Jo Nesbø – (Harry Hole: 1) – „Der Fledermausmann“

Dienstag, 17. Januar 2023

(Ullstein, 416 S., Tb.) 
Der 1960 in Oslo geborene Jo Nesbø hatte bereits eine Karriere als Makler, Journalist und Sänger/Komponist der Pop-Band Di Derre hinter sich, als er 1997 seinen ersten Roman und damit den Start einer bis heute erfolgreichen Krimi-Reihe um den alkoholkranken Polizisten Harry Hole vorlegte. Der von ihm durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Autounfall, bei dem sein Kollege auf dem Beifahrersitz getötet und ein junger Mann ab dem Hals abwärts gelähmt wurde, verfolgt Harry Hole bis heute. Statt ihn zu suspendieren, haben seine Vorgesetzten den Vorfall jedoch unter den Teppich gekehrt, indem sie den getöteten Beifahrer zum Fahrer erklärten, so dass Hole nach außen hin unbeschadet aus der Sache herauskam. 
Nun wird er nach Sydney geschickt, um bei den Ermittlungen zum Mord an der 23-jährigen norwegischen Staatsbürgerin Inger Holter zu assistieren, die nahezu nackt in der Nähe eines Parks aufgefunden wurde, nachdem man sie vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Er wird dem Aborigine Andrew Kensington zugeteilt, mit dem er zunächst die Bar „The Albury“ aufsucht, in der das Mordopfer gearbeitet hatte. 
Offenbar hat Ingers Chef wohl vergeblich versucht, bei ihr zu landen. In einem Brief, die sie einer gewissen Elisabeth schreiben wollte, den man in ihrer Wohnung sichergestellt hat, schwärmt sie von einem 32-jährigen Evans und von der Möglichkeit, in einer norwegischen Serie mitzuspielen. Schließlich nimmt Kensington seinen norwegischen Partner mit in den Zirkus, wo ein Gerichtsprozess präsentiert wird, bei der ein Clown, der Ludwig XVI. darstellen soll, zum Tode verurteilt und durch eine Guillotine enthauptet wird. 
So lernt Hole, der in Australien Holy genannt wird, den homosexuellen Clown-Darsteller Otto Rechtnagel, dann den Aborigine Toowoomba kennen, der für Andrew fast wie ein Sohn ist. Doch als Hole allmählich einen Überblick über die Lebensumstände sowohl des Mordopfers als auch seines australischen Partners zu bekommen beginnt, werden weitere blonde Frauen aufgefunden, die auf eine ähnliche Weise zu Tode gekommen sind wie Inger Holter. 
Tatsächlich werden drei weitere Vergewaltigungen in unterschiedlichen Teilen des Landes in weniger als zwei Monaten entdeckt, bei denen die Opfer blond waren und gewürgt wurden, die aber nie den Täter beschreiben konnten. Um den möglichen Serienmörder zu fassen, scheut Hole nicht davor zurück, seine blonde Freundin Birgitta als Lockvogel einzusetzen… 
„Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wusste nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen musste, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.“ 
Jo Nesbø findet einen ungewöhnlichen Weg, seinen Protagonisten Harry Hole einzuführen, nämlich fern seiner norwegischen Heimat. In der australischen Metropole Sydney ist er von Polizeichef Neil McCormack eigentlich zum Zuschauen verdammt, während sein ihm zugeteilter ortsansässiger Kollege Andrew Kensington ihn souverän mit den scheinbar richtigen Leuten aus dem Umfeld der ermordeten norwegischen jungen Frau bekannt macht. Dabei nutzt Nesbø die ausführlichen Gespräche zwischen Hole und dem Aborigine, um sowohl den Hintergrund des alkoholkranken Norwegers einzuführen als auch eine Geschichtslektion über das Verhältnis zwischen der australischen Ureinwohner und ihrer englischen Besatzer zu erteilen. 
Man merkt, dass Nesbø seine Hausaufgaben gemacht hat und sich bemüht, seine Figuren sorgfältig einzuführen, ohne zu viel preiszugeben. Für das Verständnis von Holes Charakter scheint hier der tragische, von ihm verursachte Autounfall und seine Jugendliebe Kristin von Bedeutung zu sein, für Kensington die Art und Weise, wie er sich als Aborigine einen Platz in der weißen Gesellschaft erkämpft hat. 
Die Ermittlungsarbeit droht dabei schon fast zum Nebenschauplatz zu werden. Nesbø hat in seinem Romandebüt noch nicht das ideale Tempo gefunden, um die Dramaturgie der Geschichte stimmig voranzutreiben, aber ein vielversprechender Anfang ist auf jeden Fall gemacht.  

Garry Disher – „Stunde der Flut“

Samstag, 14. Januar 2023

(Unionsverlag, 334 S., HC) 
Der 1949 geborene Garry Disher zählt seit seinen ersten, zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlichten Büchern zu den vielseitigsten australischen Schriftstellern. Obwohl er auch Sachbücher (über australische Geschichte und die Kunst des Schreibens) und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, ist er vor allem ein gefeierter Krimi-Autor verschiedener Reihen (Wyatt, Inspector Challis, Constable Hirschhausen) sowie einiger Stand-alone-Werke, zu denen auch sein neues, wieder von Peter Torberg souverän übersetztes Buch „Stunde der Flut“ zählt. 
Charlie Deravin hat erst 1999 die Polizeiakademie abgeschlossen und muss im Januar 2000 mitansehen, wie die Erinnerungen an seine Kindheit verschwinden. Seine Eltern stehen vor der Scheidung, Charlies Vater, Detective Sergeant in Menlo Beach auf der Peninsula, wird wohl das Haus verkaufen müssen, aber mit Fay hat sein Vater bereits eine neue Freundin am Start. 
Hier in der Tidepool Street kauften Charlies Dad und seine Kumpel und Kollegen in den späten Siebzigern günstig Ferienhäuser und Wochenenddomizile, die sie zu Familienheimen umwandelten, doch lange hielten die Frauen das alkoholgeschwängerte Machogehabe ihrer Männer nicht aus. Charlies Mutter Rose, eine Lehrerin, hat am längsten durchgehalten. Nun lebt sie in einer abgewrackten Hütte im Außenbezirk mit einem, wie Charlie und sein Bruder Liam finden, unpassenden Untermieter namens Shane Lambert, dessen Sachen die beiden Brüder schnell zusammenpacken, bevor sie ihn vor die Tür setzen. Als Charlie zurück in Swanage ist, wird er mit einem Vermisstenfall betraut. Der neunjährige Billy Saul ist während eines Aufenthalts seiner Grundschulklasse im Jugendlager spurlos verschwunden, wenig später wird der Wagen von Charlies Mutter leer aufgefunden, mit Blut am noch im Schloss steckenden Schlüssel und auf der Straße verstreuten Sachen aus ihrer Handtasche. Zwanzig Jahre später werden sowohl Billy Saul als auch Charlies Mutter immer noch vermisst. 
Charlie ist nach Tätlichkeiten gegen seinen Vorgesetzten vom Dienst suspendiert worden, lebt im Haus seiner alten Familie, ist seit zwei Jahren mit Anna Picard liiert, die er als Geschworene bei einem Prozess gegen einen beliebten Football-Spieler wegen Vergewaltigung kennengelernt hat, und hat bereits eine erwachsene Tochter namens Emma. Er nutzt seine freie Zeit, um privat weiter das Verschwinden seiner Mutter zu untersuchen. Sein ursprünglicher Verdacht, dass Shane Lambert sich an Charlies Mutter rächen wollte, weil er damals auf die Straße gesetzt worden ist, erhärtet sich nicht, da Lambert zum Zeitpunkt von Rose Deravins Verschwinden wegen Trunkenheit in Rosebud über Nacht eingesperrt war. Doch auch Charlies Vater hätte ein Motiv gehabt, Rose umzubringen, um das Haus nicht verkaufen zu müssen. Allerdings sind Charlie auch die ehemaligen Kollegen seines Vaters, vor allem der omnipräsente Mark Valente, verdächtig… 
„Charlie dachte all die Jahre zurück und suchte nach seinem Vater. Nach seinem veränderlichen, wechselhaften Vater. Ein liebenswürdiger – meist liebenswürdiger – Unruhestifter, wenn sie zu viert daheim waren. Ein Mann, der einen zum Lachen bringen konnte, der einen packte und kitzelte. Wenn er aber in Gesellschaft von Valente und seinen anderen Polizeikumpels war, ging Charlie auf, dann war er anders. Das Lächeln wirkte gezwungener; der Blick war wachsam. Nach einer Weile verging die Unruhestifterei völlig, er lernte eine andere Frau kennen, die Familie fiel auseinander, und seine Frau verschwand…“ (S. 251) 
Garry Disher nutzt die zwei Zeitebenen vor allem dazu, die Entwicklung der Strukturen zu beschreiben, die dazu führten, dass eine einst glückliche Polizistenfamilie auseinandergefallen ist. Gemächlich setzt der Autor aus der Perspektive seines Protagonisten aus Erinnerungen ein Bild zusammen, das von enttäuschten Erwartungen, mehr oder weniger latenten Verdächtigungen und zerbrochenen Träumen handelt, von den schwierigen Beziehungen zwischen sich entfremdeten Brüdern, aber auch von den unterschiedlichen Welten und Zeiten, die die Brüder von ihren Vätern trennen. 
Polternde Action wird man in „Stunde der Flut“ nicht finden. Disher ist eher – sieht man von seiner Wyatt-Reihe ab, die aber auch einen Kriminellen als Protagonisten aufweist – ein Autor der leisen Töne und des gemächlichen Erzählens. Er nimmt sich viel Zeit, um nach und nach die Beziehungen seiner Figuren zueinander, aber auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie sich bewegen, einzufangen. Das klingt wenig spektakulär, trifft aber immer wieder einen Nerv und bezieht auch aktuelle Entwicklungen wie den Beginn der Covid-Pandemie mit ein, die auch Charlies Vater während einer Kreuzfahrt nach Japan erwischt. 
Am beeindruckendsten ist Disher aber seine Hauptfigur gelungen, so dass man sich wünschen möge, dass der unerbittliche Ermittler Charlie Deravin noch einige weitere Fälle zu knacken bekommt. 

Joe R. Lansdale – „Moon Lake“

Sonntag, 8. Januar 2023

(Festa, 464 S., HC) 
Mit seinen bislang zehn hierzulande veröffentlichten Bänden seiner einzigartigen „Hap & Leonard“-Reihe und einer Reihe von u.a. mit dem Bram Stoker Award und Edgar Allan Poe Award preisgekrönten Büchern und Erzählungen („Die Wälder am Fluss“, „Ein feiner dunkler Riss“, „Blutiges Echo“) hat sich der texanische Autor Joe R. Lansdale in die Herzen auch der deutschen Krimi- und Horror-Liebhaber geschrieben. Nachdem seine Werke bislang hierzulande von Shayol, Suhrkamp, Rowohlt, Dumont, Golkonda, Tropen und Heyne verlegt worden sind, feiert Lansdale mit „Moon Lake“ seinen Einstand bei Festa, wo mittlerweile auch ehemals so populäre Schriftsteller wie Richard Laymon, Dean Koontz, Clive Barker und Joe Hill eine Heimat gefunden haben. 
Im Oktober 1968 machten sich der damals 14-jährige Daniel Russell und sein Vater vor dem Gerichtsvollzieher aus dem Staub und fuhren in einem klapprigen Buick zum Moon Lake. Zu diesem Zeitpunkt hatte Daniels Mutter die Familie schon vor Monaten verlassen. Als sie auf der Brücke am Moon Lake parkten, erzählte Daniels Vater, dass unter dem Moon Lake eine Stadt namens Long Lincoln läge, in der er geboren worden wäre und seine Frau kennengelernt hätte. Doch dann hätte irgendjemand entschieden, die Stadt zu verlegen, umzubenennen und die alte Stadt zu fluten. Daniel kannte die Geschichte schon, aber die Art und Weise, wie sein Vater sie am Ursprungsort wiedergab, machte dem Jungen Angst. Wenig später fuhr sein Vater den Wagen in den See. 
Der Junge konnte gerettet werden, von dem Wagen und Daniels Vater fehlte jedoch jede Spur. Daniel wurde bei zunächst bei den Candles, einer schwarzen Familie, untergebracht, bis seine Tante June wieder aus Europa zurückkam und den Jungen bei sich aufnahm. Zehn Jahre später kehrt Daniel Russell, der bereits ein Buch veröffentlicht und als Journalist bei einer Kleinstadtzeitung gearbeitet hat, zum Unglücksort zurück. Im Sommer 1978 hat die Dürre den Wasserpegel sinken lassen, so dass nicht nur der Wagen von Daniels Vater wieder aufgetaucht ist, sondern auch dessen Überreste sowie weitere körperliche Überreste im Kofferraum, die die Polizei zunächst Daniels verschwundener Mutter zuordnet. 
Daniel besucht mit Ronnie Candles, der gleichaltrigen schwarzen Polizistin, die ihn einst aus dem See gezogen hat, den Fundort, wo sie weitere Fahrzeuge und Knochenreste in den Kofferräumen vorfinden. Daniel erfährt durch Mrs. Candles und Nachforschungen in der örtlichen Bibliothek, dass offensichtlich der mächtige Stadtrat etwas mit der Flutung von Long Lincoln zu tun gehabt haben könnte, wobei wissentlich die meist schwarzen noch in ihren Häusern lebenden Bewohner ertränkt wurden. Doch der Stadtrat findet Mittel und Wege, Daniels Bemühungen zur Wahrheitsfindung auch mit Gewalt zu torpedieren… 
„Der Stadtrat, ein Club ritueller Mörder, hatte seine Existenz durch Vorstellungskraft und Gier transformiert. Es waren verschrobene Verfechter der freien Marktwirtschaft und des amerikanischen Traums. Die schlimmste Manifestation dieses Traums. Sie hatten sich selbst zu denjenigen ernannt, die die Suppe zubereiteten. Wir Restlichen wurden darin gekocht, während man uns einredete, dass uns lediglich warm sei, dass es einen Gott im Himmel gebe und die Welt in Ordnung sei, obwohl wir in Wahrheit nur existierten, damit wir mit der Suppenkelle in die Schüsseln unserer Meister gestoßen und von ihnen verspeist werden konnten.“ 
Als Texaner ist sich Joe R. Lansdale ähnlich wie seine Kollegen James Lee Burke, Larry Brown oder Tom Franklin sehr bewusst, dass der Rassismus mit dem Ende der Sklaverei längst nicht ausgerottet ist. Dass sich der Autor selbst wenig um die Trennung von Schwarz und Weiß schert, hat er bereits eindrucksvoll mit den humorvollen „Hap & Leonard“-Romanen bewiesen, in denen das titelgebende Duo aus einem heterosexuellen weißen Kriegsdienstverweigerer und einem schwulen schwarzen Vietnamveteran besteht. 
Eine ähnliche Konstellation findet sich bei „Moon Lake“. Der weiße Ich-Erzähler Daniel Russell freundet sich mit der gleichaltrigen Schwarzen Ronnie an, die ihn einst aus dem im Moon Lake versunkenen Buick seines Vaters gerettet hat und mit der er die mysteriösen Ereignisse rund um Long Lincoln und dem Moon Lake aufzuklären versucht. Lansdale driftet dabei gelegentlich in das ihm vertraute Horror-Genre ab, doch vor allem entlarvt er die Vorkommnisse in der Kleinstadt als Resultat der Gier der Stadtväter nach Macht und Reichtum, wobei sie sich schändlicher Rituale, Korruption und Betrug bedienen, um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Lansdale fesselt seine Leserschaft mit einem flüssigen Schreibstil, einfühlsamen Charakterisierungen und bildhaften wie humorvollen Vergleichen, die man bereits in seinen früheren Werken zu schätzen gelernt hat. 
Auch wenn „Moon Lake“ nicht an so eindringliche Meisterwerke wie „Kahlschlag“, „Die Wälder am Fluss“ und „Dunkle Gewässer“ anknüpfen kann, ist Lansdale doch ein fesselnder Thriller gelungen, der einzig durch die Überzeichnung einiger Figuren wie Jack Sr., Jack Jr. und vor allem Flashlight Boy für leichte Misstöne sorgt.  

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 5) „Die Stille vor dem Tod“

Donnerstag, 29. Dezember 2022

(Lübbe, 478 S., HC) 
Der 1968 in Fort Worth, Texas, geborene Cody McFadyen hat sich mit seiner Reihe um die unerschrockene wie geniale FBI-Ermittlerin Smoky Barrett auf eine besondere Nische des literarischen Thrillers spezialisiert, die in der Welt des Films dem Genre des „Torture Porns“ ihre Entsprechung finden würde. Dabei geht es nicht in erster Linie um die besonders raffinierte Lösung komplexer Morde – auch wenn es uns die Klappentexte der Bücher weismachen wollen -, sondern vor allem um die Darstellung der grausamsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann. 
Das fängt bei McFadyen bereits damit an, dass er seine Ich-Erzählerin, die kleine, aber taffe FBI-Agentin Smoky Barrett, dem Publikum zunächst als Opfer eines psychopathischen Killers macht. Joseph Sands drang in ihr Haus ein, fesselte ihren Mann Matt, vergewaltigte Smoky vor seinen Augen mehrere Male und zerschnitt ihr mit einem Messer das Gesicht, bevor er Matt tötete. Smoky konnte sich zwar befreien, doch als sie ihren Peiniger töten wollte, erschoss sie auch ihre Tochter Alexa, die er als Schutzschild missbrauchte. 
Nach einer langen Therapie bei Dr. Childs konnte sie wieder ihren Dienst ausüben und machte sich mit ihrem bewährten Team aus dem misanthropischen James, der lebenslustigen Callie und dem zuverlässigen Alan weiter auf die Jagd nach Serienkillern. McFadyen folgt in seiner Dramaturgie den Gesetzen der Hollywood-Sequels von Torture-Porn-Filmen wie „Saw“ und „Hostel“ – mit jedem Teil muss es blutiger und brutaler werden, um das Publikum bei der Stange zu halten. Leider macht McFadyen den Fehler, dieses Gesetz über die Qualität seiner Geschichte zu setzen, so dass er mit „Die Stille vor dem Tod“ am Tiefpunkt der Reihe angelangt ist. 
Obwohl Smoky Barrett bereits seit siebeneinhalb Monaten schwanger ist, lässt sie sich nicht davon abbringen, mit ihrem Team zu einem besonders grausamen Tatort nach Colorado zu fliegen, wo innerhalb eines Wohnblocks drei Familien bestialisch abgeschlachtet wurden. Als Smoky den von Polizisten – eigentlich - abgesicherten Tatort betritt, wird sie von einem Teenager-Mädchen mit einer Schrotflinte bedroht. Sie erzählt Smoky von zwei absolut bösen Männern, die Grausamkeiten nur zu ihrem Vergnügen verüben, sich an der Hoffnungslosigkeit und Resignation ihrer Opfer weiden würden. Das Vorgehen dieser beiden Männer wäre einer Person bekannt geworden, die der Kirche des Fundamentalen Ich angehören, aber einen eigenen Plan verfolgen würde. 
Das Mädchen erzählt Barrett von einem Bunker, der unter dem Gelände liegen würde, und einem Milgram-Experiment, dann wird sie wie von ihr vorhergesagt erschossen. Da sich Smoky vor Angst eingenässt hat, wird sie von Alan und Callie zu den Darbys in der Nachbarschaft gebracht, wo sie sich duschen und umziehen kann. Wenig später gelingt es Ben Darby, seine Frau Veronica zu erschießen, Smoky in seine Gewalt zu bringen und in den Bunker zu entführen, wo sich der Marine-Offizier als sadistischer Psychopath entpuppt. Zwar gelingt es Smoky, Ben zu töten, doch als sie durch die Flure des hochmodern eingerichteten Bunkers streift, packt sie das pure Grauen, denn hier finden sich nicht nur eine exakte Kopie der Bürotoilette, sondern auch eine kunstvolle Videoprojektion, die das Massaker von Nanking im Jahr 1937 wiedergeben, Glaskäfige, in denen nackte Menschen wie Tiere gehalten werden, und sogar eine Vitrine, in der detailgetreu die Nacht nachgestellt wurde, in der Matt und Alexa starben. In den darauffolgenden Monaten hat sich Assistant Director Jones offensichtlich als Verräter erwiesen, der sich ohne ein Abschiedsbrief in seinem Badezimmer erhängte. Außerdem ist Smokys Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt, ihr Mann Tommy hat nach einem Kampf fast ein Auge verloren, und James ist, nachdem seine Mutter getötet wurde, völlig untergetaucht. Natürlich fängt sich Smoky nach den traumatischen Erlebnissen wieder – mit Unterstützung ihres Therapeuten Dr. Childs. Zusammen mit ihrem Team macht sie James in einem Hotel in Las Vegas ausfindig, bringt ihn dazu, zur Gruppe zurückzukehren und Jagd auf die beiden bösen Männer zu machen, die sich als der Wolf und der Folterer der Öffentlichkeit vorstellen und Ungeheuerliches vorhaben… 
„Noch nie bin ich einer Kreatur gegenübergetreten, die eine so schallende Ohrfeige für die Schöpfung war. Ich muss meinen ganzen Willen aufbringen und meinen Verstand beruhigen mit dem Gedanken, dass die Bestie in Ketten ist; schließlich ist es so, dass als säße ich einem leibhaftigen Raubtier gegenüber, so nahe, dass ich seinen stinkenden Atem riechen kann.“ (S. 440) 
Was verbreitet noch mehr Grauen als EIN sadistischer Serienvergewaltiger und -mörder? Na klar: EIN GANZER HAUFEN sadistischer Serienvergewaltiger und -mörder! Nach diesem offenbar simplen Rezept versucht der auf Superlative des Grauens spezialisierte McFadyen in seinem fünften Smoky-Barrett-Roman dem zuvor schon Unvorstellbaren noch eins draufzusetzen. Allerdings hängt er seine Leserschaft diesmal schon auf den ersten fünfzig Seiten komplett ab, wenn er eine hochschwangere FBI-Agentin an einen Tatort mit drei abgeschlachteten Familien ziehen lässt, die dann auch noch unter den unglaublichsten Umständen gekidnappt und in ein „Museum des Todes“ verschleppt wird, das sich als größtes Schreckenskabinett entpuppt, das sich der menschliche Geist in seinen düstersten Winkeln nur vorstellen kann. 
Detailliert beschreibt McFadyen die umfassenden Überwachungssysteme, die Arrangements von Vergewaltigung, Folter und Mord in den ausgestellten Vitrinen; Material, das bis in die intimsten Bereiche auch von Smoky Barretts Leben vordringt. Gut 100 Seiten verbrennt McFadyen mit den Beschreibungen und Empfindungen, die seine Protagonistin beim Durchqueren des groß angelegten Bunker-Projekts erlebt, bis seine Heldin von ihren Kollegen entdeckt wird. 
Statt jedoch endlich mit der Ermittlungsarbeit zu beginnen, fügt der Autor einen Zeitsprung ein, wobei ihm zwei Zeitungs-Kolumnen und ein Internet-Blog dazu dienen, die Ereignisse in der Zwischenzeit zu thematisieren. Da soll auf einmal der so vertrauenswürdige Vorgesetzte von Smoky Barrett, AD Jones, seine eigenen Leute verraten und ein Video von Barretts Vergewaltigung an den Wolf, den Folterer und ihre Gruppe verscherbelt und sich dann umgebracht haben? Merkwürdigerweise wird diese Theorie nicht weiter verfolgt, sondern als gegeben hingenommen, ebenso das Abfackeln von Barretts Haus, wo sich der starke Tommy – mit Unterstützung von Smokys Adoptivtochter Bonnie - natürlich gegen einen russischen Hünen durchsetzen konnte, und der grausame Mord an der Mutter von Smokys Kollegen James, den sie dann erst einmal aus der selbstgewählten Versenkung aufspüren muss. 
Alles in allem ist es einfach starker Tobak, den McFadyen hier präsentiert. Irgendwann lässt der Autor seine Protagonistin fragen: „Glaubst du, das könnte funktionieren? In der wirklichen Welt?“ Diese Frage muss der Leser eindeutig verneinen. Zumal die fadenscheinige Auflösung, wer als Kopf hinter der Bande steckt, dem ganzen Irrsinn noch die Krone aufsetzt. Trotz des offenen Endes will man hoffen, dass „Die Stille vor dem Tod“ das Ende der Smoky-Barrett-Reihe und den schriftstellerischen Ambitionen von Cody McFadyen bedeutet. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 3) „Das Böse in uns“

Mittwoch, 21. Dezember 2022

(Lübbe, 446 S., HC) 
Mit seinen ersten beiden Romanen um die Top-FBI-Ermittlerin Smoky Barrett, „Die Blutlinie“ und „Der Todeskünstler“, hat der sich kalifornische Weltenbummler und Schriftsteller Cody McFadyen in die internationalen Bestseller-Listen und die Herzen hartgesottener Thriller-Fans geschrieben. Als Markenzeichen entpuppte sich dabei die detailverliebte Brutalität, die nicht nur die ermittelnde Ich-Erzählerin zu spüren bekam, sondern nun auch die Opfer der Serienkiller erleiden müssen, die Barrett mit ihren hochqualifizierten und ebenso motivierten Kollegen James, Alan und Callie zur Strecke bringen wollen. Insofern stellte sich für den nachfolgenden Band die Frage, ob McFadyen in dieser Hinsicht noch einen draufsetzen wollte oder sich auf literarische Qualitäten besinnen würde. 
Auf persönlichen Wunsch von FBI-Direktor Rathbun wird FBI-Agentin Smoky Barrett ins ferne Virginia geschickt, wo sie sich mit dem Mord an der jungen Lisa Reid beschäftigen soll. 
Der Fall ist nicht nur deshalb besonders spektakulär, weil das Opfer in einem Flugzeug 10.000 Meter über der Erde erstochen wurde, was erst nach der Landung aufgefallen ist, sondern sie ist die offiziell verstoßene Tochter des texanischen Kongressabgeordneten Dillon Reid – verstoßen deshalb, weil es sich bei Lisa eigentlich um den transsexuellen Dexter handelt, der sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschieden hat. Die politische Dimension, die eine besondere Sensibilität im Umgang mit der Presse erfordert, macht Smoky aber weniger zu schaffen als die Tatsache, dass bei der Obduktion des Opfers an der Einstichstelle ein Silberkreuz mit einem Totenschädel und der eingravierten Zahl 143 entdeckt wird. Natürlich wird der vermeintliche Sitznachbar der jungen Frau tot in seiner Wohnung aufgefunden. Als wenig später auch in Los Angeles eine junge Frau auf die gleiche Weise ermordet und ebenfalls mit einem Silberkreuz – diesmal mit der Zahl 142 – aufgefunden wird, sind sich Smoky und ihre Kolleg:innen sicher, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Dabei entspricht die runde Wunde am rechten Brustkorb jener Stichwunde, die der heilige Longinus Jesus nach dessen Tod mit einem Speer zugefügt haben soll, was Barretts Team in die Kreise katholischer Gemeinden führt. 
Schließlich tauchen im Internet Videos von einem selbsternannten „Prediger“ auf, in denen er seine vermeintlich geläuterten Opfer mit den Sünden ihrer Vergangenheit konfrontiert. Schließlich kündigt der Prediger in seinem neuen Video an, als nächstes ein junges Mädchen zu töten, sollte ihn das FBI vorher nicht geschnappt haben. Barrett und ihrem Team läuft die Zeit davon… 
„Er ist gerissen. Seine Ideen sind nicht neu, doch die Art und Weise, wie er sie verbreitet, lässt Umsicht und eine gewisse Ehrfurcht erkennen. Er verbirgt kein anderes Motiv hinter dem, was er sagt. Er glaubt an seine eigenen Worte. Sie sind es, die ihn vorantreiben. Doch was sind das für Worte? Letztendlich geht es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um Lügen und Sünde und ihre religiöse Bedeutung.“ (S. 362)
Cody McFadyen überrascht zunächst mit einer gelungenen Einführung, die nicht nur einmal rekapituliert, was Smoky Barrett vor ca. drei Jahren ihr selbst und ihrer Familie durch den Serienkiller Julian Sands angetan worden ist, sondern sehr einfühlsam mit dem Gespräch zwischen der Ermittlerin und der Mutter von Lisa Reid die Probleme thematisiert, die mit der transsexuellen Natur des Kindes einer hochrangigen Politikers zusammenhängen. Allerdings wird dieser Aspekt der Geschichte nicht genauer aufgearbeitet, sondern dient nur als Auftakt weiterer grausamer Morde, die sehr schnell deutlich machen, dass der Täter irgendwie hinter die intimsten Geheimnisse seiner Opfer gekommen sein muss, die ihre Sünden gebeichtet und sich längst auf einem tugendhaften Pfad befunden haben, als der Killer sie vor die Kamera zerrte. 
Zu ¾ des Buches schildert McFadyen nicht nur die einzelnen Schritte der Ermittlungsarbeit von Barretts Team, sondern lässt auch einige private Themen in die Handlung einfließen, so Callies bevorstehende Hochzeit, für die sich die ehemalige CIA-Auftragskillerin Kirby als Wedding Planner engagiert, James‘ überraschendes Outing als Homosexueller sowie der Wunsch von Smokys Adoptivtochter Bonnie, endlich auf eine normale Schule gehen zu dürfen, nachdem sie zuvor von Smokys Freundin Elaina Privatunterricht erhalten hatte. 
Doch je mehr sich das FBI dem Prediger nähert, desto mehr driftet McFadyen wieder in alte Verhaltensmuster zurück, beschreibt die abartigsten Verbrechen, in denen Geistliche Inzest ausüben und zehnjährige Mädchen junge Kätzchen genussvoll erwürgen und verbuddeln. Spätestens wenn McFadyen in die verirrte Gedankenwelt des psychopathischen Predigers einzutauchen versucht, werden bis zum Erbrechen religionsphilosophische Fragen erörtert, die dem überkonstruierten Finale die ganze Spannung rauben. Wer aber eine unbändige Lust verspürt, in die tiefsten nur vorstellbaren Abgründe des menschlichen Denkens und Handelns einzutauchen, ist mit „Das Böse in uns“ bestens bedient. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 2) „Der Todeskünstler“

Sonntag, 18. Dezember 2022

(Lübbe, 556 S., HC) 
Mit seinem ersten Roman „Die Blutlinie“ erwies sich der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen als besonders kompromissloser Vertreter der Psycho-Thriller-Garde, stellte er mit der FBI-Agentin Smoky Barrett doch eine gerade mal einsfünfzig große Protagonistin vor, die selbst Opfer eines brutalen Verbrechers wurde: Jonathan Sands hat sie nicht nur mehrfach vor den Augen ihres Mannes Matt vergewaltigt und ihr das Gesicht zerschnitten, sondern ihn auch vor ihren Augen ermordet. Als wäre das noch nicht genug des Terrors, hat Smoky bei dem Versuch, Sands zu erschießen, ihre eigene Tochter Alexa, die er als Schutzschild benutzte, getötet. 
Mittlerweile hat sich Smoky wieder so weit erholt, dass sie ihre Freundinnen Callie und Elaina zu sich einlädt, die Sachen von Matt und Alexa zu entsorgen. Ihr Chef AD Jones bietet ihr einen Job als Ausbilderin in Quantico an, doch bevor sie sich entscheiden kann, wird mit einer neuen Mordserie konfrontiert. 
Als Callie Thorne und Lieutenant Barry Franklin zu einem Tatort in Canoga Park gerufen, wo die 16-jährige, blutverschmierte Sarah Kingsley – mit einer Schusswaffe an ihrer Schläfe - ausdrücklich nach Smoky verlangt. In der Wohnung finden die Cops die nackten und ebenfalls blutüberströmten Leichen von Sarahs Pflegeeltern, Mr. und Mrs. Dean, sowie ihres Adoptivbruders Laurel Kingsley, dazu verstörende Gemälde aus Blut. Sarahs Aussage zufolge kennt sie den Killer, den sie den „Todeskünstler“ nennt, seit sie acht Jahre alt ist und er ihre Eltern ermordet hat. Seither hat es sich dieser Psychopath zur Aufgabe gemacht, alle Menschen, die Sarah liebt, zu foltern und zu töten. 
Smoky bringt Sarah bei Elaina und Alan unter, lässt sie von der taffen Kirby Mitchell bewachen und versucht, durch Sarahs Tagebuch auf die Spur des Killers zu kommen. Der hat in Granada Hills einen weiteren Mann und ein junges Mädchen umgebracht. Als das FBI in der Vergangenheit des Mordopfers José Vargas wühlt, stoßen sie auf eine Spur, die ihn mit einem Ring von Menschenhändlern in Verbindung bringt. Je mehr sich Smoky und ihre Kollegen mit Sarahs Tagebuch auseinandersetzen, desto mehr scheint sich als Motiv des Todeskünstlers Rache herauszukristallisieren, doch der Killer keine Spuren hinterlässt, bleibt seine wahre Identität weiterhin verborgen… 
„Killer sind Killer, und was sie tun, ist unverzeihlich, doch es gibt eine gewisse Tragik bei denen, die zu Killern gemacht wurden. Man kann es sehen, an ihrer Wut. Ihr Tun hat weniger mit Lust zu tun, mehr mit Raserei und Brüllen. Sie brüllen den Vater an, der sie missbraucht hat, die Mutter, die sie geschlagen hat, den Bruder, der sie mit Zigaretten verbrannt hat. Sie beginnen mit Hilflosigkeit und enden mit Tod. Man schnappt sie und sperrt sie ein, weil es getan werden muss, doch man spürt keine Befriedigung dabei.“ (S. 514) 
Was Filmemacher wie Eli Roth („Cabin Fever“, „Hostel“), James Wan („Saw“) und Alexandre Aja („High Tension“, „The Hills Have Eyes“) als Torture-Porn-Genre etablierten, fand in der Literatur ihre Entsprechung bei den Horror-Autoren des Splatterpunk bzw. bei Richard Laymon und Jack Ketchum.  
Cody McFadyen wandelte bereits mit seinem Debüt „Die Blutlinie“ eher auf den Pfaden der ultraharten Horror-Linie als seiner prominenten Kollegen James Patterson, Jeffery Deaver, Thomas Harris oder Jilliane Hoffman. McFadyen taucht zwar ebenso tief in die seelischen Abgründe seiner Protagonisten, lässt dabei allerdings nichts der Fantasie offen. Was allein seine taffe FBI-Agentin Smoky Barrett ertragen musste, deckt eigentlich ein Dutzend brutaler Gewaltverbrechen ab, so unvorstellbar wirkt die Kette aus Folter, Mord und Schmerz. Smoky, die mit Bonnie die verstummte Tochter ihrer ermordeten besten Freundin Annie aufzieht, wird auch in „Der Todeskünstler“ als Ich-Erzählerin etabliert, die sich mit ihrem Team aus erstklassigen Spezialisten auf die Jagd nach einem extrem rachsüchtigen Killer macht. 
Bei der Figurenzeichnung kennt der Autor keine Grautöne. Hier sind die Guten, engagierte, witzige und auch schräge Agenten, dort die Bösen, psychisch gestörte Killer, die über keinerlei Skrupel verfügen, auch die bestialischsten Morde an Unschuldigen zu begehen. 
„Der Todeskünstler“ ist kein Stoff für schwache Nerven, aber auch keine große Literatur. McFadyen entwickelt die größtmöglich vorstellbaren Grausamkeiten, die Menschen begehen könnten, und webt daraus einen Stoff, der Albträume verursacht. Das ist zuweilen recht spannend, aber durch die eindimensionalen Figuren und den höchst unglaubwürdigen Plot ist das Lesevergnügen arg eingeschränkt und nur für „Liebhaber“ des ultraharten Thrillers zu empfehlen. 

 

Dan Simmons – (Hyperion: 4) „Endymion - Die Auferstehung“

Dienstag, 13. Dezember 2022

(Goldmann, 864 S., Pb.) 
Ende der 1980er Jahre schuf der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“) mit den zweibändigen „Hyperion-Gesängen“ ein mit einem Locus Award und einem Hugo Award prämiertes Science-Fiction-Epos, auf das 1997 mit „Endymion“ seine unerwartete, doch begeistert aufgenommene Fortsetzung folgte, die nur ein Jahr später mit dem fast 900 Seiten umfassenden „The Rise of Endymion“ ihren Abschluss fand. Hierzulande sind die beiden „Hyperion“-Bände bei Heyne veröffentlicht worden. Die Fortsetzungen erschienen als „Endymion – Die Pforten der Zeit“ und „Endymion – Die Auferstehung“ zunächst in Einzelbänden bei Goldmann, dann als Sammelbände bei Blanvalet und schließlich Heyne. 
„Endymion – Die Pforten der Zeit“ erzählte von Aeneas Verschwinden und der Suche nach ihr durch den Pax auf der einen und den Dichter Martin Silenus auf der anderen Seite. Um die Tochter von Brawne Lamia und Johnny, der KI-Rekonstruktion des Dichters John Keats, aus dem Zeitgrab Sphinx auf Hyperion zurückzuholen, schickte der Pax 30.000 Soldaten, darunter 5.000 Schweizergardisten, zu den Gräbern, während der Dichter nur den Touristenführer, Landschaftskünstler und Barkeeper Raul Endymion entsandte. Durch das Shrike, einer zeitmanipulierenden Kampfmaschine aus der Zukunft, werden die Truppen des Pax vernichtend geschlagen, und Aenea gelingt mit Raul mithilfe der seit dem Fall deaktivierten Farcaster auf die Welten der ehemaligen Hegemonie zu flüchten und mit Unterstützung von Pater Captain de Soya, der das Mädchen eigentlich in den Vatikan schaffen sollte, auf der Alten Erde zu landen. 
„Endymion – Die Auferstehung“ beginnt mit dem Tod von Papst Julius XIV. und der erneuten Ermordung des Gegenpapstes Pater Duré. Währenddessen hat Aenea ihre vierjährige Ausbildung bei der inzwischen verstorbenen Cybrid-Rekonstruktion des Architekten Frank Lloyd Wright beendet und schickt Raul allein zurück auf den Tethysfluss, um das inzwischen reparierte Raumschiff des Konsuls zu suchen. Sie selbst realisiert auf verschiedenen Welten unterschiedliche Bauaufträge als Architektin und setzt ihre von der Kurie gefürchtete Mission fort, als „Die, die lehrt“ die Sprache der Lebenden, die Sprache der Toten und die Musik der Sphären zu verbreiten und vor der parasitären Kruziform zu warnen, die die Kirche des Pax ihren Jüngern als Mittel der ständigen Wiedergeburt anpreist. Mit der Kommunion, bei der Aeneas Anhänger mit ihrem Blut versetzten Wein zu sich nehmen, verzichten diese auf das Tragen der Kruziform. Währenddessen findet Raul zwar das gesuchte Schiff, ist aber so schwer verletzt, dass er vom Autodoc an Bord erst einmal zusammengeflickt werden muss. 
Als Raul seine junge Freundin am vereinbarten Treffpunkt auf dem Planeten T‘ien Shan wiedertrifft, ist Aenea durch die fünfjährige Zeitschuld, die Raul auf sich nehmen musste, mittlerweile 21 Jahre alt und eine attraktive junge Frau, mit der Raul eine romantische, leidenschaftliche Liebesbeziehung eingeht. Doch dann müssen sie sich Nemes stellen, der nichtmenschlichen Kreatur des Techno-Core, die aus dem Lavagefängnis befreit werden konnte, in das sie Pater Captain de Soya eingeschlossen hatte, und nun Aenea und ihre Begleiter endgültig töten will. Schließlich sucht Aenea die offene Konfrontation mit dem Pax und kündigt dem neuen Papst Urban XVI. ihren Besuch im Vatikan auf Pacem an. 
„Was, beim gottverdammten Teufel, sollte das heißen? Wie konnte Aenea nach Pacem gehen und überleben? Unmöglich. Aber wohin sie auch ging, eines wusste ich mit Sicherheit: Ich würde an ihrer Seite sein. Was bedeutete, dass sie mich auch umbrachte, wenn sie zu ihrem Wort stand. Und das tat sie immer. Ich komme nach Pacem. War das nur eine List, um ihre Flotte abzulenken? Eine leere Drohung … eine Möglichkeit, sie aufzuhalten? Ich wollte meine Liebste schütteln, bis ihr die Zähne ausfielen und sie mir alles erklärte.“ (S. 686) 
Es erfordert schon ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration, sich mit dem großen, in jeder Hinsicht epischen Finale der gigantischen Space Opera auseinanderzusetzen, wenn sich die als Erlöserin prophezeite Aenea von einem elfjährigen Kind zu einer charismatischen und weisen jungen Frau entwickelt und für knapp zwei Jahre ohne ihren Geliebten Raul Endymion, der wieder als Ich-Erzähler fungiert, allein durch die Welten ´castet und eine Allianz gegen den Pax und den TechnoCore zu schmieden versucht.  
Dan Simmons gelingt es während der abenteuerlichen Odyssee nicht nur, immer neue Welten und Planeten zu erschaffen, sondern auch weithin philosophische, literarische und evolutionäre Fragen zu thematisieren, die „Endymion“ wie zuvor schon die „Hyperion“-Gesänge prägten. In einem furiosen Epilog werden endlich die wichtigsten der vielen losen Fäden zusammengefügt und etliche Fragen des Ich-Erzählers wie des Lesers beantwortet, auch die Frage nach Aeneas Mann und Kind, die sie während der knapp zweijährigen Zeit gehabt haben soll, über die allseits Unkenntnis herrscht. Vor allem wirft die komplexe Geschichte einen Blick auf die wirklich wichtigen Fragen, nach welchen moralischen und ethischen Grundsätzen die Menschheit in Zukunft leben will. 

 

Carlos Ruiz Zafón – „Der Friedhof der vergessenen Bücher“

Donnerstag, 1. Dezember 2022

(S. Fischer, 224 S., HC) 
Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón feierte nach seinen ersten drei phantastischen Schauerromanen „Der Fürst des Nebels“, „Mitternachtspalast“ und „Der dunkle Wächter“ vor allem mit seiner Tetralogie rund um den Friedhof der vergessenen Bücher - „Der Schatten des Windes“, „Das Spiel des Engels“, „Der Gefangene des Himmels“ und „Das Labyrinth der Lichter“ – seine größten internationalen Erfolge. 
Nachdem er im Jahr 2020 im Alter von nur 55 Jahren seinem Krebsleiden in seiner Wahlheimat Los Angeles erlag, erschien mit „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ posthum ein Band mit elf Erzählungen rund um den magischen Kosmos, den Zafón auf sprachlich so virtuose Weise erschaffen hat und mit dem er Millionen von Lesern in den Bann zog. 
Der Friedhof der vergessenen Bücher“ erlaubt ein Wiedersehen mit vertrauten Figuren. So rekapituliert David Martin in „Blanca und der Abschied“, wie er als knapp achtjähriger Junge die Selbstsicherheit besaß, die ein bis zwei ältere Blanca kennenlernte und sie zu seiner ersten Leserin machte, als er ihr Abenteuer-, Schauer- und Liebes-Geschichten von Prinzessinnen, Hexern, Zaubersprüchen und infernalischen Bestien erzählte. 
„Ein junges Mädchen aus Barcelona“ wiederum handelt von dem Totenfotografen Eduardo Sentís, der die von seinem Mentor geerbten Schulden abzahlt, indem er seine fünfjährige Tochter Laia an eine Familie verkauft, die ihre Tochter auf tragische Weise verloren hat und in deren Rolle Laia schlüpfen soll. Später erfüllt sie auf andere Weise die Sehnsüchte von Männern, die sich nicht mit Geld kaufen ließen. Mit „Die Feuerrose“ entführt Zafón seine Leser in die Welt des Labyrinthebauers Edmond de Luna, der zur Zeit der spanischen Inquisition damit beauftragt wird, in Konstantinopel ein großes Bücherlabyrinth zu erschaffen, als Lohn aber nur den Schlüssel zur Hölle erhält. 
In der bereits zuvor veröffentlichten Geschichte „Der Fürst des Parnass“ begegnen wir dem Büchermacher Antoni de Sempere wieder, der die Geschichte von Miguel de Cervantes Saavedra und seiner berühmten Schöpfung „Don Quijote“ zum Besten gibt. 
„Damals war Barcelona ein kleiner befestigter Flecken, der zwischen Bergen voller Wegelagerer im Schoß eines Amphitheaters ruhte und sich um Rücken eines weinfarbenen, lichtdurchfluteten Meeres verbarg, auf dem sich die Piraten tummelten. Vor seinen Toren hängte man Räuber und sonstige Schurken, um vor der Gier nach fremdem Eigentum abzuschrecken, und in seinen aus den Nähten platzenden Mauern balgten sich Kaufleute, Weise, Höflinge und Adelige jeder Couleur und Abhängigkeit im Dienste eines Labyrinths aus Verschwörungen, Geld und Alchemien, dessen Ruf die Horizonte erreichte und die Sehnsüchte der bekannten wie der geträumten Welt wachrief.“ 
In „Graue Männer“ soll ein Auftragskiller seinen Lehrmeister töten, „Gaudí in Manhatten“ stellt eine außergewöhnliche Hommage an den berühmten spanischen Künstler dar. Oft sind es nur Fragmente, die uns Zafón in diesen oft nur wenige Seiten umfassenden Geschichten präsentiert, Eindrücke aus einer aus der Zeit gefallenen Welt, in der schauerliche Momente in romantischen Träume, in exotischen Abenteuern und in wunderbaren Märchen münden. 
Der gerade mal gut 200 Seiten umfassende Erzählband „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ fasziniert durch die grandiose Fabulierkunst des Autors, durch die märchenhaften Stimmungen und die Figuren, die in ihren Träumen Großes bewirken. Die Geschichten selbst geraten dabei fast zur Nebensache. Wer sich von den fesselnden Romanen der Tetralogie hat mitreißen lassen, wird vielleicht enttäuscht sein, dass hier nur einzelne Aspekte so manch vertrauter Gefährten ausgeschmückt werden, bevor das nachfolgende Kapitel schon wieder den Beginn einer ganz neuen Geschichte einläutet. 
Auch wenn auffällig viele Motive der viktorianischen Schauerliteratur bemüht werden, finden sich in dem Sammelband letztlich ganz unterschiedliche Genres wieder, von der erwähnten Gothic Novel über den Bildungs- bis zum Abenteuer-, Liebes- und Historienroman präsentiert Zafón auf den überschaubaren Seiten ein erstaunlich buntes Potpourri, das einem stimmigen Gesamteindruck etwas zuwiderläuft. Doch für Fans gibt es hier allerlei zu entdecken, zumal die Sammlung von Geschichten noch durch ein kurzes Interview mit dem Schriftsteller und ein Nachwort des Herausgebers ergänzt wird.  

Jo Nesbø – (Harry Hole: 13) „Blutmond“

Sonntag, 27. November 2022

(Ullstein, 542 S., HC) 
Seit seinem Romandebüt „Der Fledermausmann“, das zugleich den Start der bis heute international erfolgreichen Reihe um den Osloer Kriminalkommissar Harry Hole bildete, ließ Jo Nesbø in der Regel jedes Jahr, spätestens alle zwei Jahre einen neuen Fall um den herausragenden Ermittler folgen, der als einziger norwegischer Polizist bislang das FBI-Programm zum Profiling von Serienmördern durchlaufen hat. Doch zwischen dem zehnten Band „Koma“ und dem elften Band „Durst“ lagen auf einmal vier Jahre, und auch der nun folgende Band „Blutmond“ ließ drei Jahre nach „Messer“ auf sich warten. Harry Hole mag zwar mittlerweile seiner Tätigkeit überdrüssig sein, der norwegische Schriftseller Jo Nesbø glücklicherweise nicht. Vor allem präsentiert sich der Bestseller-Autor mit „Blutmond“ nach wie vor auf dem Höhepunkt seines Schaffens. 
Nach dem Mord an seiner Frau Rakel hat Harry Hole sein altes Leben in Oslo hinter sich gelassen und säuft sich in Los Angeles langsam zu Tode. In seiner Stammkneipe „Creatures“ hat er die Gesellschaft der alternden Filmdiva Lucille schätzen gelernt, die ihr nicht vorhandenes Geld in Filmprojekte investiert, die mit einer großen Rolle für eine ältere Frau locken, aber stets zum Scheitern verurteilt sind. Das bringt sie in die prekäre Situation, einem Drogenkartell fast eine Million Dollar zu schulden. Als Lucille gekidnappt wird, bekommt Hole zehn Tage Zeit, das Geld aufzutreiben. 
Da passt es sich ganz gut, dass er von einem Privatdetektiv aufgespürt wird, der Hole darum bittet, mit dem Anwalt Johan Krohn in Oslo Kontakt aufzunehmen. Der vertritt den stadtbekannten Immobilienmakler Markus Røed, der als Hauptverdächtiger in den Mordfällen zweier Mädchen gilt, die zuletzt auf seiner Terrassen-Party gesehen wurden. 
Hole wird fürstlich dafür entlohnt, den Ruf seines Auftraggebers wiederherzustellen. Während die zuständige Kommissarin Katrine Bratt bei ihrer Chefin mit dem Ansinnen abblitzt, Hole in das Ermittlerteam zu holen, schart er mit dem korrupten Cop Truls, dem sterbenskranken Psychologen Aune und dem Kokain-dealenden Schulfreund Øystein ein unkonventionelles, aber durchaus effektives Team zusammen, das die Polizei zusehends in Bedrängnis bringt. Der Killer, der von seinem verhassten Stiefvater nur Prim genannt worden ist, fiebert derweil mit Spannung dem Blutmond entgegen, der die Kulisse für sein großes Finale bilden soll. Als die Speichelprobe auf einer der beiden Frauenleichen allerdings Røed zugeordnet werden kann, scheint der Fall gelöst, doch weder Hole noch Prim sind mit dieser Entwicklung wirklich zufrieden. 
„Auf jeden Fall wurde dieser Hole langsam, aber sicher zu einem Problem. Was hatte er auf der Bühne verloren, die dem Fall vorbehalten sein sollte, dem Geheimnis, seinem Geheimnis. Und Markus Røed, dem Privilegierten, der sich über dem Gesetz wähnte und jetzt zur Schadenfreude aller am Pranger stand.“ (S. 331)
Einmal mehr erweist sich Jo Nesbø als raffinierter Konstrukteur ungewöhnlicher Mordfälle. Zum Glück widmet er dem Alkoholismus seines Protagonisten aber nicht zu viel Raum, auch wenn der in Los Angeles verortete Auftakt in dieser Hinsicht Übles erahnen lässt. 
Auch wenn Harry Hole im Verlauf der schwierigen Ermittlungen natürlich immer wieder in Versuchung geführt wird, fokussiert sich der Autor auf die sehr verwickelten Mordfälle. Zwar wird schon zur Hälfte von „Blutmond“ das Motiv des Täters offenbart, aber zum Glück noch nicht seine Identität. 
Nesbø versteht es, die Spannung nicht nur auf kontinuierlich hohem Niveau zu bewahren, sondern die verwickelten Ermittlungen auch mit einigen interessanten persönlichen Dramen und Geschichten zu schmücken. Immer wieder wechselt Nesbø geschickt die Perspektive zwischen den Ermittlungen, dem mit ungewöhnlichen Methoden agierenden Killer, dem Boulevard-Journalisten Terry Våge, dem lange Zeit verdächtigen Immobilienmakler und der komplizierten Beziehung zwischen Hole und Katrine, die mit dem Kriminaltechniker und Holes besten Kumpel Bjørn bis zu dessen Tod verheiratet war. Unterhaltsame Exkurse zur Film- und Musikwelt runden den packenden Plot ebenso gelungen ab wie die wissenschaftlichen Ausführungen zur Nützlichkeit von Parasiten, denen in „Blutmond“ eine besondere Bedeutung zukommt. 
Nesbø versteht es nach wie vor, packende Geschichten mit interessanten Figuren zu erzählen, auch wenn einige Züge im Plot doch recht konstruiert wirken. Dem überzeugenden Gesamteindruck schadet das allerdings nicht. 

 

Robert Bloch – „Die Couch“

Mittwoch, 23. November 2022

(Kurt Desch, 142 S., Tb.) 
Durch seine Romanvorlage für Alfred Hitchcocks Spannungs- und Horror-Klassiker „Psycho“ (1960) wurde Robert Bloch weltberühmt und immer wieder von Fernseh- und Filmstudios damit beauftragt, ähnliche Stoffe für ihre Produktionen abzuliefern. Bevor er die Drehbücher zu erfolgreichen Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1962), „Er kam nur nachts“ (1964), „Die Zwangsjacke“ (1964), „Der Puppenmörder“ (1966) und „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ (1967) verfasste, lieferte er 1962 mit dem Drehbuch zu „The Couch“ eine – übrigens von Blake Edwards mitentwickelte - Story ab, die den Autor von „Psycho“ auf nahezu jeder Seite durchscheinen lässt. Die Romanversion des Films, der hierzulande unter dem Titel „Immer Punkt 7“ zu sehen war, erschien 1967 in der Reihe „Die Mitternachtsbücher“ im Verlag Kurt Desch. 
Lieutenant Kritzman von der Mordabteilung des Polizeidepartments Los Angeles hat es mit einem besonders gewieften Killer zu tun, der seine Morde pünktlich um sieben Uhr abends begeht und diese kurz zuvor telefonisch ankündigt. Seine Opfer wählt der 7-Uhr-Killer scheinbar wahllos aus. Mitten in einer Menschenmenge sticht er zu, und ehe sein Opfer tödlich getroffen zu Boden sinkt, ist er auch schon untergetaucht. Kritzman und seine Kollegen stehen vor einem Rätsel, denn ein Zusammenhang zwischen den Opfern ist nicht erkennbar, noch weniger ein Motiv. 
Währenddessen sucht Charles Campbell seinen Psychiater Doktor W. L. Janz auf. Der ist bereits von Campbells Chef darüber informiert worden, dass er wegen der sexuellen Belästigung einer Mitarbeiterin gerade gefeuert worden sei. Campbell spielt die Angelegenheit herunter, freundet sich mit Lanz‘ Nichte Terry an, die neben ihrem Studium in der Praxis ihres Onkels aushilft. Bei ihrem gemeinsamen ersten Ausflug erzählt Campbell der jungen Frau, dass das Gericht ihn damals dafür verantwortlich gemacht hatte, dass seine Schwester tödlich bei einem Verkehrsunfall verunglückt sei. Doch statt von dieser Enthüllung entrüstet zu sein, verliebt sich Terry in den Mann, der unter einer seltsamen Angst vor Couches leidet… 
„Er war Gott. Das war das Geheimnis. Diese anderen, alle anderen waren nichts als einfache Leute. Kleine, alberne Menschen, die hierhin und dorthin hasteten, sich zwischen Arbeit und Ruhe hin- und herbewegten, zwischen Schmerz und Vergnügen, in einem endlosen Zyklus vor und zurück pendelten. Nur Gott konnte das aufhalten. Er konnte sie aufhalten. Deshalb war er Gott.“ (S. 52) 
Robert Bloch hat mit „Die Couch“ einen kleinen, aber unterhaltsamen Psycho-Thriller geschrieben, der vor allem aus der Perspektive des Killers erzählt wird. Er ist auch die einzige Figur, die in dem Kurzroman an Kontur gewinnt und überhaupt das Interesse sowohl des Autors als auch des Lesers weckt. Bloch entfaltet dabei sukzessive das Psychogramm eines Mannes, der unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und eine viel zu enge Beziehung zu seiner Schwester entwickelte, die die Rolle der verstorbenen Mutter einnehmen musste. 
Gerade bei den Inneneinsichten des Killers fühlt man sich an die Schlussszene von „Psycho“ erinnert, als Norman Bates in einem inneren Monolog den Zuschauern offenbarte, was für eine gespaltene Persönlichkeit er ist. Im Vergleich zu seinem Welterfolg „Psycho“ wirkt „Die Couch“ wie der unbeholfene kleine Junge, der in die viel zu großen Fußstapfen seines großen Bruders zu treten versucht, aber nicht mehr als eine schwache Kopie hinbekommt. Dafür bietet die Geschichte zu wenig Raum, um die Figuren für die Leser wirklich greifbar zu machen, und ehe man sich mit ihnen vertraut gemacht hat, ist die am Ende doch etwas unglaubwürdige Story auch schon zu Ende. 
Immerhin hat Bloch gelegentlich seine schwarzhumorigen Pointen immer wieder in die Kapitel gestreut, so dass der eigentliche Unterhaltungswert eher aus diesen Elementen als der Kriminalgeschichte genährt wird. 

 

Seamus Smyth – „Spielarten der Rache“

Dienstag, 22. November 2022

(Pulp Master, 266 S., Tb.) 
Dass sich die katholische Kirche unvorstellbarer Missbrauchsskandale zu verantworten hat, ist zwar mittlerweile weithin bekannt, aber mitnichten wirklich aufgearbeitet. So wurde in der 1995 ausgestrahlten Dokumentation „States of Fear“ das Ausmaß aufgedeckt, mit welchem die katholische Kirche und 200 von ihr geleitete Einrichtungen in Irland über Jahrzehnte lang Tausende Kinder ausgebeutet, misshandelt und sexuell missbraucht hat. 
Als der irische Schriftsteller Seamus Smyth die Dokumentation sah, hat er sein Entsetzen über die grausamen Verbrechen, für die sich der irische Premierminister erst 1999 öffentlich bei den Opfern entschuldigte, auf eine Weise verarbeitet, die lange nachhallt, in einem Roman, der schonungslos aufzeigt, was diese Gräueltaten bei den Opfern angerichtet haben. 
Als Robert „Red“ Dock aus dem von katholischen Ordensbrüdern geleiteten Kinderheim entlassen wird, hat er längst einen Plan entwickelt, wie er sich dafür rächt, dass sein Zwillingsbruder Sean nach einem seiner Arbeitseinsätze von einem geistlichen Bruder misshandelt und schließlich totgetreten wurde. Seine Rache gilt allerdings nicht der menschenverachtenden Bruderschaft oder der katholischen Kirche, die diese Art der Einrichtungen leitet, sondern den Menschen, von denen sich Red Dock verraten glaubt. Das sind vor allem seine drei älteren – ehelichen – Geschwister Conor, Edna und Amy sowie der Mann, der das das Zwillingspaar ins Waisenhaus brachte, nachdem, Teresa Donovan, die Mutter der beiden Jungen, am Steg der Fähre nach Liverpool tot zusammengebrochen war. 
Als erstes lässt Red Dock die Tochter von Detective Sergeant Chilly Winters entführen und das Baby vor den Türen eines Waisenhauses ablegen. Winters war der Mann, der Red und Sean einst dem gut funktionierenden Missbrauchssystem zugeführt hatte. Während das entführte Winters-Mädchen als Lucille Kells aufwächst, zwingt den Arzt der Donavans dazu, eine Geburtsurkunde auf den Namen Frances Anne Donavan auszustellen, womit sich Frances sich später bei ihrer „richtigen“ Familie vorstellen und der Spaß richtig beginnen kann. Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg. Vierzehn Jahre später macht Dock die junge Frau in Dublin ausfindig, bietet ihr einen Job in seiner Bar an, macht sie sich sexuell gefügig und sorgt dafür, dass sie auf die von ihm gefälschte Geburtsurkunde stößt. Doch gerade als Red Docks Plan Formen anzunehmen beginnt, kreuzen sich seine Wege mit dem berüchtigten Serien-Killer Picasso, als dieser Lucille in seine Gewalt bringt. Wie sich jedoch bald herausstellt, steckt hinter dem Killer, der Kunstwerke aus Körperteilen junger Mädchen kreiert, Docks ehemaliger Leidensgenosse Cornelius Hockler. Der gewiefte Rächer weiß sich auch diesen Umstand für seinen Plan nutzbar zu machen… 
„Nun, Sie fragen sich bestimmt, weshalb ich nicht hineinging, um Lucille zu befreien, oder Swagsy & Co. anrief, damit die es taten. So verhalten sich die Guten. Ich gehöre zu den Bösen. Sie müssen mich dafür hassen. Ich bin der Kerl, den man verabscheuen muss. Leute wie ich begegnen Ihnen in den Geschichten über wahre Kriminalfälle, nicht in Romanen, die von liebenswerten Helden handeln. Vergessen Sie das nicht. Vielleicht bekommen Sie dann eine Vorstellung davon, was mich antreibt.“ (S. 158)
Es gibt ja ganze Filmreihen wie „Saw“, „Hostel“ und „Final Destination“, deren Unterhaltungswert sich allein darauf beschränkt, dem Publikum auf möglichst ungefilterte Weise die ungewöhnlichsten, brutalsten und sadistischsten Folter- und Tötungsmöglichkeiten vor Augen zu führen. Diese Torture-Porn- und Splatter-Streifen überlassen den Zuschauern nicht den Hauch der Fantasie. Davon ist Seamus Smyth meilenweit entfernt, obwohl die ausgeklügelten Todesfallen, die Red Dock ersinnt, genau in diese Spielarten des Horror-Kinos passen würden. 
Doch Smyth geht es eben nicht um die bloße Aneinanderreihung unfassbarer Foltermethoden und Tötungsdelikte, die nur notdürftig mit fragwürdigen moralischen Grundsätzen untermauert werden – wenn überhaupt. Im Gegensatz zu Filmschaffenden wie Eli Roth, Ti West, James Wan und Darren Lynn Bousman verzichtet der Ire auf explizite Sex- und Folterdarstellungen. Ihm geht es vor allem darum, aufzuzeigen, was das jahrzehntelang von Staat und Kirche etablierte Missbrauchssystem mit seinen Opfern angerichtet hat. 
Natürlich überschreitet Smyth in „Spielarten der Rache“ dabei unvorstellbare Grenzen, kümmert sich aber nicht um Genre-Konventionen. Bei der emotionsgeladenen Thematik würde man eher erwarten, dass sich die Rache von Typen wie Hockler und Red Dock gegen die Einrichtungen wenden würde, die die Misshandlungen der Kinder zu verantworten hatten. Stattdessen entwickelt sich Hockler zu einem künstlerisch ambitionierten Schänder junger Frauen, während sich Red Dock an einer ganzen Reihe von Menschen rächt, die seiner Meinung mehr oder weniger direkt dafür verantwortlich gewesen sind, dass sein Zwillingsbruder und er selbst überhaupt in so einer Einrichtung gelandet sind. 
So raffiniert Smyth diese Rachepläne inszeniert und er den Leser durch direkte Ansprachen ins Geschehen hineinzuziehen versucht, stellt sich von Beginn an eine starke Verstörtheit beim Leser ein. Das liegt nicht allein an dem schwer erträglichen Stoff, den uns der Autor hier auftischt, sondern auch an der nicht kohärenten Erzähldramaturgie. Dass Smyth seine Protagonisten Red Dock, Picasso und Lucille jeweils als Ich-Erzähler implementiert, eignet sich zwar dazu, eine direktere Verbindung zwischen den Figuren und der Leserschaft aufzubauen, doch wirken diese Episoden nicht zusammenhängend. Der Kontext wird oftmals erst spät nachgereicht oder erschließt sich gar nicht. Das grundlegende Thema bleibt dabei nur unterschwellig präsent. 
Smyth ist auf jeden Fall ein wortgewandter Schriftsteller mit einer starken Vision, die sich in „Spielarten der Rache“ aber nur ungenügend niederschlägt. So sehr man mit den Opfern des erschreckend effektiv organisierten Missbrauchs mitleidet, schießt Smyth mit seiner arg konstruierten Rache-Geschichte doch über das Ziel hinaus. Dass er in seiner Heimat keinen Verlag für dieses extrem polarisierende Werk gefunden hat, kann kaum überraschen. 

 

Amor Towles – „Lincoln Highway“

Samstag, 19. November 2022

(Hanser, 576 S., HC) 
Der 1964 in Boston, Massachusetts, geborene Amor Towles veröffentlichte erst 2011 mit „Eine Frage der Höflichkeit“ sein Romandebüt, bevor er mit seinem Zweitwerk „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) nicht nur zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times stand, sondern auch Finalist des Kirkus Prize in Fiction & Literature war und 2018 für den International Dublin Literary Award nominiert wurde. Nun legt er mit „Lincoln Highway“ eine Road Novel vor, in dem vier ganz unterschiedliche Jungen und junge Männern im Juni 1954 einen abenteuerlichen Trip auf der ersten Autobahn Amerikas unternehmen. 
Als der 18-jährige Emmett Watson aus der Besserungsanstalt in Salina entlassen wird, kehrt er nach in seine Heimatstadt Morgen in Nebraska zurück, wo nicht nur sein kleiner Bruder Billy auf ihn wartet, sondern auch der Bankier seines zwischenzeitlich verstorbenen Vaters. Mr. Obermeyer eröffnet Emmett, dass sein ohnehin verschuldeter Vater mit den Hypothekenzahlungen im Rückstand war und dass deshalb nun das Haus an die Bank übergehen würde. Da auch die Familie von Emmetts Opfer, Jimmy Snyder, der sich nach einem Gerangel mit Emmett auf tödliche Weise den Kopf aufgeschlagen hatte, viele Freunde und Verwandte in der Gegend haben, bleibt Emmett nichts anderes übrig, als mit Billy im dem 48er blauen Studebaker, den sich Emmett selbst verdient hat, auf den Weg zu machen. Billy hat bereits eine genaue Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll, fand er doch eine Dose mit acht Postkarten, die ihre Mutter schrieb, nachdem sie ihren Mann und die beiden Kinder vor acht Jahren verlassen hatte. Billy hat recherchiert, dass ihre Mom auf dem 1912 gebauten Lincoln Highway unterwegs war, von Ogallala und Cheyenne über Rock Springs, Salt Lake City und Sacramento bis nach San Francisco. 
Doch bevor sich Emmett und Billy mit einem Rucksack und dreitausend angesparten Dollar auf den Weg nach Kalifornien machen, stehen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly vor der Tür. Sie hatten sich im Kofferraum des Direktors versteckt, als dieser Emmett nach Morgen bringen wollte. Sie überreden die beiden Brüder, zunächst in die Adirondacks zu fahren, wo ein Erbe über 150.000 Dollar auf sie wartet, die sie mit Emmett und Billy teilen wollen. Da dies das Startkapital für ein neues Zuhause in Kalifornien sein könnte, lässt sich Emmett auf den Deal ein. 
Doch die Reise läuft anders als erwartet und entspricht in etwas den Abenteuern, von denen Billy in seinem Buch „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“ mit nicht nachlassender Begeisterung gelesen hat. 
„Sieht man sich den Highway auf der Landkarte an, könnte man denken, dass dieser Mr. Fisher, von dem Billy geredet hatte, sein Lineal genommen und eine Linie quer durch den Kontinent gezogen hatte, ohne Rücksicht auf Berge und Flüsse. Er musste sich vorgestellt haben, dass das Highway eine angemessene Fahrrinne für die Beförderung von Waren und Ideen von einem Meeresufer zum anderen darstellen und darin das Schicksal seine endgültige Erfüllung finden würde. Doch wer immer hier unterwegs war, schien zufrieden mit dem Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit.“ 
Amor Towles ist mit seinem dritten Roman „Lincoln Highway“ ein zutiefst berührender Abenteuer-Roman über vier vaterlose Jungen gelungen, die Mitte der 1950er Jahre eine Fahrt ins Ungewisse unternehmen. Für Emmett und vor allem für seinen kleinen Bruder Billy heißt das Ziel, zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli in San Francisco zu sein, weil sie wissen, dass ihre Mutter früher das Feuerwerk so geliebt hat. Es scheint die einzige Chance zu sein, ihre Mutter, von der sie seit acht Jahren nichts gehört haben, wiederzusehen. 
Towles wechselt immer wieder die Erzählperspektive, um die vier Jungen zu charakterisieren und ihre jeweiligen Pläne und Gedanken darzustellen. Dabei wird schnell deutlich, dass sich die unterschiedlichen Pläne nicht unbedingt konfliktfrei unter einen Hut bringen lassen. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, dass man als Leser*in Verständnis für alle vier Jungen aufbringt und mit ihren nicht immer ungefährlichen Begegnungen mit falschen Pastoren, arbeitslosen Schauspielern, einem riesigen Schwarzen namens Ulysses, der ebenfalls auf der Suche nach seiner Familie ist, Clowns und Frauen wie Sarah und Sally, denen die Jungen besonders am Herzen liegen, bis zum Schluss mitfiebert. Dabei ist „Lincoln Highway“ voller Poesie und versteckter Weisheiten, witzig und melancholisch, aber vor allem von einer wohltuenden Gelassenheit und empathischem Tiefgang. Die Geschichte ist so fesselnd geschrieben, dass man sich am Ende wünscht, dass Towles bald eine Fortsetzung nachlegt.