehung begonnen, die an diesem Wochenende gefestigt werden soll. Von der eisigen Kälte und dem Schnee lassen sie sich nicht die Laune verderben, auch wenn die geplanten Spaziergänge am Strand dadurch ins Wasser fallen. Schließlich kann man die Zeit vor dem kuschelig warmen Kamin auch auf genussvolle Weise verbringen. 
Doch nach ein paar Drinks am Abend wird Steven ohnmächtig und wacht an einen Rollstuhl gefesselt wieder auf. Zunächst glaubt er, dass ein Außerstehender Steven und Ellie in seine Gewalt gebracht hat, vielleicht der rothaarige Mann, den er mal mit Ellie zusammen gesehen hat. Dass Ellie für dieses Theater verantwortlich sein soll, kann er sich zunächst nicht vorstellen, doch dann konfrontiert sie ihn sukzessive mit seinen bisherigen Verfehlungen, von denen Ellie letztlich auch betroffen worden war… 
„Trotz der Drogen und Fesseln fühlt er sich immer noch sicher und wiegt sich in dem Glauben, dass er mich kennt, dass ich keine Bedrohung darstelle. Ich bin doch Ellie, seine schüchterne Freundin, das Mädchen, das rot wird, wenn er Komplimente macht, das Mädchen, das ihm immer seinen Willen lässt, bei dem sich alles um ihn dreht. Die harmlose, durchschaubare Ellie, über die man nicht länger nachdenken muss. Er ist so arglos, so geblendet vom Glanz seiner Selbstsicherheit, dass er sich nicht mal gefragt hat, woher zum Teufel dieser Rollstuhl kommt.“ 
Wie Laure van Rensburg in ihren ausführlicher Danksagung am Ende ausführt, ist „Nur du und ich“ von eigenen Erfahrungen unsittlicher Übergriffe geprägt, doch stellt ihr Debütroman alles andere als einen wertvollen Beitrag zur anhaltenden #metoo-Debatte dar. Indem sie das Thema auf einen reißerischen Psycho-Thriller mit unsympathischen wie unglaubwürdigen Figuren heruntergebrochen hat, fügt sie der Diskussion um die weithin auch strukturelle Diskriminierung von Frauen keinen gewinnbringenden Beitrag hinzu. 
Dabei lässt sie Ellie geschickt als Ich-Erzählerin auftreten, während Stevens Perspektive in der dritten Person geschildert wird. Die beabsichtige Identifizierung des Lesers bzw. vor allem der Leserin mit Ellie funktioniert allerdings nicht, da sehr schnell deutlich wird, dass Ellie nur noch von zerstörerischer Rache getrieben ist, die in ihren Mitteln vor nichts zurückschreckt. 
Auf der anderen Seite ist Steven ein echtes Klischee-Arschloch, der erst durch Ellie mit seinen früheren Verfehlungen konfrontiert wird. Die Entwicklung der Beziehung ist ebenso unglaubwürdig gezeichnet wie die obligatorische Wendung zum Ende des ersten Tages. Danach wird aus den jeweiligen Erinnerungen von Steven und Ellie die eigentliche Struktur ihrer Beziehung charakterisiert. 
Indem „Nur du und ich“ zunehmend zum effektheischenden Selbstjustiz-Drama wird, verliert das eigentlich dominierende Diskriminierungs-Thema merklich an Bedeutung. Da hilft auch das Mittel nicht weiter, neben Steven und Ellie eine dritte – zunächst namenlose – Person von ihrer enttäuschten Liebe zu Steven einzubringen. 
Natürlich steht weder außer Frage, dass Steven die oft noch minderjährigen Studentinnen missbraucht hat, noch dass die Diskussion über Gewalt gegenüber Frauen jeglicher Art nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden darf, bis das Problem gelöst ist, aber für eine überzeugende Thematisierung in einem Psycho-Thriller gehört weit mehr als ein unglaubwürdig konstruiertes Duell zwischen schwach gezeichneten Charakteren.  

Paul Auster – „Die Musik des Zufalls“

Samstag, 25. Juni 2022

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Bereits in seinem vorangegangenen Roman „Mond über Manhattan“ ließ Paul Auster einen jungen Protagonisten namens Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung gehen, wobei ihm eine Erbschaft nicht davor bewahrt, das Schicksal eines Obdachlosen zu teilen. Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt der preisgekrönte US-amerikanische Schriftsteller in seinem 1990 veröffentlichten Roman „The Music of Chance“. Hier ist es ein Feuerwehrmann, der nach einer Erbschaft auf Reisen geht und dessen Leben durch die zufällige Bekanntschaft mit einem jungen Pokerspieler eine unerwartete Wendung nimmt.
Jim Nashe war Buchverkäufer, Möbelpacker, Barkeeper und Taxifahrer, bis er durch einen seiner Fahrgäste auf die Möglichkeit angesprochen wurde, eine Prüfung zum Feuerwehrmann abzulegen. Nach sieben Jahren bei der Feuerwehr in Boston erhält Nashe die überraschende Nachricht, dass er von seinem Vater, zu dem er seit seiner Kindheit keinen Kontakt mehr hatte, 200.000 Dollar geerbt hat. 
Da seine Frau ihn verlassen hat und er seine Tochter zu Verwandten geben musste, hält ihn nichts mehr in der Stadt. Er kündigt seinen Job, kauft sich einen nagelneuen Saab und ein paar Kassetten mit Musik von Haydn und Mozart und macht sich nur mit einem Koffer im Gepäck auf eine ziellose Reise durch die USA, genießt die Freiheit, erst am Abend vom jeweiligen Motel aus die Route für den kommenden Tag zu planen. Er besucht das Grab seines Vaters, lässt es sich Miami neun Tage lang am Swimming Pool gutgehen, stürzt sich vier Tage lang in die Spielhöllen von Las Vegas, trifft sich mit der Journalistin Fiona, die einst einen Artikel über seine Arbeit als Feuerwehrmann geschrieben hatte, und beginnt eine Affäre mit ihr, reist aber weiter zum Geburtstag seiner Tochter Juliette, statt Fiona einen Heiratsantrag zu machen. 
Als er zu ihr zurückkehrt, ist sie anderweitig vergeben. Nach einem Jahr des ziellosen Herumreisens sind Nashes Geldreserven spürbar geschrumpft. Da nimmt er den offensichtlich verprügelten Jack „Jackpot“ Pozzi als Anhalter mit. Der vielleicht zwei- oder dreiundzwanzigjährige junge Mann stellt sich als Pokerspieler vor, der an neun von zehn Abenden als Sieger den Tisch verlässt, doch nun wurde er nach einem an sich erfolgreichen Abend überfallen und niedergeschlagen. 
Nashe bietet ihm an, ihm seine verbliebenen 14.000 Dollar als Startkapital für eine Partie mit zwei Millionären zur Verfügung zu stellen. Wie sich herausstellt, haben die beiden Exzentriker Flower und Stone mittlerweile aber Unterricht bei einem alternden Poker-Profi genommen und lassen sich nicht so leicht ausnehmen wie zunächst angenommen. Tatsächlich verschuldet sich Pozzi sogar um 10.000 Dollar, die Nashe und sein neuer Freund auf ungewöhnliche Weise abzahlen müssen… 
„In der Nacht des Pokerspiels hatte er Pozzi bis zum äußersten geholfen, war über jede vernünftige Grenze hinausgegangen, und mochte er sich dabei auch ruiniert haben, so hatte er doch immerhin einen Freund gewonnen. Und dieser Freund schien jetzt bereit, alles für ihn zu tun, selbst wenn das hieß, die nächsten fünfzig Tage auf einer gottverdammten Wiese zu leben und sich abzurackern wie ein zu Zwangsarbeit verurteilter Sträfling.“ (S. 151) 
Von Paul Auster ist die Geschichte überliefert, dass er im Alter von vierzehn Jahren miterlebt hat, wie einer seiner Freunde von einem Blitz erschlagen wurde, was ihn in der Überzeugung bestärkte, wie sehr das Leben doch von Zufällen geprägt werde. Diese Einstellung zieht sich auch bei „Die Musik des Zufalls“ wie ein roter Faden durch die Geschichte. Wie wäre Nashes Leben wohl verlaufen, wenn der Anwalt seines Vaters nicht sechs Monate gebraucht hätte, um seinen einzigen Sohn aufzuspüren? Welchen Weg hätte es genommen, wenn er bei Fiona geblieben und sie geheiratet hätte? 
Bei der Ziellosigkeit, mit der der 32-jährige Nashe durch die Staaten reist, muss es auch ein Zufall sein, dass er einen abgebrannten Pokerspieler kennenlernt und mit ihm die beiden exzentrischen Millionäre Flower und Stone, die ebenso wie Nashe durch eine Erbschaft ein neues Leben begonnen haben. Bis zur schicksalhaften Begegnung mit Pozzi erzählt Auster eine recht gewöhnliche Geschichte eines Mannes, der sich die Freiheit nimmt, mit dem unerwarteten Geldsegen einfach das zu tun, wonach ihm gerade der Sinn steht. Doch als das Geld nach einem Jahr zur Neige geht, steht die Entscheidung an, wie er zukünftig seinen Lebensunterhalt verdienen will. 
Die auch in finanzieller Hinsicht vielversprechende Freundschaft mit Pozzi bietet aber nur scheinbar einen Ausweg. Sobald Nashe und Pozzi den Palast der ungleichen Millionäre betreten, gerät ihre Welt aus den Fugen und nimmt jene phantastischen Züge an, die man von Austers Büchern schon gewohnt ist. Lässt man sich erst einmal auf die unwahrscheinliche wie kurze Geschichte ein, erlebt man ein furioses, fast schon märchenhaftes literarisches Abenteuer mit allerlei sympathischen wie skurrilen Figuren. 

 

Dan Simmons – „Die Feuer von Eden“

Sonntag, 19. Juni 2022

(Goldmann, 444 S, Tb.) 
Mit seinen ersten drei Romanen „Song of Kali“, „Carrion Comfort“ („Kraft des Bösen“) und „Hyperion“ avancierte Dan Simmons Ende der 1980er in den USA, mit den nachfolgenden deutschen Übersetzungen Anfang der 1990er Jahre auch hierzulande zu einem ernstzunehmenden Horror- (und Science-Fiction-)Schriftsteller, der in einem Atemzug mit seinem Bewunderer Stephen King („Dan Simmons schreibt wie ein Gott… Ich kann kaum sagen, wie sehr ich ihn beneide.“) und Kollegen wie Clive Barker, Peter Straub und Dean Koontz genannt wurde. Während die meisten von Dan Simmons‘ Werken in Deutschland vom Heyne Verlag verlegt werden, bildete „Die Feuer von Eden“ 1997 den Auftakt seines Intermezzos bei Goldmann, wo wenig später auch der Abschluss seiner „Hyperion“-Quadrologie mit den beiden „Endymion“-Bänden und die beiden Thriller „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“ erschienen. 
Der 38-jährige US-amerikanische Immobilien-Milliardär Byron „Big T.“ Trumbo versucht, den Zusammenbruch seines Imperiums aufzuhalten, indem er seine ebenso riesige wie defizitäre Ferienanlage auf Hawaii an den japanischen Milliardär Hiroshe Sato verkauft, der dort ein exklusives Golf-Resort errichten will. Doch die Verhandlungen stehen unter einem schlechten Stern, denn nach bereits sechs spurlos verschwundenen Gästen von Trumbos „Mauna Pele“-Ferienhotel werden nun drei weitere Golfer vermisst. 
Trumbo veranlasst seinen dortigen Hotelmanager, Stephen Ridell Carter, den Vorfall wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nicht zu melden. Während Trumbo von New York aus seine japanischen Gäste nun direkt nach Hawaii auf seine Ferienanlage fliegen lässt, um die Verhandlungen abzukürzen, häufen sich die beunruhigenden Nachrichten. Dazu zählt der gleichzeitige Ausbruch zweier Vulkane, die Freilassung des hawaiischen Separatisten Jimmy Kahekili und die Ankündigung, dass nicht nur Trumbos gierige Ex-Frau Caitlin mit ihrem Anwalt, sondern auch seine beiden Geliebten Maya und Bicki unabhängig voneinander das „Mauna Pele“ aufsuchen wollen. Unter den wenigen Gästen der Ferienanlage befindet sich die Collegeprofessorin Dr. Eleanor Perry, die einem Geheimnis ihrer Tante Lorena „Kiddie“ Stewart nachspüren will. 
In ihren Tagebüchern schreibt sie von geheimnisvollen Dingen, die sie 1886 während ihrer Reise nach Hawaii in Begleitung des Reiseschriftstellers Samuel Clemens alias Mark Twain erlebt hat. Eleanor freundet sich mit der krebskranken Cordie Stumpf an und wird tiefer in die Mythologie der Insel eingeführt, als sie sich je erträumt hat. Dass sie kurz nach ihrer Ankunft in dem Ferienresort einem schwarzen Hund mit menschlichen Zähnen und einer Hand im Maul begegnen, ist nur der Anfang einer Kette von zutiefst verstörenden Ereignissen… 
„Mr. Clemens zog sich höher hinauf, so dass ich ihn nicht mehr sehen konnte. Einen Moment lang war ich allein mit den leuchtenden Geistern, die mir hierhergefolgt waren, unter ihnen auch der Eingeborene Kaluna, dessen trauriges Gesicht die einzige Regung zeigte, die ich im Geisterreich von Milu gesehen hatte. Plötzlich begann mein Puls zu rasen, und ich wirbelte herum, so als hätte sich etwas in den Schatten bewegt. Bilder von Pana-ewa tauchten vor meinem geistigen Auge auf, aber dort im Lavatunnel war keine Echse, kein Wesen aus Nacht und Nebel.“ (S. 373)
Dan Simmons fackelt mit „Die Feuer von Eden“ ein wahres literarisches Feuerwerk ab. Ähnlich wie in seinen zuletzt erschienenen semidokumentarischen Dramen „Terror“, „Der Berg“ und „Drood“ nimmt der Autor eine historische, vielmehr literarische Fußnote – in diesem Fall Mark Twains 25 „Briefe von den Sandwich Inseln“ (1866) sowie Werke, die sich mit der Mythologie der Vulkaninsel Hawaii auseinandersetzen - als Ausgangspunkt für ein Horror-Drama, das den Leser immer tiefer in die Welt der haole-Geister, des Kampfes zwischen dem in Gestalt eines Ebers auftretenden Kamapua’a und der Göttin Pele hineinzieht. 
Geschickt verwebt Simmons die aktuellen Ereignisse, die sich um die millionenschweren Verhandlungen um „Mauna Pele“ drehen und immer mehr Opfer hervorbringen, mit den Ereignissen, die in Tante Kiddies Tagebüchern beschrieben werden. Simmons gelingt es nicht nur, die uns so fremdartig erscheinende Mythologie der Hawaiianer lebendig vor Augen zu führen, sondern vor allem mit Trumbo, Elizabeth und Cordie drei interessante Figuren in den Mittelpunkt zu stellen, die wunderbar charakterisiert und jeweils mit einer ganz eigenen Art von Humor ausgestattet worden sind. Die Mischung aus Abenteuer-, Horror- und Katastrophen-Thriller macht „Die Feuer von Eden“ zu einem ebenso vergnüglichen wie nervenaufreibenden Werk, das innerhalb von Simmons‘ Oeuvre leider viel zu wenig bekannt ist. 

 

Don Winslow – (Danny Ryan: 1) „City on Fire“

Montag, 13. Juni 2022

(HarperCollins, 398 S., HC) 
Der in New York geborene und in Rhode Island aufgewachsene Don Winslow avancierte vor allem durch seine 2005 begonnene epische Kartell-Saga („Tage der Toten“, „Das Kartell“, „Jahre des Jägers“) zum internationalen Krimi-Bestseller-Autor, der seine Schriftsteller-Laufbahn mit einer Reihe um den Privatdetektiv Neal Carey begonnen hatte. Seither sind etliche weitere Romane entstanden, fürs Kino adaptiert worden (u.a. durch Oliver Stone) und Jahre ins Land gezogen. Mit nunmehr 68 Jahren will Winslow das Schreiben zugunsten seines Kampfes gegen Donald Trump aufgeben und legt mit „City on Fire“ den Auftakt seiner letzten Trilogie vor. 
Rhode Island im August 1986. So wie schon ihre Väter zieht es Danny Ryan und seine Frau Terri, Jimmy und Angie Mac, Pat und Sheila Murphy sowie Liam Murphy mit seiner derzeit angesagten Flamme von Dogtown jeden Sommer nach Goshen Beach. Sie alle sind in Providence aufgewachsen, wo sie im selben Viertel leben wie ihre Eltern und sich fast täglich sehen. Doch diesen Sommer läuft einiges aus dem Ruder. Als Danny sieht, wie eine atemberaubend schöne Frau aus dem Wasser steigt, ist dies der Anfang einer Kette von Ereignissen, die mehr als nur einen Bandenkrieg auslöst. 
In Dogtown herrschen strenge Regeln, die Geschäftsbereiche der Gewerkschaften, Schmuggel, Prostitution, Drogen und Glücksspiel sind fair zwischen den Iren und Italienern aufgeteilt. Danny, der als Einzelkind aufwuchs, nachdem seine Mutter das Weite gesucht hatte, als er noch ein Baby war, fühlte sich seit jeher bei der Großfamilie der Murphys wohl und hat es geschafft, durch die Heirat mit Terri Teil der Familie zu werden, während sein Vater Marty, der einst das Sagen in Dogtown hatte, zunehmend dem Alkohol verfiel. Der Alkohol sorgt auch auf dem Strandfest des italienischen Paten Pasco Ferry für einen Eklat. 
Als Paulie aus dem Moretti-Clan mit der Strandschönheit namens Pam bei der Party auftaucht, grabscht der angetrunkene Heißsporn Liam Paulies Freundin an die Brust und wird von Paulie anschließend krankenhausreif geschlagen. Dort bandelt ausgerechnet Pam mit dem Verletzten an und gießt so noch mehr Öl in das Feuer in dem drohenden Bandenkrieg zwischen den Iren und den Italienern. Als sich die Nachricht in einer Bar herumspricht und Frankie Vecchio von der Moretti-Crew Wind davon bekommt, erschießt Paulie den Mann, der sich auf seine Kosten lustig gemacht hat, und setzt so eine Spirale der Gewalt in Gang, die weit über Dogtown hinaus für ungeliebte Aufmerksamkeit sorgen könnte. 
Liam heuert einen Killer von außerhalb an, um Paulie auszuschalten, worauf alle Dämme brechen. FBI-Agent Jardine versucht vergeblich, die Protagonisten des Bandenkrieges als Informanten zu gewinnen, doch verfolgt er auch seine eigene Agenda. Die Nachricht, dass Terri einen bösartigen Tumor in der Brust hat, zwingt Danny zu einem waghalsigen Coup… 
„Er weiß, dass er auf den Rand einer Klippe zuspaziert, aber irgendwie kann er seine Füße nicht dazu bringen anzuhalten – links, rechts, links, rechts -, immer weiter auf den Abgrund zu. Es ist, als würde ihn etwas antreiben, etwas außerhalb seiner selbst, das sich seiner Kontrolle entzieht.“ (S. 324) 
Don Winslow, der schon in seiner Kindheit die antiken Epen von Homer und Virgil verschlang, setzt den drei Teilen seines neuen Romans jeweils Zitate aus deren Werken „Aeneis“ und „Ilias“ voran und schlägt so die Brücke von der Antike zur Neuzeit. Im Gegensatz zu dem Kontinent umspannenden Epos um den Drogenkrieg lässt Winslow den Auftakt seiner neuen Trilogie fast ausschließlich in Dogtown spielen, entfesselt auf engstem Raum aber ein höllisches Inferno mit unzähligen Beteiligten. 
Dabei skizziert Winslow meist nur kurz, wer mit wem gegen wen intrigiert und kontraktiert, hält sich nicht lange mit Charakterisierungen seiner Figuren auf, sondern lässt sie einfach ihrer Geschäfte nachgehen, die immer mehr aus dem Ruder laufen. Die Gier nach Macht, nach Selbstbestätigung und Absicherung der Familie entwickelt sich zu einem furios inszenierten Schlagabtausch, bei dem keiner dem anderen mehr trauen kann und jeder versucht, das Beste aus der zunehmend verfahrenen Situation zu machen. 
Mit emotional berührenden Momenten geht der Autor sehr sparsam um. Da versucht Dannys mittlerweile zu Reichtum gekommene Mutter ihre Versäumnisse nachzuholen, indem sie all ihren Einfluss nutzt, um Danny und Terri alles Mögliche zur Unterstützung zukommen zu lassen, während Danny wiederum versucht, seinem Kind eine Zukunft zu bieten, die nicht auf einer Sünde aufgebaut ist, und seinen Vater in Sicherheit vor der Rache der Italiener zu bringen. 
Davon abgesehen schildert Winslow in leicht verständlicher Sprache in hohem Tempo ein Labyrinth der Gewalt, das er allerdings nicht übermäßig ausschlachtet. Dafür ist es umso faszinierender, wie eine einzelne Figur so eine zerstörerische Kettenreaktion auslösen kann, die niemand zu stoppen in der Lage zu sein scheint. Mit einer Leseprobe zu „City of Dreams“ darf man sich als Leser auch schon auf das nächste Kapitel der Trilogie einstimmen, während Sony und 3000 Pictures bereits an einer Verfilmung von „City on Fire“ arbeiten.  

Jim Thompson – „Kill-off“

Donnerstag, 9. Juni 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
In seinen überaus produktiven 1950er Jahren schrieb der US-amerikanische Autor Jim Thompson viele seiner besten Werke. Während er selbst die Drehbücher zu Stanley Kubricks Frühwerken „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ verfasste, wurden seine eigenen Romane wie „Der Mörder in mir“, „Ein Satansweib“, „Getaway“ und „After Dark, My Sweet“ - wenn auch viel später - von Regisseuren wie Alain Corneau, James Foley und Sam Peckinpah verfilmt. Das trifft auch auf den 1957 entstandenen Roman „The Kill-Off“ zu, den Maggie Greenwald 1989 für die große Leinwand adaptierte. Dabei zählt der hierzulande zunächst bei Ullstein als „Das Abtöten“ veröffentlichte, dann bei Diogenes in neuer Übersetzung unter dem Titel „Kill-off“ herausgegebene Werk nicht zu Thompsons besten Arbeiten. 
In dem heruntergekommenen Seebad Manduwoc hat sich die einst schöne, nun über sechzigjährige Luane Devore durch ihre bösartige Zunge eine Menge Feinde gemacht. Als sie zwei Tage vor Beginn der Sommersaison ihren Anwalt Kossmeyer anruft und auf ihre gewohnt hysterische Art behauptet, dass sie umgebracht werden soll, nimmt er sie nicht allzu ernst. Schließlich ist es auch schon Jahre her, dass er für seine Dienste auf dem Devore-Anwesen honoriert worden ist. Ihr Mann Ralph hat sich jahrelang mit Gelegenheitsjob über Wasser gehalten und für seine Frau nicht mehr allzu viel übrig. Dafür hat es ihm die Sängerin Danny Lee von Rags McGuires Musikgruppe sehr angetan. Als ihm nicht nur der Hausmeisterjob in der Schule flöten geht, sondern von Mr. Brockton auch noch erfahren muss, dass Doktor Ashton dafür gesorgt hat, dass der Job des Rasenmähens an dessen Sohn Bobbie übergegangen ist, steht Ralph Devor auf einmal ohne Einkommen dar. 
Doc Ashton wiederum, der sich nach dem Tod seiner Frau im Kindbett mit der jungen wie hübschen schwarzen Haushälterin Hattie vor siebzehn Jahren in der Stadt niedergelassen hat, sorgt sich darum, dass sein dunkles Geheimnis um die Beziehung zu Hattie gelüftet wird. Der Staatsanwalt Williams hat ebenso kein Interesse daran, dass bekannt wird, dass seine Schwester ein Baby von ihm erwartet… 
„Das musste man der verdammten Luane schon zugestehen: Sie hatte ein teuflisches Talent, mit dem Gerüchtemesser so zuzustoßen, dass sie immer die richtige Stelle traf und dauernd mächtig Staub aufwirbelte. Henry Clay Williams zum Beispiel war ein Junggeselle. Er hatte immer mit seiner unverheirateten Schwester zusammengelebt. Und diese Schwester hatte jetzt einen Unterleibstumor… der eine Schwellung verursachte, wie es normalerweise nur eine andere Art von Wachstum tut.“ (S. 89)
Jim Thompson hat sich seinen Lebensunterhalt nach seinem Abschluss an der University of Nebraska zunächst mit dem Schreiben von True-Crime-Stories verdient, was ihn – wenn nicht schon vorher – zu der Überzeugung kommen lassen musste, dass die Menschen ein gewalttätiger, habgieriger Haufen sind. Wirklich sympathische, moralisch integre Charaktere finden sich in seinen Büchern eher selten. Der Aufbau von „Kill-off“ ist insofern geschickt, als die einzelnen Kapitel jeweils aus der Sicht einzelner Bewohner von Manduwoc geschrieben sind. Nachdem der Anwalt Kossmeyer im ersten Kapitel durch sein Telefonat mit Luane Devore bereits eine erste Charakterisierung des zukünftigen Mordopfers abgibt und den Lesern einen groben Überblick über die Beziehungen und Zustände in der Stadt verschafft hat, kommen auch Luanes Mann Ralph, Doc Ashton und sein verzogener Sohn Bobbie und Hattie, der Bauunternehmer Pete Pavlov, der Musiker Rags McGuire, der Staatsanwalt Henry Clay Williams und auch Luane Devor selbst zu Wort. Nachdem Luane erwartungsgemäß zu Tode gekommen ist, stellt sich schließlich ab der Mitte des Romans die Frage nach dem Täter. 
Leider versäumt es Thompson, in dieser Hinsicht die Spannung aufrechtzuerhalten. Die nach dem Mord in Stellung gebrachten Ich-Erzähler bringen kaum noch erhellende Informationen zu dem Fall bei, sondern lamentieren eher vor sich hin, so dass man als Leser zunehmend das Interesse an der Geschichte verliert. Mit dem letzten zu Wort kommenden Beteiligten versucht Thompson dann das obligatorische Überraschungsmoment zu setzen und sein Publikum wieder wachzurütteln, doch wirklich überzeugend ist ihm dieser Kniff hier nicht gelungen. 

 

Jim Thompson – „Ein Satansweib“

Dienstag, 7. Juni 2022

(Diogenes, 226 S., Tb.) 
Jim Thompson hat sich nicht nur als Drehbuchautor für Stanley Kubricks Meisterwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ einen Namen gemacht, sondern vor allem als Autor gnadenloser Hard-boiled-Krimis, die nichts für schwache Gemüter sind. Dabei verwendet er zwar die Konventionen des Noir-Genres, verleiht ihnen aber stets einen eigenen Dreh und unterläuft so geschickt die Erwartungshaltung des Lesers. Der 1954 am Ende seiner produktivsten Phase entstandene Roman „A Hell of a Woman“, der 1988 zunächst unter dem Titel „Höllenweib“ bei Ullstein erschienen war, wurde 1996 in neuer Übersetzung als „Ein Satansweib“ durch Diogenes wiederveröffentlicht. 
Als Handelsvertreter für die Pay-E-Zee-Kette tingelt Frank „Dolly“ Dillon mit seinem Musterkoffer von Haustür zu Haustür und versucht seinen potentiellen Kunden überteuerten Ramsch anzudrehen, den sie sich oft genug nur per Ratenzahlung leisten können. Dillon ist nicht nur von dem Job und seinem Chef Staples angeödet, sondern auch von seiner Frau Joyce, die er für eine nichtsnutzige Schlampe hält. Als er einem säumigen Zahler namens Pete Hendrickson auf der Spur ist, lernt er eine alte, hässliche Vettel kennen, die sich für einen Kasten mit Silberbesteck interessiert und Dillon als Bezahlung die Dienste ihrer hübschen Nichte Mona anbietet. 
Dillon ist sofort hingerissen von dem scheuen Geschöpf und denkt gar nicht daran, das bereits nackte Mädchen zu verführen, was ihn allerdings noch mehr für sie attraktiv macht. Als Dillon wegen seiner Mauscheleien verhaftet wird, ist es tatsächlich Mona, die ihn mit einer Zahlung von dreihundert Dollar auslöst, worauf sie ihm mitteilt, dass ihre Tante noch auf hunderttausend Dollar sitzt. Offenbar hat die geizige Alte einst Mona entführt und die wohlhabenden Eltern um diese Summe erpresst, aber selbst nach dem Tod der Eltern nie etwas von dem Geld angerührt. 
Nachdem Joyce bereits Mann und Haus verlassen hat, sieht Dillon nun die Möglichkeit, mit Mona ein ganz neues Leben anzufangen, doch die Art und Weise, wie die Alte aus dem Weg geräumt werden kann, ohne dass der Verdacht auf Dillon und Mona fällt, will gut überlegt sein. Kompliziert wird es für Dillon, als Joyce wieder in sein Leben zurückkehrt und Staples ihm immer näher auf die Pelle rückt… 
„Er konnte einfach nichts wissen. Die Bullen wussten nichts, wie sollte er etwas wissen? Also worüber zum Teufel regte ich mich auf? Irgendwie war ihm aufgefallen, dass mir ein wenig unbehaglich zumute war. Hatte es bemerkt und sofort angefangen darauf herumzuhacken und versucht, die Wahrheit aus mir herauszusticheln. Er schlug wild um sich, in jede Richtung, in der Hoffnung, dass die blinden Schläge irgendwie treffen würden.“ (S. 168) 
Schon mit dem Titel „A Hell of a Woman“ führt Thompson seine Leser in die Irre, suggeriert er doch die für den Noir so typische Konstellation, dass ein zunächst unbescholtener Mann durch eine Femme fatale zu einer folgenschweren Dummheit verführt wird. Tatsächlich ist die Ausgangssituation hier ähnlich gelagert. Der Ich-Erzähler Dillon gerät aber nicht erst durch die Kenntnis der hunderttausend Dollar auf die schiefe Bahn, auf denen die alte Vettel sitzt, die keine Skrupel besitzt, ihre vermeintliche Nichte für sich zu prostituieren. Dillon ist nämlich kein sympathischer Zeitgenosse, der einfach nur Pech in seinem Leben hatte. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm seine Arbeit keinen Spaß macht, dass ihm seine Frau auf die Nerven geht, dass sein Leben eigentlich nicht lebenswert ist. Durch die Aussicht, bald ein reicher Mann sein zu können, wird das kriminelle Element seiner Natur nur zusätzlich motiviert. 
Thompson macht es seinem Protagonisten auch nicht leicht. Sowohl Joyce als auch Mona entpuppen sich nicht als Traumfrauen, die ewigen Betrügereien drohen Dillon irgendwann das Genick zu brechen, und sein Vorgesetzter Staples hängt wie eine nervige Klette an ihm. Thompson gelingt es immer wieder, dem Plot eine interessante Wendung zu verleihen, doch ist die Geschichte des Losers Dillon nicht so packend gelungen wie viele andere von Thompsons Werken. Das liegt nicht nur an der Sprache, die der Autor seinem Ich-Erzähler angepasst hat, sondern auch der am Ende arg konstruiert wirkenden Aufösung. 

 

Jim Thompson – „Eine klasse Frau“

Sonntag, 5. Juni 2022

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Nach schleppenden Beginn seiner Schriftstellerkarriere, die zwischen 1942 und 1949 nur drei Romane hervorgebracht hatte, erlebte Jim Thompson zu Beginn der 1950er Jahre einen wahren Schub an Produktivität, der Noir-Leckerbissen wie „Der Mörder in mir“, „Liebe ist kein Alibi“, „Revanche“, „In die finstere Nacht“, „Ein Satansweib“ und eben auch „Eine klasse Frau“ hervorbrachte. Der Neuübersetzung durch André Simonoviescz bei Diogenes im Jahr 1994 ging 1986 die Erstveröffentlichung unter dem Titel „Ein süßes Kind“ bei Ullstein voraus. 
Nach dem Tod seiner Mutter und der Entlassung seines Vaters durch die Schulbehörde ist Dusty Rhodes gezwungen gewesen, das College aufzugeben und für den Lebensunterhalt für sich und seinen Vater zu sorgen, mit dem er zusammen in einer kleinen Wohnung lebt. Um mehr Geld zu verdienen, hat er sich für die Nachtschicht als Page in dem etwas exklusiveren Manton Hotel entschieden, wo er mit seinem Vorgesetzten Mr. Bascom allerdings mehr schlecht als recht auskommt. 
Während der Nachtportier den jungen Mann dazu drängt, wieder zum College zurückzukehren, sieht Dusty keinen anderen Ausweg, als weiterhin den gut bezahlten Job als Page auszuüben, weil er sonst hinten und vorne nicht über die Runden kommt. Zwar sieht er seinen Vater kaum, da er nach dem Ende der Nachtschicht schlafen muss, aber er versucht ihm, all das zu besorgen, was er braucht, auch wenn er keine Ahnung hat, was sein Vater mit all dem Geld macht, das er ihm ständig zusteckt. Neben den Medikamenten gegen die Depressionen muss Dusty auch für den Anwalt Kossmeyer aufkommen, der seit einiger Zeit – erfolglos – versucht, auf eine Wiedereinstellung seines Vaters zu drängen. 
So richtig Bewegung in seine Alltagsroutine kommt allerdings, als die wunderschöne Marcia Hillis eines Nachts eincheckt. Sie stellt für Dusty die Verkörperung all seiner Träume dar. Als er eines Nachts gebeten wird, ihr Briefpapier zu bringen, gerät Dusty in eine Situation, die eine versuchte Vergewaltigung vortäuschen soll. Allein dem beherzten Eingreifen des großzügigen Tug Trowbridge und seiner zweier Gehilfen, die Marcia Hillis aus dem Hotel schaffen, hat es Dusty zu verdanken, nicht in größere Schwierigkeiten zu geraten, doch Trowbridge handelte alles andere als uneigennützig. 
Als Gegenleistung verlangt dieser, dass Dusty ihm zum Start der Rennsaison, der viele gutbetuchte Gäste ins Hotel bringt, dabei zu helfen, die abschließbaren Postfächer zu leeren und so über zweihunderttausend Dollar zu erbeuten. Dusty bleibt nichts anderes übrig, als bei diesem Coup mitzuspielen, aber er sieht auch die Chance, mit seinem Anteil ein neues Leben mit seiner Traumfrau beginnen zu können… 
„Er würde sie besitzen. Er konnte sich einfach nichts anderes vorstellen. In Gedanken hatte er schon längst von ihr Besitz ergriffen, dort waren sie schon zusammen, er und Marcia Hillis waren entzückt voneinander, entzückten den anderen. Und in diesen Vorstellungen gab es für seinen Vater keinen Platz. Sein Vater verbot diese Gedanken geradezu.“ (S. 171) 
Thompson scheint mit „Eine klasse Frau“ eine klassische Noir-Geschichte zu erzählen, in der ein hart arbeitender, fürsorglicher junger Mann durch die Obsession für eine attraktive Frau vom rechten Weg abkommt. Doch der Autor spielt sehr geschickt mit den Konventionen des Genres, um die Erwartungshaltung des Lesers später immer krasser zu unterlaufen und mit unermüdlichen Wendungen schließlich das Bild zu zerstören, das er von seinem Protagonisten aufgebaut hat. 
Während die seinen Kopf verdrehende Marcia Hillis die meiste Zeit kaum eine Rolle spielt, wird Dusty Rhodes als hart arbeitender und verantwortungsbewusster Mann portraitiert, der sich alle Mühe gibt, für seinen kranken Vater zu sorgen. Erste Risse bekommt der gute Charakter aber durch die Rückblenden, in denen geschildert wird, dass Dusty als nicht mehr ganz so kleiner Junge eine unsittliche Beziehung mit seiner Stiefmutter unterhielt und letztlich auch für die Entlassung seines Vaters verantwortlich gewesen ist, als er eine Petition mit dem Namen seines Vaters unterschrieben hatte. Doch erst die Nachwirkungen des erfolgreichen Überfalls auf die Geldreserven der Hotelgäste bringen das ganze Ausmaß einer komplexen Persönlichkeit zum Ausdruck, der anfangs noch alle Sympathien des Lesers gehörten. 
Thompson erweist sich als wahrer Meister in der Schilderung unmöglicher Situationen und vertrackter Komplizenschaften, bis man nicht mehr weiß, welchem Szenario man glauben schenken soll. 

 

Jim Thompson – „Getaway“

Samstag, 4. Juni 2022

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Obwohl Jim Thompson (1906-1977) bereits Anfang der 1940er Jahre einen Haufen Romane zu veröffentlichen begann (allein zwölf in den Jahren 1952-54), war dem alkoholkranken Schriftsteller lange Zeit kaum Erfolg beschieden. Das änderte sich erst mit seinen beiden Drehbüchern zu den Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ sowie dem 1959 veröffentlichten und 1972 von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw verfilmten Roman „Getaway“
 Dank des korrupten Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses, Benyon, wird der vierzigjährige Carter „Doc“ McCoy frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, schuldet dem korrupten Lokalpolitiker allerdings 15.000 Dollar, die er durch einen wohlüberlegten Überfall auf eine kleine Bank in Beacon City besorgen will. Die ist nicht der Bundeszentralbank angeschlossen, so dass die Bankräuber nichts ins Visier des FBI geraten. Bei dem Coup sind McCoy nicht nur seine vierzehn Jahre jüngere Frau Carol, sondern auch der paranoide und gerissene Gangster Rudy Torrento und dessen nervöser Gehilfe Jackson mit an Bord. Torrento bringt Jackson noch während des Überfalls um – je weniger Beteiligte sich die Beute teilen müssen, desto besser. Nachdem der erfolgreiche Überfall hundertvierzigtausend Dollar in bar und weitere zweihunderttausend in Papieren eingebracht hat, kommt es auch zwischen Doc und Torrento zu einer nahezu tödlichen Auseinandersetzung. Der totgeglaubte Torrento lässt sich von einem Veterinär zusammenflicken, nimmt ihn und dessen Frau als Geiseln und macht sich auf die Jagd nach McCoy. Der wiederum will zunächst seine Schulden bei Benyon begleichen und dann nach Mexiko fliehen. Durch einen verhängnisvollen Fehler seiner Frau muss McCoy die Flucht aber neu organisieren, was vermehrt zu Spannungen und Misstrauen zwischen dem Paar führt. Mittlerweile hängt ihnen nicht nur Torrento, sondern auch die Polizei an den Fersen… 
„Doc hatte das Gefühl, sich haltlos im Kreis zu drehen. Sosehr es ihn auch drängte, Carol zu glauben – die Zweifel wollten sich nicht ausräumen lassen. Er gestand sich, dass dieser fast krankhafte Argwohn Teil seines Wesens war. Als Berufsverbrecher konnte er es sich einfach nicht leisten, jemandem völlig zu vertrauen. Und Untreue grenzte in seiner Vorstellung an Verrat und war entweder ein Zeichen für eine gefährliche Charakterschwäche oder für einen Treuebruch, was nicht minder gefährlich war. Jedenfalls bildete die Frau ein Risiko in einem Spiel, das kein Risiko duldete.“ (S. 86) 
In erster Linie scheint Jim Thompson, der als kurzweiliges Mitglied der kommunistischen Partei unter der McCarthy-Ära zu leiden hatte und als Alkoholschmuggler seine eigenen Erfahrungen mit einem Leben am Rande der Legalität sammelte, in „Getaway“ die Flucht eines Ehepaars zu beschreiben, das sich in den vier Jahren, die Doc McCoy im Zuchthaus verbrachte, nicht nur entfremdet hat, sondern sich während der Flucht und des Carols nahezu unverzeihliches Missgeschick die Beute zwischenzeitlich an einen Betrüger aus den Augen verloren zu haben, immer wieder versichern muss, dass die Beziehung noch funktioniert, dass man einander vertraut und liebt, folglich unentbehrlich für einander ist. 
Doch Thompson nutzt seine Gangster-Ballade auch dazu, ein äußerst düsteres Bild eines Staates zu zeichnen, in dem sich die meisten Menschen in öden Jobs abrackern müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wie konträr sich die hart arbeitende Bevölkerung und die Gangster gegenüberstehen, macht Thompson schon zu Beginn deutlich, wenn er Doc McCoy unter falschem Namen im Beacon City Hotel charmant mit großzügigen Trinkgeldern um sich werfen lässt, während ihm die Hotelangestellten unterwürfig jeden Wunsch von den Lippen abzulesen versuchen. 
Die Vorbereitung und die Durchführung des Banküberfalls nimmt in gebührender Kürze geschildet und bildet für Thompson nur die Ausgangssituation, nach der sich nicht nur McCoy und Torrento misstrauisch beäugen, sondern vor allem McCoy und Carol den Stand ihrer Ehe auf den Prüfstein stellen. Indem der Autor immer wieder geschickt die Perspektiven wechselt, macht er deutlich, aus welch unterschiedlichen Welten die beiden stammen. Carol wird beispielsweise als ehemalige Bibliothekarin beschrieben, die bei ihren spießigen Eltern in einem leblosen Zuhause lebte, einem leblosen Job nachging und in ihrem altjüngferlichen Dasein einigelte. McCoy ist dagegen durch und durch ein Verbrecher mit Leib und Seele. 
Die Spannung des gerade mal 220-seitigen Romans ergibt sich fast schon weniger aus der Frage, ob dem Paar die Flucht nach Mexiko gelingt, sondern ob die beiden das Ziel wohl gemeinsam erreichen oder ob einer der beiden lieber eigene Wege geht. Bemerkenswert ist zudem, wie Thompson das Verbrecher-Milieu mit dem des Arbeiter-Milieus vergleicht, mit einer ausgeprägten Arbeitsmoral, nach der Dinge einfach getan werden müssen, und einem Ehrenkodex, nach dem man Freunde nicht im Stich lässt. Dass das Verbrechertum allerdings auch nicht ein unbeschwertes Leben garantiert, müssen Thompsons Protagonisten auf die harte, oft tödlich endende Tour erfahren.


 

Peter Straub – „Der Hauch des Drachen“

Freitag, 3. Juni 2022

(Bastei Lübbe, 702 S., Tb.) 
Von der allmächtigen Präsenz seines berühmten Kollegen Stephen King überschattet, gelang es Peter Straub leider nie so recht, auch hierzulande ordentlich Fuß zu fassen. Dabei bewies er bereits mit seinen ersten Horrorromanen „Geisterstunde“ und „Schattenland“, dass er zu den echten Größen des Genres zählt. Diese Qualität konnte er in vielen seiner nachfolgenden Werke leider nicht aufrechterhalten, aber die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ machte durchaus deutlich, dass beide Schriftsteller in der gleichen Liga spielen. Noch vor „Der Talisman“ (1984) erschien 1982 mit „Der Hauch des Drachen“ Peter Straubs bis dato epischstes Werk, dessen billig aufgemachte Taschenbuch-Erstauflage bei Bastei Lübbe darüber hinwegtäuscht, dass Straub hier einen fesselnden und stilistisch anspruchsvollen Horror-Roman vorgelegt hat. 
Nach zwölf Jahren, in denen sie in London gelebt haben, beziehen Richard Allbee, ehemaliger Kinderstar der Fernsehserie „Daddy’s Here“, und seine Frau Laura im Mai 1980 ein Mietshaus in Hampstead. Richard hatte ebenso Vorfahren im Patchin County wie Clark Smithfield, der zwei Wochen zuvor mit seiner Frau und seinem Sohn Tabby in ein altes Haus im Kolonialstil in der Hermitage Road eingezogen war. Währenddessen arbeitet der Schriftsteller Graham Williams verzweifelt an seinem neuen Roman, Patsy McCloud verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von „War and Rememberance“, und Leo Friedgood befindet sich auf der Interstate 95 nach Woodville, wo er dem Werk von Telpro einen Besuch abstattet. Dort erfährt er, dass ein Gas mit dem Codenamen DRG-16 in großen Mengen ausgetreten sei. Leos Frau Stony angelt sich derweil in einer Bar einen neuen Liebhaber, die Journalistin Sarah Spry schreibt an ihrer Kolumne für die „Hampstead Gazette“. 
Hampstead ist eine relativ junge Stadt. Ihre Wurzeln liegen in den Familien Williams, Smith, Green und Taylor, die 1640 am Beachside Trail siedelten. Fünf Jahre darauf stieß ein Mann namens Gideon Winter hinzu, der sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit bald den Namen „Drachen“ einhandelte. Zwei Jahre nach seiner Ankunft raffte eine schreckliche Missernte fast alles Vieh dahin, wenig später waren nahezu alle Kinder tot. Über die Jahre war Hampstead immer wieder von Gewaltausbrüchen heimgesucht worden, die sich ziemlich genau alle dreißig Jahre wiederholen. Auf den Schwingen der sich über Hampstead ausbreitenden tödlichen Gaswolke wird das Böse in der Stadt auf grausame Weise erneut entfesselt. Kinder und Jugendliche ertränken sich im Meer, Herzinfarkte raffen nicht nur ältere Menschen dahin. Die Nachfahren der vier ursprünglichen Familien sind nun wieder allesamt in Hampstead versammelt, so wie Gideon Winter 1924 in der Gestalt des Hummerfischers Bates Krell ebenfalls zurückgekommen zu sein schien, nun hat der Arzt Dr. Van Horne diese Rolle übernommen und bringt die Frauen der Gemeinde um. Williams, McCloud, Allbee und dem jungen Tabby bleibt nicht viel Zeit, um dem „Drachen“ zu zerstören. 
„Das Wesen, das einst Dr. Van Horne war, saß in seinem abgedunkelten Wohnzimmer und schaute in den alten Spiegel, den der Arzt gekauft hatte. Was er in dem Spiegel sah, waren Szenen der Zerstörung und des Ruins – rauchende Trümmer und die Reste zerborstener Wände – die zeitlosen Szenen der Vernichtung. Aufgerissene Straßen, die sich zu unpassierbaren Haufen von Betonbrocken getürmt hatten, Brücken, die in das Wasser gesunken waren, das sie hätten überspannen sollen, noch glühende Aschenhaufen, um die herum Flammen züngelten, wenn ein kalter Wind hindurchfuhr, brodelnder Qualm, wenn der Wind sich wieder legte…“ (S. 424) 
Es ist – zugegeben – nicht ganz leicht, in Peter Straubs 700-Seiten-Epos über die Zerstörung einer Stadt hineinzukommen. Mit der Vorstellung unzähliger Figuren, die im weiteren Verlauf oftmals keine Rolle mehr spielen, weil sie getötet worden sind, und Zeitsprüngen zwischen den 1960er, 1970er Jahren sowie der 1980 spielenden Gegenwart legt Straub einen holprigen Start hin, der seinen Lesern Konzentration und Geduld abverlangt. Doch sobald sich das Geschehen auf das Quartett fokussiert, das am Ende den persönlichen Kampf gegen den „Drachen“ aufnimmt, entfaltet der Autor gekonnt ein apokalyptisches Szenario, in dem die Gaswolke letztlich nur als Katalysator dient, um das Böse zu entfesseln. 
Bei der Art und Weise, wie Zerstörung und Gewalt in Hampstead um sich greifen, erweist sich Straub als äußerst phantasievoll, bringt Slasher-Horror, Zombie-Apokalypse und sogenannte „Triefer“ zusammen, denen man eigentlich mit Mitleid begegnen müsste. Das Finale zieht sich leider ebenso in die Länge wie die Einführung, aber dafür sind Straub die Charakterisierung seiner Figuren wunderbar gelungen, und er versäumt es nicht, die schrecklichen Ereignisse sprachlich anspruchsvoll vor den Augen seines Publikums auszubreiten. Trotz einer Längen und unnötig komplexer Struktur ist Straub mit „Der Hauch des Drachen“ ein nicht nur epischer, sondern überwiegend mitreißender Horror-Roman gelungen, der es mit Kings Epen „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Es“ aufnehmen kann.