Mick Herron – (Zoë Boehm: 1) „Down Cemetery Road“

Sonntag, 26. Oktober 2025

(Diogenes, 560 S., Pb.)
Mit seinen mittlerweile acht Bänden der „Slough House“-Reihe, die unter dem Titel „Slow Horses“ erfolgreich mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Apple+-Serie verfilmt worden ist, ist der Brite Mick Herron längst aus dem Schatten von Genre-Größen wie Ian Fleming, John le Carré oder Robert Ludlum herausgetreten. Doch bevor er im Jahr 2010 mit dieser ebenso spannenden wie humorvollen Thriller-Reihe um in Ungnade gefallene Agenten des britischen Geheimdienstes für Furore sorgte, sind vier Romane um die Ermittlerin Zoë Boehm erschienen, die nun ebenfalls von Apple+ als Serie adaptiert worden ist. Diogenes präsentiert nun den ersten, 2003 veröffentlichten Band „Down Cemetery Road“ als deutsche Erstausgabe.
Die arbeitslose und völlig mit ihrem Leben in Oxford unzufriedene Sarah Trafford ist alles andere als begeistert, als ihr in Finanzgeschäften tätige Mann Mark den ebenso finanzkräftigen wie unsympathischen Unternehmer Gerard Inchon mit seiner Vorzeigefrau zum Essen einlädt, damit dieser mit ihm ins Geschäft kommt. Um das Ganze etwas bekömmlicher zu gestalten, bittet Sarah ihre Freundin Wigwam und ihren Mann Rufus dazu. Gerard reizt Sarah gerade mit dem Begriff „BHS“ (Bored Housewife Syndrome), als das Nachbarhaus in die Luft fliegt. Wie sich herausstellt, ist bei dem Unglück nicht nur die Frau, sondern auch ihr zuvor vom Militär bereits als verstorben gemeldeter Mann Tom Singleton ums Leben gekommen. Nur ihre Tochter Dinah, die Sarah einmal auf dem Spielplatz gesehen hat, scheint mit dem Leben davongekommen zu sein, wird aber nach einem Krankenhausaufenthalt vermisst. Sarah fühlt sich auf unerklärliche Weise für das Schicksal des Mädchens verantwortlich und engagiert den Privatdetektiv Joe Silverman. Als Sarah ihn eines Tages mit durchgeschnittener Kehle in seinem Büro auffindet, ist sie sich sicher, dass hinter Dinahs Verschwinden und dem erneuten Tod ihres Vaters mehr steckt als zunächst angenommen. Sie ahnt nicht, dass sich längst eine Geheimorganisation mit zwei außer Rand und Band geratenen Killern alle aus dem Weg räumt, die ihre Mission gefährden, sie weiß aber, dass Gerard mit diesem Schlamassel zu tun hat.

„In allen Filmen, allen Büchern waren es die Kleinigkeiten, die einen verrieten – die Schreibmaschine mit dem erhöhten T, der Ersatzschlüssel, der immer noch auf der Leiste über der Tür lag. Bei ihr war es dieser verdammte kleine Computer. Sinnlos einen Knopf gedrückt, und Gerard wusste, dass sie herumschnüffelte, dass sie wusste, was er getan hatte. Und jetzt saß sie an einer belebten Straße, auf der die Leute in alle Richtungen drängten, und war allein und verängstigt, weil Gerard Bescheid wusste und bereits zwei Menschen getötet und einen dritten hatte verschwinden lassen. Vielleicht auch mehr, denn wer eine Bombe legt, ist kein Amateur: Amateure benutzen Küchenmesser.“ (S. 166)

Zunächst einmal: Zoë Boehm, die im Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe erwähnte Ermittlerin, nimmt als Ehefrau und Partnerin des ermordeten Privatdetektivs Joe Silverman nur eine Nebenrolle ein, die erst im letzten Drittel etwas mehr Präsenz zeigt. Bis dahin besticht Mick Herron in seinem Debütroman mit seiner schwungvollen, literarischen und pointierten Sprache, die später auch die berühmte „Slough House“-Reihe prägen werden. Davon abgesehen versteht es der Autor, einen faszinierenden Plot zu inszenieren, bei dem Samariter auf eigentlich tote Soldaten und psychopathische Killer treffen. Dabei wird die Leserschaft immer wieder von neuen Wendungen überrascht, wenn die Figuren in diesem perfiden Spiel um Menschenleben nicht das sind, was sie zuvor zu sein schienen. Das sorgt bis zum packenden Finale für anhaltende Spannung. Man kann gut verstehen, warum die prominente Schauspielerin Emma Thompson („Was vom Tage übrig blieb“, „Saving Mr. Banks“) so begeistert davon war, die Rolle der Zoë Boehm in der Apple+-Verfilmung zu übernehmen, wie sie in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt. 

Jussi Adler-Olsen, Line Holm & Stine Bolther – (Carl Mørck: 11) „Tote Seelen singen nicht“

Dienstag, 21. Oktober 2025

(Penguin, 558 S., HC)
Seit Jussi Adler-Olsen mit seinem vierten Roman „Erbarmen“ (2009) den in Kopenhagen agierenden Ermittler Carl Mørck und das von ihm geleitete Sonderdezernat Q eingeführt hat, ist er zum erfolgreichsten dänischen Krimiautor avanciert und darf sich neben etlichen Literaturpreisen auch über einige Verfilmungen – zuletzt die Netflix-Serie „Dept. Q“ – freuen. Mit den Bänden 10 („Natrium Chlorid“) und 11 („Verraten“) schien das Ende der international gefeierten Krimi-Reihe allerdings besiegelt, schließlich wurde der – unschuldige - Mørck zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung quittierte er den Dienst, verarbeitete seine Erfahrungen bei der Kopenhagener Polizei in seinem Buch „Erbarmen“ und steht nun vor der Veröffentlichung seines zweiten Buches. Für die nun vorliegende Fortsetzung der Arbeit im Sonderdezernat Q hat sich Adler-Olsen, der Anfang Februar 2025 bekanntgab, unheilbar an Knochenmarkkrebs erkrankt zu sein, prominente Unterstützung besorgt, das Autorinnen-Duo Line Holm und Stine Bolther, das bislang hierzulande die drei Krimis „Eiskalte Schuld“, „Brennender Zorn“ und „Gefrorenes Herz“ veröffentlicht haben. Der elfte Band „Tote Seelen singen nicht“ präsentiert nicht nur eine Fortsetzung der Arbeit des Sonderdezernats Q und ein Wiedersehen mit Carl Mørck, sondern auch eine neue Mitarbeiterin.
Seit Carl Mørck den Dienst quittiert hat, steht das Sonderdezernat Q wegen der geringen Aufklärungsquote unter Druck. Assad und Rose mussten dazu den Weggang ihres Kollegen Gordon verschmerzen. Nun bekommen sie in Gestalt der 44-jährigen Französin Helena Henry Verstärkung, die in Kopenhagen versucht, bei der Einheit Organisiertes Verbrechen unterzukommen versucht, aber zunächst mit dem Dienst im Sonderdezernat Q vorliebnehmen muss. Das bekommt alle Hände voll zu tun, als Mørck am Rande einer Lesung Informationen über den vermeintlichen erweiterten Suizid von Ole Horsten erfährt, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer in die Schlagzeilen geratene Privatklinik, und seiner dementen Frau Jette, die allerdings von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes gerettet werden konnte. Eine nicht abgehörte Notrufaufnahme eines zuvor eingestellten Programms für Demenzkranke lässt vermuten, dass eine dritte Person an Ole Horstens Tod und dem Schicksal seiner Frau beteiligt gewesen ist. Mørck informiert Rose und Assad gerade über die Aufnahme, als im Polizeifunk eine Meldung über eine erschossene Frau in einer Bäckerei eingeht, die – wie weitere Ermittlungen ergeben – offensichtlich an Geldwäschereigeschäften beteiligt gewesen ist. Und dann fliegt auch noch ein Trailer von Mads-Peter Vang bei der Fahrt aus dem Hafen in die Luft, wobei der Geliebte des Schiffseigners ums Leben gekommen ist. Als sich weitere merkwürdige Todesfälle ereignen, führen die Spuren zu einem berühmten Knabenchor, der einst von Ole Horsten geleitet wurde und bei dem sich einige Mitglieder einen folgenschweren Scherz mit einem ihrer Mitstreiter in dem Internat erlaubt haben. Die Ermittlungen des neu zusammengewürfelten Teams leiden allerdings unter der Skepsis, die Rose der neuen französischen Kollegin entgegenbringt…

„Also, was hatte Helena dazu gebracht, das alles hinter sich zu lassen? Da konnte man ja durchaus mal spekulieren, ob sie nicht vielleicht vor etwas geflüchtet war? Vielleicht hatte sie keine andere Möglichkeit gehabt, als nach Dänemark zu gehen. Es war doch denkbar, dass sie einen fatalen Fehler bei der Polizeiarbeit gemacht hatte, einen idiotischen Fehler wie den, mit dem sie Assad eine Woche zuvor fast umgebracht hatte, vielleicht … Rose rieb sich das Kinn … Vielleicht hatte eine unüberlegte Aktion eines Kollegen das Leben gekostet und Helena zur Persona non grata in Lyon gemacht?“ (S. 276)

Mehr noch als die spektakulären alten Fälle, die Carl Mørck mit dem Sonderdezernat Q zu bearbeiten hatte, waren Adler-Olsens Thriller in dieser Reihe vor allem wegen der unterschiedlichen Charaktere so interessant zu lesen. Mit hin und wieder wechselnden Mitgliedern im Team wurde die Dynamik zwar ansatzweise verändert, aber im Kern blieben der Chef, Assad und Rose die tragenden Säulen der faszinierenden Plots. Nicht nur durch Carl Mørcks Ausscheiden aus dem Polizeidienst hat sich die Struktur der Plots verändert, auch die beiden neuen Autorinnen, die der schwerkranke Adler-Olsen nun mit an Bord geholt hat, sorgen für einen anderen Schwung in der Thriller-Reihe. Dabei macht es das Trio seinem Publikum nicht leicht, sich mit der veränderten Situation anzufreunden. Durch die ständig wechselnden Erzählperspektiven sowohl der Ermittler auch der Beteiligten an den Morden, die Rückblicke zu den Geschehnissen in den 1980er Jahren, die die jetzigen Ereignisse in Gang gesetzt haben, sowie die Vielzahl der unterschiedlichsten Fälle, mit denen das Sonderdezernat Q und andere Einheiten beschäftigt sind, verhindern einen stringenten Aufbau des Plots und hemmen die Spannungsentwicklung, zumal der Täter recht früh offenbart wird. 
Zum Glück lassen die Autor:innen die Inneneinsichten der Ermittler:innen nicht zu weit außen vor, sodass die Neugier vor allem auf die neue Kollegin wachgehalten wird, die tatsächlich ein gut gehütetes Geheimnis mit sich herumträgt. Aber auch Assad und Rose bleiben mit ihren jeweiligen Hintergründen und Macken angenehm lebendig. Am Ende haben sich Adler-Olsen, Holm und Bolther allerdings bei der – nicht immer glaubwürdigen – Inszenierung des Rachefeldzugs und anderer Vorfälle und der vielen Personen etwas verhoben, um an die Klasse der ersten Sonderdezernat-Q-Fälle heranzureichen.

 

Hanns-Josef Ortheil – „Schwebebahnen“

Freitag, 10. Oktober 2025

(Luchterhand, 320 S., HC)
Hanns-Josef Ortheil zählt zu den produktivsten und profiliertesten Autoren in Deutschland. In seiner Werksbiografie finden sich Erzählungen, historische und zeitgenössische Romane, Essays, Drehbücher für Fernsehfilme und Sachliteratur vor allem zum Kreativen Schreiben, das er an der Universität Hildesheim lehrt. Nachdem er im Oktober 2021 mit „Ombra – Roman einer Wiedergeburt“ seine Erlebnisse rund um seine 2019 diagnostizierte Herzinsuffizienz samt komplikationsreicher Herz-OP und Reha aufbereitet hatte, führt es ihn mit seinem neuen Roman „Schwebebahnen“ in seine Kindheit in Wuppertal zurück, wo er zwischen 1957 und Anfang der 1960er Jahre gelebt hatte.
Der sechsjährige Josef ist der Sohn eines Streckenvermessers bei der Eisenbahn und erlebt Ende der 1950er Jahre den Familienumzug von Köln nach Wuppertal, in ein Haus und eine Nachbarschaft voller Eisenbahner. Da er in Köln in der Schule schnell als Außenseiter abgestempelt war und sie abbrechen musste, soll der Umzug dem Jungen die Chance auf einen Neuanfang bieten. Tatsächlich lässt es sich gut an. Der ebenso talentierte wie introvertierte Klavierspieler muss sein Üben von vier Stunden täglich zwar wegen der Nachbarn stark reduzieren, dafür entwickelt Josef vielfältige Talente, vom Langlauf bis zum Singen gregorianischer Choräle. Er bekommt mit Herrn Vondemberg einen Klavierlehrer, der ihn zum Improvisieren und Komponieren anleitet, wird von der Schulleiterin Frau Fischer zu anregenden Gesprächen über seine „Besonderheiten“ gebeten, vor allem freundet er sich aber mit Mücke an, der in die zweite Klasse gehenden Tochter des Gemüsehändlers von gegenüber. Sie hilft ihm dabei, sich anderen Menschen zu öffnen und sich selbst besser zu verstehen, ebenso wie der engagierte Pater de Kok und sein Lehrer Herr Dr. Sondermann mit seinen Exkursionen und Gedichten.

„Er möchte ein normaler Junge sein und bleiben und nichts, aber auch gar nichts Besonderes. Bleibt man normal, gehört man dazu und wird nicht beschimpft. Sticht man heraus, kann man Lorbeeren und Kränze erhalten, wird aber im schlimmsten Fall verprügelt oder von Banden mit Pfeilen beschossen oder mit Steinen beworfen.“ (S. 209)

Es fällt nicht schwer, in „Schwebebahnen“ Ortheils eigene Kindheit in fiktionaler Form wiederzuentdecken, ist der Autor doch tatsächlich Sohn einer Bibliothekarin, die ihm anfangs auch das Klavierspielen beigebracht hat, und des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef Ortheil. Der Roman ist zwar in der dritten Person geschrieben, allerdings in einer fast kindgerechten Sprache, die die Perspektive des jungen Protagonisten deutlicher herausstehen lässt. Wir erleben mit dem sechsjährigen Jungen, wie er in seiner neuen Umgebung in Wuppertal prägende Bekanntschaften macht, die den sonst stillen Jungen zum Langläufer, Komponisten, Sänger und Dichter werden lassen, doch Ortheil erzählt nicht nur von den vielfältigen Erfahrungen und vor allem Lernprozessen einer ungewöhnlichen Kindheit, sondern er fängt auch die Atmosphäre der Angst einer individualisierten Gesellschaft vor einem neuen Krieg ein, die die Menschen ebenso voneinander entfremdet, aber auch einander näherbringt, wie in Josefs Bekanntschaften mit seiner ledigen Schulleiterin, dem versierten Klavierlehrer und mit der fast gleichaltrigen Mücke deutlich wird. Die berühmte Wuppertaler Schwebebahn dient dabei als Metapher sowohl für die Ängste vor dem Neuen als auch für die Möglichkeiten, die das Ausleben der Fantasie eines begabten Jungen bietet.
Mit seiner einfühlsamen, wunderbar beschreibenden Sprache zieht Ortheil sein Publikum sofort in den Bann und lässt es nicht mehr los, denn Josefs Geschichte verzaubert, macht Mut und stimmt nachdenklich.

T.C. Boyle – „No Way Home“

Mittwoch, 8. Oktober 2025

(Hanser, 384 S., HC)
Seit den frühen 1980er Jahren ist Tom Coraghessan Boyle mit Romanen wie „Grün ist die Hoffnung“, „Der Samurai von Savannah“, „América“, „Drop City“ und „Wenn das Schlachten vorbei ist“ zu einem genauen Beobachter und Analyst der amerikanischen Psyche avanciert. Mit seinem neuen Roman „No Way Home“ bewegt er sich allerdings auf bereits sehr ausgetretenen Pfaden.
Als der junge Assistenzarzt Terrence telefonisch benachrichtigt wird, dass seine Mutter gestorben ist, macht er sich auf den Weg von Los Angeles nach Boulder, Nevada, um die letzten Angelegenheiten seiner Mutter zu regeln. Dazu gehört auch das nun ihm gehörende Haus und die Hündin Daisy. In einer Bar lernt der 31-Jährige die attraktive Krankenhaus-Rezeptionistin Bethany kennen und landet mit ihr gleich im Bett. Was für Terrence eher unverbindlich begonnen hat, entwickelt sich schnell zu einer komplizierten Geschichte. Da Bethany von ihrem Ex Jessie auf die Straße gesetzt worden ist, hat sie ihre Sachen seit ein paar Wochen in einem Container gelagert, bis sie genug Geld für Miete und Kaution für eine neue Wohnung gespart hat. Da passt es ihr gut in den Kram, sich bei Terry ungefragt einzunisten und sich während seiner Abwesenheit auch noch ihre Freundin Lutie ins Haus zu holen. Als Jessie, Highschool-Lehrer, Romanautor und Biker mit hohem Gewaltpotenzial, hinter die Affäre seiner Ex kommt, fängt er an, durchzudrehen, und macht Terry und Bethany das Leben zur Hölle. Auf der anderen Seite kann sich Bethany noch immer nicht von Jessie lösen, was Terry vor eine schwierige Entscheidung stellt…

„Basketballringe über Garagentoren, mittelalte Wagen in den Einfahrten, die Mülltonnen ordentlich aufgereiht am Bordstein, kein Schmutz, keine Penner – eine Modellstadt, entstanden aus dem Lager für die Arbeiter, die den Damm, das achte Weltwunder, gebaut hatten. Es war ein ruhiger Ort. Durchschnittlich. Es gab einen See. Boote. Touristen. Mehr als dreihundert Sonnentage pro Jahr. Würde er hier leben wollen? Die Frage zu stellen, hieß, sie zu beantworten, ganz gleich, was Bethany sich erhoffte.“

Mit seinem neuen Roman präsentiert Boyle eine nahezu klassische Dreiecksgeschichte, wie sie in durchschnittlichen Netflix-Produktionen thematisiert werden, wobei weder die drei Schlüsselcharaktere noch die Story besonders interessant sind. Die „Spannung“ ergibt sich ohnehin vor allem dadurch, dass Terry immer wieder gezwungen ist, nach Los Angeles zur Arbeit zurückzukehren und so seinem Konkurrenten Jessie den Raum lässt, während Terrys Abwesenheit sich an Bethany ranzumachen. Das ist recht humorfrei und nicht mal besonders erotisch inszeniert, und Jessies Charakter als Mischung aus coolem Highschool-Lehrer, draufgängerischem Biker und Autor von historischen Romanen wirkt nicht besonders glaubhaft. Was „No Way Home“ am Ende etwas rettet, ist Boyles Kniff, die Geschichte aus den wechselnden Perspektiven von Terry, Bethany und Jessie zu erzählen, so dass man nie die ganze Wahrheit präsentiert bekommt, aber auch die Protagonisten wissen nie so recht, was sie eigentlich glauben sollen, vor allem als es zu körperlich beeinträchtigenden, schmerzhaften Konfrontationen kommt. Boyles leicht verständliche Sprache und die schlichten Dialoge erfordern keine große Aufmerksamkeit, so dass sich „No Way Home“ ähnlich wie ein Netflix-Liebesdrama einfach und schnell konsumieren lässt – um danach aber ebenso schnell wieder vergessen zu werden.

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 9) „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“

Sonntag, 5. Oktober 2025

(btb, S. 352, HC)
Auch wenn Håkan Nesser fraglos zu den führenden Vertretern skandinavischer Kriminalliteratur zählt, hat er doch längst sein Alleinstellungsmerkmal durch die gelungene Einbettung der Kriminalgeschichte in den gesellschaftlichen, vor allem aber den persönlichen Kontext der Figuren etabliert. Das trifft insbesondere auch auf den mittlerweile neunten Band um den mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Kommissar Gunnar Barbarotti zu, wobei bereist der Titel - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“ – andeutet, dass der Nessers neuer Roman weit mehr als ein klassischer Krimi ist.
Es ist Frühsommer in der fiktiven Kleinstadt Kymlinge. Der wegen seiner unangemessenen Strenge weithin unbeliebte Sport- und Mathematiklehrer Allan Fremling beschließt, seiner Wertschätzung für gesunde Ernährung zum Trotz sich eine Pizza mit Cola liefern zu lassen. Doch als es an der Tür klingelt, wartet nicht der Pizzabote auf den ehemaligen Mehrkämpfer, sondern eine Pistole, die ihn mit zwei Schüssen in die Brust und einer in den Kopf tötet. Da der Mord in seiner Nachbarschaft in Kvarnbo stattgefunden hat, wird der melancholische Inspektor Lars Borgsen mit der Ermittlung beauftragt, doch fühlt sich der 52-Jährige nach den Spätwirkungen einer COVID-Erkrankung nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen wie körperlichen Kräfte. Die Befragungen von Fremlings Kolleg:innen an der Schule bringen zwar zutage, dass das Opfer wenig geschätzt worden ist, doch ein Motiv für die Tat will sich nicht offenbaren. Schließlich wird direkt unter Fremlings Balkon ein weiterer Mord verübt, diesmal an dem Personal Trainer Birger Svensson, der sowohl eine Affäre mit der Sozialarbeiterin Emma Burman als auch mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Ester unterhielt. Nun übernehmen Gunnar Barbarotti und seine (Lebens-)Partnerin Eva Backman die Ermittlungen, doch auch sie kommen in den vermeintlich unzusammenhängenden Morden keinen Schritt weiter. Dann verschwindet auch noch ein fünfzehnjähriger Junge…

„Ihm kam Van Veeteren in den Sinn, der über diese Komplikation gesprochen hatte, über unser Bestreben, Muster auch dort zu finden, wo es keine Muster gab. Unsere Angst vor dem Chaos, oder vor … wie hieß das? Horror vacui? Vor der Leere. Aber Van Veeteren war nicht gläubig gewesen, das war ein Unterschied. Er hatte keinen festen Punkt im Jenseits gehabt, was möglicherweise ein Handicap war. Barbarotti konnte ihm insofern zustimmen, dass die Jagd nach Mustern und Zusammenhängen häufig vergeblich blieb, aber gab es einen anderen vernünftigen Weg, als Mordermittler zu arbeiten?“ (S. 288f.)

Zwei Morde in einem weniger attraktiven Viertel halten Barbarotti, Backman, Borgsen und weitere Kolleg:innen zwar ordentlich auf Trab, doch die Suche nach Motiven für die Morde bleibt fruchtlos. Dass die Aufklärung der Morde nur eine Facette des neuen Barbarotti-Romans darstellt, wird spätestens ab Seite 63 deutlich, wenn der Täter Gelegenheit bekommt, seine Sichtweise auf die Ereignisse zu schildern. Håkan Nesser geht es nicht darum, einen relativ unspektakulär wirkenden Fall aufzuklären und die Ermittler bei der Suche nach Indizien, Beweisen, erhellenden Aussagen und Motiven zu begleiten, auch wenn diese weiterhin einen wesentlichen Bestandteil seiner Geschichten darstellt. Interessanter sind aber die Verweise auf das gesellschaftliche Umfeld. So verwendet der Autor viel Zeit darauf, die gesundheitlichen Probleme von Barbarottis Kollegen Borgsen zu beschreiben, der nach einer COVID-Erkrankung einfach nur noch erschöpft ist und kaum konzentriert seine Aufgaben wahrnehmen kann. Dennoch trägt er am Ende auf eigene Faust wesentlich dazu bei, die Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken. Nesser lässt es sich aber auch nicht nehmen, immer wieder auf den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine und Autokraten wie Putin, Erdogan, Trump und Bolsonaro hinzuweisen, die die Welt ins Chaos stürzen würden. Das wirkt in der fast schon mantrischen, aber nicht weiter ausgeführten Wiederholung etwas arg aufgesetzt. Am eindringlichsten ist Nesser noch die in den Kriminalfall eingebettete Coming-of-Age-Geschichte des von Emma Burmans Sohn gelungen. Hier erweist sich der Autor als der einfühlsame Erzähler, als der er weithin geschätzt wird.
Leseprobe Håkan Nesser - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“