Ian McEwan – „Was wir wissen können“

Dienstag, 30. September 2025

(Diogenes, 480 S., HC)
Der britische, bereits mit (fast) allen bedeutenden literarischen Würden ausgezeichnete Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Zementgarten“, „Kindeswohl“, „Maschinen wie ich“, „Lektionen“) hat seit jeher grandios verstanden, universelle Themen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu verorten und so seinem Publikum einen vielsagenden Ausblick aus unterschiedlichsten Perspektiven auf das zu gewähren, was uns alle mehr oder weniger bewegt. In seinem neuen Roman „Was wir wissen können“ gelingt McEwan das Kunststück, ein mysteriöses Gedicht in den Fokus einer Geschichte über Literatur, Liebe, Mord und vor allem wilde Spekulationen zu stellen, die in der Zukunft anfängt, tief in die Vergangenheit reicht und schließlich in der Gegenwart mündet.
Der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe ist im Jahr 2119 damit beschäftigt, ein berühmtes, aber verschollenes Gedicht des berühmten Dichters Francis Blundy namens „Ein Sonettenkranz für Vivien“ ausfindig zu machen, das nur einmal bei einer Veranstaltung im Jahr 2014 vorgetragen worden, aber nie veröffentlicht worden ist. Dabei sollen ihm vor allem die Tagebücher seiner Frau Vivien weiterhelfen, die in der Bodleian-Snowdonia-Bibliothek aufbewahrt werden. Doch schon das Reisen innerhalb Englands wird zum Abenteuer. KI war nicht ganz unschuldig daran, dass in der Vergangenheit mehrere Atomkriege, die daraus entstehenden Tsunamis im Zusammenspiel mit dem Klimawandel dafür gesorgt haben, dass große Teile der Erde unter Wasser gesetzt wurden, Städte wie London und Hamburg gänzlich verschwanden, in den USA Warlords und marodierende Banden die Herrschaft übernommen haben und England selbst nur noch ein Archipel aus mehreren kleinen Inseln darstellt. Metcalfe, dessen Spezialgebiet die Literatur der Jahre 1990 bis 2030 ist, hat bereits alle verfügbaren Nachrichten, Aufzeichnungen und Dokumente zu diesem ominösen Gedicht gesichtet, das vielerlei Deutungen erfahren hat. Um seine wahre Bedeutung zu verstehen, sieht Metcalfe keine andere Möglichkeit, das Gedicht aufzufinden.

„Vivien hatte Lyrik zu sehr geliebt, sie hätte dieses Gedicht nie dem Vergessen überlassen. Es war irgendwo, und ich würde es finden. Der Sonettenkranz lag bestimmt in einer Schachtel auf den Regalen einer kleinen Bibliothek fünfhundert Meter hoch im Nordwesten Schottlands. Allein meine Feigheit stand mir im Weg.“ (S. 158)

Im ersten Teil seines – hoffentlich nicht allzu prophetischen – Romans beschreibt McEwan aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe nicht nur die verschiedenen Deutungen des verschollenen Gedichts, sondern auch die verstörenden Entwicklungen, die vom 21. bis ins 22. Jahrhundert für ein ganz anderes Weltbild gesorgt haben. Dazu gehören die nachhaltig zerstörerischen Naturkatastrophen ebenso wie die Annexion der noch aus dem Wasser ragenden Rest Europas durch Russland und Nigerias Vormachtstellung auf technologischem Gebiet. 
Virtuos verbindet McEwan beängstigende, aber nicht allzu weltfremde Entwicklungen auf der Erde während der kommenden hundert Jahre mit einer detektivischen Suche nach einem Gedicht, das gleichermaßen als Naturverehrung, Liebeserklärung und einen verklausulierten Mord angesehen worden ist. Dabei unterläuft er gekonnt die Illusion, dass eine noch so intensive und gewissenhafte Recherche zu einem (geschichtlichen) Thema irgendeine gesicherte Erkenntnis hervorbringen könnte. 
Das manifestiert sich vor allem im zweiten Teil des Romans, wenn Vivien in der Gegenwart berichtet, wie sich ihre Beziehungen zu Percy, Harry und Francis entwickelt haben und welche Rolle dabei das einmal vorgetragene Gedicht gespielt hat. So lässt sich der vielsagende Titel „Was wir wissen können“ natürlich auch auf unsere durch Social Media, Fake News und Kanäle wie Truth Social und Telegram geprägte Wahrnehmung und Deutung der „Wirklichkeit“ übertragen.  
McEwan hat diese Auseinandersetzung mit der Zeit und überlieferten Schriften – und sei es nur als SMS oder E-Mail – in eine kühne Mischung aus detektivischem Abenteuerroman, beunruhigender Science-Fiction und vielschichtigem Liebesroman gegossen und einen spannenden, nachdenklich stimmenden Pageturner geschaffen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 24) „Clete“

Montag, 22. September 2025

(Pendragon, 346 S., Pb.)
Mit seiner Reihe um den ehemaligen Detective des NOPD, Dave Robicheaux, hat der ebenfalls aus dem amerikanischen Süden stammende Schriftsteller James Lee Burke eine charismatische Kultfigur geschaffen, die seit Ende der 1980er Jahre mittlerweile in über zwanzig Bänden gegen von Rassismus und Habgier getriebenen Verbrechen ermittelt, in der Regel an der Seite seines ehemaligen Partners beim NOPD, Clete Purcel, der mittlerweile als Privatdetektive tätig ist und daher sich nicht so sehr eng an die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Strafverfolgung halten muss wie seine andere Hälfte der „Bobbsey Twins von der Mordkommission“. Für den mittlerweile 24. Band hat sich Burke einen interessanten Perspektivwechsel zunutze gemacht, um den Fall, an dem Robicheaux und Purcel arbeiten, von Clete Purcel als Ich-Erzähler schildern zu lassen.
Ende der 1990er Jahre, also vor dem Wüten von Hurrikan Katrina und den Terroranschlägen von 9/11, die für immer die Seele des Landes verändern sollten, teilten Clete Purcel und sein Freund Dave Robicheaux ihre Zeit zwischen New Orleans und New Iberia auf. Purcel hatte gerade einen lavendelfarbenen 1959er Eldorado mit löchrigem weißem Verdeck erstanden, den er liebevoll restauriert, lackiert und mit einer Stereoanlage ausstattete, bevor er ihn in Algiers zu Eddy Durbin in die Waschanlage auf der anderen Seite des Flusses gab. Doch kaum hat er den Wagen wieder abgeholt, wird Clete Zeuge, wie ein am ganzen Körper mit Tattoos übersäter Mann mit seinen Leuten seinen Caddy ausschlachtet und Clete schließlich mit einem Brecheisen niederschlägt. Doch bevor sich Clete damit auseinandersetzen kann, was die Typen in seinem Wagen offensichtlich vergeblich gesucht haben, muss er für den Kautionsvermittler eine Tänzerin namens Gracie Lamar auf der Bourbon Street aufspüren. Sie hatte ihrem Boss Winston „Sperm-O“ Sellers, der ihre Kaution stellte, einen Tritt ins Gesicht verpasst, war dann nicht zum vereinbarten Gerichtstermin erschienen. Aus Sellers‘ „Obhut“ befreien Dave und Clete auch die junge Asiatin Chen. Als hätte Clete mit der Fürsorge für Grace Lamar und dem Entzug für Chen nicht schon genug zu tun, taucht mit der attraktiven Schauspielerin Clara Bow eine Klientin auf, von der er sich besser ferngehalten hätte. Sie und ihr Noch-Ehemann sorgen für einige Unruhe in der Gegend. Dabei geht es nicht nur um gewöhnliche Drogen, sondern eine tödliche Chemikalie, die auf das FBI auf den Plan ruft…

„Uns gingen bald die Möglichkeiten aus, und die Leute, die uns töten würden, würden immer weiter töten und töten und töten. Klingt das nach Wahnsinn? Gut möglich. Aber seht euch um. Wieviel Wahnsinn seht ihr auf den Straßen Amerikas? Vielleicht sehr ihr ihn nicht oder vielleicht nur in seinem Anfangsstadium. Ich sehe ihn überall. Es könnte sein, dass das Problem bei mir liegt.“ (S. 238)

So hervorragend eine Krimi-Serie auch sein mag, früher oder später stellen sich zwangsläufig Abnutzungserscheinungen ein. Das ist bei langjährigen Romanreihen wie Lee Childs Geschichten um den Ex-Militärpolizisten Reacher ebenso zu beobachten wie bei James Pattersons Alex-Cross-Romanen. James Lee Burke versucht diese Falle zu umgehen, indem er in „Clete“ die Geschichte von Dave Robicheaux‘ Freund und Partner Clete Purcel erzählen lässt, doch fällt es anfangs schwer, den Ich-Erzähler mit dem Bild in Einklang zu bringen, das sich das Publikum über all die Jahre von Clete Purcel gemacht hat, wie es Robicheaux vermittelte. Doch nicht nur die veränderte Perspektive macht die Lektüre des bislang kürzesten Romans der Reihe problematisch, auch die Story fesselt nicht mehr so stark, weil die altbekannte Sorte von Gangstern ihr Unwesen treibt und die Bobbsey Twins zu drastischen Maßnahmen greifen lässt. Die Vielzahl der Figuren und der etwas wirr konstruierte Plot trüben dabei das übliche Lesevergnügen ebenso wie Cletes mystische Wahrnehmung von Jeanne d’Arc, die er immer wieder in entscheidenden Momenten sieht. Dafür ist James Lee Burke einmal mehr die Beschreibung der wilden Landschaft und der verdorbenen Atmosphäre hervorragend gelungen, in der immer wieder unschuldigen Menschen großes Leid zugefügt wird. Das wird nicht nur durch die konkreten Bezüge zu den Verbrechen der Nazis an den Juden deutlich, sondern das gesellschaftspolitische Klima lässt sich problemlos auf die heutige Zeit übertragen. 
Am Ende sind es James Lee Burkes eleganter Schreibstil, die knackigen Dialoge und die stimmige Beschreibung von Landschaft und Leuten, die „Clete“ doch noch lesenswert machen, auch wenn der Roman hinter die früheren Robicheaux-Werke abfällt.

 

Stephen King – „Dolores“

Sonntag, 14. September 2025

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Seit Stephen King 1987 mit „Sie“ sein bevorzugtes Terrain – übernatürlichen Horror in das Leben von ganz gewöhnlichen Menschen einziehen zu lassen – verlassen hat und mit Annie Wilkes eine psychopathische Krankenschwester ihren Lieblingsschriftsteller drangsalieren ließ, hat der „King of Horror“ immer wieder mal auf klassische Gruselelemente und Topoi der fantastischen Literatur verzichtet, um einfach das Grauen in den Fokus seiner Erzählungen zu rücken, den Menschen anderen Menschen antun, so auch in Kings 1992 veröffentlichten Roman „Dolores“, der zwei Jahre später mit „Misery“-Hauptdarstellerin Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh erfolgreich verfilmt worden ist.
Die fünfundsechzigjährige Haushälterin Dolores Claiborne hat ihr ganzes Leben auf der Insel Little Tall vor der Küste Maines im Norden von Neuengland verbracht. Als ihre Arbeitgeberin Vera Donovan bei einem Sturz von der Treppe ums Leben kommt, wird Dolores verdächtigt, sie getötet zu haben. Schließlich wurde an der Treppe nicht nur Dolores‘ Unterrock, sondern auch ein Nudelholz gefunden. Außerdem konnte Dolores nie den Verdacht ausräumen, dass sie bereits ihren Mann Joe St. George umgebracht haben soll, von dem bekannt war, dass er seine Familie drangsalierte. Als Dolores zum Verhör bei Andy Bissette und Frank Proulx ins Polizeirevier geladen wird, überrascht sie die Cops mit dem Geständnis, ihre Arbeitgeberin nicht getötet zu haben, wohl aber ihren Ehemann. Wie es zu beiden Todesfällen gekommen ist, erzählt Dolores in einem langen Monolog. Sie beginnt damit, dass Joe und sie drei Kinder in die Welt gesetzt haben. Als Joe 1963 starb, war Selena fünfzehn, Joe Junior dreizehn und Little Pete neun Jahre alt. Dolores betrachtete Joe nie als Mann, sondern eher als Mühlstein. Er war ein Taugenichts, ständig betrunken und verspielte ein Großteil des Geldes, das Dolores seit 1950 bei den Donovans verdiente, beim Pokern. Das weitaus Schlimmste war jedoch, dass er Dolores körperlich wie psychisch misshandelte, bis sie dem ein Riegel vorschob, was aber nur dazu führte, dass sich Joe an Selena zu vergreifen begann. Als Dolores von dieser Ungeheuerlichkeit erfuhr, reifte der Plan, ihn für immer aus dem Verkehr zu ziehen, und der Plan reifte nach einem Gespräch mit Vera und den Feierlichkeiten zu der bevorstehenden Sonnenfinsternis.

„Wenn du es hier und jetzt tun würdest, dann würdest du es nicht für Selena tun. Du würdest es auch nicht für die Jungen tun. Du würdest es tun, weil all dieses Betatzen und Begrapschen drei Monate lang oder noch länger vor deiner Nase passiert ist und du zu blöd warst, es zu bemerken. Wenn du ihn umbringst und dafür ins Gefängnis gehst und deine Kinder nur an den Sonntagnachmittagen siehst, dann solltest du auch wissen, weshalb du es tust: nicht, weil er sich an Selena vergriffen, sondern weil er dich zum Narren gehalten hat.“ (S. 132)

Stephen King ist nicht nur ein Meister der Kurzgeschichte (wie er in vielen Sammlungen wie „Blut“, „Im Kabinett des Todes“, „Nachtschicht“ und „Alpträume“ bewiesen hat) und der Kurzromane („Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, „Langoliers“, „Nachts“), sondern hat auch für seine Romane immer wieder neue Erzählformen gefunden. So hat er „Dolores“ als 350-seitigen Monolog der titelgebenden Protagonistin angelegt, die ohne Pause – also ohne die übliche Einteilung in Kapitel – von ihrem Leben mit ihrer Familie und bei Vera Donovan erzählt – und natürlich davon, wie es aus ihrer Sicht zu den beiden Todesfällen gekommen ist. Indem wir nur die Sichtweise von Dolores geschildert bekommen, darf man sich nicht allzu sicher sein, ob wir auch die Wahrheit erfahren, aber Stephen King hat seine Protagonistin so sympathisch gezeichnet, dass es einem schwerfällt, ihren Worten nicht zu glauben. 
Wie später auch in „Das Bild – Rose Madder“ präsentiert „Dolores“ das Portrait einer Frau, die ihr Leben lang unter der Gewalt ihres Mannes zu leiden hatte und sich dennoch nicht davon unterkriegen ließ, stattdessen eine Entscheidung traf, die den schädlichen Einfluss auf ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder für immer außer Gefecht setzen sollte. 
Dolores ist sich allerdings schmerzlich bewusst, dass ihr Verhalten nicht nur ihr Ansehen auf der Insel, sondern auch die Einstellung ihrer Kinder zu ihr verändert hat. Auch wenn die Rahmenhandlung nur auf dem Polizeirevier stattfindet, wird die Leserschaft durch die lebhafte Darstellung der Erzählerin auch zu den Schauplätzen auf der Insel, vornehmlich Dolores‘ Zuhause und Vera Donovans Anwesen, gelenkt, und die erinnerten Gespräche, die Dolores mit ihrem Mann, ihrer Tochter und Vera geführt hat, sorgen zusätzlich für ein vielschichtiges, lebendiges und vor allem fesselndes Bild des Lebens in den 1960er Jahren, als Frauen noch nicht das Standing hatten wie heutzutage. 

James Lee Burke – „Im Süden“

Dienstag, 9. September 2025

(btb, 352 S., Tb.)
Der 1936 im texanischen Houston geborene James Lee Burke gilt bereits seit den 1960er Jahren als neue, prägende Stimme des amerikanischen Südens und hat hierzulande vor allem durch seine epische, 24 Bände umfassende Reihe um den Detective Dave Robicheaux Furore gemacht. Mit seinem neuen Roman „Im Süden“ hält sich Burke ungewöhnlich kurz, präsentiert die vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs spielende Geschichte aber aus der Perspektive mehrerer Personen, deren Schicksal auf tragische Weise miteinander verknüpft ist.
Einst hat Wade Lufkin als Sanitäter im Krieg gedient, trägt noch immer eine Minié-Kugel in seinem Bein und lebt nun auf der Plantage seines Onkels Charles, malt Vögel und hegt eine besondere Vorliebe für die junge Kreolin Hannah Laveau, die sein Onkel vor einem Jahr auf dem Sklavenmarkt in New Orleans gekauft hatte. Sie war zuvor als Köchin bei den Südstaatensoldaten in Shiloh Church tätig gewesen und hat dort ihren Sohn Samuel verloren, den sie schrecklich vermisst. Als der brutale Minos Suarez, an den Hannah von Lufkins Onkel eine Zeitlang vermietet worden war, ermordet und zerstückelt am Spanish Lake aufgefunden wird, zählt Hannah zu den Hauptverdächtigten und wird von Constable Pierre Cauchon gesucht, der in gleich drei Gemeinden für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat. Hannah gelingt mit Hilfe der abolitionistischen, sterbenskranken Lehrerin Florence Milton die Flucht, doch weder Cauchon noch die Sklavenfänger, die in den Bayous ihr Unwesen treiben, lassen die beiden Frauen zur Ruhe kommen. Und dann ist da noch der brutale Colonel Carleton Hayes, der sich nur der Fahne Schottlands verpflichtet sieht und seine eigene Freischärler-Armee zusammengestellt hat. Als sich diese Menschen immer wieder auf die eine oder andere Weise über den Weg laufen, haben romantische Gefühle kaum eine Chance, dafür umso mehr Hass und Gewalt…

„Darf ich Ihnen etwas verraten? Ich glaube, wir erleben gerade das Vorspiel zum endgültigen Niedergang unserer Nation. Die Zivilisation folgt dem Lauf der Sonne. Wir haben uns den Weg zum anderen Ende des Kontinents verbrannt. Egal wie viel wir geraubt haben, egal wie viele Lebewesen wir getötet haben, es war nie genug. Das Versinken der geschmolzenen Kugel im Pazifik hat eine Dimension, die mich erschaudern lässt.“ (S. 330)

James Lee Burke hat sich bereits mit seiner fast unzähligen, aber allesamt im Süden der USA abspielenden Romanen als ausgewiesener Kenner der Geschichte und vor allem der soziokulturellen Atmosphäre dort präsentiert, doch lässt er mit „Im Süden“ erstmals einen Roman zur für die amerikanische Nation besonders prägenden Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielen. Indem er verschiedene Protagonist:innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten aus ihrer jeweils eigenen Perspektive die Geschichte erzählen lässt, entsteht zumindest ein sehr vielschichtiges Bild der Motivationen und Einstellungen, mit denen die Figuren den Krieg aus der Sicht des Südens erleben. 
So gelungen die einzelnen Erzählstränge auch sind, weil Burke sich einmal mehr als Meister der Sprache, des Stils und der Atmosphäre erweist, wird die Dramaturgie der Geschichte durch die oft wechselnden Perspektiven zu oft aufgebrochen, um echte Spannung zu erzeugen. Dafür wird besonders deutlich, welche Opfer jede(r) Einzelne auf sich nimmt, um möglichst unbeschadet aus den kriegerischen Auseinandersetzungen hervorzugehen. Während die ehemalige Sklavin Hannah nur darauf bedacht ist, wieder mit ihrem verlorenen Sohn vereint zu sein, geht es Anderen um die Wahrung ihres Besitzes, der Gerechtigkeit (was immer man darunter auch verstehen mag) oder schlichten Ruhm. Bei so vielen gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Figuren und relativ wenig Seiten fällt es schwer, Identifikationspotenziale mit den Figuren auszumachen. 
So ist „Im Süden“ zwar nicht der beste Roman des Autors, auch wenn er selbst ihn dafür hält, aber natürlich ist das immer noch ein starkes Stück amerikanischer Literatur, deren historischer Sprengstoff bis heute nachhallt. 

 

Hark Bohm mit Philipp Winkler – „Amrum“

Donnerstag, 4. September 2025

(Ullstein, 304 S., HC)
Als Schauspieler war Hark Bohm vor allem in den 1970er Jahren in unzähligen Filmen von Rainer Werner Fassbinder („Händler der vier Jahreszeiten“, „Angst essen Seele auf“, „Fontane Effi Briest“, „Die Ehe der Maria Braun“) zu sehen, präsentierte 1972 mit „Tschetan, der Indianerjunge“ sein Drehbuch- und Regiedebüt und arbeitete zuletzt viel mit Regisseur Fatih Akin zusammen, für dessen Filme „Tschick“ und „Aus dem Nichts“ er die Drehbücher schrieb und in dessen Verfilmung von Heinz Strunks Roman „Der Goldene Handschuh“ eine Nebenrolle verkörperte. Nun legt Bohm zusammen mit Philipp Winkler sein Romandebüt „Amrum“ vor, das ebenfalls von Akin verfilmt worden ist und auf Bohms Kindheitserinnerungen beruht.
Der zehnjährige Nanning Hagener lebt mit seiner hochschwangeren Mutter Hille Jessen und seinen beiden jüngeren Geschwistern auf der Nordseeinsel Amrum. Der Zweite Weltkrieg nähert sich 1945 seinem Ende zu, die Russen stehen schon fünfzig Kilometer vor Berlin. Während Nannings Vater im Krieg ist, muss sich der Junge als „Mann im Haus“ um die Ernährung der Familie kümmern. Er arbeitet bei der Bäuerin Tessa und geht mit seinem besten Freund Hermann auf Nahrungssuche, fängt Schollen, die als Amrum-Währung gelten, und sammelt Eier aus den Nestern der Enten, Honig aus einem Bienennest im Baum, was mit schmerzhaften Stichen und einem Bad im Moor endet. Zum Glück trägt auch Tante Ena dazu bei, die Familie zu ernähren, auch wenn sie als überzeugte Regime-Gegnerin immer wieder mit ihrer Schwester aneinandergerät, die als überzeugte Nationalsozialistin nicht wahrhaben will, dass die alliierten Bomber über der Insel und die Schar der Flüchtlinge aus dem Osten keinen Zweifel mehr daran lassen, dass das Ende ihrer Partei und des Führers unabwendbar ist.
Nach der Geburt ihres Kindes und Hitlers Tod verfällt Nannings Mutter in eine tiefe Depression, und Nanning ist auch nach der Rückkehr des Vaters zunehmend verwirrt, was um ihn herum geschieht.

„Er musste daran denken, dass sein Vater der Mutter aus dem britischen Wagen zugerufen hatte, sie solle ihn, Nanning, unbedingt aufs Gymnasium schicken. Was aber, wenn die Mutter sich täuschte und sein Vater tatsächlich ein Verbrecher war? Musste man dann darauf hören, auch wenn es der Vater war? Nein, dachte er, er wollte kein Akademiker sein. Er wollte Tessa auf dem Acker helfen und Butter und Milch für die Familie verdienen. Er wollte mit Hermann Kaninchen fangen und Schollen petten gehen. Mit dem Kumpel durch die Salzwiesen stapfen und Kiebitze aufschrecken, Wattwürmer aus dem Watt ziehen und am Flutsaum des Kniep nach Treibholz gucken.“

Hark Bohm blickt mit „Amrum“ auf die prägenden Jahre seiner Kindheit zurück, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfallen. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur die Freundschaft zu Hermann, sondern vor allem die innerfamiliären Konflikte angesichts der konträren politischen Einstellungen. Während Nannings Vater als SS-Obersturmführer ebenso fest auf NSDAP-Linie ist wie seine Frau Hille, wollen Hilles Schwester Ena und Hermanns Großvater Arjan mit den Nazis nichts am Hut haben. Nannings Onkel Theo ist schon vor Jahren nach Amerika ausgewandert, wo mehr Amrumer leben als auf der Insel. In diesem politischen wie persönlichen Spannungsfeld erzählt der bereits schwerkranke Bohm mit Unterstützung von Philipp Winkler eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem von den atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen lebt, die das vom harten Überlebenskampf geprägte Leben auf der Insel passend illustrieren. Wie beschwerlich das Leben auf der Insel gewesen sein muss, davon zeugen die ausführlichen Beschreibungen beispielsweise von einer Schlachtung eines wilden Kaninchens, die hart umkämpften Tauschgeschäfte und die verzweifelten Bemühungen, Butter, Honig und Brot für die ausgemergelte Mutter zu finden. „Amrum“ stellt weit mehr dar als nur eine gewöhnliche Kindheitsgeschichte zu Kriegszeiten, es ist vor allem eine interessante Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus Kinder-Perspektive und eine eindringliche, wehmütige Hommage an Amrum.

Moritz Netenjakob – „Der beste Papa der Welt“

Montag, 1. September 2025

(Kiepenheuer & Witsch, 368 S., Pb.)
Als Gagschreiber und Drehbuchautor für Fernsehformate wie „Hurra Deutschland“, „Die Wochenshow“, „Ladykracher“, Anke“,Stromberg“ und „Switch“ hat der Kölner Moritz Netenjakob hinlänglich sein komödiantisches Talent unter Beweis gestellt. Seit 2009 versucht er sich auch erfolgreich als Romanautor. Nach „Macho Man“ und „Der Boss“ setzt Netenjakob die Geschichte seines Protagonisten Daniel Hagenberger nun mit „Der beste Papa der Welt“ fort.
Der Autor Daniel Hagenberger erhält von der Cheflektorin des Grabosch Verlags das einmalige Angebot, als Ghostwriter die Biografie des ehemaligen Bond-Bösewichts und Frauenschwarms Rudolf Prinz zu schreiben. Allerdings bleibt ihm nicht viel Zeit, denn das Buch soll bereits in einem halben Jahr zu Prinz‘ siebzigsten Geburtstag erscheinen. Während Daniel ganz aus dem Häuschen ist, an der Biografie seines Jugendidols mitzuwirken, ist seine türkische Frau Aylin alles andere als begeistert, hält sie Prinz doch für einen unsympathischen Macho. Das Projekt birgt aber auch in vielerlei Hinsicht weitere Probleme. So hat Prinz‘ ebenfalls türkische Ehefrau als seine Agentin alle Hände voll zu tun zu verhindern, dass ihr Mann von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt, was vor allem seine frauenfeindlichen Witze betreffen, und darüber hinaus herunterzuspielen, dass Rudolfs Enkelin Helena mittlerweile mehr verdient als er selbst. Die Arbeit an dem Buch verläuft dagegen eher schleppend. Und nach Prinz‘ beherzter Zusage zur Markus-Lanz-Show bricht auch schon der nächste Shitstorm über die Testosteronschleuder hinein, und Daniel weicht als vorgeblicher Fitnesstrainer/Finanzberater nicht mehr von Prinz‘ Seite. Und als wäre die Aufregung um die Prinz-Biografie nicht schon genug, muss sich Daniel auch noch der Ehre gewachsen zeigen, für seine sechsjährige Tochter Lara „der beste Papa der Welt“ zu sein, wie das Motto der Kaffeetasse verlauten lässt, die sie ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hat – denn es fällt ihm unendlich schwer, seiner Tochter etwas abzuschlagen, und bei jedem Rückschlag, den sie erleidet, fährt er mit ihr ins Phantasialand. Darunter leidet auch Daniels Beziehung mit Aylin…

„Ich bin verwirrt. Bin ich Aylin nicht mehr männlich genug? Ich war sicher, diese Frage für alle Zeiten geklärt zu haben: Aylin verabscheut Machismo in jedweder Form, und ihre erotischen Fantasien haben mit Schriftstellern, Zen-Mönchen und Osteopathen zu tun – und nicht mit Bauarbeitern, Wrestlern oder Markus Söder. Aber Gefühle verändern sich. Vor drei Jahren empfand ich es noch als Verrat an der Literaturgeschichte, Phantasie mit F zu schreiben. Und jetzt fühlt sich Ph falsch an…“

„Der beste Papa der Welt“ ist zwar ein schöner, wie der Autor selbst sagt, von Christoph Maria Herbst auch live erprobter Buchtitel, hat aber recht wenig mit dem Plot zu tun. Bereits das erste Kapitel mit dem Gespräch zwischen der Cheflektorin und dem als Ich-Erzähler auftretenden Protagonisten weist den Weg zu einer Geschichte, die mehr mit dem Verständnis des Rollenbildes von Mann und Frau zu tun hat als mit dem Selbstbild als Vater. Rudolf Prinz ist der eigentliche (Anti-)Held in diesem Buch, vereint er doch all die Klischees des alten weißen Mannes, des berühmten Frauenschwarms, der sich gar keine große Mühe gibt, seine Vorstellung von der Rolle der Frauen in seinem Leben zu revidieren. Das sorgt für ebensolche Schmunzler wie die Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen, insbesondere der deutschen und der türkischen, aber Netenjakob macht auch deutlich, dass auch die Türken Ressentiments gegen Ausländer haben – vor allem gegen die Griechen.
Der Autor bemüht hier viele Themen, die er auf leichtfüßige und selbstironische Weise miteinander verbindet. Das zündet nicht immer und wartet mit einer Menge – leicht bemühter – Klischees auf, auf der anderen Seite wirken die Figuren und manche Situationen durchaus authentisch.
„Der beste Papa der Welt“ macht dabei vor allem auf humorvolle Weise deutlich, wie sehr sich das Frauenbild bzw. das Selbstverständnis der Frauen in den letzten dreißig Jahren geändert hat, wie auch die Männer mit wachsender Verantwortung in der Erziehung ihrer Kinder zu kämpfen haben und wie im Zuge dieser Entwicklungen sich auch die Fernsehformate und Medienberichterstattung verändert haben. Doch vor allem bietet Netenjakobs neuer Roman leichte, nie langweilige Unterhaltung mit einigen sehr treffenden Beobachtungen zum heutigen, durchaus auch verstörenden Zeitgeist.