Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Jeffery Deaver – „Schutzlos“

Samstag, 15. Juni 2013

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, ist bei einer Drogenrazzia auf die Fingerabdrücke des Lifters Henry Loving gestoßen, der eigentlich vor zwei Jahren in einem abgebrannten Lagerhaus zu Tode gekommen sein soll. Lifter sind freiberufliche Vernehmungsspezialisten, die angeheuert werden, um von bestimmten Personen Informationen herauszuholen, auf welche Weise auch immer.
Nun ist Loving auf die Familie des in Washington, D.C. lebenden Polizisten Ryan Kessler angesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft setzt den privaten Personenschützer Corte darauf an, die Kesslers in einem sicherem Haus unterzubringen, bis Loving gestellt worden und sein Auftraggeber bekannt ist. Corte hat dabei noch eine persönliche Rechnung mit Loving offen: vor sechs Jahren tötete er nämlich Cortes Mentor Abe Fallow. Zunächst scheint es, als wäre Kessler durch die zwei größeren Fälle, an denen er momentan arbeitet, in Lovings Visier gerückt, doch alle Ermittlungen von Cortes streng geheim operierender Firma in dieser Richtung führen ins Leere.
„Einer der besten Lifter war hinter Ryan Kessler her. Und zwar nicht wegen seiner beiden aktuellen großen Fälle. Und es war nicht wegen seiner Verwaltungstätigkeit. Die Spieltheorie berücksichtigt Unbekannte und Bekannte in der Gleichung. Man weiß nicht, wie der Würfel fallen wird, welche Karte man als nächste aufhebt oder bekommt. Man kennt den nächsten Zug seines Gegners nicht. Deine zitternde Hand lässt dich manchmal irrtümlich ziehen. Aber etwas, was du immer weißt, ist, wer dein Gegner ist und welches Ziel er verfolgt. Dieses Spiel war jedoch anders. Ich kannte den Gegner nicht – nur die Spielfigur, den Springer oder Turm: Henry Loving. Und ich kannte das Ziel des Spiels nicht.“ (S. 329) 
Tatsächlich scheinen auch die anderen Kesslers potenzielle Kandidaten zu sein, brisante Informationen in sich zu tragen. Doch Loving hat mit seinem Partner schon längst die Spur aufgenommen und bringt Corte und seine Mandanten in eine lebensbedrohliche Situation …
Neben seinen schon legendären Lincoln-Rhyme-Romanen schreibt der amerikanische Bestseller-Autor Jeffery Deaver immer mal wieder eigenständige Thriller, mit denen er unter Beweis stellt, dass er stets neue interessante Settings zu ersinnen versteht. In „Schutzlos“ wird die Spannung auf gleich auf mehreren Ebenen aufgebaut. Zunächst wird das Duell zwischen den beiden Todfeinden Loving und Corte ins Feld gebracht, wobei Corte als Spiel-Experten und –Sammler immer wieder passende Gedanken zur Spieltheorie in den Mund gelegt werden, um seine Strategie zu beschreiben. Auf der darüber liegenden Ebene wird Lovings Auftraggeber gesucht, der schließlich das Motiv für die Jagd auf die Kesslers besitzt. Und schließlich bleibt lange unklar, wer konkret aus der Familie eigentlich Lovings Ziel ist. Was die Motive und die Zielperson angeht, arbeitet Deaver geschickt mit immer neuen Wendungen, die auf Dauer aber auch sehr konstruiert wirken, was gerade auf die finale Identifizierung des Auftraggebers zutrifft. Aber bis dahin bietet „Schutzlos“ ein packendes Lesevergnügen mit vielschichtigen Figuren und einem sympathischen wie gewissenhaften Protagonisten, der es nicht immer leicht hat, seine Mandanten nur als solche zu sehen.
Leseprobe: Jeffery Deaver – “Schutzlos”

Linwood Barclay – „Fenster zum Tod“

Samstag, 25. Mai 2013

(Knaur, 589 S., Pb.)
Der 35-jährige Thomas Kilbride ist schizophren, verfolgt aber seit seiner Kindheit das ambitionierte Projekt, Karten und Stadtpläne auf der ganzen Welt in sich aufzusaugen. Als er die Webseite Whirl360.com kennenlernt, geht ein Traum für ihn Erfüllung. Systematisch nimmt er sich am Computer in seinem Zimmer, das er eigentlich nur zum Essen und Verdauen verlässt, Stadt für Stadt vor und prägt sich die einzelnen Straßen, ihre Häuser, Fassaden und Geschäfte ein, die auf der Website einzusehen sind. Eines Tages entdeckt er auf einer seiner Entdeckungstouren in der Orchard Street in Manhattan, wie der Mord an einer Frau am Fenster fotografiert worden ist.
Sein Bruder Ray, der als Illustrator in Burlington lebt, sich nach dem Tod des Vaters aber auch um Thomas kümmern muss, begegnet dieser Beobachtung zunächst mit Skepsis, weil sein Bruder auch glaubt, für die CIA zu arbeiten und ihren Agenten helfen zu können, wenn sie nach dem Ausfall elektronischer Hilfsmittel schnell fliehen müssen. Thomas drängt seinen Bruder, mit dem Foto nach Manhattan zu erfahren und vor Ort Näheres zu diesem mutmaßlichen Vorfall in Erfahrung zu bringen.
„Ich hatte mir einen Ausdruck der Szene am Fenster mitgenommen. Während der Zug den Hudson entlangfuhr, sah ich ihn mir noch einmal ganz genau an. Ich musste zugeben, von dem Bild ging eine besondere Wirkung aus. Dass der Kamerawagen von Whirl360 bei seinem Einsatz in Manhattan buchstäblich im Vorbeifahren einen gerade stattfindenden Mord aufgenommen haben sollte, schien mir im Gegensatz zu Thomas sehr weit hergeholt. Allerdings immer weniger, je länger ich das Foto betrachtete. Es sah tatsächlich so aus, als würde hier ein Mensch erstickt, als hätte sich jemand von hinten angeschlichen, ihm eine Tüte über den Kopf gestülpt und festgezogen.“ (S. 232f.) 
Ray und Thomas müssen bald erfahren, dass sich hinter dem vertuschten Mord die in Gefahr geratene Politikerkarriere des Gouverneur-Kandidaten Morris Sawchuck und die geheime lesbische Beziehung seiner Frau Bridget verbergen. Sawchucks mit allen Wassern gewaschener Wahlkampfmanager Howard Talliman und sein skrupelloser Handlanger Lewis Blocker lassen nicht locker, bis sie alle weiteren Spuren und Zeugen beseitigt haben, und machen sich auf die Suche nach Thomas Kilbride, der von den Überwachungskameras über dem besagten Appartement erfasst worden ist …
Seit seinem 2007 veröffentlichten Debüt „Ohne ein Wort“ hat sich der amerikanische, in Kanada lebende Linwood Barclay als erfolgreicher Thriller-Autor etabliert. Sein neues Werk „Fenster zum Tod“ beginnt als interessante Variation von Hitchcocks Suspense-Klassiker „Das Fenster zum Hof“, entwickelt aber ganz schnell eine eigene Dynamik, die auf der einen Seite vor allem dem interessanten Bruder-Paar zu verdanken ist, andererseits aber auch der Geschichte um die eigenwillige Auftragskillerin Nicole. Spannend und wendungsreich erzählt Barclay ein vielschichtiges und faszinierendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Ich-Erzähler Ray Kilbride auch der Frage nachgeht, ob der Tod seines Vaters wirklich ein Unfall gewesen war und was der Eintrag „Kinderprostitution“ in der Chronik auf dem Laptop seines Vaters zu bedeuten hat.
Das furiose Finale wirkt zwar wieder etwas arg konstruiert, doch das mindert das kurzweilige Lesevergnügen nur minimal.
Leseprobe: Linwood Barclay – “Fenster zum Tod”

Stephen King – „Die Arena“

Sonntag, 12. Mai 2013

(Heyne, 1280 S., HC)
Wie aus dem Nichts wird die amerikanische Kleinstadt Chester’s Mill von einer durchsichtigen, leicht luftdurchlässigen und – wie sich bald herausstellen wird – leider auch unzerstörbaren Kuppel eingeschlossen. Claudette Sanders zerschellt während ihrer Flugstunde mit der heißgeliebten Seneca ebenso an der massiven Barriere wie Murmeltiere zerteilt werden, als der „Dome“ unbemerkt die Einwohner der Stadt einsperrt. Das kommt vor allem Dale „Barbie“ Barbara ungelegen, weil er nach einer Abreibung auf dem Parkplatz des Dipper’s gerade die Stadt verlassen wollte.
Die Kuppel macht die Pläne des Grillkochs und Irak-Veterans zunichte, kommt dem Zweiten Stadtverordneten Jim Rennie aber gerade recht. Nachdem das Militär unter Führung von Colonel Cox selbst mit Raketen erfolglos versucht hat, die Kuppel zu zerstören, herrscht in Chester’s Mill der Ausnahmezustand. Der Gebrauchtwagenhändler Big Jim Rennie nutzt diese Gelegenheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Macht an sich zu reißen. Mit seinen willigen Helfen, vom stellvertretenden Polizeichef Randolph über den Ersten Stadtverordneten Andy Sanders bis zu seinem Sohn Junior Rennie, den er eine Mannschaft von jungen Deputys zusammenstellen lässt, um die Ordnung zu wahren, schaltet er systematisch seine politischen Feinde aus, setzt Lügen in die Welt und schreckt auch vor Mord nicht zurück.
„In der großen Welt hätte er vielleicht mehr Geld scheffeln können, aber Wohlstand war das Dünnbier der Existenz. Macht war Champagner. Über The Mill zu herrschen war an gewöhnlichen Tagen gut, aber in Krisenzeiten war es besser als gut. In solchen Zeiten konnte man auf Schwingen reiner Intuition fliegen, in der Gewissheit, dass man nichts vermasseln konnte, absolut keine Chance. Man konnte die Verteidigung durchschauen, noch bevor sie sich formiert hatte, und punktete mit jedem Wurf. Man fühlte es, und das konnte zu keinem besseren Zeitpunkt passieren als in einem Meisterschaftsfinale. Dies war sein Meisterschaftsfinale, und alles entwickelte sich zu seinem Vorteil. Er spürte – nein, we wusste -, dass bei diesem magischen Lauf nichts schiefgehen konnte; selbst Dinge, die schlecht zu stehen schienen, würden sich als Chancen statt als Stolpersteine erweisen.“ (S. 528f.) 
Zu den Stolpersteinen zählen nicht nur die Dritte Stadtverordnete Andrea Grinnell und Julia Shumway, die Herausgeberin des Lokalblatts „The Democrat“, vor allem Brenda Perkins, die Frau des verstorbenen Polizeichefs, könnte mit ihrem belastenden Material, das ihr Mann über Rennie zusammengetragen hat, zu einem echten Problem werden. Doch Rennie ist gerissen und skrupellos genug, um seine Feinde in die Schranken zu verweisen, während es keine Lösung für die Vernichtung der Kuppel zu geben scheint, unter die Luft zum Atmen immer schlechter wird …
Stephen King hat im Verlauf seiner ebenso langjährigen wie produktiven Karriere immer mal wieder monumentale Werke geschaffen, von dem apokalyptischen „The Stand“ bis zum mehrteiligen Western-Fantasy-Zyklus „Der Dunkle Turm“. Den Entwurf zu „Under the Dome“ verfasste King – wie er im Nachwort erwähnt – bereits 1976, verzagte aber bei den ökologischen und meteorologischen Aspekten, die die Kuppel aufwarf. Mit „Die Arena“ schuf King ein weiteres Endzeit-Epos, das im Mikrokosmos einer auf sich allein gestellten Kleinstadt demonstriert, wohin die Gier nach Macht Menschen treiben kann und wie wenig sich die normale Bevölkerung dagegen zu wehren versteht. Es dürfte nicht schwerfallen, in „Die Arena“ einen Kommentar auf die amerikanische Politik im Kampf gegen den Terror zu sehen. Stephen King beschreibt das Grauen, das aus einem plötzlich entstandenen Machtvakuum entsteht, gewohnt anschaulich und spannend, versäumt es aber, die unzähligen Beteiligten detailliert zu beschreiben, wofür bei knapp 1300 Seiten mehr als genug Platz gewesen wäre. Dafür sind der Verfall der städtischen Gemeinschaft und der Zusammenhalt einiger weniger aufrecht kämpfender Bürger umso bemerkenswerter beschrieben. „Die Arena“ bietet trotz der epischen Länge King-typische Spannung bis zum außergewöhnlichen Finale und bietet genügend Anregungen zum Nachdenken über das Gemeinwohl und die Wertschätzung des Lebens allgemein.
Leseprobe: Stephen King – “Die Arena”

John Updike – „Sucht mein Angesicht“

Montag, 1. April 2013

(Rowohlt, 316 S., HC)
Als die junge Kunsthistorikerin Kathryn aus New York eines Tages im Jahr 2001 das abgelegene Anwesen der Malerin Hope Chafetz für ein Interview aufsucht, eröffnet sie das Gespräch mit einem Zitat der Künstlerin, das diese fünf Jahre zuvor im Katalog zu ihrer letzten Ausstellung von sich gegeben hat, über den offensichtlich gelungenen Versuch, aus dem Schatten ihres ersten Mannes herauszutreten. Über den ganzen Tag hinweg unterhalten sich die beiden Frauen über Hopes bewegtes Leben.
Auch wenn der Artikel in erster Linie Hope gewidmet sein soll, sind es vor allem die Beziehungen zu ihren Männern, die Kathryns Fragenkatalog prägen. Und so erzählt Hope nach dem Abhaken ihrer Kindheit über das Leben mit Zack in den 40er Jahren, wo er mit seinen Drippings zum Kern des Abstrakten Expressionismus vorstieß. Hope erinnert sich auf sehr lebendige Weise an seine außergewöhnliche Art, Kunstwerke zu gestalten, und lässt ihre Interviewerin wie den Leser noch einmal teilhaben an dem künstlerischen Schaffensprozess.
„In Los Angeles hat er die entscheidenden High-School-Jahre erlebt und die ersten Kunstlehrer, die so was wie einen inspirierenden Einfluss auf ihn hatten. Aber, doch, ja, sowie er die Leinwand mit Klebeband am Scheunenboden befestigt hatte, konnte er von allen Seiten attackieren, so hat’s angefangen mit dem Dripping. Wenn man die Farbe nicht bloß tropfen ließ, sondern sie verspritzte, kam man bis in die Mitte der Leinwand. Im frühen Werk gibt es natürlich auch schon ein Klecksen mit Farben – lange vor dem Krieg hat er ja schon direkt mit der Tube gemalt -, und die Surrealisten hatten mit Farbe gespielt, indem sie sie ausgossen, sie schütteten, wegen des automatischen Effekts. Matta, Masson, Sie wissen schon. Aber Zack bestand immer darauf, dass es nichts Zufälliges an seinem Dripping gebe, dass alles bis ins Kleinste von ihm beabsichtigt sei. Schon wahr, er lernte gerade, wie er die Farbe verdünnen musste und welche Werkzeuge – Stöcke, eingetrocknete Pinsel, diese langen Glasröhren, mit denen man den Truthahn im Ofen begießt – er zu was benutzen konnte. Vor ihm hatte noch niemand solche Fähigkeiten beherrschen müssen; es war wunderbar, ihm zuzusehen, er bewegte sich mit so viel Grazie und mit einer Selbstsicherheit, die er sonst nie hatte. Ich glaube, dass es das war, dies Kraftvolle, das ihm so viel Publicity eintrug und so anziehend auf die breite Masse wirkte: solche Männer kannte man sonst nur vom Kino.“ (S. 109) 
Nachdem Zack bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, heiratete Hope den Pop-Art-Künstler Guy und schließlich, nachdem er sie wegen einer jüngeren Pferdepflegerin verlassen hatte, den wohlhabenden wie unkomplizierten Kunstsammler Jerry. Über die jeweils ganz andersartigen Beziehungen zu ihren Männern und deren Kunst, ihren Kindern und Verhaltensweisen lässt sich Hope vor der jungen Frau vollkommen aus, wobei sie sich immer näher kommen, aber auch wieder voneinander entfernen, wie Mütter und Töchter, Geliebte und Rivalinnen es wohl tun.
John Updike gelingt das Kunststück, mit diesem einen Interview ohne Unterbrechung in Kapiteln über dreihundert Seiten zu füllen. Dabei kommt ihm zugute, dass er selbst bildende Kunst an der Ruskin School of Drawing and Fine Arts in London studiert hat. Durch die ungewöhnliche Form eines Interviews rekapituliert Updike die Geschichte der amerikanischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg und taucht dabei tief ein in die Seelen der Künstler, das Gehabe der Galeristen und Kritiker, das Partyleben und die Affären. Zacks Figur ist dabei an Jackson Pollock angelehnt, und einige Statements der fiktiven Künstler in „Sucht mein Angesicht“ sind der Anthologie „Abstract Expressionism: Creators and Critics“ von Clifford Ross entnommen. So entsteht ein höchst lebendiges, aufschlussreiches Bild amerikanischer Nachkriegskunst, wie sie nur ein John Updike mit seiner ausschweifenden Lust am Fabulieren malen kann.
Leseprobe John Updike "Sucht mein Angesicht"

Robert Bloch – „Der Ripper“

Samstag, 23. März 2013

(Heyne, 282 S., Tb.)
London im August 1888. Wie viele ihrer Mitmenschen ist die Lernschwester Eva Sloane von den grausamen Morden an Prostituierten in Londons Elendsviertel Whitechapel betroffen. Die Polizei tappt bei der Identifizierung des Täters ziemlich im Dunkeln. Da der Täter offensichtlich gute anatomische Kenntnisse besitzt, sucht Kriminalinspektor Frederick Abberline die Unterstützung der Ärzte im London Hospital.
Da die Chirurgen aber schnell das Gefühl bekommen, ganz oben auf der Liste der Verdächtigen zu stehen, halten sie mit ihren Meinungen hinter den Berg. Allein der gerade aus Amerika zu Studienzwecken nach London gereiste junge Arzt Mark Robinson steht dem Inspektor mit Rat und Tat zur Seite. Dabei beginnt er sich auch für die sympathische Krankenschwester zu interessieren, der er eines Nachts behilflich gewesen ist, die ihn aber wegen einer Verabredung immer wieder freundlich, aber bestimmt abblitzen lässt. Abberline und Robinson verfolgen eine Menge Spuren und kommen bei ihren Ermittlungen sowohl mit Arthur Conan Doyle und Oscar Wilde als auch John Merrick, dem Elefantenmenschen, in Kontakt. Schließlich scheint das spiritistische Medium Robert Lees die Polizei auf eine heikle Spur zu führen. Denn Lees Visionen bringen Abberline und Robinson geradewegs zum Leibarzt der Königin. Währenddessen verspottet Jack the Ripper die Polizei mit Briefen voller Rechtschreibfehler und kündigt kühn weitere Taten an …
„Wer der Ripper auch sein mochte, er lief frei herum. Er lief mit einem Messer durch die Nacht, auf der Suche nach neuen Opfern … Von der nahegelegenen Kirche schlug es Mitternacht, und Marks Lächeln verschwand. Jetzt blickte er grimmig drein. So viele Kirchen gab es hier in Whitechapel, so viele Gebete, die zu Gott aufstiegen, und wozu? Gebete waren kein Schutz vor einem Massenmörder, das hatte sich erwiesen. Es gab keinen möglichen Schutz, solange Jack the Ripper umherstreifte. Er konnte jetzt überall sein, selbst hier.“ (S. 231) 
Robert Bloch ist vor allem durch die literarische Vorlage zu Alfred Hitchcocks Suspense-Klassiker „Psycho“ weltberühmt geworden und hat eine Vielzahl von Kriminal- und Horrorgeschichten verfasst. In „Der Ripper“ hat er sich eines der spektakulärsten Fälle der Kriminalgeschichte angenommen, aber ganz bewusst wenige historische Fakten verwendet, abgesehen von den Einzelheiten der Taten, die Jack the Ripper begangen hat. Bloch nimmt sich allerdings wenig Zeit, die Vielzahl der Figuren näher zu charakterisieren, die er stakkatoartig vorstellt, um sie als mögliche Verdächtige einzuführen. Auf der anderen Seite sind nahezu ebenso viele Charaktere in die Aufklärung der scheußlichen Verbrechen eingebunden. So präsentiert sich „Der Ripper“ als zwar spannend geschriebenes, doch aufgrund der unzähligen Figuren recht beliebiges „Whodunit“-Spiel ohne allzu großen Gruselfaktor. Denn dafür fehlt es dem hastig inszenierten Figurenkarussell an der nötigen Atmosphäre.

Joey Goebel – „Ich gegen Osborne“

Freitag, 22. März 2013

(Diogenes, 431 S., HC)
Dass sein Vater erst vor zwei Tagen beerdigt worden ist, kümmert James Weinbach kaum. Der Außenseiter an der Osborne-Highschool in Vandalia, Kentucky, ist viel mehr damit beschäftigt, seinen Schul-Alltag zu hassen. Der einzige Umstand, der James‘ Dasein an der Osborne High erträglich macht, ist seine Zuneigung zu Chloe, mit der er stundenlang reden kann, die darüber hinaus aber ähnlich ausgeprägte Macken zu haben scheint wie er selbst.
Nach der einen Woche Frühlingsferien hat sich jedoch alles verändert. Von allen Seiten wird James zugetragen, dass seine geliebte Chloe wie viele seiner MitschülerInnen die Ferien in Panama City verbracht hat, wo sie in einer „Fließbandnummer“ mit wildfremden Jungs schlief. Darüber hinaus geht sie ausgerechnet mit jenem Jungen zum Abschlussball, der als Mädchenschwarm bekannt ist und über den Chloe und James immer abgelästert hatten. Nachdem James Chloe auf ihre Eskapaden angesprochen hat, wird er nicht nur von heftigem Durchfall geplagt, sondern muss sich auch einer bitteren Wahrheit stellen.
„Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie damit indirekt zugab, dass die Gerüchte stimmten, ließ sich aus unserem Gespräch zumindest die Erkenntnis ableiten: Es würde weder einen James für Chloe noch eine Chloe für James geben. Das hätte nicht klarer sein können, selbst wenn es auf meine Drüsen gestempelt worden wäre. Sie dachte, wir wären nur Freunde. Für uns beide würde es kein Abholen abends um sieben, keinen Tisch für zwei, keinen romantischen Höhepunkt geben. Ich würde sie nie berühren. Ich musste akzeptieren, dass das einzige weibliche Wesen, das die Schicksalsgöttinnen mir zugestanden, jene imaginäre Muse war, die mich zum Schreiben inspirierte.“ (S. 104)
 James beschließt, sich zu rächen. Ohne Rücksicht auf Verluste erpresst er den Schulleiter und lässt diesen den kommenden Abschlussball absagen. Was darauf folgt, lässt sich nur noch als heillos emotionales wie schweißtreibendes und tränenreiches Chaos beschreiben …
Joey Goebel ("Vincent", "Heartland") beschreibt in „Ich gegen Osborne“ gerade mal einen Schultag, den der zutiefst unglückliche, schließlich auch in seiner zarten Liebe zu Chloe gedemütigte James auf der Osborne-High verbringt. Natürlich sind in die Beschreibungen des Schulalltags auch Erinnerungen des Jungen eingeflochten, die seinen Charakter ausleuchten, aber es sind vor allem die Beobachtungen seiner Umwelt und die Selbstreflexionen, die das Buch so lesenswert machen. Denn was Goebel über einen Tag in einer gewöhnlichen Highschool beschreibt, lässt sich natürlich auch auf alle anderen Lebensbereiche anwenden. Es sind die immer wiederkehrenden Wünsche, Sehnsüchte und Ängste von ganz normalen Menschen, die anerkannt und geliebt werden wollen, andererseits aber auch die Hoffnung hegen, etwas ganz Besonderes zu sein und sich von der Masse abzuheben. James ist in jeder Hinsicht ein Außenseiter, mit seinem Anzug und den guten Schuhen, mit denen er jeden Tag in der Schule aufkreuzt, mit seinen literarischen Ambitionen und den kaum erwähnenswerten Freunden. Er ätzt über alles ab, was seine MitschülerInnen toll finden, und katapultiert sich so immer wieder ins Abseits. Und doch will er irgendwie dazugehören und das Herz dieses einen Mädchens gewinnen, das auf einmal so unerreichbar scheint. Goebel portraitiert diesen außergewöhnlichen jungen Mann und sein Umfeld mit ebenso viel Tiefsinn wie Humor, und der Leser wird bei den scharfsinnigen Schilderungen immer wieder mit sich selbst und seinen eigenen Bedürfnissen und Verhaltensweisen konfrontiert.
„Ich gegen Osborne“ ist bei allen brillanten Beobachtungen aber auch eine wunderschön geschriebene Coming-of-Age- und Love-Story, so dass jeder Leser wirklich etwas für sich mitnehmen kann, denn jung waren wir mal alle und haben so oder so ganz ähnliche Gedanken und Gefühle geteilt, wie sie James Weinbach so bildhaft artikuliert.
Leseprobe Joey Goebel - "Ich gegen Osborne"

Richard Laymon - “Die Familie“

Mittwoch, 20. März 2013

(Heyne, 352 S., Tb.)
Das unterirdische Höhlensystem mit dem Lake Charon ist die große touristische Aktion im Pleasant Valley und der einzige Grund, warum das darüber erbaute Hotel auf Übernachtungsgäste zählen kann. Die junge Darcy Raines führt hier regelmäßig Touristen durch die Höhle, die erst 1923 öffentlich zugänglich gemacht worden ist, als Ely Murdock Aufzüge bauen ließ und eine Mauer errichtete, die zur Bildung des Stausees führte. Doch die Mauer markiert auch die Tragödie, bei der Elys Frau Elizabeth im selben Jahr in eine Felsspalte fiel und nie geborgen werden konnte.
Allerdings hat die geschönte Legende nur wenig mit der Wahrheit zu tun, wie die Murdock-Erben sehr wohl wissen und was Darcys Truppe leider am eigenen Leib erfahren muss. Als nämlich nach einem Feuer im Hotel die Aufzüge ausfallen, sitzen die Höhlenbesucher fest, darunter auch der 15-jährige Kyle Murdock, der gerade erst von seinem Vater angelernt worden ist, wie man sich in dem speziell ausgestatteten Zimmer 115 mit ausgesuchten weiblichen Gäste amüsieren kann. Auch unter Tage versucht Kyle, die unangenehme Situation auszunutzen, und macht sich an die gleichaltrige Paula ran, deren Vater Hank zur Zeit des Unglücks am Hotelpool Paulas Mutter Chris kennenzulernen begann. Als Chris und Hank endlich einen Eingang in die Höhle gefunden haben, werden sie umgehend mit dem Grauen konfrontiert, dem auch ihre Kinder ausgesetzt sein müssen.
„Hank hatte schon zuvor Massaker gesehen. Er hatte schreckliche Leichenschändungen gesehen. Doch noch nie etwas, das mit solch perverser Kunstfertigkeit arrangiert worden war – das Werk eines verrückten Bildhauers. Und wir sind in seiner Galerie, dachte Hank. Der Schein der zischenden Laterne offenbarte über ein Dutzend Beispiele der Arbeit des Wahnsinnigen.“ (S. 243f.) 
Unterirdische Höhlen sind immer wieder ein beliebtes Sujet im Horror-Genre, man denke nur an die eindrucksvollen „The Descent“-Filme. Richard Laymon hat gleich mehrere Horror-Komponenten in seinem 1988 veröffentlichten Roman „Midnight’s Lair“ vereint, der nun erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. Neben der an sich schon beängstigenden Dunkelheit einer Höhle ohne offensichtliche Zugänge kommen grässliche Verbrechen aus der Vergangenheit, eine soziopathische Hotelbesitzerfamilie und gruppendynamische Rangeleien hinzu, die dem Geschehen immer neue Wendungen und spannenden Grusel verleihen. Bei Richard Laymon darf man sich auch gewiss sein, dass neben der für das Genre üblichen Blut-und-Gewalt-Mixtur auch eine Menge Sex im Spiel ist, allerdings von einem Mann für Männer inszeniert, die hier ihre voyeuristischen Gewaltphantasien widergespiegelt bekommen. Davon abgesehen bietet „Die Familie“ wie immer Laymon-typische kurzweilige Horror-Spannung mit lebendig beschriebenen Figuren in einem außergewöhnlichen Setting.
Leseprobe: Richard Laymon – “Die Familie”

John Grisham - “Home Run“

Montag, 18. März 2013

(Heyne, 269 S., HC)
Paul Tracey und sein Vater Warren haben nie eine wirklich gute Beziehung zueinander gehabt. Tatsächlich hat Paul mit seinem Vater kaum noch gesprochen, seit dieser sich nach zwölf Jahren Ehe von Pauls Mutter scheiden ließ und das Weite suchte, um immer wieder weitere Frauen zu ehelichen. Warren Tracey ist stets ein aufbrausender Mann gewesen, der als Profi-Baseballspieler vor allem für die New York Mets viel unterwegs gewesen ist, sich mit anderen Frauen vergnügte und gern einen über den Durst trank, worauf er zuhause oft gewalttätig geworden ist. Warren Tracey war kein Mann, zu dem man aufschauen, vor allem nicht gern haben konnte.
Was ihn aber in aller Welt zu einem roten Tuch machte, war das denkwürdige Aufeinandertreffen von Warren mit Joe Castle am 24. August 1973. Paul war damals elf Jahre alt und Pitcher bei den Scrappers in der Little League von White Plains und verfolgte wie das ganze Land begeistert mit, wie ein 21-jähriger Rookie namens Jim Castle einen Home Run nach dem nächsten machte und seine Karriere gleich mit einigen Rekorden begann.
 „Joe Castle würde sein Debüt in New York haben und mein Vater würde auf dem Wurfhügel stehen. Die Cubs würden dann die Nummer eins in der East Division sein und die Mets aller Wahrscheinlichkeit die Nummer zwei. Wenn ich mir das vorstellte – und das tat ich in dem August damals mindestens zehnmal am Tag -, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen und brachte nicht einmal mehr einen Schluck Wasser hinunter. Warren Tracey gegen Joe Castle. Die Gefühle für meinen Vater waren mehr als gemischt. Eigentlich hasse ich ihn ja, aber er war mein Vater und ein Profibaseballspieler, der für die New York Mets pitchte! Wie viele elfjährige Jungen konnten das von ihrem Vater behaupten?“ (S. 100) 
Das erträumte Zusammentreffen fiel jedoch anders aus als erhofft. Warren Tracey traf Joe Castle mit einem Beanball so schwer am Kopf, dass der Junge einige Tage im Koma verbrachte und nie wieder spielen konnte. Mit dieser mehr als unsportlichen Geste wurde das Band zwischen Warren Tracey und seiner Familie endgültig zerschnitten, und Paul litt noch Jahre unter der Schmach, die sein Vater der Familie und der ganzen Baseballwelt zugefügt hatte. Doch nun liegt Warren Tracey mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Sterben und sein Sohn macht sich auf den Weg nach Calico Rock und dann zu seinem Vater, um eine Aussöhnung zwischen den beiden Männern zu erwirken. Doch Warren Tracey ist nie ein Mann gewesen, der ein Unrecht in dem sah, was er in seinem Leben angerichtet hatte …
John Grisham hat sich vor allem einen Namen als Autor von vielfach verfilmten Justiz-Thrillern wie „Die Firma“, „Die Akte“ und „Der Klient“ gemacht, aber er hat zwischenzeitlich auch immer mal wieder seine Erzählkunst in Romanen wie „Die Farm“, „Der Coach“ und „Touchdown“ bewiesen. In „Home Run“ erweist er seiner Lieblingssportart Baseball seine Referenz und schildert fachlich kompetent wie unterhaltsam die dramatische Geschichte sowohl einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung ebenso wie die unterschiedlichen Erfolgs- und Leidensgeschichten zweier Profi-Baseball-Spieler, die nach ihrem Aufeinandertreffen nicht mehr dieselben Männer sein sollten. Grisham beschreibt die verschiedenen Zeit- und Handlungs-Ebenen auf gewohnt souveräne Weise, mit Begeisterung für den Baseball-Sport und seine Helden, aber auch mit viel Gefühl für seine Protagonisten.
Leseprobe: John Grisham - "Home Run"

Clive Barker – „Das erste Buch des Blutes“

Sonntag, 17. März 2013

(Knaur, 304 S., Tb.)
“Blutbücher sind wir Leiber alle; wo man uns aufschlägt: lesbar rot.”
Dieses Motto, das der in Liverpool geborene Clive Barker seiner ersten Kurzgeschichten-Sammlung aus dem Jahre 1984 voranstellt, beschreibt treffend das, was den neugierigen Leser auf den kommenden gut 300 Seiten erwartet, nämlich das jeweils unvermittelte Eintauchen in eine Welt, in der es kein Erbarmen und keine Reue gibt, nur unvorstellbares Grauen, Leid und … viel Blut.
Gleich in der Auftaktgeschichte „Das Buch des Blutes“ führt uns Barker ohne große Einleitung auf die Straßen der Toten, die sich gelegentlich mit unserer Welt kreuzen, beispielsweise in dem einzeln stehenden Haus am Tollington Place 65, wo sich die Toten offensichtlich besonders lautstark zu Wort melden. Das hat zumindest das Institut für Parapsychologie der Universität Essex herausgefunden, das dort das zwanzigjährige Medium Simon McNeal als Medium eingesetzt hat. Der junge Mann hat sich allerdings nur einen Spaß erlaubt, der ihm Ruhm und umschwärmte Fernsehauftritte versprach. Doch die Toten lassen nicht gern mit sich spielen und bereiten dem Schwindler höllische Qualen.
In der vielleicht besten Geschichten der Sammlung, „Der Mitternachts-Fleischzug“, muss Leon Kaufman feststellen, dass seine große Liebe New York doch nicht so vollkommen ist, wie er sich das zwanzig Jahre lang vorgestellt hat und seit einem Vierteljahr, das er nun in der Stadt seiner Anbetung verbracht hat, erleben muss. Den eindrucksvollsten Beweis dafür bekommt Kaufman in dem ständigen Blutvergießen präsentiert, das die Straßen überschwemmt. Momentan treibt ein Schlächter in der U-Bahn sein Unwesen, und eines Tages wird Kaufman mit Schlächter konfrontiert.
„Sein Bewusstsein weigerte sich anzuerkennen, was seine Augen hinter der Tür sahen. Er verwarf das Schauspiel als widernatürlich-absurd, als geträumten Nachtmahr. Sein Verstand sprach ihm die Wirklichkeit ab, aber sein Fleisch war sich ihrer gewiss. Sein Körper starrte vor Entsetzen. Seine Augen konnten mit unbeweglich offenen Lidern die grausige Szene hinter dem Vorhang nicht ausblenden. Er stand an der Tür, während der Zug weiter dahinratterte, während sein Blut aus seinen Gliedmaßen zurückströmte und sein Hirn aus Sauerstoffmangel ins Taumeln geriet.“ (S. 57 in der Bertlesmann-Buchclub-Ausgabe). 
Ein Verwahrungszentrum für jugendliche Gewalttäter stellt die Bühne für „Schweineblut-Blues“ dar, in der ein ehemaliger Cop mit dem Verschwinden eines Jungen konfrontiert wird, dessen Geist offensichtlich noch in den Mauern der Anstalt haust. Doch das eigentliche Grauen spielt sich auf dem etwas abgelegenen Farmgelände ab, wo ein Schwein ganz besondere Opfer fordert. In „Das Geyatter und Jack“ wird das fruchtlose Bemühen eines Dämons beschrieben, sein Opfer Jack Polo in den Wahnsinn zu treiben, „Sex, Tod und Starglanz“ bietet eine etwas andere Variation des bekannten „Phantom der Oper“-Motivs. In der abschließenden Geschichte „Im Bergland: Agonie der Städte“ macht sich ein schwules Paar aus England mit dem Auto ins ehemalige Jugoslawien auf und wird Zeuge einer außergewöhnlichen Schlacht von zwei Zwillingsstädten, die jeweils ihre ganze Bevölkerung mobilisieren.
Mit seinem literarischen Debüt hat der Drehbuchautor, Theater- und Filmregisseur, Maler und Autor Clive Barker dem Horror-Genre unzweifelhaft ganz neue Impulse verliehen und war so Wegbereiter für den kurzzeitig aufflammenden „Splatterpunk“, in dem Horror ohne jegliche Tabus inszeniert worden ist. Barker erweist sich mit seinem ersten Output in literarischen Gefilden als einfallsreicher Geschichtenerzähler, der sich nicht lange mit einer Exposition aufhält, sondern den Leser und seine Protagonisten unvermittelt aus dem Alltag ins Grauen stößt, wo blutrünstige Dämonen, sexbesessene Monster und Welten voller Schmerzen ihr Dasein fristen. Dabei präsentiert sich Barker als sezierender Beobachter mit großem Stilbewusstsein. Es sollten noch fünf weitere Bücher des Blutes folgen sowie eine Vielzahl großartiger Horror- und Fantasy-Romane, mit denen sich Clive Barker als Meister seines Faches etablierte.

Walter Moers – „Jesus total – Die wahre Geschichte“

Samstag, 16. März 2013

(Knaus, 88 S., Pb.)
Walter Moers ist mittlerweile mit seinen Zamonien-Romanen ein zu Recht gefeierter Fantasy-Autor, der mit großer Fabulierkunst und überwältigendem Ideenreichtum ganz schillernde Märchenwelten zu erschaffen versteht und damit ganz in die Tradition von Autoren wie J.R.R. Tolkien oder C.S. Lewis steht.
Dass seine Karriere jedoch 1984 als Comic-Zeichner begann, ist den Bewunderern seiner belletristischen Werke nicht unbedingt bekannt. Dabei hat er mit dem „kleinen Arschloch“, dem „alten Sack“ und „Adolf, die Nazi-Sau“ echte Kultfiguren geschaffen, die in beißend sarkastischen Szenarien allerlei Blödsinn verzapfen.
Rechtzeitig zur Wahl des neuen Papstes und zu den Oster-Feierlichkeiten erscheint in der „Moers Classics“-Reihe bei Knaus der theologisch sicher nicht ganz einwandfreie Sammelband „Jesus total“, der die beiden einst im Eichborn-Verlag veröffentlichten Comics „Es ist ein …, Maria“ (1992) und „Es ist ein …, mein Sohn“ (1995) zusammenfasst. Nachdem bereits „Der Pinguin“ ein absurd komisches Sex- und Blut-Spektakel in der Arktis präsentierte, wird in „Jesus total“ nun die etwas andere Geschichte von Christi Geburt erzählt. Dabei scheinen das kleine Arschloch und der alte Sack in die Rollen des Jesu-Kindes und des Königs Herodes geschlüpft zu sein.
In Moers‘ Comic wird nicht nur die Jungfräulichkeit Marias in Frage gestellt, sondern Herodes als König der Juden als genussvoller Folterer dargestellt, der die zwei Waisen aus dem Morgenland (einer ist schizophren und zählt deshalb doppelt!) zum Ausspionieren nach Bethlehem schickt. Amüsant berichtet Moers von den Gesprächen zwischen dem gar nicht allmächtig erscheinenden Gott und dem Frauenfummel tragenden Petrus, der Verführung des Messiahs durch die böse Schlange in der Wüste und den Anfängen der christlichen Religion. Humorlosen Kirchenvätern und Gläubigen dürfte dabei das Lachen im Halse stecken bleiben – alle anderen werden sich königlich amüsieren über die respektlose, aberwitzige Lektüre, die natürlich geschickt auch immer mal den Finger in die eine oder andere Wunde christlicher Kirchengeschichte legt.
Leseprobe Walter Moers – “Jesus total”

Chase Novak – “Breed”

Freitag, 15. März 2013

(Hoffmann und Campe, 350 S., HC)
Für die Kinderbuchlektorin Leslie Kramer geht ein Wunsch in Erfüllung, als sie nicht mehr nur täglich auf dem Weg zu ihrem Verlag an dem wunderschönen Stadthaus in der altehrwürdigen New Yorker East Sixty-Ninth Street vorbeiläuft und immer mal wieder bewundernd davor stehenbleibt, sondern eines Tages unverhofft von seinem Besitzer eingeladen wird, das Haus von innen zu besichtigen. Fünf Monate später waren Leslie und der wohlhabende Anwalt Alex Twisden verheiratet.
Zu ihrem gemeinsamen Glück fehlt nur noch ein Kind. Doch alle Versuche, die mit Alex‘ Geld zu finanzieren waren, haben noch nichts bewirken können, weder Akupunktur, noch Kräutermedizin oder Hypnose. Doch dann erfahren sie durch ein befreundetes Paar aus der Selbsthilfegruppe, das nach elf Jahren endlich Kinderfreuden entgegensieht, von einem Arzt in Ljubljana, der als Fruchtbarkeitsspezialist eine ungewöhnlich hohe Erfolgsrate aufweisen kann. Es soll ihr letzter Versuch sein, also fliegen Alex und Leslie nach Slowenien, lassen sich jeder von Dr. Kiš eine schmerzhafte Spritze geben und haben wie erhofft Erfolg. Dass mit der Schwangerschaft einige unschöne Begleiterscheinungen auftreten, nimmt das überglückliche Paar zunächst hin, doch die Veränderungen, die mit den jungen Eltern nach der Entbindung der Zwillinge Adam und Alice einhergehen, führen zu katastrophalen Familienverhältnissen. Die Kinder werden nachts zu ihrem eigenen Schutz in den Keller gesperrt, irgendwann gelingt ihnen die Flucht.
„Wie alle jungen Säugetiere sind sie genetisch geprägt, ihren Eltern zu vertrauen und zu glauben, dass die Wesen, die sie auf die Welt gebracht haben, ihre Zuflucht in einer herzlosen Welt darstellen. Das ist in ihrem Gehirn, es ist in ihrem Rückenmark; es ist ihre grundlegende und notwendige Veranlagung zu glauben, dass Mutter und Vater da sind, um sie zu beschützen, und an diesem Instinkt halten sie fest, egal wie zwingend der Beweis fürs Gegenteil auch sein mag. Selbst jetzt, als sie diese Illusion aufgeben und um ihr Leben laufen, überschattet Zweifel jede ihrer Bewegungen, da sie auf eine Realität reagieren, die eigentlich unvorstellbar ist, eine Wahrheit, die sich ständig wie eine Lüge anfühlt, geschaffen von ihren eigenen Schwächen oder von ihrer fiebrigen Phantasie.“ (S. 245) 
Wie schwer es ist, Erwachsenen zu vermitteln, dass den Kindern großes Leid droht, müssen die Zwillinge auf ihrer Flucht vor ihren immer mehr verwahrlosten Eltern am eigenen Leib erfahren.

„Ein jeglicher fürchte seine Mutter und seinen Vater.“ Der amerikanische Schriftsteller Scott Spencer, der „Breed“ erstmals unter seinem Pseudonym Chase Novak veröffentlicht, hat dieses Zitat aus 3. Mose 19,3 nicht nur seinem Roman vorangestellt, sondern es als Ausgangspunkt für seine zutiefst beängstigende Geschichte genommen. Sind es in der Horrorliteratur und Filmgeschichte („The Omen“, „Orphan - Das Waisenkind“) sonst die Kinder gewesen, die das Grauen in den Alltag der Eltern bringen, kehrt Novak das Szenario einfach um und kreiert eine Gruselgeschichte, die einen nicht mehr loslässt. Es ist die Hilflosigkeit junger Menschen gegenüber ihren übermächtigen Schöpfern, die das Geschehen so grausam erscheinen lassen. Dabei lässt der Autor die Eltern nicht mal als klassische Bösewichte erscheinen, sondern als ihrerseits Betrogene, die ihren Kinderwunsch mehr als teuer bezahlen müssen. Man darf sehr gespannt sein, was Novak als nächstes für eine „Gute Nacht“-Geschichte aus seinem Giftschrank zaubert!

Fabio Volo – “Zeit für mich und Zeit für dich”

Dienstag, 12. März 2013

(Diogenes, 261 S., Pb.)
Lorenzo hat es nicht leicht gehabt in seinem Leben. Als Sohn eines stets verschuldeten Barbesitzers ist er in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf bei Mailand aufgewachsen und hat es stets bedauert, keinen wirklichen Kontakt zu seinem jetzt 76-jährigen Vater aufgebaut haben zu können, auch wenn er als junger Mann in der Bar auszuhelfen begann, um die Schuldenlast zu drücken, oder direkt mit Geld aushalf.
Als Lorenzo einen Job bei einem Schuldeneintreiber annahm, war das für den nie gesprächigen Vater der Verrat schlechthin. Erst als der damals 14-jährige Junge den neuen, 30 Jahre alten Nachbarn Roberto kennenlernte, eröffnete sich ihm eine neue Welt aus Musik und Büchern, die sein weiteres Leben prägen sollten.
„Es war Neugier, die mich zum Lesen trieb, nicht Pflichtgefühl. Immer mehr wollte ich wissen, es gab mir das Gefühl zu wachsen. Ich fand Gefallen daran, den Figuren der Bücher zu begegnen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, ja mich mit ihnen zu messen. Ich fühlte mich aufs engste mit ihnen verbunden. Von Menschen zu lesen, die noch schwierigere und schlimmere Dinge durchlebten als ich, machte meine eigenen Sorgen erträglicher, und ich fühlte mich weniger allein, weil ich nicht der Einzige war, der gedemütigt wurde. Es gab noch mehr Menschen wie mich, ich brauchte mich nicht mehr so allein zu fühlen, und vor allem erfuhr ich viel Neues über mich selbst. Die Geschichten waren zwar erfunden, doch die Gefühle waren real, und ganz offensichtlich kannten die Autoren, was sie beschrieben. Plötzlich gab es lauter neue Menschen in meinem Leben, die die Macht hatten, meine Stimmung zu beeinflussen, mir neue Gedanken einzugeben, mir eine neue Art, zu leben und zu empfinden, aufzuzeigen.“ (S. 76f.) 
Mittlerweile hat Lorenzo Karriere als Werbetexter gemacht, seinen Eltern, die endlich die Bar verkauft haben, eine Wohnung gekauft, in der sie unbeschwert ihren Lebensabend verbringen können, aber glücklich ist er nicht. Vor zwei Jahren hat ihn seine große Liebe Federica verlassen. Sicher, es hat danach andere Frauen gegeben, aber nichts ersehnt sich Lorenzo mehr, als Federica zurückzugewinnen. Als er erfährt, dass sie demnächst heiratet, dreht er fast durch. Ein letztes, verzweifeltes Mal versucht er, Federica zurück in seine Arme zu führen …
Das italienische Multitalent Fabio Volo hat bereits mit seinen vorigen Romanen „Noch ein Tag und eine Nacht“ und „Einfach losfahren“ geschickt und verführerisch mit scheinbar leichter Hand von den schillernden, geheimnisvollen Pfaden der Liebe geschrieben, und in diesem Sinne bleibt sich der Autor, Schauspieler, Fernseh- und Radio-Moderator in seinem neu bei Diogenes veröffentlichten Werk treu. Was „Zeit für mich und Zeit für dich“ vor allem ausmacht, ist nicht allein die Reflexion über eine verlorene Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, sondern die parallel dazu entwickelte Geschichte einer schwierigen Beziehung zwischen einem Sohn und seinem immer irgendwie fremd gewesenen Vater. Die nebenbei eingeflochtenen Erkenntnisse und Erlebnisse aus Lorenzos Freundes- und Arbeitswelt komplettieren die Suche eines Mannes nach der Essenz des Lebens und machen den tiefsinnigen wie leichtfüßigen und humorvollen Roman so lesenswert.

Michael Connelly – (Mickey Haller: 4) “Der fünfte Zeuge”

Sonntag, 10. März 2013

(Knaur, 637 S., Tb.)
Nachdem der Ermittler Harry Bosch in “Der Mandant” seinen Halbbruder, den Strafverteidiger Mickey Haller, eingeführt hat, durfte dieser in Connellys letzten Roman „Spur der toten Mädchen“ erstmals an vorderster Front sich eines Falles annehmen. In „Der fünfte Zeuge“ taucht Bosch nur noch als Randnotiz auf. Dafür hat es Haller mit einem extrem kniffligen Fall zu tun …
Als Strafverteidiger hat Mickey Haller gerade ein Werbepakt für die spanischsprachigen Radiosender gekauft und alle Hände voll damit zu tun, gegen Zwangsräumungen vorzugehen und die Rechtmäßigkeit von Zwangsvollstreckungen zu überprüfen, was den ehemaligen Hausbesitzern, die auf einmal ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen können, in den meisten Fällen zumindest etwas Luft verschafft. Doch dann kommt mit Lisa Trammel auf Haller eine Mandantin zu, die nicht nur ihre Ratenzahlungen eingestellt hat, sondern beschuldigt wird, Mitchell Bondurant ermordet zu haben, den Chef der Bank, die der Angeklagten das Haus wegnehmen will. Die Verteidigung baut darauf, dass die gerade mal 1,60 Meter messende Trammel den viel größeren Mann unmöglich mit einem Hammer erschlagen haben kann, außerdem plant Haller einen anderen Verdächtigen vorzuführen, Louis Opparizio, der mit seiner Firma ALOFT im Zuge der Zwangsversteigerungen den Papierkram für Banken wie WestLand National erledigte.
„Ich hatte nur ein Ziel, und die Entscheidung der Geschworenen hing davon ab, ob ich es erreichte. Ich musste den Mann im Zeugenstand zum Äußersten treiben. Er war nur hier, weil er seiner Gier und Eitelkeit aufgesessen war. Er hatte es gegen den Rat seiner Anwälte abgelehnt, sich hinter seinem Aussageverweigerungsrecht zu verstecken, und die Herausforderung angenommen, sich mir vor vollem Haus in einem Kampf Mann gegen Mann zu stellen. Meine Aufgabe war, ihn diese Entscheidung bereuen zu lassen. Meine Aufgabe war, ihn dazu zu bringen, sich vor den Geschworenen auf sein im fünften Zusatzartikel garantiertes Recht zu berufen, die Aussage zu verweigern. Wenn er das tat, kam Lisa Trammel frei.“ (S. 570 f.) 
Doch bis dahin ist es für Haller ein ungemein schwerer Weg, denn die gegen seine Mandantin vorgelegten Beweise scheinen erdrückend zu sein, auch wenn sie von der Staatsanwaltschaft sehr spät dem Gericht vorgelegt worden sind. Daneben bemüht sich Haller, seine Ex-Frau und die gemeinsame Tochter nicht zu vernachlässigen, um sich alle Optionen offen zu halten, seine Familie wieder zusammenzuführen.
Als langjähriger Polizeireporter weiß der amerikanische Bestseller-Autor Michael Connelly, wo er spannende Geschichten findet, und er versteht es hervorragend, sie auch so zu erzählen, dass selbst über 600 Seiten zu einem echten Pageturner werden. Mit „Der fünfte Zeuge“ hat Connelly einen packenden Fall, ein sympathisches Team, eine schwierige Beweislage und eine undurchsichtige Angeklagte. All das verwebt der Autor zu einem rasant geschriebenen Justiz-Thriller mit überraschendem Finale.
Leseprobe Michael Connelly – „Der fünfte Zeuge“

Jeff Lindsay – “Dexter”

Sonntag, 17. Februar 2013

 (Knaur, 493 S., Tb.)
Während in den USA bereits die siebte Staffel der erfolgreichen Krimi-Serie “Dexter” gestartet ist, erscheinen in Deutschland die der Serie zugrundeliegenden Romane von Jeff Lindsay mittlerweile stark verzögert. So mag es die treuen „Dexter“-Zuschauer zunächst etwas verwundern, dass in dem schlicht „Dexter“ betitelten fünften Roman, der in den USA bereits 2010 veröffentlicht worden ist, Blutspuren-Analyst Dexter Morgan jetzt erst die Geburt seiner Tochter Lily Anne feiert, vor allem dürfte er sich darüber wundern, dass Dexters Bruder Brian, der als „Kühllasterkiller“ in Buch/Staffel 1 sein Unwesen trieb, noch immer unter den Lebenden weilt.
Während Dexter durch die Geburt seiner Tochter zunehmend und irritierenderweise menschliche Regungen zu verspüren scheint, schleicht sich Brian in Dexters Familie ein, was dem misstrauischen Dexter überhaupt nicht zusagt. Derweil ermittelt seine Schwester Deborah in einer Fall einer mutmaßlichen Entführung, weshalb sie sich nicht nur mit dem FBI herumschlagen muss, sondern auch auf der Suche nach einem „Goth hoch zwei“, einem Vampir, ist, der ausgerechnet zur Familie von Miamis populären Stadtrat Acosta zählt und bei all seinen bisherigen Verbrechen von seinem Vater freigekauft worden ist – beste Voraussetzungen also für Dexter, sich des jungen Mannes persönlich anzunehmen, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Doch als sich seine Schwester nach zunächst vorschriftsmäßiger Polizeiart auf die Suche nach dem vermissten Mädchen macht, stoßen die beiden Morgans auf einen Zirkel, in dem der Genuss von Menschenfleisch ganz oben auf der Lustskala steht. Dass während der Ermittlungen aber immer wieder Dexters Bruder auf der familiären Bildfläche erscheint, irritiert Dexter auf beunruhigende Weise.
„Ich wusste nach wie vor nicht, was er im Sinn hatte, warum er immer wieder bei uns auftauchte. Konnte es sein, dass es ihn wirklich nach einer Art Familienanbindung verlangte? Schwer vorstellbar – andererseits hätte ich das vor Lily Anne von mir auch nicht geglaubt, und doch lag ich hier, schwor allen dunklen Freuden ab und schmiegte mich an den Busen einer echten Familie. Vielleicht sehnte sich Brian nach denselben einfachen menschlichen Banden. Vielleicht wollte auch er sich ändern. Und vielleicht klatschte ich dreimal in die Hände, und die Fee Tinkerbell erwachte wieder zum Leben. Das war in etwa ebenso wahrscheinlich; Brian war sein ganzes Leben auf dem Dunklen Pfad gewandert, er konnte sich nicht ändern, nicht so grundlegend. Er musste andere Gründe dafür haben, sich in mein Leben zu drängen, und früher oder später würden sie offenbar werden.“ (S. 375) 
Doch die Auflösung hebt sich Lindsay natürlich bis zum Schluss auf. Bis dahin darf der Leser auf ebenso amüsante wie spannende Weise verfolgen, wie Dexter mit seinen inneren Dämonen kämpft, um zu dem liebenden Familienvater zu werden, der er de facto ja ist, womit er sich aber mit der leiblichen Tochter Lily Anne erst so richtig auseinanderzusetzen beginnt. Auf gewohnt kurzweilige, extrem unterhaltsame Art gehen bei Lindsays Romanen Dexters außergewöhnliche Zwiesprache mit seinem dunklen Begleiter und die parallel verlaufende Polizeiarbeit Hand in Hand. Der typische Dexter-Humor, Deborahs unflätige Schimpftiraden und eine außergewöhnliche Krimi-Handlung machen auch „Dexter“ zu einem Thriller-Vergnügen der etwas anderen Art.
Leseprobe Jeff Lindsay – “Dexter”

John Niven – “Das Gebot der Rache”

Sonntag, 10. Februar 2013

(Heyne, 304 S., HC)
Donald R. Miller hat es gut getroffen. Als Mann der wohlhabenden Tochter noch wohlhabenderer Eltern fristet der Mittvierziger ein beschauliches Leben in der idyllischen Einöde von Saskatchewan in Kanada, indem er gelegentlich wohlwollende Filmkritiken für das Anzeigenblättchen verfasst, das seine Frau Sammy herausgibt, und auf den gemeinsamen Sohn Walt aufpasst. Doch das Familienglück gerät arg ins Wanken, als eines Tages der Labrador Herby verschwindet und Donald das ausgeweidete Tier unweit der Bushaltestelle im Schnee auffindet.
Sofort werden Donalds Erinnerungen an seine wenig glorreiche Kindheit in Schottland wachgerufen, die die dunklen Vorahnungen größeren Unglücks heraufbeschwören.
„Zum ersten Mal, seit wir hier lebten, wurde unser Glück bedroht. Und das wirklich Beunruhigende daran war, dass ich das dumpfe Gefühl hatte, als hätte ich so etwas … erwartet. Nicht genau das, was geschehen war, aber etwas in der Art. Als hätte ich unterschwellig ständig mit dem Schlimmsten gerechnet, weil ich wusste: Mein Glück war nur erschlichen, und früher oder später musste der Schwindel auffliegen. Du hast das große Los gezogen. Den Sechser im Lotto. Hast du wirklich geglaubt, das würde immer so weitergehen? Dass das Karma so etwas zulassen würde? Aber du glaubst ja nicht an Karma. Greise Nazi-Kriegsverbrecher liegen in Südamerika an ihren Swimming Pools, während anderswo Babys von Lastwagen überrollt werden. Nichts als wirre nächtliche Gedanken, allein der Übermüdung geschuldet. Eine totale Überreaktion auf den Tod eines Haustiers, das von einem Wolf gerissen wurde. Was hast du denn erwartet, als du hier raus in die Wildnis gezogen bist?“ (S. 62) 
Doch die eigenen, nicht wirklich überzeugenden Beschwichtigungen werden bald in ihre Einzelteile zerlegt, als auch Sammy nach einem außerplanmäßigen Meeting nicht nach Hause kommt, und die Polizei mit einem Hubschrauber auf dem verschneiten, zwei Hektar großen Grundstück landet …
Der schottische Autor John Niven hat mit „Kill Your Friends“ eine bissige Satire auf die Musikindustrie abgeliefert, mit „Coma“ einen etwas anderen Golf(-Sport)-Thriller und schließlich mit „Gott bewahre“ eine gar blasphemische Gottesgeschichte. Mit „Das Gebot der Rache“ legt er erstmals einen überraschend konventionellen Thriller vor, der ganz ohne den typischen John-Niven-Humor auskommt, dafür aber knallhart das bislang beschauliche Leben seines Ich-Erzählers zerpflückt. Dabei kommt erst in den sukzessive eingestreuten Rückblenden ans Licht, was zu den grausamen Ereignissen geführt hat, mit denen sich der Protagonist auseinandersetzen muss – einschließlich überraschender Wendungen und einem furiosen Showdown!
Leseprobe John Niven – „Das Gebot der Rache“

Tom Wolfe – „Back To Blood“

Samstag, 9. Februar 2013

(Blessing, 768 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Cop Nestor Camacho wurde gerade erst zu Miamis Marine Patrol versetzt, da gerät er durch einen kühnen Rettungsversuch in die Schlagzeilen, als er einen kubanischen Flüchtling vom Mast einer Luxusyacht holt. Das von etlichen Schaulustigen und den Medien beobachtete Spektakel wirkt sich allerdings nicht positiv auf Nestors Karriere aus, denn für seine kubanische Familie, Freunde und Mitbürger ist er ein Verräter am eigenen Volk, während ihn die amerikanische Bevölkerung als Helden feiert.
Nestors Freundin, die psychiatrische Krankenschwester Magdalena, flüchtet in die Arme ihres prominenten Chefs, der sich wiederum durch einen pornografiesüchtigen Patienten in die Elite von Miamis Gesellschaft einschleicht. Nachdem bei YouTube auch noch ein Video auftaucht, in dem Nestor mit einem Kollegen auf einen Afroamerikaner losgeht und ihn wüst beleidigt, muss der Cop seine Dienstwaffe und –marke abgeben. Doch in seiner Freizeit geht er dem engagierten Journalisten John Smith zur Hand, der Nestor im Miami Herald als Helden gefeiert hat und den Cop nun zur Aufdeckung eines gigantischen Kunstschwindels benötigt. Ausgerechnet Nestors Ex-Freundin Magdalena entwickelt sich zur wertvollen Augenzeugin, nachdem sie die Gunst von Sergej Koroljow, russischer Oligarch und Förderer der Kunstszene in Miami, erringen konnte. Doch statt den Ausflug in die schillernde Welt des charmanten und attraktiven Mannes von Welt zu genießen, wird Magdalena in Sergejs Umfeld so gedemütigt wie noch nie in ihrem Leben.
„Sergej ist genau jetzt im siebten Himmel … Er ist zufrieden, wenn er den ganzen Abend hier an diesem Tisch sitzen kann … an diesem riesigen Zehnertisch, nur er und seine kleine chocha, vor einem endlosen weißen Ozean mit glitzernden Pailletten. Es ist nicht zu übersehen! Da ist er! Der mächtigste Mann im Saal! … Ihr Elend kann er nicht mal ansatzweise begreifen … Bitte, mein attraktiver Retter, bitte, bring mich weg von hier … errette mich vor den tausend beschämenden, bemitleidenden, ausweichenden Blicken … aber neeeeeiiiiin, er muss aufs Podest, ganz nach oben, muss sich zur Schau stellen … Seht her, der Zar! … aus Hallandale, Florida, Russlands Herzland.:::::: Endlich endlich endlich endlich – und dieses endlich fühlte sich an wie endlich, nach fünf Jahren höllischer Qualen – endlich schlug Sergej vor, zu der großen Party auf Star Island zu fahren. Sein Abgang war wie sein Auftritt … die Schmeicheleien, die Umarmungen, die in Ohr gebrüllten Nettigkeiten, und Sergej mittendrin, über zwei Meter groß, die Brust aufgepumpt, während sie alle sprangen … Und Magdalena? Sie existierte nicht mehr. Sie schauten einfach durch sie durch.“ (S. 618) 
Tom Wolfe, der zusammen mit Zeitgenossen wie Norman Mailer und Truman Capote in den 60er Jahren den New Journalism mitbegründete und erst 1987 mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ sein gefeiertes Romandebüt veröffentlichte, zählt zu den großen Stilisten seiner Zunft und versteht es wie kaum ein Zweiter, gesellschaftliche Milieus treffend zu beobachten und zu charakterisieren. Im Mittelpunkt seines neuen, fast 800 Seiten umfassenden Werks nimmt er sich kulturellen Schmelztiegel Miamis vor, indem nicht nur die Reichen und Schönen zu leben verstehen, sondern auch Kubaner, Haitianer, Afroamerikaner und Latinos ihr Leben verbringen. Geschickt spannt Wolfe den Bogen von einer eigentlich alltäglichen Polizeiaktion über die Medien, die ebenso abhängig von ihrer Kundschaft und den Anzeigenkunden ist wie der Polizeichef von der Gunst des Stadtrats. Es dreht sich eben alles um Geld und Macht. Das wird Nestor, dem einfachen Polizisten mit kubanischem Hintergrund, erst allmählich klar, als er an der Seite des Journalisten John Smith in andere gesellschaftlichen Sphären vordringt und ihre dunklen Machenschaften kennenlernt. Seine Ex-Freundin Magdalena tut dies auf andere, aber ebenso Spuren hinterlassende Weise. Wolfe beschreibt diesen einzigartigen Clash of Cultures mit bissigem Witz, aber ohne eine seiner Charaktere zu verurteilen.  
„Back To Blood“ ist bei aller epischer Länge eine überraschend kurzweilige Gesellschaftssatire, die in ihrem manchmal zu lautmalerischen Stil anstrengt, aber überwiegend nah bei seinen charismatischen Figuren bleibt.
Lesen Sie im Buch: Wolfe, Tom - Back to Blood

John Updike – „Landleben“

Sonntag, 20. Januar 2013

(Rowohl, 414 S., HC)
Im Alter von siebzig Jahren ist Owen Mackenzie noch immer glücklich mit der fünf Jahre jüngeren Julia verheiratet, und das schon seit 25 Jahren. Manchmal wacht er morgens auf und dämmert wieder für ein, zwei Stunden in den Schlaf, um dann von einer seiner Eroberungen zu träumen, die er im Laufe seines Lebens als erfolgreicher Computeringenieur angehäuft hat. Er wuchs in den sechziger und siebziger Jahren in der Kleinstadt Middle Falls, Connecticut, auf, doch geboren wurde er 1933 in Willow, Pennsylvania. Abgesehen von einem Selbstmord ist in den zwölf Jahren der Depression und des Zweiten Weltkriegs nichts weiter von Belang geschehen.
Was Owen von früh an interessierte, war Sex, genauer gesagt: „Kleinstadt-Sex“, wie Updike episodenhaft einige seiner Kapitel betitelt. Als er Alice das erste Mal mit trockenen Lippen küsste und ihre Brillengestelle dabei aneinander klackten, war das noch unspektakulär, doch als er das Schamhaar von Doris Shanahan aus der achten Klasse erblickte, war er glücklich, weil ihm ein besonderes Wissen zuteil geworden war. Owens Lebensaufgabe bestand darin, Computer-Software zu entwickeln und zu überwachen, doch zeitgleich mit seinem Stipendium am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, bewies er besonderes Geschick im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Mit seinem beruflichen Aufstieg sind stets weitere Erkundungen weiblicher Körper einhergegangen, wovor ihn auch eine Heirat nicht schützen konnte. Zu jeder Frau konnte Owen etwas Besonderes erinnern:
„Die Lektion, die Owen von Vanessa lernte, war überraschend: Maskuline Frauen hatten großartigen Sex zu bieten. Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet die wilde, jungenhafte Doris Shanahan ihm erlaubt hatte, an ihren Beinen hinauf in ihre Shorts zu gucken. Mit ihnen ist Sex sozusagen frontaler, direkter. Sie springen darauf an und gehen auf einen Orgasmus los, so wie ein Falke sich auf eine junge Wachtel stürzt. Obwohl Vanessa selten dabei lächelte (anders als Faye in ihrem Rausch, anders als Alissa mit ihren Grübchen), lachte sie oft, schroff, ihr dunkles, heiseres Lachen. In ihren gewöhnlichen Kleidern aus festen Stoffen, mit breit geschnittenen Schultern, wirkten ihr Arsch und ihre Brust flach, minimal; wenn sie ausgezogen war, zeigte sie Reize genug.“ (S. 309) 
John Updike erzählt mit frivoler Lust aus dem Leben eines echten Schürzenjägers, doch handelt es sich dabei nicht um eine Aneinanderreihung pornographischer Episoden eines sexgeilen Mannes, sondern vielmehr um das Portrait des ländlichen Amerika mit seinen ganz eigenen Moralvorstellungen und den Ritualen, mit denen Männer und Frauen einander umwerben und sich abseits legitimierter Verhältnisse im Geheimen miteinander vergnügen. Updike erweist sich dabei einmal mehr als glänzender Beobachter des amerikanischen Way of Life und natürlich als grandioser Stilist, der mit Worten ebenso betört wie die Frauen die Männer. Nebenbei bekommt der Leser auch eine interessante Lektion über den Beginn der Computer-Ära, doch in erster Linie berauscht der gefeierte Autor sein Publikum mit seiner wohlkomponierten Sprache und seinen vergnüglichen, unsentimentalen Schilderungen amerikanischen Kleinstadtlebens.
Leseprobe John Updike "Landleben"

Ryan David Jahn – „Der Cop“

Sonntag, 6. Januar 2013

(Heyne, 335 S., HC)
„Ian Hunt hat noch eine knappe Stunde bis Schichtende, als seine tote Tochter anruft.“
Mit diesem spektakulären Satz beginnt der packende Thriller des amerikanischen Autors Ryan David Jahn, der bereits mit seinem aufsehenerregenden Debüt "Ein Akt der Gewalt" mit dem renommierten „Debut Dagger Award“ ausgezeichnet wurde. Mit seinem neuen Roman zieht Jahn nicht nur das Tempo an, sondern auch an der Spannungsschraube.
Kurz vor Schichtende erhält der Polizist Ian Hunt in der Leitstelle des Polizeireviers von Bulls Mouth, Texas, einen Notruf von einem Mädchen, das sich als Maggie Hunt vorstellt, die als Siebenjährige vor sieben Jahren spurlos verschwunden ist. Mit ihrer Beerdigung – ohne Leiche - vor zwei Monaten wurde nicht nur ein Teil der grausamen Vergangenheit begraben, sondern auch einen Schlussstrich unter die Beziehung mit Debbie und dem gemeinsamen Sohn Jeffrey gesetzt. Maggie kann ihrem Vater nur noch ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort am Main Street Shopping Center nennen, dann wird sie von ihrem Entführer gepackt und zurück in ihr Gefängnis im Killer des Ehepaars Henry und Beatrice Dean gebracht. Nachdem Beatrice ihr einziges Kind begraben musste, das für einen Moment unbeaufsichtigt in der Badewanne ertrunken war, hat Henry ihr immer wieder neue Ersatzkinder besorgt, bis diese auch gestorben waren. Maggie denkt nur noch an Flucht, doch bevor sie erneut ausreißen kann, wird sie von Henry geschnappt und mit Beatrice ins Auto verfrachtet. Mittlerweile hat die Polizei die Leichen der anderen Kinder auf Henrys Grundstück gefunden. Als die Polizei Henry zu den grausamen Funden befragen will, eröffnet dieser das Feuer. Zwei Cops gehen dabei drauf, Ian wird schwer verletzt. Dennoch bekommt er heraus, wohin Henry mit seiner Maggie fliehen will, und macht sich auf den Weg zu Henrys Bruder Ron nach Kaiser, Kalifornien …
„Ian lenkt den Mustang an den Straßenrand und hält an. Eine einzige Hoffnung bestimmt sein Denken: Vielleicht wird er seiner Tochter gleich einen entscheidenden Schritt näherkommen. Er weiß von den mindestens zwei Mädchenleichen, die im Wald gefunden wurden, und eigentlich sollte er bestürzt sein. Aber er empfindet keine Trauer. Was er empfindet, ist nicht einmal entfernt damit verwandt. Jede der Leichen war mal irgendjemands Tochter, aber eben nicht seine Tochter. Seine Tochter lebt, die anderen sind tot. Seine Tochter lebt, und er wird sie finden, er wird sie nach Hause in Sicherheit bringen, und sollten ihm diese Leichen dabei helfen, hat sich ihr Tod … Er versucht den Gedanken zu verdrängen, dass sich der Tod der Mädchen dann sogar gelohnt haben könnte. Er versucht, ihn zu verdrängen, ihn in die dunkelste Ecke seiner Seele zu sperren, fernab des grellen Lichts seines Bewusstseins, wo seine ganze Hässlichkeit klar zutage tritt – aber er kann nicht anders, tief in seinem Inneren glaubt er, dass es genau so ist: Dann hat sich ihr Tod gelohnt. Er spürt es mit jedem Herzschlag.“ (S. 135) 
Was „Der Cop“ so faszinierend macht, sind nicht allein das imponierende Tempo und ein Setting, das etwas an Cormac McCarthys „No Country For Old Men“ erinnert. Es geht nämlich über die spannende Verfolgungsjagd hinaus, in der ein Cop einfach nur einen Verbrecher quer durch die Staaten zu erwischen versucht. Jahn baut eine unerträgliche Spannung dadurch auf, dass er beide Parteien nicht einfach in Gut und Böse aufteilt, sondern den heiligen Sinn der Familie ins Zentrum seines Romans stellt, wobei jedes Familienoberhaupt bis zum Äußersten zu gehen bereit ist, die längst zerrüttete Familie vor dem Zerbersten zu retten. Selbst der „gute“ Cop greift zu äußerst drastischen Mitteln, um seine geliebte Tochter zu befreien. Jahn greift bei der Beschreibung der blutigen Ereignisse zu ebenso ungeschminkten Worten, die dem Roman aber nur an Ausdruckskraft gewinnen lassen. „Der Cop“ ist schlicht und einfach grandiose Literatur, die einen mit dem ersten Satz packt und bis zum Showdown nicht mehr loslässt.
Leseprobe Ryan David Jahn – “Der Cop”

Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – (Jason Bourne: 9) „Der Bourne Befehl“

Dienstag, 1. Januar 2013

(Heyne, 560 S., HC)
Kaum ist mit „Das Bourne Vermächtnis“ der vierte Film aus der Bourne-Reihe in den Kinos gestartet, erblickt ein neuer Roman um den ehemaligen CI-Agenten ohne Gedächtnis das Licht der Welt, der neunte mittlerweile. Allerdings dürfte Bourne-Schöpfer Robert Ludlum kaum noch etwas mit diesem Werk zu tun haben. Seit seinem Tod im Jahre 2001 setzt sein Thriller-Kollege Eric Van Lustbader die Reihe erfolgreich fort und konfrontiert den Leser mit äußerst komplexen Intrigen in der internationalen Geheimdienstwelt.
Diesmal zieht es Jason Bourne auf Drängen seiner Freundin Moira nach Kolumbien, er muss sich aber immer wieder den Attentaten erwehren, die die mächtige internationale Vereinigung Severus Domna in Auftrag geben, da ihr Bourne bei der Erfüllung ihrer Ziele im Weg steht. Währenddessen setzt der US-amerikanische Präsident alles daran, die wirtschaftlich so wichtigen wie seltenen Erden in Indigo Ridge durch die neu gegründete Firma NeoDyme abbauen zu lassen. Um dort die Sicherheit zu gewährleisten, richtet er eine Task Force unter dem Namen Samaritan ein, für die Verteidigungsminister Christopher Hendricks zuständig ist und wofür er das angeschlagene Treadstone-Projekt reaktiviert. Soraya Moore und Peter Marks, die Treadstone leiten, gehen aber zunächst dem Mord an einem ihrer Severus-Domna-Informanten in Paris nach, wo ihr ägyptischer Geheimdienstfreund Amun Chalthoum ebenfalls erschossen wird. Die Spuren führen zu einer Bank, die in enger Verbindung mit Severus Domna steht. In Kolumbien trifft Bourne auf Jalal Essai, der noch eine Rechnung mit Severus Domna und ihrem Chef Benjamin El-Arian offen hat und Bourne für seine Zwecke einspannen will. Als Gegenleistung erhält Bourne von ihm die Information, dass die Domna ausgerechnet Bournes besten Freund Leonid Arkadin auf ihn angesetzt hat.
 „Bourne hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass Essai in allem völlig ehrlich war, doch an einem zweifelte er absolut nicht: an Essais Wunsch, Severus Domna zu zerstören. In diesem Punkt zogen sie beide an einem Strang, und sie brauchten einander, um ihr Ziel zu erreichen. Sie mussten einander auch trauen können, doch das war schwer möglich, weil sich ihre Übereinstimmung auf den Kampf gegen die Domna beschränkte. Danach war alles offen.“ (S. 98) 
Bourne reist mit Essai nach Cadíz zu Don Fernando und stößt dort auf eine Waffenlieferung mit Ziel Damaskus, wo sich schließlich die Wege von Bourne und Arkadin kreuzen …
In „Der Bourne Befehl“ trifft der Leser auf einige alte Bekannte wie die Treadstone-Leiter Peter Marks und Soraya Moore, aber auch die russischen Geheimdienstler sind wieder mit von der Partie. Das erleichtert schon mal den Zugang zu den vielseitigen Ereignissen, die sich in Moskau ebenso abspielen wie in Cadíz, Washington, Kolumbien, Paris oder schließlich Damaskus. Zum Glück schaffen es Ludlum und Van Lustbader zum Ende hin, all die losen Enden in einen packenden Showdown münden zu lassen, bei dem Jason-Bourne-Fans voll auf ihre Kosten kommen.
Leseprobe: Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – „Der Bourne Befehl“