(Liebeskind, 218 S., HC)
Mit seinen Serien um den Privatdetektiv Lew Griffin („Die langbeinige Fliege“, „Stiller Zorn“, „Nachtfalter“) und den Ex-Cop Turner („Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“, „Dunkles Verhängnis“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis in die Herzen anspruchsvoller Krimi-Fans geschrieben. Seit seinem erfolgreich – unter dem Titel „Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle - verfilmten Bestseller „Driver“ hat Sallis hierzulande seine literarische Heimat in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gefunden, wo mit „Sarah Jane“ ein weiteres Zeugnis von Sallis‘ beeindruckender Erzählkunst erschienen ist.
Sarah Jane Pullman hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie wuchs mit ihrem Bruder Darnell in der Kleinstadt Selmer zwischen Tennessee und Arkansas bei ihren Eltern auf, die sich neben ihren regulären Jobs um eine Hühnerzucht kümmerten, ist früh von zuhause ausgezogen, hat schräge Beziehungen hinter sich gebracht und musste verkraften, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben ist. Als sie nach einer weiteren schlechten Entscheidung vom Richter vor die Wahl gestellt wird, entweder ins Gefängnis oder zur Army zu gehen, entscheidet sie sich für den Militärdienst, arbeitet schließlich als Köchin in ganz verschiedenen Restaurants und Kantinen.
Sarah Jane macht ihren College-Abschluss und bekommt durch ihren Freund Ran Einblick in die Polizeiarbeit und bewirbt sich schließlich in der Kleinstadt Farr um einen Job als Cop, den ihr der Kriegsveteran Cal Phillips ohne großes Vorgeplänkel schnell anvertraut. Sie macht sich gut, zieht in ein kleines Haus außerhalb der Stadt, scheint ihr Leben in den Griff bekommen zu haben. Doch dann wird Cal vermisst und sie als nun diensthabender Sheriff mit dem Fall seines Verschwindens betraut. Auf einmal muss sie dem Bürgermeister, der immer mit ihr zu flirten schien, ebenso Rechenschaft ablegen wie einem FBI-Beamten, dann tauchen weitere Männer auf, die sich für Sarah Jane interessieren und sie in eine zunehmend misslichere Lage bringen …
„Manchmal kommt es einem vor, als würde man Tag für Tag für die Aufführung proben, ohne je das Drehbuch gesehen zu haben oder zu wissen, welche Rolle man spielt. Oder du stehst im Park vor einem dieser großen Kästen mit einem Plan, auf dem im Großbuchstaben SIE SIND HIER steht, und du weißt verdammt genau, dass das nicht stimmt. Cals Job. Kummer und Leid der Menschen. Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.“ (S. 153)
Zum Ende seines neuen Romans lässt James Sallis einen von Sarah Janes College-Dozenten darüber philosophieren, wie Sätze und damit auch Kunst Revolutionen hervorrufen können. Dieses Gefühl bekommt auch der Leser von Sallis‘ Geschichten zu spüren. Ebenso wie seine letzten Werke (vor allem „Willnot“) besticht „Sarah Jane“ mit knackigen, sprachlich vollkommenen Sätzen, die die Kraft ganzer Absätze und Seiten besitzen. Wenn er beispielsweise die Kleinstadt Farr als einen dieser Orte beschreibt, „wo sich historische Pfefferkuchenhäuser direkt neben modernen Reihenhäusern behaupten, wo sich Eisenwarenläden, Tankstellen und Angelshops an den Stadtrand klammern und wo man in den gutturalen Lauten des heimischen Dialekts noch das Raunen alter Zeiten hört“, beschwört er mehr als nur die städtische Architektur, sondern gleichsam ihren Puls herauf.
Sallis nimmt sich mehr als 60 Seiten Zeit, um Sarah Janes bewegte Vergangenheit zu rekapitulieren. Allein die häufigen Wechsel, was Zeit, Ort und beteiligte Personen angeht, machen deutlich, welch dramatischen Ereignisse die junge Frau bereits verkraften musste, bevor sie den Job als Polizistin in Farr antritt, angefangen vom ebenso plötzlichen wie immer häufigen Abtauchen ihrer Mutter aus dem Familienleben, dem Tod ihres Partners beim Militäreinsatz im Mittleren Osten bis zu den komplizierten, von Krankheit, Verletzungen und Verlusten geprägten Affären, die Sarah Jane letztlich von Stadt zu Stadt flüchten ließen.
Durch das ohne besonderen Anlass absolvierte Studium lässt Sallis seiner vielschichtigen Protagonistin eine intellektuelle Reife zukommen, die auch den Leser immer wieder zum Nachdenken über existentielle Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Schein und Sein, Freiheit und Verantwortung, Freundschaft und Familie, Leben und Tod anregt. Dabei hat der Autor mit Sarah Jane eine so komplexe Figur geschaffen, deren Geschichte man auch gern über längere Zeit verfolgt hätte. Doch Sallis lässt seinem Publikum genug Raum, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu füllen.