Douglas Coupland – „Generation A“

Mittwoch, 30. Juni 2021

(Blumenbar, 333 S., HC)
In einer Zeit, die unserer Gegenwart nur wenig voraus zu sein scheint, leben die Menschen ohne Bienen und Liebe, verfetten angesichts hochdosierter Fruktosesirupe, die aus Mais gewonnen werden, und befinden sich im seligen Entschleunigungsrausch, den ihnen die Droge Solon verschafft. Doch dann werden plötzlich fünf Menschen an ganz unterschiedlichen Orten der Welt jeweils von einer Biene gestochen: der auf Sri Lanka für Abercrombie & Fitch arbeitende Call-Center-Agent Harj, der im Mahaska County, Iowa, lebende Nacktmähdrescher-Fahrer Zack, der einen vier Hektar großen Schwanz mit Eiern in ein Maisfeld mäht, die Neuseeländerin Samantha, deren Eltern ihr gerade verkünden, dass sie an nichts mehr glauben, der in Paris lebende Julien, der den Verlust seiner World-Of-Warcraft-Identität betrauert, und die vierunddreißigjährige, am Tourette-Syndrom leidende kanadische Zahnhygienikerin Diana.
Natürlich entwickeln sich die Opfer der Bienenstiche zu einer viralen Attraktion. Um herauszufinden, warum nach fünf Jahren, in denen keine Biene mehr gesichtet worden ist, ausgerechnet diese fünf Menschen von Bienen gestochen wurden, werden Harj, Zack, Samantha, Julien und Diana in den Research Triangle Park nach North Carolina verfrachtet und in absoluter Abgeschiedenheit gründlich untersucht. Nach ihrer Entlassung beginnen die plötzlich berühmten Bienenstichopfer sich füreinander zu interessieren, um herauszufinden, ob sie etwas gemeinsam hatten, das den Wissenschaftlern entgangen war.
„Ich sah, dass jeder von uns auf seine Weise ein völlig isoliertes Leben führte. Ich glaube, dass die moderne Welt die Menschen voneinander trennt – dazu ist sie da -, aber es gibt zahllose Möglichkeiten, aus der Gesellschaft herauszufallen, das Leben jedes Einzelnen von uns jedoch wies im Moment des Gestochenwerdens eines auffällige Gemeinsamkeit mit dem der anderen auf: Es war ein Augenblick, in dem wir mit dem gesamten Planeten in Beziehung traten.“ (S. 150) 
Vor über fünfundzwanzig Jahren schrieb der in Vancouver lebende Douglas Coupland Geschichten über die Generation der 20- bis 30-Jährigen und ihrem Wunsch, ein interessantes Leben jenseits der Arbeitswelt zu führen, wobei sie für die ökologischen und ökonomischen Sünden ihrer Eltern büßen müssen, und nannte sie „Generation X“. Als Kurt Vonnegut 1994 bei einer Rede vor Absolventen der Syracruse University die Generation A als Anfang einer Reihe von spektakulären Errungenschaften und Reinfälle bezeichnete, fühlte sich Coupland inspiriert, einen Neuanfang zu wagen, aber auch mit dem Thema der Generationenbildung abzuschließen. 
Am Anfang seines Romans „Generation A“ steht allerdings das große Bienensterben, mit dem ein ökologischer Kollaps einhergeht, dem die Weltbevölkerung nur mit Eskapismus begegnen kann. Die mit hohem Suchtpotenzial ausgestattete Droge Solon nimmt den Konsumenten die Angst und lässt Einsamkeit als Ideal erscheinen. Auf einer einsamen kanadischen Insel kommen die fünf Bienenstichopfer schließlich zusammen, um sich selbst erdachte Geschichten zu erzählen, in denen Außerirdische Menschen züchten, die umso schmackhafter sind, je mehr Bücher sie gelesen haben, aber es geht vor allem um den Verlust von Sprache, um Menschen, die ihre Seelen, Geschichten und das Gefühl der Liebe verlieren. 
Gerade durch das Erzählen ihrer Geschichten einer merkwürdigen Welt bilden die fünf unterschiedlichen Individuen eine neue Gemeinschaft und so den Hoffnungsschimmer für eine neue Welt. Coupland erweist sich in „Generation A“ einmal mehr als visionärer Erzähler mit soziologischem Gespür und beißendem Humor. Bei allem Pessimismus, den Coupland einer Welt entgegenbringt, die sich eher in virtuellen Welten als in der richtigen bewegt, verliert er aber nicht die Hoffnung, dass die Menschen sich auf ihre ureigenen Qualitäten besinnen.  
Nachdem der Klett-Cotta-Imprint Tropen den Titel bereits 2010 veröffentlicht hatte, ist das im Original 2009 erschienene Buch nun bei Blumenbar wieder als Hardcover verfügbar gemacht worden.


Tom Franklin – „Die Gefürchteten“

Samstag, 19. Juni 2021

(Heyne, 416 S., HC) 
Mitcham Beat, Alabama, 1897. Um sich ihren ersten Besuch in einem Bordell leisten zu können, kommen die beiden bei der Witwe Gates aufgewachsenen Waisen und Teenager-Brüder William und Matt Burke auf die Idee, das nötige Kleingeld durch einem Überfall zu besorgen, doch dass sie dabei versehentlich den beliebten Ladenbesitzer und Lokalpolitiker Arch Bedole töten, lässt die ohnehin schwierige Situation in dem Landstrich außer Kontrolle geraten. Bedsoles Cousin Tooch macht wider besseres Wissen die Städter aus dem benachbarten Grove Hill für die Tat verantwortlich und gründet mit Hell-at-the-Breech einen Geheimbund, der die darin versammelten Farmer Rache an Bedsoles Tod nehmen lassen will. Wenn ein Farmer wie Floyd Norris jedoch aus familiären Gründen nicht dabei sein möchte, muss er sich zumindest verpflichten, den mit schwarzen Kapuzen umherziehenden Räubern auf Nachfrage ein Alibi zu verschaffen. 
Unter diesen Umständen gelingt es dem alternden und alkoholsüchtigen Sheriff Billy Waite kaum, die Verantwortlichen für den Mord sowohl an Bedsole als auch an dem Farmer Anderson auszumachen. Er reitet mit seinem treuen Pferd King in die Stadt, um sich bei seinem Cousin, den örtlichen Richter Oscar York, Rat zu holen. Doch der verfolgt seine eigenen Pläne, hat mit Ardy Grant bereits einen Nachfolger für Waite im Auge. Allerdings ist Ardy Grant nicht der, der er vorgibt zu sein. Während er als von York engagierter Privatermittler die Identitäten hinter dem Geheimbund herausfinden soll, richtet Grant bei seiner Mission ein regelrechtes Massaker an. Währenddessen muss Mack in Bedsoles Laden, den Tooch übernommen hat, die Schulden der Witwe abarbeiten und bekommt so heimlich mit, wie Tooch die Überfälle seiner Bande organisiert, zu der auch sein volljähriger Bruder gehört …
„Als er die schwefelige Luft roch, blieb er stehen. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen, im Haus seiner Kindheit, bei der alten Frau, die sich dafür geopfert hatte, ihn und William großzuziehen? Als er ein Baby war, wie viele Nächte hatte sie durchgewacht, als er nicht atmen konnte, wie viele Stunden mit ihm geredet, ihm Geschichten erzählt, das Meer beschrieben? Und wie hatte er es ihr vergolten? Er hatte einen Mann getötet. Mack versuchte, sich Arch Bedsoles Gesicht vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Es sah nur Tooch vor sich, als versperrte der ihm die Sicht auf Arch.“ (S. 256) 
Nach seiner Kurzgeschichtensammlung „Poachers“ (1999), die erst 2020 im Berliner Pulp Master Verlag unter dem Titel „Wilderer“ veröffentlicht wurde, markierte „Hell at the Breech“ 2003 das Romandebüt des aus Alabama stammenden Schriftstellers Tom Franklin, das zwei Jahre später vom Heyne Verlag als Hardcover mit dem Titel „Die Gefürchteten“ erschien. Basierend auf dem Sachbuch „The Mitcham War of Clarke County, Alabama“ von Harvey H. Jackson III, Joyce White Burrage und James A. Cox, erzählt Franklin in seinem fesselnden Roman vom gewalttätigen Konflikt zwischen der armen Landbevölkerung und den vermeintlich reicheren Städtern in Alabama, wobei der versehentliche Mord an einem aufstrebenden Lokalpolitiker fast bürgerkriegsähnliche Zustände auslöst, die von dem rachsüchtigen Cousin des Toten und seiner von ihm ins Leben gerufenen Bande einerseits, von dem auswärtigen Killer Ardy Grant auf der anderen Seite befeuert werden. 
Raubüberfälle, Morde, Brandanschläge sind an der Tagesordnung und bringen nicht nur Sheriff Waite zur Verzweiflung, sondern entfremden die beiden Brüder Mack und William auch von ihrem Zuhause, das ihnen die Witwe Gates jahrelang gegeben hat, und voneinander. So finden sich alle Beteiligten in einer wachsenden Spirale der Gewalt wieder, die zum Finale hin fast schon groteske Züge annimmt. Franklin erweist sich als detailverliebter Chronist dieser von Rache, Misstrauen und Hass geprägten Atmosphäre im US-amerikanischen Süden zum Ende des 19. Jahrhunderts und verbindet auf gekonnte Weise eindringliche Landschaftsbeschreibungen und Spät-Western-Elemente mit einer ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte und einem starken Noir-Touch, wobei Gut und Böse bei den unterschiedlichsten Protagonisten kaum klar voneinander zu trennen sind. Auch wenn prominente Kollegen wie Richard Ford und Philip Roth ihrem Kollegen eine große Zukunft bescheinigt haben, blieb Franklin hierzulande ein weithin unbeschriebenes Blatt. Seine nachfolgenden Bücher sind in deutscher Übersetzung beim kleinen Berliner Verlag Pulp Master erschienen, bevor sein neues, mit seiner Frau Beth Ann Fennelly geschriebenes Buch „Das Meer von Mississippi“ wieder bei Heyne veröffentlicht wurde. Dabei bietet „Die Gefürchteten“ ähnlich packende Südstaaten-Literatur wie sie Cormac McCarthy, William Faulkner, Flannery O’Connor, James Lee Burke oder Joe R. Lansdale geprägt haben. Zu bemängeln sind nur die allzu häufigen Perspektivwechsel, die den Lesefluss immer wieder stören. 

 

Donal Ryan – „Die Stille des Meeres“

Sonntag, 6. Juni 2021

(Diogenes, 276 S., HC) 
Bereits mit seinen drei vorangegangenen, oft preisgekrönten Büchern „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“ und „Die Lieben der Melody Shee“ hat sich der 1976 geborene Ire Donal Ryan zu einer international gefeierten eigenständigen Stimme in der irischen Literatur entwickelt. Nachdem er mit seinem letzten Roman „Die Lieben der Melody Shee“ das Schicksal zweier Frauen erzählte, stehen in seinem neuen Werk drei Männer im Mittelpunkt, deren jeweilige Geschichten zunächst nacheinander in eigenen Kapiteln thematisiert werden, bevor sie im vierten und abschließenden Kapitel auf fast magische Weise zusammengeführt werden. 
Der syrische Arzt Farouk kommt schwer damit klar, dass seine Frau sich nicht verhüllt und sich so offensichtlich der Begierde anderer Männer zur Schau stellt, während seine Tochter bereits die westliche Kultur mehr als die eigene wertzuschätzen scheint. Als sich die Zeichen für einen Bürgerkrieg mehren, die Polizei zur Miliz wird und immer mehr bewaffnete Fremde das Stadtbild prägen, lässt er sich von einem Schleuser überreden, sich und seine Familie in Sicherheit bringen zu lassen, bevor seine Frau und Tochter vergewaltigt werden und er selbst getötet wird. Doch das Schiff, in das Farouks Familie mit anderen gut gekleideten Passagieren steigt, entpuppt sich nicht als das sichere Boot, das sie nach Europa bringt, sondern dockt auf dem Meer an einen alten Holzkahn an, wo die Passagiere die Überfahrt unter Deck verbringen sollen, bis der Sturm das Boot zwischen den Wellen zerschellen lässt. In Irland muss sich Farouk schließlich damit abfinden, ein neues Leben ohne seine Frau und Tochter zu beginnen. 
Der junge Laurence „Lampy“ Shanley lebt mit seiner Mutter Florence und seinem temperamentvollen Großvater Dixie in einer irischen Kleinstadt lebt, wo er als Busfahrer für ein Altenheim arbeitet und die Tatsache verkraften muss, dass seine Freundin Chloe mit ihm Schluss gemacht hat, weil sie in Dublin studieren will. Immerhin hat er mit Eleanor einen kurzfristigen Ersatz mit großen Brüsten aufgetan, begeht allerdings einen fürchterlichen Fehler, als er nach einer Panne den Bus wechseln muss. 
„Wie sollte er seinem Großvater klarmachen, dass er doch nur nach einem Ort suchte, an dem an einen Mann andere Maßstäbe angelegt wurden. Die nichts mit Geld oder Sport oder einer Straße in einer Stadt zu tun hatten. Oder war das überall gleich? Er wollte keine Vergangenheit haben, keine Adresse, er wollte einfach nur irgendein Ire sein.“ (S. 140) 
Das Trio ganz unterschiedlicher Männer wird durch den von Grund auf bösen John abgerundet, der sich schon bei der Beichte nicht an das Reuegebet erinnern konnte, obwohl er es wenige Stunden zuvor noch in der Schule gesungen hatte. Später sah er tatenlos zu, wie sein sechs Jahre älterer Bruder Edward zuhause nach der Hurling-County-Meisterschaft zusammenbrach und an einem Herzversagen verstarb. John setzte den Kindern in der Schule böse zu, verleumdete auch als Erwachsener Menschen, denen er nicht wohlgesonnen war, verfolgte als Lobbyist gnadenlos seine eigenen Interessen und die seiner Klienten, bis er selbst krank und reumütig wird … 
Im letzten, „Seeinseln“ betitelten Kapitel führt Ryan die drei Männerschicksale auf furiose Weise zusammen und findet auch dafür eine eigene Sprache, so wie er für die Geschichten seiner Protagonisten mit je einer eigenen Stimme erzählte. Ryan ist ein Meister darin, sein Publikum mit eindringlichen Schilderungen in die Psyche seiner Figuren hineinzuziehen. Hier sind es vor allem die auch kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Männlichkeit, die die Handlungen von Farouk, Lampy und John prägen und ihr Schicksal bestimmen, und so sehr sie auch an ihren moralischen Grundsätzen festhalten, hadern sie früher oder später mit der Unausweichlichkeit ihres Tuns. 
Donal Ryan ist mit „Die Stille des Meeres“ ein Buch gelungen, dessen Seelenfrieden, sehnsuchtsvoll verheißender Titel trügerisch wirkt, denn die Sehnsucht nach Erlösung bleibt für seine Protagonisten unerfüllt. 

David Pfeifer – „Patong“

Mittwoch, 2. Juni 2021

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Mit „Schlag weiter, Herz“ präsentierte der 1970 in Österreich geborene, in München aufgewachsene und dann nach Hamburg umgezogene Journalist und Autor David Pfeifer („Tempo“, „Stern“, „Vanity Fair“, „Süddeutsche Zeitung“) 2013 bei Heyne Hardcore sein Romandebüt, das dort nun um ein Vorwort von Bela B Felsenheimer (Die Ärzte) ergänzt unter dem Titel „Patong“ neu aufgelegt worden ist. 
Der in Thailand auf der Touristeninsel Phuket als Thaiboxer lebende Deutschtürke Mert Schulz erinnert sich an die schwierige Beziehung mit der Liebe seines Lebens, die er im Bus der Hamburger Boxauswahl kennengelernt hat, die auf dem Weg nach Schwerin zu einem Vergleichskampf gegen die Ukraine unterwegs gewesen ist. Nadja ist die Schwester von Felix Borau und fasziniert den 182 Zentimeter großen Schwergewichtler augenblicklich, doch er trifft sie erst im folgenden Herbst bei den Vorentscheidungen zur Hamburger Meisterschaft wieder, als er sich in Halbschwergewicht gehungert hat und nun gegen Nadjas Bruder antreten muss. 
Sie kommen über das Buch, Patrick Süskinds „Das Parfum“, das Nadja damals im Bus gelesen hatte, ins Gespräch, verabreden sich fürs Kino, halten bei „Braveheart“ schließlich Händchen. Sie beendet die Beziehung zum Versicherungskaufmann Holger und lässt sich auf eine Beziehung mit Mert ein, doch das Zusammenleben in der gemeinsamen Wohnung gestaltet sich schwierig. Während Mert darauf hinarbeitet, Profikämpfe zu boxen, damit er den Türsteher-Job im Hamburger Eck aufzugeben und das große Geld zu verdienen, etwas von der Welt zu sehen, versteht sich Nadja kaum selbst, liegt nachts oft wach und sieht sich außerstande, das zu artikulieren, was sie bewegt. Mert rutscht durch seinen Kumpel Stefan in die zwielichtige Welt der Kokser ab, versucht die zwischenzeitliche Trennung von Nadja durch besonders häufig wechselnde Sex-Kontakte zu kompensieren, nur um frustriert festzustellen, wie sehr sie ihm fehlt. 
„Sie hatten Zeit verschwendet, die sie nie wiederbekommen würden, und litten an einem Verlustschmerz, den sie nur mit Nähe lindern konnten. Mit der andauernden Versicherung, dass der andere da war. Sie klammerten sich aneinander, als würde einer von ihnen untergehen, wenn sie den Griff lockerten.“ (S. 255) 
Wie sehr David Pfeifer dem Boxsport verbunden ist, lässt der in Bangkok lebende Süd-Ost-Asien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in „Patong“ früh heraushängen. Ausführlich schildert der Autor den Werdegang von Mert Schulz und Felix Borau, beschreibt akkurat die Trainingsabläufe, Taktiken, Kämpfe und die anschließende Erholung von den Verletzungen, so dass Leser, die so gar nichts mit dem Boxen anfangen können, Schwierigkeiten haben werden, dazwischen Interesse an der vertrackten Liebesgeschichte von Mert und Nadja zu entwickeln und am Ball zu bleiben. 
Pfeifer gelingt es allerdings recht gut, die Waage zwischen den Wettkämpfen und den Beziehungsquerelen zu halten, auch wenn nie so recht deutlich wird, warum der Boxer und die in sich gekehrte Leserin weder mit- noch ohneeinander können und Mert schließlich nach Thailand auswandern muss (nun gut, hier spielen auch seine halbkriminellen Aktivitäten für Stefan mit den Albanern eine Rolle). Auch wenn „Patong“ kein großer Sport-Roman ist und auch keine besonders originelle Liebesgeschichte präsentiert, liest sich der Roman flüssig weg. Pfeifer ist dabei vor allem die Darstellung des Boxer-Milieus großartig gelungen, was sich auch auf die Glaubwürdigkeit der männlichen Figuren überträgt. Nadja bleibt dagegen – wie ihre Schönheit - schwer zu fassen, weil ihre offenbar von Depression geprägten Gefühle und Gedanken längst nicht so deutlich artikuliert werden wie Merts. David Pfeifer macht diese Undeutlichkeit allerdings durch ein rasantes Erzähltempo, Zeitsprünge und eine klare, fesselnde Sprache wieder wett.  

Tom Franklin & Beth Ann Fennelly – „Das Meer von Mississippi“

Samstag, 29. Mai 2021

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)  
Tom Franklin ist hierzulande vor allem durch die in Frank Nowatzkis Verlag Pulp Master erschienen Werke „Wilderer“, „Smonk“ und das mit dem Deutschen Krimipreis 2019 ausgezeichnete „Krumme Type, krumme Type“ bekannt geworden, hat aber schon lange zuvor im Heyne Verlag 2005 seinen Roman „Die Gefürchteten“ veröffentlicht. Zusammen mit seiner Frau Beth Ann Fennelly, Autorin eines Sachbuchs und dreier Gedichtbände, legt er nun „Das Meer von Mississippi“ einen Roman vor, der vor dem realen Hintergrund einer fast vergessenen Naturkatastrophe aus dem Jahr 1927 eine temporeiche Abenteuer-, Krimi- und Liebesgeschichte erzählt. 
Damals ließ der titelgebende Mississippi mit einem Pegel von über sechzehn Metern etliche Dämme im gleichnamigen Bundesstaat brechen und überflutete siebzigtausend Quadratkilometer Hinterland. Im April 1927 werden die beiden Prohibitionsagenten Ham Johnson und Ted Ingersoll von ihrem ambitionierten Chef Herbert Hoover nach Hobnob Landing geschickt, wo sie zum einen die beiden seit zwei Wochen verschwundenen Kollegen Little und Wilkinson auffinden und zum anderen die dort ansässigen Schwarzbrenner entlarven. Getarnt als Ingenieure erschleichen sie sich das Vertrauen einiger Ortsansässiger und stellen schnell fest, dass Jess Holliver mehr als alle Offiziellen das Sagen in der Kleinstadt hat. Während Ingersoll das Baby von getöteten Plünderern in die Hände von Hollivers zweiundzwanzigjähriger Frau Dixie Clay übergeben will, die ihr eigenes Baby verloren hatte, bietet Johnson seine Unterstützung bei der Bewachung des Damms an, nachdem bekannt geworden ist, dass Saboteure sechsunddreißig Stangen Dynamik aus Armeebeständen entwendet haben. 
Die Dinge geraten außer Kontrolle, als sich Ingersoll und Dixie Clay ineinander verlieben und der Prohibitionsagent erfährt, dass Dixie und nicht wie vermutet ihr Mann die Destille führt, in der der beliebte Black Lightning Whiskey gebrannt wird. Johnson tötet einen der Saboteure lässt dessen Partner aber in einem Boot fliehen. Als Jesse Wind davon bekommt, dass seine Frau ihn offensichtlich mit einem anderen Mann betrügt, rastet er völlig aus und entführt mit seiner Geliebten Jeanette das Baby, das Dixie Clay so schnell in ihr Herz geschlossen hat. Für Ingersoll und Dixie Clay beginnt nun eine lebensgefährliche Odyssee über das überflutete Mississippi-Delta, auf der Suche nach dem Baby ebenso wie nach Ingersolls Partner … 
„(…) Ham war vielleicht tot. Ingersoll glaubte nicht daran, er war überzeugt, dass er es gespürt hätte – sicherlich würde die Welt sich anders anfühlen, irgendwie verarmt, wenn Ham Johnson nicht mehr darin lebte -, aber so oder so würde er diesen Ort nicht verlassen, ohne seinen Partner gefunden zu haben.“ (S. 360) 
Franklin und Fennelly haben für ihre Geschichte einen realen dramatischen Hintergrund aufgegriffen, dessen Flut die Handlung und die darin verwickelten Figuren unbarmherzig mit sich reißt und vorantreibt. In seiner eineinhalbseitigen Vorbemerkung fasst das Autorenduo kurz die erschütternden Fakten der Mississippi-Katastrophe von 1927 zusammen, bei der über dreihundertdreißigtausend Menschen von Dächern, Bäumen und Deichen gerettet werden mussten. Tatsächlich wird das Schriftstellerpaar seinem selbstgesteckten Anspruch mehr als gerecht, diese schreckliche Episode der amerikanischen Geschichte wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen, da es eindringlich die bedrückende Atmosphäre in Worte fasst, in der die Dämme brachen und die schlammigen, riesigen Wassermengen des Mississippi den meist armen Menschen ihr Zuhause und ihre wenigen Habseligkeiten weggerissen haben. 
In diesem hochdramatischen Rahmen wirkt die eigentliche Geschichte fast schon nebensächlich. Franklin und Fennelly fokussieren sich von Beginn an auf wenige Figuren, deren Persönlichkeit sich zunächst in Rückblenden offenbart wird, wie Jesse Holliver als Pelzhändler die erst dreizehnjährige Dixie Clay kennengelernt und drei Jahre darauf gewartet hat, sie zu heiraten. Nun, mit zweiundzwanzig, hat die junge Frau die Destille ihre Mannes übernommen, während Jesse dafür sorgt, dass der Alkohol unter die Leute kommt. Und von den beiden Prohibitionsagenten erfahren wir, dass sie sich auf den Schlachtfeldern in Frankreich während des Ersten Weltkriegs kennengelernt haben und zu Freunden wurden. 
Doch obwohl das Figurenensemble sehr überschaubar bleibt, versäumen es die Autoren, ihren Protagonisten Tiefe zu verleihen. Stattdessen wirken sowohl Jesse mit seinen unterschiedlich farbigen Augen und seinen Temperamentsausbrüchen mit seiner schlampigen Geliebten ebenso wie Klischees wie Dixie Clay als junge Frau, der das Schicksal übel mitgespielt hat und nun eine zweite Chance erhält. Mit dem Zusammentreffen von Dixie Clay und Ingersoll entfaltet sich die Geschichte in absolut vorhersehbaren Bahnen ohne echte Überraschungsmomente. Selbst die Liebesszenen zwischen Dixie Clay und Ingersoll fehlt es an Inspiration. 
Auf der anderen Seite machen Franklin und Fennelly diese Schwächen durch die jederzeit stimmige Southern-Noir-Atmosphäre wett, die die Leserschaft von Beginn an in den Bann zieht. Eindringlich beschreiben sie, wie die Flutkatastrophe das Leben und die Lebensgrundlagen hunderttausender Menschen bedroht und zerstört hat. Damit bewegen sie sich durchaus in den Gefilden von gefeierten Kollegen wie Joe R. Lansdale und James Lee Burke.  

John Grisham – „Der Polizist“

Sonntag, 23. Mai 2021

(Heyne, 672 S., HC) 
In seinem 1989 veröffentlichten Debütroman „Die Jury“ ließ John Grisham den jungen Anwalt Jake Brigance mit dem Schwarzen Carl Lee Hailey den Vater eines zehnjährigen Mädchens verteidigen, das brutal misshandelt und vergewaltigt wurde, worauf Hailey den geständigen Täter tötete. Über dreißig Jahre später lässt Grisham Brigance in einem ganz ähnlichen Fall die Verteidigung übernehmen. Diesmal nimmt er sich des sechzehnjährigen Drew Gamble an, der sich vor Gericht wegen des Mordes an dem Polizisten Stu Kofer verantworten muss. Kofer war zwar ein guter Polizist, betrank sich aber häufig, zettelte in Bars Schlägereien an und misshandelte auch seine Freundin Josie, der er mit ihren Kindern Kiera und Drew ein Zuhause gab. 
Als Stu eines Nachts nach einem seiner Saufgelage nach Hause torkelt, schlägt er Josie bewusstlos und schläft schließlich seinen Rausch aus. Als die verängstigten Kinder nach ihrer Mutter sehen und sie reglos auf dem Küchenfußboden finden, erschießt Drew den verhassten Mann mit dessen Dienstwaffe und ist beim Eintreffen der Polizei kaum ansprechbar. Sheriff Ozzie Walls nimmt den schmächtigen Drew fest, Richter Omar Noose beauftragt Jake mit der Verteidigung des Jungen, womit sich der ansonsten beliebte Anwalt in der Kleinstadt Clanton, Mississippi, nicht gerade beliebt macht. 
Vor allem Earl Kofer, der Vater des ermordeten Polizisten, fordert lautstark die Todesstrafe für den Jungen. Zusammen mit seiner schwarzen Assistentin Portia, die kurz vor der Aufnahme ihres Jura-Studiums steht, und seinen Freunden/Kollegen Harry Rex und Lucien Wilbanks, setzt Jake alles daran, dem Jungen die bestmögliche Verteidigung zu bieten und ihn möglichst vor der drohenden Todesstrafe zu bewahren. Dazu muss er allerdings vor der Jury die dunkle Seite des getöteten Cops offenlegen … 
„Er dachte an Drew und versuchte wieder einmal vergeblich zu definieren, was Gerechtigkeit bedeutete. Töten musste bestraft werden. Doch ließ es sich nicht manchmal auch rechtfertigen? Wie jeden Tag grübelte er darüber nach, ob er Drew aussagen lassen sollte. Um das Verbrechen rechtfertigen zu können, musste man den Angeklagten selbst anhören, die grauenvolle Situation heraufbeschwören, den Geschworenen deutlich machen, welche Panik im Haus herrschte …“ (S. 455) 
Mit Jake Brigance hat John Grisham ganz zu Beginn seiner Schriftsteller-Karriere einen ebenso sympathischen wie kämpferischen Pflichtverteidiger geschaffen, der fünf Jahre nach dem spektakulären Hailey-Prozess noch immer davon träumt, ein berühmter Prozessanwalt zu werden. Da er jedoch das Herz am rechten Fleck hat, übernimmt er weiterhin die Mandate für nahezu mittellose Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Grisham erweist sich in „Der Polizist“ nicht nur als versierter Erzähler und Dramaturg, der einst das Genre des Justiz-Thrillers zu Bestseller-Form aufpolierte, sondern vor allem als Menschenfreund, der seinen Figuren bei all ihren offensichtlichen Schwächen die Sympathien entgegenbringt, um die Leserschaft auf die Seite des Angeklagten zu ziehen. Den an sich eindeutigen Fall eines Polizistenmordes versieht Grisham mit – wenn auch etwas überzogen wirkenden – derart ungewöhnlichen Umständen, dass sich auch der Leser fragen muss, ob in diesem Fall nicht eventuell der Mord an dem launischen und gewalttätigen Polizisten gerechtfertigt gewesen sein könnte. Das bedrohliche Klima, das in Clanton während des Prozesses herrscht, fängt Grisham ebenso überzeugend ein wie die gekonnt inszenierte Gerichtsverhandlung mit pointierten Dialogen und juristischen Feinheiten, dass es eigentlich unnötig ist, Jakes zweitem Prozess um eine Familie, die bei einem Bahnübergang in einen vorbeifahrenden Güterzug gefahren ist, weil die Warnleuchten nach Zeugenaussagen defekt gewesen sein sollen, größere Aufmerksamkeit zu widmen. 
Am Ende enttäuscht dieser „Smallwood“-Prozess, von dem sich Jake einen Befreiungsschlag für seine finanziell angeschlagene Kanzlei erhofft hat, so dass sich Grisham besser ganz auf den Gamble-Prozess hätte konzentrieren sollen. Mit „Der Polizist“ ist ihm aber auf jeden Fall ein durchweg packender Thriller gelungen, der Grishams Fähigkeiten voll zum Tragen kommen lässt und hoffentlich die eine oder andere Fortsetzung nach sich zieht. 

Lee Child – (Jack Reacher: 14) „61 Stunden“

Montag, 10. Mai 2021

(Blanvalet, 443 S., HC) 
Jack Reacher ist mal wieder unterwegs. An einer Raststätte zwischen Little Town on the Prairie und dem Dakotaland-Museum steigt er einem Bus zu, der eine Senioren-Reisegruppe aus Seattle auf Kulturreise zu Nationalparks, Prärien und Museen bis zum Mount Rushmore führen sollte. Doch in der Nähe der Kleinstadt Bolton, South Dakota, kommt der Bus von der verschneiten Fahrbahn ab, die Passagiere werden von der Polizei schließlich bei Privatleuten in Bolton untergebracht. 
Reacher erfährt, dass Bolton mit seinen über 12.000 Einwohnern deshalb größer ist als auf der Landkarte, weil es ein nagelneues Bundesgefängnis bekommen hat, an das das neue Staatsgefängnis angegliedert worden ist, so dass viele neue Jobs und Motels für die Besucher entstanden sind. 
Reacher kommt aber nicht dazu, die Zeit bis zur Weiterreise auszuspannen, sondern wird gleich vom überfordert wirkenden Polizeichef Holland eingespannt, nachdem er sich über dessen Hintergrund bei der Militärpolizei informiert hat. Die Polizei hat nämlich nicht nur den Mord an einem Anwalt aufzuklären, sondern auch die Kronzeugin im Prozess gegen den kleinwüchsigen mexikanischen Drogenboss Plato, die frühere Lehrerin und Bibliothekarin Janet Salter, zu beschützen. Holland und sein Stellvertreter, Andrew Peterson, rechnen damit, dass Plato jemanden nach Bolton entsandt hat, um die Kronzeugin auszuschalten, was durch einen Aufstand im Gefängnis ein leichtes Unterfangen wäre, denn der Notfallplan sieht vor, dass ausnahmslos alle Polizeikräfte beim Ertönen der Gefängnissirene dorthin auszurücken haben. 
Während Reacher zunächst die Gastfreundschaft von Peterson annimmt, zieht er am nächsten Tag ins gemütliche Haus der Kronzeugin um und versucht über seine Nachfolgerin beim 110th Special Unit in Rock Creek, Virginia, Susan „Amanda“ Turner, herauszufinden, was es mit der im Kalten Krieg erbauten und nun aufgegebenen Militäranlage auf sich hat, die überwiegend von Bikern benutzt wird. In den Tiefen dieser Anlage scheint das Geheimnis verborgen zu sein, warum es Plato nach Bolton zieht … 
„Vor Reachers Augen stand ein verrücktes Diagramm, das dreidimensional explodierte: Raum, Zeit und Entfernung. Überall in der Stadt waren Cops unterwegs, bewegten sich willkürlich nach Norden, Süden, Osten, Westen, fuhren auf Hollands Anweisung zur Polizeistation, hörten alle die Sirene, änderten sofort ihre Richtung, auch Salters sieben Bewacher stürzten in die Nacht hinaus, verstärkten die allgemeine Verwirrung, rasten in Richtung Gefängnis davon und ließen Janet Salter schutzlos zurück.“ (S. 351) 
Es ist immer wieder erstaunlich, wie Lee Child seinen mittlerweile auch im Film durch Tom Cruise verkörperten Protagonisten Jack Reacher aus der mittlerweile allzu vertrauten Grundsituation des ohne Gepäck reisenden Anhalters in ständig neue Ausnahmesituationen gerät, die er mit militärischer Präzision aufzulösen versteht. 
In seinem bereits 14. Abenteuer bietet die unter eisigen Temperaturen leidende Kleinstadt Bolton eine ungewöhnliche Kulisse für die Probleme, die Reacher zusammen mit Holland und dessen mutmaßlichen Nachfolger Peterson zu lösen hat, wobei der immer wieder von 61 Stunden runtergezählte Countdown unnötigerweise das Tempo vorgibt, bis Plato seine Operation nahe der stillgelegten Militäranlage vollendet. Ein überschaubares Ensemble, die Suche nach einem Verräter in den eigenen Reihen, die sogar leicht sinnlich aufgeladenen Telefonate zwischen Reacher und seiner Nachfolgerin und Platos Organisation reichen aus, um einen temporeichen, allerdings auch arg vorhersehbaren Plot zu kreieren, der einen immer wieder sensiblen, verletzlichen Reacher zeigt, der allerdings im richtigen Moment zu alter Durchschlagskraft zurückfindet. 
Am interessantesten gestaltet sich dabei die rein telefonische Kommunikation zwischen Reacher und Susan Turner, die auch sehr persönliche Aspekte zur Sprache bringt und in späteren Reacher-Romanen zum Glück ihre Fortsetzung findet.  

Peter Straub – (Blaue Rose: 4) „Der Schlund“

Sonntag, 2. Mai 2021

(Heyne, 812 S., Tb.) 
Der aus der Kleinstadt Millhaven, Illinois, stammende Tim Underhill schrieb nach seiner Entlassung aus der Army, für die er in Vietnam gedient hatte, in Bangkok einen Roman namens „The Divided Man“ geschrieben, in dem er die als „Blaue Rose“ benannte Mordserie in seiner Stadt fiktional verarbeitete. Während die Morde vor dreißig Jahren ungelöst blieben, hat Underhill in seinem Roman den Alkoholiker und Detective William Damrosch unter einem anderen Namen als Täter identifiziert. Schließlich wurde die Leiche des Detectives in seiner Wohnung gefunden, neben ihm ein Zettel mit den Worten „Blaue Rose“ auf seinem Schreibtisch. 
Zusammen mit Peter Straub schrieb er mit „Koko“ und „Mystery“ zwei weitere Bücher im Zusammenhang mit den „Blaue Rose“-Morden, womit das Kapitel für ihn abgeschlossen schien. Doch dann erreicht den seit sechs Jahren in New York lebenden Schriftsteller die Nachricht seines alten Bekannten John Ransom, der nach wie vor in Millhaven lebt und dem Autor von dem Überfall auf seine Frau April erzählt, die zusammengeschlagen wurde und nun im Koma im Krankenhaus liegt. Der Täter, der sein Opfer wohl tot wähnte, hatte über ihrem Körper die Worte „Blaue Rose“ an die Wand gekritzelt. Der Schriftsteller kehrt auf seinen Wunsch nach Millhaven zurück, erinnert sich daran, wie seine zwei Jahre ältere Schwester April im Alter von neun Jahren ermordet wurde, und auch an die ersten „Blaue Rose“-Morde zu jener Zeit. 
Zu den Opfern zählten eine sechsundzwanzigjährige Prostituierte, die beiden Männer James Treadwell und Monty Island sowie der Fleischer Heinz Stenmitz. Im „Ledger“ wurde der Zusammenhang zwischen Stenmitz und seiner Vorliebe für kleine Jungen mit Damrosch aufgedeckt, der ebenfalls als Pflegekind in der Fleischerfamilie zum Opfer wurde und sich offensichtlich später an ihm auf blutige Weise rächte. Für Underhill ist die Rückkehr nach Millhaven ebenso mit Furcht verbunden wie seine Zeit in Vietnam, und er hofft, durch seine Ermittlungen bei der Rückkehr des „Blaue Rose“-Mörders auch zu erfahren, wer damals seine Schwester getötet hatte. 
John Ransom lehrte wie sein Schwiegervater Alan Brookner am Arkham College, stand aber stets im Schatten des berühmten Religionswissenschaftlers, der geistig aber nicht mehr ganz auf der Höhe ist und gar nicht mitbekommen hat, was mit seiner Tochter geschehen ist. Mittlerweile scheint es erwiesen zu sein, dass Damrosch nicht Blaue Rose gewesen sein kann, denn die Blaue Rose ist nicht nur nach Millhaven zurückgekehrt, sondern tötet ihre Opfer an denselben Orten wie vor vierzig Jahren. Zusammen mit dem passionierten Privatermittler Tom Pasmore machen sich Tim Underhill und John Ransom auf die Spurensuche, die zu den Eigentümern des St. Alwyn Hotels ebenso führt wie zurück nach Vietnam … 
„Ein einziger Blick auf der Straße hatte mir einen Moment erschlossen, eine Reihe von Momenten, die ich vor vierzig Jahren in eine Truhe gesperrt hatte. Eine Kette nach der anderen hatte ich um diese Truhe geschlungen und sie dann in einen seelischen Brunnenschacht gestürzt. Seither hatte sie dort gegärt und Blasen geworfen. Zu den Gefühlen, die aus mir hervorbrachen, gehörte auch das Staunen - denn das war mir geschehen, mir, und ich hatte es absichtlich und für mich höchst verderblich völlig verdrängt.“ (S. 715) 
Mit „Der Schlund“ bringt Peter Straub nach „Blaue Rose“, „Koko“ und „Mystery“ sein Magnum Opus um die „Blaue Rose“-Morde zu einem spektakulären Abschluss. Noch mehr als die Vorgänger-Bände erweist sich das 1993 veröffentlichte 800-Seiten-Epos als immens komplexes Kriminaldrama, das ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt, dafür aber ein paar eindringliche Halluzinationen im Zusammenhang mit der Vietnam-Vergangenheit des Ich-Erzählers Tim Underhill zu bieten hat. 
„Der Schlund“ präsentiert sich auch deshalb so vielschichtig, weil es wie in den Film noirs der 1940er Jahre um ein raffiniertes Spiel mit Identitäten und Initialen geht, wobei der Film-noir-Klassiker „On Dangerous Ground“ am Ende sogar eine Schlüsselrolle spielt. Immer wieder scheint die Identität der Blauen Rose gelüftet worden zu sein, bis weitere Morde und Indizien auf einen anderen Täter verweisen. Wer erst einmal die etwas umständlich wirkende Einführung hinter sich hat, wird mit einem packenden, atmosphärisch dichten und extrem wendungsreichen Krimi-Drama belohnt, das zu den besten Werken aus der Feder des Horror-Autors („Geisterstunde“, „Der Hauch des Drachen“) zählt. 

 

Andrea De Carlo – „Margherita und der Mond“

Mittwoch, 28. April 2021

(Diogenes, 288 S., Pb.) 
Eigentlich wollte Margherita Malventi auf jeden Fall einen anderen Beruf als ihr faschistischer, von Gegensätzen wie Naivität und autoritärem Gehabe, aggressivem Auftreten und konventioneller Höflichkeit, Größenwahn und Depressionen geprägter Vater Achille ergreifen, doch letztlich ist sie genau in die Fußstapfen ihres etwas klein geratenen Vaters getreten, der einst als Sternekoch ein berühmtes Restaurant unter seinem Namen in Venedig geführt hatte, sich aber auf die falschen Leute einließ und sein Restaurant verlor. Die mittlerweile vierzigjährige Margherita führt ebenfalls ein kleines Restaurant in Venedig, hat sich aber entschlossen, auf ganz andere Weise zu kochen als ihr tyrannischer alter Herr. 
Mit ihrem Restaurant kommt sie gerade so über die Runden, der Beruf macht ihr Spaß. Allein die egozentrische Art der Männer in ihrem Leben bereiten Margherita Sorgen. Neben ihrem Vater, der sich so gar nicht für sie interessiert, lebt sie zwar mit ihrem Mann Luca in einer Wohnung, doch eben nebenher als mit ihm zusammen. Als ihr Vater zu einer Fernseh-Kochshow nach Mailand eingeladen wird, lässt sie sich darauf ein, ihn zu begleiten – einerseits als Abwechslung zu ihrem in Routinen erstarrten Alltag, anderseits hofft sie, durch den Trip ihrem Vater etwas näherzukommen. 
Doch die Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Während ihr Vater über die aufgeblasenen Schaumschläger in den Fernsehkochshows herzieht und das für die Show verabredete Gericht beharrlich nach seinen speziellen Zutaten zubereiten will, entflieht Margherita der tristen Studioatmosphäre und rekapituliert einmal mehr in melancholischer Stimmung ihr bisheriges Leben. Das Theater, das ihr Vater schon während der Aufzeichnung der Kochshow abzog, setzt sich schließlich im Hotelrestaurant fort, als Margheritas Vater den Chefkoch wegen des völlig verhunzten Risottos zur Rechenschaft ziehen will. Dabei macht Margherita die Bekanntschaft des Franzosen Jules, der in ihr eine besondere Saite zum Klingen bringt und sie in wenigen Momenten schon besser zu kennen scheint als Luca oder ihr Vater es je könnten … 
„Was mich am meisten beunruhigte, war nicht etwa all das, was er über mich erraten hatte, sondern vielmehr das beunruhigende Gefühl, dass er wirklich wusste, wer ich war: dass er um mein Verhältnis zum Mond, zu meiner Arbeit und zu meinem Vater wusste. So schien es mir jedenfalls. Vielleicht war ich ja so sehr daran gewöhnt, dass Luca und meinem Vater jegliches Interesse an mir abging, dass ich den erstbesten Mann, bei dem das anders war, gleich außergewöhnlich fand …“ (S. 150) 
Drei Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ist Andrea De Carlos Roman „Una di luna“ auch hierzulande in deutscher Übersetzung erhältlich. „Margherita und der Mond“ erzählt die Geschichte einer Frau, die stets im Schatten ihres einst berühmten Vaters stand und letztlich doch so von ihm geprägt wurde, dass sie nach wie vor in der Nähe ihrer Eltern lebt und ebenfalls Karriere als Köchin gemacht hat.  
Andrea De Carlo hat schon immer ein feines Gespür für die Psychologie seiner Figuren gehabt. In dieser Hinsicht stellt sein neuer Roman keine Ausnahme dar. Dass sich ein Großteil der Geschichte um das Kochen dreht, erlaubt dem wortgewandten Autor, mit unzähligen sinnlichen Ein- und Ausdrücken zu spielen, und zwar so eindringlich, dass man als Leser die beschriebenen Zutaten selbst auf der Zunge zu schmecken vermag. Während die Geschichte selbst eher unspektakulär und ohne große Überraschungen auf ein viel zu vorhersehbares Ende dahintreibt, entfaltet De Carlo das Innenleben seiner sympathischen Protagonistin in allen Facetten, macht dabei deutlich, wie Margherita sich zwischen den Männern in ihrem Leben zu behaupten versucht, ohne jedoch einen Hauch von Beachtung zu ernten. 
Während die Beziehungen zu ihrem Vater und zu Luca jedoch fein aufgedröselt werden, bleibt die von Zufällen und „Zaubern“ geprägte Bekanntschaft mit Jules eher an der Oberfläche, wirkt wie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Stilistisch bleibt De Carlo auch mit seinem neuen Roman eine Klasse für sich, als Geschichtenerzähler hat er jedoch schon packender unterhalten.  

Annalena McAfee – „Blütenschatten“

(Diogenes, 336 S., HC) 
Eve Laing steht im Alter von sechzig Jahren eigentlich am Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hat sich vom Status der Muse des berühmten Malers Florian Kiš zu einer weithin anerkannten Künstlerin etabliert, die mit einigen Assistenten und Gehilfen in ihrem Atelier in East London an einer Retrospektive arbeitet, die ihren prominenten Status in der Kunstwelt zementieren soll. Doch vor fünf Monaten hat sie die Ehe mit dem berühmten Architekten Kristof Axness durch eine Affäre mit ihrem gerade mal dreißigjährigen Gehilfen Luka und damit ihr Leben in den Sand gesetzt. 
Bei einem Spaziergang durch das nächtliche London lässt sie ihr Leben Revue passieren. Sie denkt an ihre Zeit nach der Kunstakademie zurück, als sie in New Yorks Lower East Side davon träumte, sich als Künstlerin zu behaupten, und dann mit dem zehn Jahre älteren, vielversprechenden Architekten Kristof zurück nach Europa ging, wo sie ihre gemeinsame Tochter Nancy zur Welt brachte, aber auch schnell das Gefühl bekam, im Schatten ihres aufstrebenden Mannes und unter den Anforderungen des Familienlebens zu schrumpfen. Zwar hatte sie mit dem georgianischen Einfamilienhaus Delauney Gardens bereits der Gipfel an Wohnkomfort in ihrem Leben, doch leben Kristof und sie aneinander vorbei, jeder für sich in seiner Karrieregestaltung gefangen, in der private Nähe nicht mehr möglich scheint. Da kommt ihr der junge Luka gerade recht, mit dem sie zunächst unbemerkt von ihrem stets beschäftigten Mann auch die Nächte in ihrem Atelier um die Ohren schlägt. 
Die Affäre, in die sie sich mit aller Leidenschaft stürzt, tut ihr gut, fließt auch energetisch in ihre Arbeit ein, die Luka mit der Kamera einfängt und sie dabei interviewt. Doch das Glück bekommt erste Risse, als Luka immer kritischere, fast schon beleidigende Töne bei seinen Fragen anschlägt, als sie die Ausstellung ihrer verhassten, aber weitaus erfolgreicheren Rivalin Wanda Wilson besucht und böse vorgeführt wird. Noch klammert sich Eve an die Aussicht auf eine erfolgreiche Ausstellung, an die leidenschaftliche Affäre, während sich am Horizont finstere Wolken zusammenbrauen … 
„Nachdem sie ein Leben lang darum gekämpft hatte, ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem häuslichen Leben und den Anforderungen der Arbeit zu finden, entschied sich Eve für die Arbeit, ließ die Zügel fahren und genoss das köstliche Ohnmachtsgefühl des freien Falls in ihr Inneres. Sie pfiff auf Konventionen und Gewissensbisse. Das war alles, was zählte, hier wollte sie sein – in der anschwellenden Woge von Kreativität und Sinnlichkeit.“ (S. 233) 
Als Gründerin der Kunst- und Literaturbeilage des „Guardian“ und Feuilletonredakteurin bei der „Financial Times“ kennt die aus London stammende und mit ihrem berühmten Mann Ian McEwan in der Nähe von London lebende Annalena McAfee die Kunstszene Londons wie kaum eine Zweite. Wenn sie aus der Perspektive ihrer eher unsympathischen, selbstverliebten und arroganten Protagonistin das Ringen um Anerkennung, den abschätzenden Blick auf Konkurrentinnen und erfolgsverwöhnte Männer schildert, wirkt das ebenso glaubwürdig wie die Beschreibungen ganz handwerklicher Tätigkeiten, das Vorbereiten der Leinwände, das Anmischen der Farben, die Bestückung der Herbarien. 
Doch weit spannender als der Einblick in das künstlerische Schaffen sind die Innenansichten einer alternden Künstlerin, die durch die Affäre mit einem halb so alten Mann ihrer Karriere und ihrem Leben noch einmal die Leidenschaft und den Schwung verleihen will, der sie durch den Alltag an der Seite eines international berühmten und nach wie vor gefragten Architekten etwas im Schatten verschwinden ließ, aus dem sie mit aller Kraft heraustreten möchte. Ein nächtlicher Spaziergang dient als erzählerischer Rahmen für den weitschweifigen, doch stets unterhaltsamen Rückblick auf Eve Laings Leben und Karriere. 
Schon früh zeichnet sich das Drama ab, auf das sie hier zusteuert und das letztlich das Ergebnis fataler Fehleinschätzungen wirkt. Dazu zählt die Tatsache, dass sie als Florians Muse nur eine von vielen kurzweiligen Geliebten des berühmten Malers gewesen ist, dass ihre ehemalige Kommilitonin Wanda mit ihrer spektakulär inszenierten Aktionskunst viel erfolgreicher geworden ist als sie selbst, dass sie das Leben ihrer Tochter als Influencerin nicht ernst nehmen kann. 
Zwar braucht „Blütenschatten“, McAfees dritter Roman nach „Zeilenkrieg“ und „Zurück nach Fascaray“, etwas Anlaufschwung, aber sobald die Figur der Blütenmalerin durch ihre Selbstbeschreibungen an Kontur gewinnt, entwickelt sich ein in sich stimmiges Portrait einer nach Ruhm und Anerkennung lechzenden Künstlerin, die mit ihren Stillleben wie das Relikt einer vergangenen Epoche wirkt. 
Im Gegensatz dazu sprechen ihre Tochter Nancy und ihre Erzfeindin Wanda mit der Verwendung neuer Medien und sinnlich direkt ansprechender Präsentation den Geschmack des modernen Publikums viel direkter an. Das vorhersehbare Ende macht aber auch deutlich, wie schnell eine mühsam aufgebaute Karriere aufgrund von Selbsttäuschung und Fehleinschätzung in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen kann.  

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 6) „Münsters Fall“

Samstag, 17. April 2021

(btb, 318 S., HC) 
Nachdem sich Hauptkommissar Van Veeteren auf unbestimmte Zeit zur Ruhe gesetzt hat und es nun in einem Antiquariat weitaus entspannter angehen lässt, hat sein ehemaliger Kollege Kommissar Münster bei der Kriminalpolizei in Maardam alle Hände voll zu tun, den bestialischen Mord an dem 72-jährigen Rentner Waldemar Leverkuhn aufzuklären. Bei 28 Messerstichen gehen die Ermittler von einer ungeheuren Wut aus, die der Täter/die Täterin gegenüber dem Opfer empfunden haben muss, doch weder die Befragungen von Leverkuhns Freunden, mit denen er am Abend zuvor im Freddy’s den Gewinn der Lottogemeinschaft in Höhe von 20.000 Gulden feucht-fröhlich gefeiert hatte, noch seiner Frau und den Nachbarn deuten in eine dementsprechende Richtung. Es lassen sich auch keine Zeugen für den Zeitraum zwischen dem Verlassen der Kneipe bis zur Entdeckung der Leiche durch seine Frau Marie-Louise finden, die den Abend bei ihrer Freundin und ehemaligen Arbeitskollegin Emmeline von Post in Bossingen verbracht und ihren Mann bei ihrer Heimkehr entdeckt hatte, allerdings erst gegen Viertel vor drei nachts die Polizei informierte. 
Dann verschwinden zwei weitere Menschen in diesem Zusammenhang, Felix Bonger, einer von Leverkuhns Freunden aus der Tippgemeinschaft, und Leverkuhns Nachbarin Else van Eck. Da auch Leverkuhns Kinder wenig über ihr Verhältnis zu ihrem Vater verlauten lassen, ist Münster so ratlos, dass er schließlich Van Veeteren um Unterstützung bittet. 
Als Leverkuhns Frau plötzlich den Mord an ihrem Mann gesteht, erklärt sich der alte Hauptkommissar a.D. bereit, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Er ist sich sicher, dass Frau Leverkuhn unschuldig ist und mit ihrem Geständnis jemanden schützen will. Während Münster und seine Kollegin Ewa Moreno noch einmal die Kinder des Opfers nach Hintergründen zu ihrem Vater befragen wollen, kommen sich die beiden auch persönlich näher, was die Arbeit nicht unbedingt leichter macht: Morena hat sich gerade von ihrem Freund Claus getrennt, der sich allerdings droht umzubringen, und Münster hat sich mit seiner Frau Synn auch schon etwas auseinandergelebt. Um in dem schwierigen Fall voranzukommen, versucht sich Münster noch einmal an Van Veeterens Ermittlungsgrundsätze zu erinnern … 
„Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive. Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte. Das Muster. Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle.“ (S. 75) 
In seinem sechsten Fall bleibt der kauzige Hauptkommissar Van Veeteren einmal außen vor, überlässt seinem jungen Kollegen Münster die Hauptbühne und zieht sich als nahezu stiller Beobachter hinter die Kulissen zurück. Münster ergeht es allerdings nicht besser oder schlechter als seinem in vielen Dingen verehrten Vorbild, denn so trostlos und brutal das Leben eines 72-Jährigen sein Ende findet, so mühsam und ergebnislos tappen Münster, Moreno & Co. durch die Ermittlungen, die letztlich zur Aufdeckung eines erschütternden Familiengeheimnisses führen, das sich bereits in den ersten Beobachtungen andeutet, dass die drei Leverkuhn-Kinder kaum Kontakt zu ihren Eltern gepflegt haben. 
Es sind auch weniger die schleppenden Ermittlungserfolge, die „Münsters Fall“ lesenswert machen, sondern die menschlichen Tragödien von fast Shakespeare’schen Ausmaßen, die sich nicht nur in der Familie des Ermordeten entfalten, sondern auch im Leben der Ermittler – wenn da auch in weitaus alltäglicheren Dimensionen. Nesser erweist sich einmal mehr als ebenso feiner Stilist wie Erzähler, der in gemächlichem Tempo den Fall zwar immer im Auge hat, aber vor allem ein Gespür für seine Figuren entwickelt und ihre Beziehungen zueinander. Wie hier Liebe und Eifersucht, Freiheit und Abhängigkeit, Schuld und Sühne, Mut und Verantwortung thematisiert und sogar immer wieder mit einem Hauch von Humor aufgelockert werden, macht „Münsters Fall“ eher zu einem gelungenen Drama als zu einem konventionellen Krimi.  

Stewart O‘Nan – „Sommer der Züge“

Sonntag, 11. April 2021

(Rowohlt, 478 S., HC) 
Als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich James Langer mit seiner Frau Anne und ihrem Sohn Jay auf den Weg nach Montauk, Long Island. In diesem Sommer des Jahres 1943 geht es für die Langer-Familie aber nicht nur darum, Abschied vom Familienoberhaupt zu nehmen, sondern die tief liegenden Wunden zu heilen, die die Ereignisse der letzten Zeit mit sich brachten. James hat durch seine Affäre mit seiner sechzehnjährigen Schülerin Diane nicht nur seinen Job, sondern auch das Vertrauen seiner Frau verloren. Anne wiederum rächt sich an ihrem Mann durch eine Affäre mit dem jungen Soldaten Martin, fühlt sich dadurch aber nicht wirklich besser, denn über allen persönlichen Krisen liegt die am schwersten wiegenden Tatsache, dass ihr ältester Sohn Rennie im Krieg gegen die Japaner auf der Aleuteninsel Attu kämpft, während seine Verlobte Dorothy in San Diego sein Kind zur Welt bringt. 
Seit Wochen haben die Langers nichts mehr von Rennie gehört, der im Gefecht schwer verwundet wird, aber überlebt. Als er nach Hause kommt, fehlen ihm meist die Worte, was nicht nur an dem mit Draht zusammengeklammerten Kiefer und der schlecht sitzenden Gebissprothese liegt, sondern auch an den traumatischen Erinnerungen an einen Krieg, an dem er nie teilnehmen wollte. 
Derweil hofft James, dass ihm seine Frau irgendwann seinen Fehltritt verzeiht, dass sie mit der Rückkehr nach Galesburg gemeinsam wieder zu dem Leben zurückkehren können, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten. 
„An seine eigenen Versöhnungsbemühungen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an die Trauer um Diane. Schweigen, Autofahrten. Anne hatte den Grund wissen wollen, und was hätte er ihr sagen sollen? Er hatte sich selbst nicht mehr erkannt. Er hatte sich gefühlt, als wäre er aus einem Rausch erwacht, voll Reue und doch erstaunt, dass er so lange ohne Bewusstsein gewesen war. Er glaubte zu sehen, dass Anne langsam erkannte, wo sie stand und was sie getan hatte.“ (S. 462) 
Stewart O‘Nan hat sich bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Engel im Schnee“ und „Die Speed Queen“ als einfühlsamer wie präziser Erzähler erwiesen, der sich so tief in die inneren Welten seiner ganz alltäglichen Protagonisten eingräbt, dass sie seinem Publikum wie lebensechte Figuren vorkommen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume und Ängste jederzeit nachzuvollziehen sind. Auch sein 1998 veröffentlichtes Buch „A World Away“, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung mit dem etwas irreführenden Titel „Sommer der Züge“ erschienen ist, bringt die erstaunliche Fähigkeit des Autors zum Ausdruck, die problematischen Beziehungen innerhalb einer Familie zu sezieren, wobei diese größtenteils aus der Gewalt resultieren, die diese Menschen einander antun. 
Obwohl „Sommer der Züge“ in Kriegszeiten spielt und mit Rennie ein Familienmitglied aktiv in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan involviert ist, führt O‘Nan hier sehr schön vor, wie Rennie eigentlich den Kriegsdienst verweigert hatte und er sich erst für einen Kriegseinsatz als Sanitäter an der Front meldete, als einer seiner College-Freunde im Krieg umgekommen war. Zu dem Zeitpunkt übten seine Familie und die Kleinstädter aber schon so viel moralischen Druck auf den jungen Mann aus, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als seinen Teil zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.  
O‘Nan wechselt immer wieder die Erzählperspektiven, beschreibt sowohl die kleinsten Anzeichen, nach denen James bei seiner Frau sucht, dass sie ihn wieder an ihrem Leben teilhaben lässt, lässt Anne rekapitulieren, was sie dabei empfunden hat, als sie von dieser unmöglichen Affäre ihres Mannes erfahren hat und wie sie nun versucht, die Affäre mit Martin zu beenden. Rennie kommt mit seinen Erlebnissen an der Front und der schwierigen Wiedereingliederung ins Leben nach seiner Rückkehr ebenso zu Wort wie seine Verlobte, die schwanger in einer Waffenfabrik arbeitet und ebenso wie Rennies Eltern verzweifelt auf seine Rückkehr hofft. 
All das wird begleitet von wunderbar präzisen Beschreibungen des Alltags, der Natur ebenso wie der Musik und den Filmen im Kino, die Jay besucht. So entsteht ein zutiefst intimes, Leben und Tod, Gewalt und Liebe, Trost und Vergebung, Ende und Neuanfang austarierendes Familien- und Gesellschaftsportrait, wie es nur ein so begnadeter, vielseitiger Erzähler wie Stewart O‘Nan vorlegen kann.  

Michael Connelly – (Renée Ballard: 2, Harry Bosch: 21) „Night Team“

Samstag, 3. April 2021

(Kampa, 448 S., HC) 
Auch wenn Harry Bosch längst in Rente ist, kommt er doch nicht davon los, weiter in ungeklärten Fällen zu ermitteln, teils als Privatermittler, teils als Reservist für das San Fernando Police Department. Als er sich unbeobachtet in der Hollywood Division nach der Akte der fünfzehnjährigen Prostituierten Daisy Clayton sucht, wird er von Renée Ballard überrascht, einer einst beim Los Angeles Police Department in der Robbery-Homicide Division tätigen Detektivin, die zur sogenannten Late Show, der berühmt-berüchtigten Nachtschicht des LAPD, strafversetzt wurde, nachdem sie ihren damaligen Vorgesetzten Robert Olivas wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. Ballard ist neugierig, was Bosch an dem Fall so fesselt, und findet ihn so interessant, dass sie Bosch anbietet, ihn bei der Suche nach Daisys Mörder, der ihre Leiche in einem Müllcontainer entsorgt hatte, zu unterstützen, denn ihr stehen immerhin Mittel und Wege zur Verfügung, auf die Bosch als pensionierter Cop nicht zurückgreifen kann. 
In offizieller Mission untersucht Bosch darüber hinaus die Ermordung des früheren Gangsterbosses Cristobal „Uncle Murda“ Vega. Zwar kann Bosch das ehemalige Gang-Mitglied Martin Perez ausfindig machen, der auch zu einer Aussage gegen den mutmaßlichen Mörder Tranquillo Cortez bereit ist, doch wird dieser wenig später ermordet. Bei der Aufdeckung des Department-internen Lecks widerfährt Bosch die nächste Panne. 
Nach seiner Suspendierung kann sich Bosch nun ganz auf den Fall von Daisy konzentrieren, deren ehemals drogenabhängige Mutter bei ihm vorübergehend wohnt, wodurch er seine Tochter Maddie kaum noch zu sehen bekommt. Währenddessen ackert Ballard – immer wieder auch mit Bosch zusammen -die sogenannten „Filzkarten“ durch, auf denen die Ermittler Notizen zu den Interviews mit Zeugen eintragen. Dabei stößt sie auf einen Tatortreiniger, den sie sich einmal aus der Nähe betrachten will. 
„Mord war Mord, und Ballard wusste, dass jeder Fall die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Polizei verdiente. Aber die Ermordung einer Frau ging Ballard immer besonders nahe. Fast immer war bei den Fällen, mit denen sie sich befasste, extreme Brutalität im Spiel. Und fast immer waren die Täter Männer. Das hatte etwa Beunruhigendes und zutiefst Ungerechtes, das über die grundsätzliche Ungerechtigkeit eines gewaltsamen Todes hinausging. Sie fragte sich, wie Männer sich verhalten würden, wenn sie in dem beständigen Wissen lebten, allein wegen ihrer Größe und ihrer Konstitution jede Sekunde ihres Lebens dem anderen Geschlecht unterlegen zu sein.“ (S. 387) 
Seit Michael Connelly Anfang der 1990er Jahre mit „Schwarzes Echo“ seinen ersten Harry-Bosch-Roman veröffentlichte, kann er auf über 20 Bestseller mit seinem charismatischen, sturköpfigen und gerechtigkeitsliebenden Protagonisten zurückblicken, der mittlerweile nicht nur seit 2014 in der Amazon-Serie „Bosch“ Form angenommen hat, sondern auch ein Alter erreicht hat, in dem er gewiss einfach seine Altersruhe genießen könnte. 
Doch wie langjährige Bosch-Fans wissen, lassen dem ehemaligen Detective bei der Mordkommission des LAPD ungelöste Fälle auch nach Jahren keine Ruhe. Da Connelly bereits in früheren Romanen immer wieder Begegnungen zwischen seiner prominentesten Figur und anderen Protagonisten weiterer Reihen wie um Boschs Halbbruder Mickey Haller oder Terry McCaleb eingebaut hatte, darf sich nun auch Connellys neueste Erfindung, die in die Late Show versetzte Ermittlerin Renée Ballard, mit Bosch zusammen auf Verbrecherjagd machen. Dabei stehen zwei ganz unterschiedliche Fälle im Mittelpunkt, die allerdings zeigen, wie gut Ballard und Bosch miteinander harmonieren. 
Connelly beschreibt die oft ermüdende Polizeiarbeit wie gewohnt detailliert, aber ohne seine Leserschaft zu langweilen. Stattdessen bleibt das Publikum durch die akkurat geschilderten Ermittlungsschritte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse immer auf Augenhöhe mit Bosch und Ballard, denen der Autor jeweils eine eigene Erzählperspektive zuordnet. So wie Bosch und Ballard braucht auch der Leser einen langen Atem, bis die beiden Fälle zufriedenstellend gelöst sind. Dabei steht Bosch auch vor der moralischen Entscheidung, wie ein skrupelloser Killer wie Cortez der Gerechtigkeit zugeführt werden soll. 
Dass er letztlich den korrekten Weg wählt, bildet die Grundlage für weitere gemeinsame Ermittlungen von Ballard und Bosch. Auch wenn „Night Team“ nicht zu den allerbesten Werken aus Connellys Feder zählt - dazu entwickelt sich die Story zu geradlinig und kommt zu wenig Spannung auf - , liegt der Roman mit seinem authentisch wirkendem Plot und den glaubwürdigen und vielschichtigen Figuren weit über dem Genre-Durchschnitt. Auf weitere Romane von Michael Connelly – egal mit welchen Hauptfiguren – darf man sich also getrost freuen. 

 

William Boyd – „Trio“

Sonntag, 28. März 2021

(Kampa, 432 S., HC) 
Während ihr Mann Reggie im Sommer 1968 im britischen Brighton den Film mit dem schwülstigen Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ abgedreht, lässt sich seine Frau Elfrida Wing mal wieder einen neuen Romantitel einfallen. Seit sie vor zehn Jahren mit „Das große Spektakel“ ihren letzten Roman veröffentlichte, ist sie zu nichts anderem mehr fähig gewesen, als ihr Notizbuch mit möglichen Titeln für einen neuen Roman zu füllen, doch der einmal thematisierte und dann stets wiederholte Vergleich ihrer Werke mit denen von Virginia Woolf hat ihre eigene Produktivität letztlich zum Erliegen gebracht und sie in den Alkohol getrieben. Talbot Kydd produziert den Film, frönt dabei seinem Hobby der Fotografie, mit der er seine geheimen homosexuellen Neigungen ausleben kann. Die Dreharbeiten verlaufen allerdings nicht reibungslos. 
Die 28-jährige Hauptdarstellerin Anny Viklund beginnt eine Affäre mit ihrem Filmpartner Troy, einem Pop-Sänger, dessen abknickende Karriere durch den Film wieder in Schwung kommen soll. Als Annys Liebhaber, der französische Philosoph Jacques Soldat, überraschend am Set auftaucht, braucht er nur die beiden bei ihrem Filmkuss zu beobachten, um zu begreifen, dass die beiden etwas miteinander haben. Doch richtig kompliziert wird es für Anny, als ihr Ex-Mann Cornell Weekes nach seiner Flucht aus dem Gefängnis ebenfalls bei ihr auftaucht und sie um Geld bittet, damit er für immer untertauchen und aus ihrem Leben verschwinden kann. 
Als das FBI den flüchtigen Terroristen jedoch festnehmen kann und das Bargeld bei ihm entdeckt, droht die ganze Filmproduktion zu kippen. Elfrida, die zunächst noch mit großem Elan für ihren Roman über Virginia Woolfs letzten Tag ihres Lebens recherchiert, entdeckt, dass ihr ohnehin treuloser Mann eine Affäre ausgerechnet mit der zusätzlich an Bord geholten Drehbuchautorin Janet unterhält, was sie mehr als sonst erschüttert und zu alkoholinduzierten Halluzinationen führt … 
„Ich bin am Ende meiner Kräfte, gestand Elfrida sich ein, völlig am Ende. Ihre Ehe war eine schmähliche Farce, und sie war offenkundig nicht in der Lage, mehr als ein paar Zeilen jenes Romans zu Papier zu bringen, der sie doch retten, die Jahre des Schweigens ungeschehen und ihren Ruhm wiederbeleben sollte. Zu allem Überfluss war ihr Arm von winzigen Parasiten befallen, die sich an ihrer Haut gütlich taten. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte.“ (S. 350) 
Mit seinem neuen Roman „Trio“ taucht der in Ghana als Sohn schottischer Eltern und dann in Großbritannien aufgewachsene Bestseller-Autor William Boyd in die schillernde Welt einer Filmproduktion ein, zeigt aber von Beginn an auf, mit welch inneren Dämonen seine drei Hauptakteure zu kämpfen haben, auf die sich der Romantitel bezieht. Während die Schriftstellerin Elfrida Wing aber eher ihren eigenen, einsamen, durch freigebigen Wodka-Genuss vermeintlich leichteren Kampf gegen ihre Schreibblockade ausficht und sich durch ihre Recherche zum Selbstmord von Virginia Woolf selbst in eine ähnlich selbstzerstörerische Lage manövriert, sind die Beziehungen der Filmleute untereinander etwas komplizierter gestrickt. Dabei reichen Boyd nur wenige Hinweise auf die Machenschaften hinter den Kulissen, wo sich mit Geld und Erpressung alles regeln lässt, wo Stunt-Doubles für ausgerissene Hauptdarsteller etwas mehr eingesetzt werden als geplant und der ehemalige Pop-Star und Hauptdarsteller im Abspann des Films noch einen Titel singen darf, damit seine Karriere auch wirklich wieder einen Schub nach vorn bekommt. 
Auch wenn der Autor es versäumt, den interessanten Hintergrund der 1968er Bewegung mehr in seinem Plot zu berücksichtigen und auch nicht besonders tiefsinnig bei der Ausgestaltung seiner Figuren vorgegangen ist, ist ihm mit „Trio“ ein durchweg vergnüglicher Roman gelungen, der die moralischen Verfehlungen seiner Anti-Helden ebenso locker abhandelt wie die kurzfristigen Änderungen im Drehbuch und bei der Produktion. 
Am Ende spielen die drei Figuren nicht nur ihre Rollen als Kulturproduzenten, sondern auch in ihrem eigenen Leben. Boyd bringt diese anstrengenden Rollenwechsel ebenso ironisch wie temporeich voran, verändert durch kurze Kapitel stets die Erzählperspektiven und wirbelt so furios durch die teils tragisch verlaufenden Schicksale des Trios. 

John Grisham – „Der Regenmacher“

Dienstag, 23. März 2021

(Hoffmann und Campe, 576 S., HC) 
Nach den fünf – allesamt verfilmten! – Bestsellern „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“, „Der Klient“ und „Die Kammer“ legte John Grisham 1995 (zwei Jahre später in deutscher Übersetzung) mit „Der Regenmacher“ seinen nächsten großen Wurf vor. Mehr noch als in seinen vorangegangenen Werken inszeniert der ehemalige Rechtsanwalt und Abgeordnete den juristischen Kampf eines noch jungen und unerfahrenen Anwalts gegen einen mächtigen, mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Konzern. 
Gegen den Willen seines Vaters, einem ehemaligen Marineinfanteristen und Ingenieur, der seinen Sohn wegen Insubordination schon auf eine Militärschule zu schicken beabsichtigt hatte und eine immense Abneigung gegen Anwälte empfand, entschloss sich Rudy Baylor schon früh, selbst Anwalt zu werden. Ironischerweise kam sein Vater ums Leben, nachdem er von einer Leiter gefallen war, diese seine Firma verkaufte. Seine Mutter heiratete einen pensionierten Postbeamter, mit dem sie die 50.000 Dollar aus der Lebensversicherung mit Reisen in ihrem Winnebago durchbrachte. 
Im letzten Semester seines Jurastudiums belegt Rudy ausschließlich Vorlesungen, die nicht mit großer Arbeit verbunden sind, darunter das Seminar zu juristischen Problemen älterer Leute. Hier muss sich Rudy nur regelmäßig mit seinen Kommilitonen ins Cypress Gardens Senior Citizens Building begeben, um sich mit wirklichen juristischen Problemen wirklicher Menschen auseinanderzusetzen. Rudy bekommt es zunächst mit Miss „Birdie“ Birdsong zu tun, die ihr Testament zu ändern beabsichtigt. Ihrem derzeit gültigen Testament zufolge hat sie zwanzig Millionen Dollar zu verteilen, doch die bisher begünstigten Söhne und Enkelkinder sollen nun aus dem Testament gestrichen werden. Stattdessen soll der Großteil ihres Vermögens einem Fernsehprediger zugutekommen. Da Rudy völlig abgebrannt ist und er bislang vergeblich einen Job in einer der Anwaltskanzleien in Memphis an Land ziehen konnte, nimmt er Miss Birdies Angebot an, für eine sehr geringe Miete bei ihr in einer eigenen Wohnung auf ihrem Grundstück zu wohnen und sie dafür bei ihrer Gartenarbeit zu unterstützen. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitet Rudy allerdings ein anderer Fall, der an ihn herangetragen wird: Dot und Buddy Black berichten ihm, dass ihr Sohn Donny Ray an Leukämie erkrankt sei, doch obwohl sein Zwillingsbruder der ideale Spender für eine lebensrettende Knochenmarktransplantation wäre, habe es die Versicherungsgesellschaft Great Benefit mehrmals strikt abgelehnt, die Kosten in Höhe von 200.000 Dollar für die Operation zu übernehmen, obwohl dieser Eingriff in dem Vertrag nicht ausgeschlossen sei. Rudy holt sich Rat bei Professor Max Leuberg, der einen leidenschaftlichen Hass auf Versicherungsgesellschaften verspürt und in der Vergangenheit mit Verfahren zu tun gehabt habe, bei denen die Geschworenen die Versicherungen zu horrenden Strafen verurteilt hätten. 
Tatsächlich scheint dieser Fall zum Himmel zu stinken. Je mehr Rudy und seine Helfershelfer im Sumpf wühlen, desto mehr kommen sie einem ungeheuerlichen System auf die Spur, bei dem Great Benefit grundsätzlich alle größeren Ansprüche abweist und sich nur bei den Fällen auf eine Zahlung einlässt, wenn ihre Kunden mit Anwälten drohen. Da weder die Blacks noch Rudy sich auf einen Vergleich einlassen wollen, steht Rudy kurz nach seinem bestandenen Examen im Gerichtssaal, um gegen mehrere hochbezahlte, erfahrene Anwälte und ihren offensichtlich mit krimineller Energie vorgehenden Mandanten zu kämpfen … 
„So also sterben die Unversicherten. In einer Gesellschaft voll reicher Ärzte und funkelnder Krankenhäuser und mit den allerneuesten medizinischen Gerätschaften und dieser Unmenge von Nobelpreisträgern in aller Welt ist es empörend, dass jemand wie Donny Ray dahinsiechen muss und ohne angemessene ärztliche Behandlung sterben muss.“ (S. 348) 
John Grisham versteht es, seine Leserschaft schon mit den ersten Seiten zu packen und bis zum fulminanten Finale nicht mehr loszulassen. Indem er erstmals seinen Protagonisten als Ich-Erzähler einsetzt, bekommt das Publikum die Geschichte ausschließlich aus seiner Sicht zu hören, ohne dass beispielsweise beleuchtet wird, was beispielsweise die Gegenseite im Schilde führt. Dadurch hält Grisham die Spannung auf einem konstant hohen Niveau, denn der Leser befindet sich stets auf Augenhöhe mit seinem Helden, für den man nur Sympathie empfinden kann. Grisham und damit sein junger Protagonist nehmen sich viel Zeit, die Fälle von Miss Birdie und den Blacks aufzudröseln, wobei die Testamentsangelegenheit der alten Frau eher amüsantere Züge trägt, während das Schicksal des sterbenskranken Donny Way natürlich auch den Leser auf seine Seite zieht und klar Stellung gegenüber dem Versicherungskonzern bezieht. Allerdings strapaziert Grisham die Schwarz-Weiß-Malerei über Gebühr. 
Bei der Gerichtsverhandlung kommt letztlich keine wirkliche Spannung mehr auf, weil die Beweisführung so einseitig ausfällt, der Richter parteiisch ist und das Management von Great Benefit einfach nur genüsslich vorgeführt wird. Hier hätte ein wenig mehr Ausgewogenheit wesentlich zur Glaubwürdigkeit der Geschichte beigetragen. Davon abgesehen bietet „Der Regenmacher“ einen wunderbaren Einblick in die Nöte junger Prozessanwälte, die sich oft mit recht drögen Fällen abgeben müssen, um überhaupt ihre laufenden Kosten bezahlen zu können. Und natürlich steckt auch eine gute Portion, wenn auch wenig subtile Gesellschaftskritik in diesem Buch, das auf die Verfehlungen großer Konzerne ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Blick auf die Menschen, die sie eigentlich vertreten, verweist und den Schutzbedürftigen eine Stimme verleiht.