Don Winslow – (Danny Ryan: 1) „City on Fire“

Montag, 13. Juni 2022

(HarperCollins, 398 S., HC) 
Der in New York geborene und in Rhode Island aufgewachsene Don Winslow avancierte vor allem durch seine 2005 begonnene epische Kartell-Saga („Tage der Toten“, „Das Kartell“, „Jahre des Jägers“) zum internationalen Krimi-Bestseller-Autor, der seine Schriftsteller-Laufbahn mit einer Reihe um den Privatdetektiv Neal Carey begonnen hatte. Seither sind etliche weitere Romane entstanden, fürs Kino adaptiert worden (u.a. durch Oliver Stone) und Jahre ins Land gezogen. Mit nunmehr 68 Jahren will Winslow das Schreiben zugunsten seines Kampfes gegen Donald Trump aufgeben und legt mit „City on Fire“ den Auftakt seiner letzten Trilogie vor. 
Rhode Island im August 1986. So wie schon ihre Väter zieht es Danny Ryan und seine Frau Terri, Jimmy und Angie Mac, Pat und Sheila Murphy sowie Liam Murphy mit seiner derzeit angesagten Flamme von Dogtown jeden Sommer nach Goshen Beach. Sie alle sind in Providence aufgewachsen, wo sie im selben Viertel leben wie ihre Eltern und sich fast täglich sehen. Doch diesen Sommer läuft einiges aus dem Ruder. Als Danny sieht, wie eine atemberaubend schöne Frau aus dem Wasser steigt, ist dies der Anfang einer Kette von Ereignissen, die mehr als nur einen Bandenkrieg auslöst. 
In Dogtown herrschen strenge Regeln, die Geschäftsbereiche der Gewerkschaften, Schmuggel, Prostitution, Drogen und Glücksspiel sind fair zwischen den Iren und Italienern aufgeteilt. Danny, der als Einzelkind aufwuchs, nachdem seine Mutter das Weite gesucht hatte, als er noch ein Baby war, fühlte sich seit jeher bei der Großfamilie der Murphys wohl und hat es geschafft, durch die Heirat mit Terri Teil der Familie zu werden, während sein Vater Marty, der einst das Sagen in Dogtown hatte, zunehmend dem Alkohol verfiel. Der Alkohol sorgt auch auf dem Strandfest des italienischen Paten Pasco Ferry für einen Eklat. 
Als Paulie aus dem Moretti-Clan mit der Strandschönheit namens Pam bei der Party auftaucht, grabscht der angetrunkene Heißsporn Liam Paulies Freundin an die Brust und wird von Paulie anschließend krankenhausreif geschlagen. Dort bandelt ausgerechnet Pam mit dem Verletzten an und gießt so noch mehr Öl in das Feuer in dem drohenden Bandenkrieg zwischen den Iren und den Italienern. Als sich die Nachricht in einer Bar herumspricht und Frankie Vecchio von der Moretti-Crew Wind davon bekommt, erschießt Paulie den Mann, der sich auf seine Kosten lustig gemacht hat, und setzt so eine Spirale der Gewalt in Gang, die weit über Dogtown hinaus für ungeliebte Aufmerksamkeit sorgen könnte. 
Liam heuert einen Killer von außerhalb an, um Paulie auszuschalten, worauf alle Dämme brechen. FBI-Agent Jardine versucht vergeblich, die Protagonisten des Bandenkrieges als Informanten zu gewinnen, doch verfolgt er auch seine eigene Agenda. Die Nachricht, dass Terri einen bösartigen Tumor in der Brust hat, zwingt Danny zu einem waghalsigen Coup… 
„Er weiß, dass er auf den Rand einer Klippe zuspaziert, aber irgendwie kann er seine Füße nicht dazu bringen anzuhalten – links, rechts, links, rechts -, immer weiter auf den Abgrund zu. Es ist, als würde ihn etwas antreiben, etwas außerhalb seiner selbst, das sich seiner Kontrolle entzieht.“ (S. 324) 
Don Winslow, der schon in seiner Kindheit die antiken Epen von Homer und Virgil verschlang, setzt den drei Teilen seines neuen Romans jeweils Zitate aus deren Werken „Aeneis“ und „Ilias“ voran und schlägt so die Brücke von der Antike zur Neuzeit. Im Gegensatz zu dem Kontinent umspannenden Epos um den Drogenkrieg lässt Winslow den Auftakt seiner neuen Trilogie fast ausschließlich in Dogtown spielen, entfesselt auf engstem Raum aber ein höllisches Inferno mit unzähligen Beteiligten. 
Dabei skizziert Winslow meist nur kurz, wer mit wem gegen wen intrigiert und kontraktiert, hält sich nicht lange mit Charakterisierungen seiner Figuren auf, sondern lässt sie einfach ihrer Geschäfte nachgehen, die immer mehr aus dem Ruder laufen. Die Gier nach Macht, nach Selbstbestätigung und Absicherung der Familie entwickelt sich zu einem furios inszenierten Schlagabtausch, bei dem keiner dem anderen mehr trauen kann und jeder versucht, das Beste aus der zunehmend verfahrenen Situation zu machen. 
Mit emotional berührenden Momenten geht der Autor sehr sparsam um. Da versucht Dannys mittlerweile zu Reichtum gekommene Mutter ihre Versäumnisse nachzuholen, indem sie all ihren Einfluss nutzt, um Danny und Terri alles Mögliche zur Unterstützung zukommen zu lassen, während Danny wiederum versucht, seinem Kind eine Zukunft zu bieten, die nicht auf einer Sünde aufgebaut ist, und seinen Vater in Sicherheit vor der Rache der Italiener zu bringen. 
Davon abgesehen schildert Winslow in leicht verständlicher Sprache in hohem Tempo ein Labyrinth der Gewalt, das er allerdings nicht übermäßig ausschlachtet. Dafür ist es umso faszinierender, wie eine einzelne Figur so eine zerstörerische Kettenreaktion auslösen kann, die niemand zu stoppen in der Lage zu sein scheint. Mit einer Leseprobe zu „City of Dreams“ darf man sich als Leser auch schon auf das nächste Kapitel der Trilogie einstimmen, während Sony und 3000 Pictures bereits an einer Verfilmung von „City on Fire“ arbeiten.  

Jim Thompson – „Kill-off“

Donnerstag, 9. Juni 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
In seinen überaus produktiven 1950er Jahren schrieb der US-amerikanische Autor Jim Thompson viele seiner besten Werke. Während er selbst die Drehbücher zu Stanley Kubricks Frühwerken „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ verfasste, wurden seine eigenen Romane wie „Der Mörder in mir“, „Ein Satansweib“, „Getaway“ und „After Dark, My Sweet“ - wenn auch viel später - von Regisseuren wie Alain Corneau, James Foley und Sam Peckinpah verfilmt. Das trifft auch auf den 1957 entstandenen Roman „The Kill-Off“ zu, den Maggie Greenwald 1989 für die große Leinwand adaptierte. Dabei zählt der hierzulande zunächst bei Ullstein als „Das Abtöten“ veröffentlichte, dann bei Diogenes in neuer Übersetzung unter dem Titel „Kill-off“ herausgegebene Werk nicht zu Thompsons besten Arbeiten. 
In dem heruntergekommenen Seebad Manduwoc hat sich die einst schöne, nun über sechzigjährige Luane Devore durch ihre bösartige Zunge eine Menge Feinde gemacht. Als sie zwei Tage vor Beginn der Sommersaison ihren Anwalt Kossmeyer anruft und auf ihre gewohnt hysterische Art behauptet, dass sie umgebracht werden soll, nimmt er sie nicht allzu ernst. Schließlich ist es auch schon Jahre her, dass er für seine Dienste auf dem Devore-Anwesen honoriert worden ist. Ihr Mann Ralph hat sich jahrelang mit Gelegenheitsjob über Wasser gehalten und für seine Frau nicht mehr allzu viel übrig. Dafür hat es ihm die Sängerin Danny Lee von Rags McGuires Musikgruppe sehr angetan. Als ihm nicht nur der Hausmeisterjob in der Schule flöten geht, sondern von Mr. Brockton auch noch erfahren muss, dass Doktor Ashton dafür gesorgt hat, dass der Job des Rasenmähens an dessen Sohn Bobbie übergegangen ist, steht Ralph Devor auf einmal ohne Einkommen dar. 
Doc Ashton wiederum, der sich nach dem Tod seiner Frau im Kindbett mit der jungen wie hübschen schwarzen Haushälterin Hattie vor siebzehn Jahren in der Stadt niedergelassen hat, sorgt sich darum, dass sein dunkles Geheimnis um die Beziehung zu Hattie gelüftet wird. Der Staatsanwalt Williams hat ebenso kein Interesse daran, dass bekannt wird, dass seine Schwester ein Baby von ihm erwartet… 
„Das musste man der verdammten Luane schon zugestehen: Sie hatte ein teuflisches Talent, mit dem Gerüchtemesser so zuzustoßen, dass sie immer die richtige Stelle traf und dauernd mächtig Staub aufwirbelte. Henry Clay Williams zum Beispiel war ein Junggeselle. Er hatte immer mit seiner unverheirateten Schwester zusammengelebt. Und diese Schwester hatte jetzt einen Unterleibstumor… der eine Schwellung verursachte, wie es normalerweise nur eine andere Art von Wachstum tut.“ (S. 89)
Jim Thompson hat sich seinen Lebensunterhalt nach seinem Abschluss an der University of Nebraska zunächst mit dem Schreiben von True-Crime-Stories verdient, was ihn – wenn nicht schon vorher – zu der Überzeugung kommen lassen musste, dass die Menschen ein gewalttätiger, habgieriger Haufen sind. Wirklich sympathische, moralisch integre Charaktere finden sich in seinen Büchern eher selten. Der Aufbau von „Kill-off“ ist insofern geschickt, als die einzelnen Kapitel jeweils aus der Sicht einzelner Bewohner von Manduwoc geschrieben sind. Nachdem der Anwalt Kossmeyer im ersten Kapitel durch sein Telefonat mit Luane Devore bereits eine erste Charakterisierung des zukünftigen Mordopfers abgibt und den Lesern einen groben Überblick über die Beziehungen und Zustände in der Stadt verschafft hat, kommen auch Luanes Mann Ralph, Doc Ashton und sein verzogener Sohn Bobbie und Hattie, der Bauunternehmer Pete Pavlov, der Musiker Rags McGuire, der Staatsanwalt Henry Clay Williams und auch Luane Devor selbst zu Wort. Nachdem Luane erwartungsgemäß zu Tode gekommen ist, stellt sich schließlich ab der Mitte des Romans die Frage nach dem Täter. 
Leider versäumt es Thompson, in dieser Hinsicht die Spannung aufrechtzuerhalten. Die nach dem Mord in Stellung gebrachten Ich-Erzähler bringen kaum noch erhellende Informationen zu dem Fall bei, sondern lamentieren eher vor sich hin, so dass man als Leser zunehmend das Interesse an der Geschichte verliert. Mit dem letzten zu Wort kommenden Beteiligten versucht Thompson dann das obligatorische Überraschungsmoment zu setzen und sein Publikum wieder wachzurütteln, doch wirklich überzeugend ist ihm dieser Kniff hier nicht gelungen. 

 

Jim Thompson – „Ein Satansweib“

Dienstag, 7. Juni 2022

(Diogenes, 226 S., Tb.) 
Jim Thompson hat sich nicht nur als Drehbuchautor für Stanley Kubricks Meisterwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ einen Namen gemacht, sondern vor allem als Autor gnadenloser Hard-boiled-Krimis, die nichts für schwache Gemüter sind. Dabei verwendet er zwar die Konventionen des Noir-Genres, verleiht ihnen aber stets einen eigenen Dreh und unterläuft so geschickt die Erwartungshaltung des Lesers. Der 1954 am Ende seiner produktivsten Phase entstandene Roman „A Hell of a Woman“, der 1988 zunächst unter dem Titel „Höllenweib“ bei Ullstein erschienen war, wurde 1996 in neuer Übersetzung als „Ein Satansweib“ durch Diogenes wiederveröffentlicht. 
Als Handelsvertreter für die Pay-E-Zee-Kette tingelt Frank „Dolly“ Dillon mit seinem Musterkoffer von Haustür zu Haustür und versucht seinen potentiellen Kunden überteuerten Ramsch anzudrehen, den sie sich oft genug nur per Ratenzahlung leisten können. Dillon ist nicht nur von dem Job und seinem Chef Staples angeödet, sondern auch von seiner Frau Joyce, die er für eine nichtsnutzige Schlampe hält. Als er einem säumigen Zahler namens Pete Hendrickson auf der Spur ist, lernt er eine alte, hässliche Vettel kennen, die sich für einen Kasten mit Silberbesteck interessiert und Dillon als Bezahlung die Dienste ihrer hübschen Nichte Mona anbietet. 
Dillon ist sofort hingerissen von dem scheuen Geschöpf und denkt gar nicht daran, das bereits nackte Mädchen zu verführen, was ihn allerdings noch mehr für sie attraktiv macht. Als Dillon wegen seiner Mauscheleien verhaftet wird, ist es tatsächlich Mona, die ihn mit einer Zahlung von dreihundert Dollar auslöst, worauf sie ihm mitteilt, dass ihre Tante noch auf hunderttausend Dollar sitzt. Offenbar hat die geizige Alte einst Mona entführt und die wohlhabenden Eltern um diese Summe erpresst, aber selbst nach dem Tod der Eltern nie etwas von dem Geld angerührt. 
Nachdem Joyce bereits Mann und Haus verlassen hat, sieht Dillon nun die Möglichkeit, mit Mona ein ganz neues Leben anzufangen, doch die Art und Weise, wie die Alte aus dem Weg geräumt werden kann, ohne dass der Verdacht auf Dillon und Mona fällt, will gut überlegt sein. Kompliziert wird es für Dillon, als Joyce wieder in sein Leben zurückkehrt und Staples ihm immer näher auf die Pelle rückt… 
„Er konnte einfach nichts wissen. Die Bullen wussten nichts, wie sollte er etwas wissen? Also worüber zum Teufel regte ich mich auf? Irgendwie war ihm aufgefallen, dass mir ein wenig unbehaglich zumute war. Hatte es bemerkt und sofort angefangen darauf herumzuhacken und versucht, die Wahrheit aus mir herauszusticheln. Er schlug wild um sich, in jede Richtung, in der Hoffnung, dass die blinden Schläge irgendwie treffen würden.“ (S. 168) 
Schon mit dem Titel „A Hell of a Woman“ führt Thompson seine Leser in die Irre, suggeriert er doch die für den Noir so typische Konstellation, dass ein zunächst unbescholtener Mann durch eine Femme fatale zu einer folgenschweren Dummheit verführt wird. Tatsächlich ist die Ausgangssituation hier ähnlich gelagert. Der Ich-Erzähler Dillon gerät aber nicht erst durch die Kenntnis der hunderttausend Dollar auf die schiefe Bahn, auf denen die alte Vettel sitzt, die keine Skrupel besitzt, ihre vermeintliche Nichte für sich zu prostituieren. Dillon ist nämlich kein sympathischer Zeitgenosse, der einfach nur Pech in seinem Leben hatte. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm seine Arbeit keinen Spaß macht, dass ihm seine Frau auf die Nerven geht, dass sein Leben eigentlich nicht lebenswert ist. Durch die Aussicht, bald ein reicher Mann sein zu können, wird das kriminelle Element seiner Natur nur zusätzlich motiviert. 
Thompson macht es seinem Protagonisten auch nicht leicht. Sowohl Joyce als auch Mona entpuppen sich nicht als Traumfrauen, die ewigen Betrügereien drohen Dillon irgendwann das Genick zu brechen, und sein Vorgesetzter Staples hängt wie eine nervige Klette an ihm. Thompson gelingt es immer wieder, dem Plot eine interessante Wendung zu verleihen, doch ist die Geschichte des Losers Dillon nicht so packend gelungen wie viele andere von Thompsons Werken. Das liegt nicht nur an der Sprache, die der Autor seinem Ich-Erzähler angepasst hat, sondern auch der am Ende arg konstruiert wirkenden Aufösung. 

 

Jim Thompson – „Eine klasse Frau“

Sonntag, 5. Juni 2022

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Nach schleppenden Beginn seiner Schriftstellerkarriere, die zwischen 1942 und 1949 nur drei Romane hervorgebracht hatte, erlebte Jim Thompson zu Beginn der 1950er Jahre einen wahren Schub an Produktivität, der Noir-Leckerbissen wie „Der Mörder in mir“, „Liebe ist kein Alibi“, „Revanche“, „In die finstere Nacht“, „Ein Satansweib“ und eben auch „Eine klasse Frau“ hervorbrachte. Der Neuübersetzung durch André Simonoviescz bei Diogenes im Jahr 1994 ging 1986 die Erstveröffentlichung unter dem Titel „Ein süßes Kind“ bei Ullstein voraus. 
Nach dem Tod seiner Mutter und der Entlassung seines Vaters durch die Schulbehörde ist Dusty Rhodes gezwungen gewesen, das College aufzugeben und für den Lebensunterhalt für sich und seinen Vater zu sorgen, mit dem er zusammen in einer kleinen Wohnung lebt. Um mehr Geld zu verdienen, hat er sich für die Nachtschicht als Page in dem etwas exklusiveren Manton Hotel entschieden, wo er mit seinem Vorgesetzten Mr. Bascom allerdings mehr schlecht als recht auskommt. 
Während der Nachtportier den jungen Mann dazu drängt, wieder zum College zurückzukehren, sieht Dusty keinen anderen Ausweg, als weiterhin den gut bezahlten Job als Page auszuüben, weil er sonst hinten und vorne nicht über die Runden kommt. Zwar sieht er seinen Vater kaum, da er nach dem Ende der Nachtschicht schlafen muss, aber er versucht ihm, all das zu besorgen, was er braucht, auch wenn er keine Ahnung hat, was sein Vater mit all dem Geld macht, das er ihm ständig zusteckt. Neben den Medikamenten gegen die Depressionen muss Dusty auch für den Anwalt Kossmeyer aufkommen, der seit einiger Zeit – erfolglos – versucht, auf eine Wiedereinstellung seines Vaters zu drängen. 
So richtig Bewegung in seine Alltagsroutine kommt allerdings, als die wunderschöne Marcia Hillis eines Nachts eincheckt. Sie stellt für Dusty die Verkörperung all seiner Träume dar. Als er eines Nachts gebeten wird, ihr Briefpapier zu bringen, gerät Dusty in eine Situation, die eine versuchte Vergewaltigung vortäuschen soll. Allein dem beherzten Eingreifen des großzügigen Tug Trowbridge und seiner zweier Gehilfen, die Marcia Hillis aus dem Hotel schaffen, hat es Dusty zu verdanken, nicht in größere Schwierigkeiten zu geraten, doch Trowbridge handelte alles andere als uneigennützig. 
Als Gegenleistung verlangt dieser, dass Dusty ihm zum Start der Rennsaison, der viele gutbetuchte Gäste ins Hotel bringt, dabei zu helfen, die abschließbaren Postfächer zu leeren und so über zweihunderttausend Dollar zu erbeuten. Dusty bleibt nichts anderes übrig, als bei diesem Coup mitzuspielen, aber er sieht auch die Chance, mit seinem Anteil ein neues Leben mit seiner Traumfrau beginnen zu können… 
„Er würde sie besitzen. Er konnte sich einfach nichts anderes vorstellen. In Gedanken hatte er schon längst von ihr Besitz ergriffen, dort waren sie schon zusammen, er und Marcia Hillis waren entzückt voneinander, entzückten den anderen. Und in diesen Vorstellungen gab es für seinen Vater keinen Platz. Sein Vater verbot diese Gedanken geradezu.“ (S. 171) 
Thompson scheint mit „Eine klasse Frau“ eine klassische Noir-Geschichte zu erzählen, in der ein hart arbeitender, fürsorglicher junger Mann durch die Obsession für eine attraktive Frau vom rechten Weg abkommt. Doch der Autor spielt sehr geschickt mit den Konventionen des Genres, um die Erwartungshaltung des Lesers später immer krasser zu unterlaufen und mit unermüdlichen Wendungen schließlich das Bild zu zerstören, das er von seinem Protagonisten aufgebaut hat. 
Während die seinen Kopf verdrehende Marcia Hillis die meiste Zeit kaum eine Rolle spielt, wird Dusty Rhodes als hart arbeitender und verantwortungsbewusster Mann portraitiert, der sich alle Mühe gibt, für seinen kranken Vater zu sorgen. Erste Risse bekommt der gute Charakter aber durch die Rückblenden, in denen geschildert wird, dass Dusty als nicht mehr ganz so kleiner Junge eine unsittliche Beziehung mit seiner Stiefmutter unterhielt und letztlich auch für die Entlassung seines Vaters verantwortlich gewesen ist, als er eine Petition mit dem Namen seines Vaters unterschrieben hatte. Doch erst die Nachwirkungen des erfolgreichen Überfalls auf die Geldreserven der Hotelgäste bringen das ganze Ausmaß einer komplexen Persönlichkeit zum Ausdruck, der anfangs noch alle Sympathien des Lesers gehörten. 
Thompson erweist sich als wahrer Meister in der Schilderung unmöglicher Situationen und vertrackter Komplizenschaften, bis man nicht mehr weiß, welchem Szenario man glauben schenken soll. 

 

Jim Thompson – „Getaway“

Samstag, 4. Juni 2022

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Obwohl Jim Thompson (1906-1977) bereits Anfang der 1940er Jahre einen Haufen Romane zu veröffentlichen begann (allein zwölf in den Jahren 1952-54), war dem alkoholkranken Schriftsteller lange Zeit kaum Erfolg beschieden. Das änderte sich erst mit seinen beiden Drehbüchern zu den Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ sowie dem 1959 veröffentlichten und 1972 von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw verfilmten Roman „Getaway“
 Dank des korrupten Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses, Benyon, wird der vierzigjährige Carter „Doc“ McCoy frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, schuldet dem korrupten Lokalpolitiker allerdings 15.000 Dollar, die er durch einen wohlüberlegten Überfall auf eine kleine Bank in Beacon City besorgen will. Die ist nicht der Bundeszentralbank angeschlossen, so dass die Bankräuber nichts ins Visier des FBI geraten. Bei dem Coup sind McCoy nicht nur seine vierzehn Jahre jüngere Frau Carol, sondern auch der paranoide und gerissene Gangster Rudy Torrento und dessen nervöser Gehilfe Jackson mit an Bord. Torrento bringt Jackson noch während des Überfalls um – je weniger Beteiligte sich die Beute teilen müssen, desto besser. Nachdem der erfolgreiche Überfall hundertvierzigtausend Dollar in bar und weitere zweihunderttausend in Papieren eingebracht hat, kommt es auch zwischen Doc und Torrento zu einer nahezu tödlichen Auseinandersetzung. Der totgeglaubte Torrento lässt sich von einem Veterinär zusammenflicken, nimmt ihn und dessen Frau als Geiseln und macht sich auf die Jagd nach McCoy. Der wiederum will zunächst seine Schulden bei Benyon begleichen und dann nach Mexiko fliehen. Durch einen verhängnisvollen Fehler seiner Frau muss McCoy die Flucht aber neu organisieren, was vermehrt zu Spannungen und Misstrauen zwischen dem Paar führt. Mittlerweile hängt ihnen nicht nur Torrento, sondern auch die Polizei an den Fersen… 
„Doc hatte das Gefühl, sich haltlos im Kreis zu drehen. Sosehr es ihn auch drängte, Carol zu glauben – die Zweifel wollten sich nicht ausräumen lassen. Er gestand sich, dass dieser fast krankhafte Argwohn Teil seines Wesens war. Als Berufsverbrecher konnte er es sich einfach nicht leisten, jemandem völlig zu vertrauen. Und Untreue grenzte in seiner Vorstellung an Verrat und war entweder ein Zeichen für eine gefährliche Charakterschwäche oder für einen Treuebruch, was nicht minder gefährlich war. Jedenfalls bildete die Frau ein Risiko in einem Spiel, das kein Risiko duldete.“ (S. 86) 
In erster Linie scheint Jim Thompson, der als kurzweiliges Mitglied der kommunistischen Partei unter der McCarthy-Ära zu leiden hatte und als Alkoholschmuggler seine eigenen Erfahrungen mit einem Leben am Rande der Legalität sammelte, in „Getaway“ die Flucht eines Ehepaars zu beschreiben, das sich in den vier Jahren, die Doc McCoy im Zuchthaus verbrachte, nicht nur entfremdet hat, sondern sich während der Flucht und des Carols nahezu unverzeihliches Missgeschick die Beute zwischenzeitlich an einen Betrüger aus den Augen verloren zu haben, immer wieder versichern muss, dass die Beziehung noch funktioniert, dass man einander vertraut und liebt, folglich unentbehrlich für einander ist. 
Doch Thompson nutzt seine Gangster-Ballade auch dazu, ein äußerst düsteres Bild eines Staates zu zeichnen, in dem sich die meisten Menschen in öden Jobs abrackern müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wie konträr sich die hart arbeitende Bevölkerung und die Gangster gegenüberstehen, macht Thompson schon zu Beginn deutlich, wenn er Doc McCoy unter falschem Namen im Beacon City Hotel charmant mit großzügigen Trinkgeldern um sich werfen lässt, während ihm die Hotelangestellten unterwürfig jeden Wunsch von den Lippen abzulesen versuchen. 
Die Vorbereitung und die Durchführung des Banküberfalls nimmt in gebührender Kürze geschildet und bildet für Thompson nur die Ausgangssituation, nach der sich nicht nur McCoy und Torrento misstrauisch beäugen, sondern vor allem McCoy und Carol den Stand ihrer Ehe auf den Prüfstein stellen. Indem der Autor immer wieder geschickt die Perspektiven wechselt, macht er deutlich, aus welch unterschiedlichen Welten die beiden stammen. Carol wird beispielsweise als ehemalige Bibliothekarin beschrieben, die bei ihren spießigen Eltern in einem leblosen Zuhause lebte, einem leblosen Job nachging und in ihrem altjüngferlichen Dasein einigelte. McCoy ist dagegen durch und durch ein Verbrecher mit Leib und Seele. 
Die Spannung des gerade mal 220-seitigen Romans ergibt sich fast schon weniger aus der Frage, ob dem Paar die Flucht nach Mexiko gelingt, sondern ob die beiden das Ziel wohl gemeinsam erreichen oder ob einer der beiden lieber eigene Wege geht. Bemerkenswert ist zudem, wie Thompson das Verbrecher-Milieu mit dem des Arbeiter-Milieus vergleicht, mit einer ausgeprägten Arbeitsmoral, nach der Dinge einfach getan werden müssen, und einem Ehrenkodex, nach dem man Freunde nicht im Stich lässt. Dass das Verbrechertum allerdings auch nicht ein unbeschwertes Leben garantiert, müssen Thompsons Protagonisten auf die harte, oft tödlich endende Tour erfahren.


 

Peter Straub – „Der Hauch des Drachen“

Freitag, 3. Juni 2022

(Bastei Lübbe, 702 S., Tb.) 
Von der allmächtigen Präsenz seines berühmten Kollegen Stephen King überschattet, gelang es Peter Straub leider nie so recht, auch hierzulande ordentlich Fuß zu fassen. Dabei bewies er bereits mit seinen ersten Horrorromanen „Geisterstunde“ und „Schattenland“, dass er zu den echten Größen des Genres zählt. Diese Qualität konnte er in vielen seiner nachfolgenden Werke leider nicht aufrechterhalten, aber die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ machte durchaus deutlich, dass beide Schriftsteller in der gleichen Liga spielen. Noch vor „Der Talisman“ (1984) erschien 1982 mit „Der Hauch des Drachen“ Peter Straubs bis dato epischstes Werk, dessen billig aufgemachte Taschenbuch-Erstauflage bei Bastei Lübbe darüber hinwegtäuscht, dass Straub hier einen fesselnden und stilistisch anspruchsvollen Horror-Roman vorgelegt hat. 
Nach zwölf Jahren, in denen sie in London gelebt haben, beziehen Richard Allbee, ehemaliger Kinderstar der Fernsehserie „Daddy’s Here“, und seine Frau Laura im Mai 1980 ein Mietshaus in Hampstead. Richard hatte ebenso Vorfahren im Patchin County wie Clark Smithfield, der zwei Wochen zuvor mit seiner Frau und seinem Sohn Tabby in ein altes Haus im Kolonialstil in der Hermitage Road eingezogen war. Währenddessen arbeitet der Schriftsteller Graham Williams verzweifelt an seinem neuen Roman, Patsy McCloud verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von „War and Rememberance“, und Leo Friedgood befindet sich auf der Interstate 95 nach Woodville, wo er dem Werk von Telpro einen Besuch abstattet. Dort erfährt er, dass ein Gas mit dem Codenamen DRG-16 in großen Mengen ausgetreten sei. Leos Frau Stony angelt sich derweil in einer Bar einen neuen Liebhaber, die Journalistin Sarah Spry schreibt an ihrer Kolumne für die „Hampstead Gazette“. 
Hampstead ist eine relativ junge Stadt. Ihre Wurzeln liegen in den Familien Williams, Smith, Green und Taylor, die 1640 am Beachside Trail siedelten. Fünf Jahre darauf stieß ein Mann namens Gideon Winter hinzu, der sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit bald den Namen „Drachen“ einhandelte. Zwei Jahre nach seiner Ankunft raffte eine schreckliche Missernte fast alles Vieh dahin, wenig später waren nahezu alle Kinder tot. Über die Jahre war Hampstead immer wieder von Gewaltausbrüchen heimgesucht worden, die sich ziemlich genau alle dreißig Jahre wiederholen. Auf den Schwingen der sich über Hampstead ausbreitenden tödlichen Gaswolke wird das Böse in der Stadt auf grausame Weise erneut entfesselt. Kinder und Jugendliche ertränken sich im Meer, Herzinfarkte raffen nicht nur ältere Menschen dahin. Die Nachfahren der vier ursprünglichen Familien sind nun wieder allesamt in Hampstead versammelt, so wie Gideon Winter 1924 in der Gestalt des Hummerfischers Bates Krell ebenfalls zurückgekommen zu sein schien, nun hat der Arzt Dr. Van Horne diese Rolle übernommen und bringt die Frauen der Gemeinde um. Williams, McCloud, Allbee und dem jungen Tabby bleibt nicht viel Zeit, um dem „Drachen“ zu zerstören. 
„Das Wesen, das einst Dr. Van Horne war, saß in seinem abgedunkelten Wohnzimmer und schaute in den alten Spiegel, den der Arzt gekauft hatte. Was er in dem Spiegel sah, waren Szenen der Zerstörung und des Ruins – rauchende Trümmer und die Reste zerborstener Wände – die zeitlosen Szenen der Vernichtung. Aufgerissene Straßen, die sich zu unpassierbaren Haufen von Betonbrocken getürmt hatten, Brücken, die in das Wasser gesunken waren, das sie hätten überspannen sollen, noch glühende Aschenhaufen, um die herum Flammen züngelten, wenn ein kalter Wind hindurchfuhr, brodelnder Qualm, wenn der Wind sich wieder legte…“ (S. 424) 
Es ist – zugegeben – nicht ganz leicht, in Peter Straubs 700-Seiten-Epos über die Zerstörung einer Stadt hineinzukommen. Mit der Vorstellung unzähliger Figuren, die im weiteren Verlauf oftmals keine Rolle mehr spielen, weil sie getötet worden sind, und Zeitsprüngen zwischen den 1960er, 1970er Jahren sowie der 1980 spielenden Gegenwart legt Straub einen holprigen Start hin, der seinen Lesern Konzentration und Geduld abverlangt. Doch sobald sich das Geschehen auf das Quartett fokussiert, das am Ende den persönlichen Kampf gegen den „Drachen“ aufnimmt, entfaltet der Autor gekonnt ein apokalyptisches Szenario, in dem die Gaswolke letztlich nur als Katalysator dient, um das Böse zu entfesseln. 
Bei der Art und Weise, wie Zerstörung und Gewalt in Hampstead um sich greifen, erweist sich Straub als äußerst phantasievoll, bringt Slasher-Horror, Zombie-Apokalypse und sogenannte „Triefer“ zusammen, denen man eigentlich mit Mitleid begegnen müsste. Das Finale zieht sich leider ebenso in die Länge wie die Einführung, aber dafür sind Straub die Charakterisierung seiner Figuren wunderbar gelungen, und er versäumt es nicht, die schrecklichen Ereignisse sprachlich anspruchsvoll vor den Augen seines Publikums auszubreiten. Trotz einer Längen und unnötig komplexer Struktur ist Straub mit „Der Hauch des Drachen“ ein nicht nur epischer, sondern überwiegend mitreißender Horror-Roman gelungen, der es mit Kings Epen „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Es“ aufnehmen kann. 

 

James Patterson – „Die 17. Informantin“

Dienstag, 31. Mai 2022

(Limes, 382 S., Pb.) 
Seit seinem 1976 erschienenen und gleich mit dem Edgar Allan Poe Award für das Beste Erstlingswerk ausgezeichneten Thriller „The Thomas Berryman Number“ (dt. „Der Auftrag“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Patterson vor allem mit seiner 1993 initiierten Reihe um den Psychologen und Detective Alex Cross in die Herzen der Thriller-Fans geschrieben. Aber auch die Bücher um den „Women’s Murder Club“ oder „Club der Ermittlerinnen“, die 2001 mit „1st to Die“ ihren Anfang nahm, finden sich regelmäßig auf den Bestseller-Listen wieder. Mit „Die 17. Informantin“ liegt nun schon der 17. Titel der Reihe vor. 
Yuki Castellano, stellvertretende Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, bekommt einen äußerst interessanten Fall auf den Tisch. Der Werbeproduzent Marc Christopher wirft seiner direkten Vorgesetzten Briana Hill, mit der er auch einige Zeit lang liiert gewesen ist, vor, dass sie ihn mit vorgehaltener Pistole zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Zwar zeigt sich Castellanos Chef, Leonard „Red Dog“ Parisi, etwas skeptisch, was die Erfolgsaussichten betrifft, steht aber voll hinter seiner engagierten Staatsanwältin. 
Da Christopher zum einen die angezeigte Vergewaltigung mit einer in seinem Wecker installierten Kamera gefilmt hat und zum anderen mit Paul Yates einen Kollegen als Zeugen benennt, der ebenfalls seine Erfahrungen mit Hill machen durfte, sieht Castellano sowohl der Anhörung vor der Grand Jury als auch dem anschließenden Prozess gelassen entgegen. Doch als Christopher seine Aussage vor Gericht unnötig ausschmückt, beginnt Castellano an der Glaubwürdigkeit des Werbefilmproduzenten zu zweifeln. 
Währenddessen wird ihre Freundin Lindsay Boxer, Detective beim San Francisco Police Department, von der Obdachlosen Millie Cushing auf mehrere Morde an Obdachlosen hingewiesen, für die allerdings die Kollegen im Bezirk Mitte zuständig sind. Als sie zusammen mit ihrem Partner Richard Conklin Informationen zu den Morden sammelt, bekommt Boxer den Eindruck, dass ihre Kollegen Stevens und Moran wenig tun, um die Morde aufzuklären. Doch Boxer kommt mit ihren eigenen Ermittlungen zu den Mordfällen auch nicht voran. 
„Das Tatmuster dieses Täters bestand darin, wehrlose Obdachlose in der Dunkelheit und aus nächster Nähe zu erschießen, und zwar irgendwo, wo es keine Überwachungskameras gab. Und dann puff. Vom Winde verweht. Dass dieser Irre so dicht an seine Opfer herangekommen war, bedeutete, dass sie keine Angst vor ihm gehabt hatten. Sie hatten nicht geschrien, waren nicht weggelaufen, hatten sich nicht gewehrt. Vielleicht kannten sie ihn. Vielleicht war er sogar einer von ihnen.“ (S. 255) 
James Patterson und seine seit Jahren bewährte Co-Autorin Maxine Paetro folgen in „Die 17. Informantin“ bewährten Mustern. Die parallel entwickelten Handlungsstränge der Ermittlungen zu den Morden an den Obdachlosen und der Prozess gegen Briana Hill wegen Vergewaltigung sorgen durch die bewährt kurzen, meist drei- bis vierseitigen Kapitel, für hohes Tempo, die schlichte Sprache lässt den Leser quasi durch den Plot fliegen. 
Im Gegensatz zu den immer globaleren Schreckensszenarien, denen sich Alex Cross gegenübersieht, gefällt die Plot-Struktur in der „Women’s Murder Club“-Reihe nach wie vor durch ein bodenständiges und glaubwürdiges Setting. Allerdings geben sich Patterson/Paetro kaum noch Mühe mit der Figurenzeichnung. Die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Reporterin Cindy Thomas werden hier nur am Rande erwähnt. Bei Yuki Castellano kommen noch Beziehungsprobleme mit ihrem abwesend wirkenden Mann Brady ins Spiel, bei Lindsay gesundheitliche Probleme – das war’s. 
So bietet „Die 17. Informantin“ flott und routiniert inszenierte Thriller-Kost, die allerdings ohne jeglichen Tiefgang auskommt. 

Joe Hill – „Vollgas“

Sonntag, 29. Mai 2022

(Festa, 478 S., eBook) 
Um sich von dem Namen seines übermächtigen Vaters, Horror-Ikone Stephen King, zu emanzipieren, schreibt Joseph Hillström King seit jeher unter dem Pseudonym Joe Hill, hat sich aber mit Romanen wie „Blind“, „Teufelszeug“ und „Christmasland“ längst aus dem Schatten des Mannes lösen können, der wie kein Zweiter die moderne Horror-Literatur geprägt hat. Während sein Vater mit Joe Hills jüngeren Bruder Owen King schon den epischen Roman „Sleeping Beauties“ zusammen geschrieben hat, ist es bei Joe Hill und Stephen King bislang nur bei Kurzgeschichten zu einer Zusammenarbeit gekommen, die sich in dem von Festa herausgegebenen Band „Vollgas“ in Form zweier eindrucksvoller Geschichten wiederfindet. Die übrigen elf Geschichten können das hohe Niveau der beiden Gemeinschaftsarbeiten allerdings nicht immer halten. 
Mit der gemeinsam geschriebenen Geschichte „Vollgas“, die von HBO verfilmt werden soll, nimmt die Sammlung immerhin gleich ordentlich Fahrt auf. Nach einem unerfreulichen Zwischenfall, bei dem ein junges Mädchen und Roy Klowes auf brutale Weise getötet wurden, befindet sich die Bikergang The Tribe von Vince Adamson und seinem rebellischen Sohn Race auf der Fahrt nach Vegas und macht im Painted Desert Halt, wo sich die Truppe über ihr weiteres Vorgehen abstimmen muss. Dean Clarke hatte vor, mit einem Startkapital von 60.000 Dollar mit Race ein Meth-Labor in Smith Lake aufzubauen, wozu ihm Vince mit zwanzig Riesen aushalf, doch das Labor brannte bereits am ersten Betriebstag aus. Nun will sich Race die 60 Riesen von Clarkes Schwester in Show Low zurückholen. Nachdem ein Truckfahrer die Unterhaltung mitverfolgt hat, macht er sich mit seinem Truck zunächst vom Acker. Als der Tribe eine Stunde später wieder auf den Truck stößt, macht der Fahrer nach und nach kurzen Prozess mit den Gang-Mitgliedern… 
Im Nachwort macht Joe Hill keinen Hehl daraus, dass „Vollgas“ von Richard Mathesons fabelhafter Geschichte inspiriert wurde, die der junge Steven Spielberg als „Duell“ verfilmt hat. Auch wenn „Vollgas“ wenig originell wirkt, hat sie doch das nötige Tempo und den Nervenkitzel, um überzeugen zu können. 
In „Das Karussell“ besucht der 18-jährige Paul mit seiner Freundin Geri, ihrem Bruder Jake und dessen Freundin Nancy das am Ende des Cape Maggie Piers gelegene Karussell „Wild Wheel“, dessen Tiere eine verstörende Kollektion grotesker Wesen darstellen. Der Karussellmann hat zu jedem der ungewöhnlich aussehenden Tiere eine exklusive Geschichte parat. Nach ein paar Runden auf dem Karussell lassen sich die vier Freunde weiter durch den Freizeitpark treiben, bis Nancy feststellt, dass ihr ein nagelneuer Fünfziger abhandengekommen ist. Kaum spricht Paul die Vermutung aus, dass der Karussellmann dafür verantwortlich gewesen sein könnte, als er Nancy auf das Pferd half, nimmt Jake dem mittlerweile seinen Rausch ausschlafenden Karussellbetreiber zwei Zwanziger ab, doch wenig später entwickeln die Tiere des Wild Wheel ein furchterregendes Eigenleben… 
In „Wolverton Station“ begegnen uns während einer Zugfahrt Wölfe in Menschengestalt, „An den silbernen Wassern des Lake Champlain“ bekommen wir eine Variation des Ungeheuers von Loch Ness vorgesetzt, in „Faun“ trifft sich eine exklusive Großwild-Jäger-Truppe. Nach diesen wenig inspirierenden Geschichten taucht mit „Überfällig“ wieder ein echtes Highlight auf. 
Nachdem sich seine Eltern gemeinsam in dem Auto bei laufendem Motor in ihrer Garage aus dem Leben geschieden sind, hat John Davies seinen Job als Fahrer bei einer Spedition verloren und bekommt zufällig die Möglichkeit, in der Bücherei, in die er das längst überfälliges Buch „Eine wunderbare Geschichte“ seiner Mutter zurückbringen wollte, den Büchereibus zu fahren. Doch seine Kunden scheinen oft aus einer anderen Zeit zu kommen…
 „Die Möglichkeit, dass jemand aus den 60er Jahren aufgetaucht sein könnte, um ein überfälliges Buch zurückzugeben und vielleicht neuen Lesestoff auszuleihen, hatte nicht die Wirkung auf mich, die man vielleicht erwarten würde. Ich hatte keine Angst, zu keinem Zeitpunkt. Ich war nicht beunruhigt. Eher verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit und auch eine gewisse mild amüsierte Verwirrung.“ (S. 203) 
Mit „Meine Welt dreht sich nur um dich“ präsentiert Hill eine unterhaltsame Science-Fiction-Geschichte über ein Mädchen, das zu seinem Geburtstag von seinem Vater eine Kristallkugel mit einer hässlichen Meerjungfrau geschenkt bekommt, zur Feier des Tages aber einen Münz-Freund mietet, der ihr eine Stunde lang wie Aladins Flaschengeist nahezu alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Gemeinsam machen sie sich zur Spitze der Speiche auf, um einen echten Sonnenuntergang zu erleben. Doch damit ist das Abenteuer noch längst nicht vorbei… „Tweets aus dem Zirkus der Toten“ verbindet auf intelligente, satirisch angehauchte Weise klassischen Horror mit den Tücken moderner Kommunikationskanäle, in „Mums“ wird die Leiche der beerdigten Mutter von Jack durch eine ungewöhnliche Samen-Mischung zu unnatürlichen Leben wiedererweckt. 
Die wiederum mit Stephen King verfasste Geschichte „Im hohen Gras“ erzählt von der Fahrt, die Cal DeMuth mit seiner im sechsten Monat schwangeren Schwester Becky von Portsmouth zu Onkel Jim und Tante Anne nach San Diego unternehmen und dabei auf dem Parkplatz einer Kirche aus dem nahegelegenen Feld den Hilferuf eines Jungen vernehmen. Doch als Becky und Cal dem Ruf in das hohe Gras folgen, erwartet sie das pure Grauen… 
Ebenso interessant wie die besten Geschichten in diesem Band sind das Vorwort und die Anmerkungen zum Schluss, in denen Joe Hill davon schreibt, wie er als Sohn eines so berühmten Vaters seine ersten eigenen Versuche, Schriftsteller zu werden, bewerkstelligte und welche Personen, Schriftsteller und Geschichten ihn selbst inspiriert haben. Die Geschichten sind in einem Zeitraum von über einem Jahrzehnt entstanden und decken ein breites Spektrum an Themen ab, sind dabei aber unterschiedlich in Spannungsaufbau, Atmosphäre und Auflösung. Da mindestens die Hälfte der Geschichten großartig unterhalten, sind die weniger interessanten durchaus zu verschmerzen.  

David Baldacci – (Atlee Pine: 4) „Abgerechnet“

Mittwoch, 25. Mai 2022

(Heyne, 480 S., HC) 
Seit seinem 1996 veröffentlichten und von - und mit - Clint Eastwood (unter dem Titel „Absolute Power“) verfilmten Debütroman „Der Präsident“ ist David Baldacci zu einem der erfolgreichsten Thriller-Autoren avanciert, wobei er seine Fans vor allem mit interessanten Charakteren fesselt, deren Abenteuer gleich in Serie verfolgt werden können. In den letzten Jahren hat der US-Amerikaner sein Publikum mit der FBI-Agentin Atlee Pine bekannt gemacht, die seit dreißig Jahren auf der Suche nach ihrer verschwundenen Zwillingsschwester Mercy ist, die im Alter von sechs Jahren entführt worden ist, während Atlee selbst mit einer schweren Kopfverletzung gerade so mit dem Leben davongekommen ist. Nach den drei Bänden „Ausgezählt“, „Abgetaucht“ und „Eingeholt“ kommt die Reihe um die sympathische wie kämpferische Atlee Pine nun mit „Abgerechnet“ zu ihrem Abschluss. 
In den letzten Jahren ihrer Suche ist die FBI-Agentin, die mit ihrer Assistentin und Freundin Carol Blum eine Außenstelle in der Nähe des Grand Canyon in Arizona betreibt, ein großes Stück vorangekommen. Besonders hoffnungsvoll stimmt sie die Entdeckung, dass ihre Schwester noch lebt. Ihren bisherigen Ermittlungen nach ist Mercy von einem Mann namens Ito Vincenzo entführt und zu dem Ehepaar Joe und Desiree Atkins gebracht worden, die das Mädchen Rebecca Atkins nannten, gefangen hielten und misshandelten. Vicenzos Bruder, ein Mafioso, wollte sich mit dieser Aktion an Julie Pine, der Mutter der beiden Mädchen, rächen, da sie als Maulwurf für eine Regierungsbehörde dafür gesorgt hatte, Mafiafamilien zu Fall zu bringen. 
Atlee fand ein Foto, auf dem Mercy als ungefähr Vierzehnjährige zwischen Joes Eltern, Len und Wanda Atkins, zu sehen war. Außerdem ist sie auf ein Video der Überwachungskamera gestoßen, dass Mercy dabei zeigt, wie sie aus ihrem Gefängnis bei der Familie ausgebrochen ist. Mit einem Standbild aus dem Video startete sie einen Suchaufruf über das FBI, der allerdings ergebnislos blieb. Eine andere Spur erwies sich als vielversprechender. Ihr leiblicher Vater, Jack Lineberry, verfügt über nahezu grenzenlose finanzielle Mittel und stellt Atlee alles zur Verfügung, was sie für ihre weitere Suche nach Mercy benötigt. Pine findet zum einen heraus, dass in dem Sarg, in dem Tim Pine liegen sollte, Mercys Entführer begraben worden ist, zum anderen, dass nicht Mercy für den Mord an ihrem Peiniger Joe Atkins verantwortlich gewesen ist, sondern Desiree, die seitdem spurlos verschwunden ist. 
Während Atlee über Wanda Atkins die Spur zu Desiree aufnimmt, schlägt sich Mercy als Eloise „El“ Cain mit Jobs als Staplerfahrerin, bei einem Sicherheitsdienst und illegalen Kämpfen in Mixed Martial Arts durchs Leben. Als sie in einem Motel beobachtet, wie ein grobschlächtiger Mann seine zierliche Freundin misshandelt, schlägt sie ihn so nieder, dass er später an einem Hirnaneurysma verstirbt. Das bringt den rachsüchtigen Bruder, Peter Buckley, auf den Plan, dem zwar bewusst ist, dass sein Bruder Ken selbst für den Schlamassel verantwortlich ist, den er sich eingebrockt hat. Doch da er zur Familie gehörte, will er seinen Tod rächen, wozu er die ehemalige FBI-Agentin Britt Spector engagiert. Das Wiedersehen zwischen Mercy und Atlee findet so unter denkbar ungünstigen Bedingungen statt. Vor allem für Mercy bedeutet das Wiedersehen eine große Umstellung in ihrem bisherigen Leben. 
„Es hatte nie jemanden gegeben, der ihr wirklich wichtig war, weil da niemand war, dem sie wichtig war. Wenn man sein Leben nach diesen Prinzipien führte, kamen einem so grundlegende Gefühle wie Liebe und Zuneigung abhanden. Sie verkümmerten wie Muskeln, die nicht gebraucht wurden. Statt echte Bindungen einzugehen, hatte Mercy sich darauf beschränkt, anderen, die zum Treibgut der Gesellschaft gehörten, ab und zu mit ein paar Münzen auszuhelfen.“ (S. 379f.) 
Mit Atlee Pine hat David Baldacci eine faszinierende Figur geschaffen, deren familiärer Hintergrund bereits so außergewöhnlich genug ist, um daraus eine Romanhandlung zu kreieren. Aber die Beziehungen zwischen Tim und Julie Pine auf der einen und Atlees leiblichen Vater Jack Lineberry auf der anderen Seite bilden nur das – wenn auch komplex verschachtelte – Gerüst für die langjährige Suche der einzelgängerischen FBI-Agentin nach ihrer Schwester Mercy. 
Hier stehen ihr nicht nur die Ressourcen des FBI und ihres Kollegen von der Militärstrafverfolgungsbehörde CID, John Puller, zur Verfügung, sondern auch die Unterstützung ihres leiblichen Vaters. Der Thriller-Plot kommt aber durch den unglücklichen Zusammenstoß zwischen Mercy und dem Bruder eines rachsüchtigen Geschäftsmannes zustande, der nicht nur den vermeintlichen Mord an seinem nichtsnutzigen Bruder rächen will, wie sich herausstellt. Die parallele Suche von Peter Buckley und Atlee Pine nach Mercy Pine sorgt für Tempo und Spannung, zumal bei der Gegenüberstellung der Parteien einiges an Action aufgeboten wird. 
Obwohl Baldacci hier leicht den Bogen überspannt und am Ende auch etwas rührselig wird, ist ihm letztlich ein souverän durchkomponierter und packender Thriller gelungen, der vor allem durch die Frauen-Power in Gestalt der beiden Schwestern, aber auch der abtrünnigen FBI-Agentin Britt Spector und natürlich Atlee Pines Assistentin Carol Blum zum Ausdruck kommt. Da haben die Männer nicht viel zu lachen. Alles in allem ist Baldacci mit „Abgerechnet“ ein würdiger Abschluss der Reihe um die hartnäckige FBI-Agentin Pine gelungen.  

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 5) „Kalt wie dein Herz“

(Diogenes, 512 S., Pb.) 
Auch wenn Dennis Lehane hierzulande vor allem wegen seiner erfolgreich verfilmten Romane „Mystic River“ (Clint Eastwood, 2003), „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Ben Affleck, 2007) und „Shutter Island“ (Martin Scorsese, 2009) bekannt geworden ist, gingen seine Bücher in seiner US-amerikanischen Heimat schlagartig häufiger über den Ladentisch, als Bill Clinton dabei gesehen wurde, wie er beim Aussteigen aus der Air Force One Lehanes Roman „Prayers for Rain“ in der Hand hielt. Es war der bereits fünfte, 1999 veröffentlichte Roman in der Serie um die Privatermittler Patrick Kenzie und Angela Gennaro, der hierzulande erstmals im Jahr 2001 unter dem Titel „Regenzauber“ erschien und nun in neuer Übersetzung von Peter Torberg als „Kalt wie dein Herz“ im Diogenes Verlag vorliegt. 
Im Februar empfing Patrick Kenzie zusammen mit seinem Kumpel Bubba die Klientin Karen Nichols, die sich von einem Stalker namens Cody Falk belästigt fühlte. Kenzie und sein schlagkräftiger Kumpel statteten Falk, der bereits einige Anzeigen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung auf seinem Konto aufwies, einen Besuch ab, der zur Folge haben sollte, dass Falk Karen Nichols in Ruhe ließ. Alles schien in Ordnung zu sein, doch nach ungefähr vier Wochen hinterließ Nichols eine Nachricht auf Kenzies Anrufbeantworter, auf die sich der Privatermittler nicht zurückmeldete, weil er mit seiner gerade angesagten Liebschaft, der Rechtsanwältin Vanessa Moore, auf die Bahamas fliegen wollte. Monate später erfährt Kenzie aus dem Radio, dass seine frühere Klientin nackt von der Aussichtsplattform des Costum House in den Tod gesprungen ist. 
Als sich Kenzie vor allem aus Schuldbewusstsein mit den näheren Umständen von Nichols’ Tod befasst, stößt er auf die Nachricht, dass ihr Freund David Wetterau in der Rushhour bei Rot über eine Straße ging, stolperte und von einem Auto so unglücklich erfasst wurde, dass er seitdem im Koma liegt. Karen Nichols fiel anschließend in ein tiefes seelisches Loch, verlor erst ihre Arbeit, dann ihr Auto und schließlich auch ihre Wohnung, danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt, mietete sich ein Motelzimmer und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. 
Für weitere Ermittlungen schließt sich Kenzie mit seiner alten Partnerin und Lebensgefährtin Angie Gennaro zusammen, die nach dem letzten desaströs verlaufenden Fall aus Kenzies Wohnung und Leben verschwunden ist, aber offenbar hängen die beiden noch sehr aneinander. Als sie Nichols‘ Mutter Carrie und Stiefvater Christopher Dawe aufsuchen, entfaltet sich allmählich das ganze Ausmaß der Tragödie, die mit einem Kindestausch begann und über den Tod von Karens Schwester über Erpressung führte. Dabei scheint auch Nichols‘ Psychiaterin Dr. Diane Bourne nicht ganz unschuldig gewesen zu sein, die nicht nur Beziehungen zu ihren Patienten und ihrem Sekretär Miles Lovell unterhielt, sondern auch vertrauliche Informationen durchsickern ließ. Schließlich stoßen Kenzie und Gennaro auf einen Psychopathen, der vor wirklich nichts zurückschreckt, um die Dawe-Familie zu vernichten. 
„Ich wusste nicht viel über ihn – wusste nicht, wie er hieß oder wie er aussah -, aber so langsam bekam ich ein Gespür für ihn. Es handelte sich, da war ich mir sicher, um den Mann, den Warren Martens im Motel gesehen und als denjenigen beschrieben hatte, der die Fäden in der Hand hielt. Er hatte Karen Nichols vernichtet, und nun hatte er Miles Lovell vernichtet. Seine Opfer einfach nur umzubringen schien ihn zu langweilen – stattdessen zog er es vor, sie in einem Zustand zurückzulassen, in dem sie sich selber wünschten, tot zu sein.“ (S. 249) 
Lehanes 1994 begonnene und sechs Bände umfassende Reihe um Kenzie und Gennaro zählt zu den besten Krimi-Serien überhaupt. Mit „Gone Baby Gone“ wurde der vierte und damit der „Kalt wie dein Herz“ direkt vorangegangene Roman von Ben Affleck mit Casey Affleck und Michelle Monaghan in den Hauptrollen auch erfolgreich verfilmt. An diese Qualität knüpft „Kalt wie dein Herz“ nahtlos an. Der Thriller thematisiert nicht nur die berufliche und vor allem private Annäherung der langjährigen Partner Kenzie und Gennaro, sondern auch einen besonders komplizierten Fall, in dem nicht nur munter mit falschen Identitäten gespielt wird, sondern Lügen, Mord, Entführung, Erpressung und Folter die Aufklärung des Falles in die Länge ziehen. 
Wie das aus Kenzie, Gennaro und dem skrupellosen Kriegsveteran Bubba Rogowski bestehende Trio die komplexen Zusammenhänge um Karen Nichols‘ Tod aufdröselt und den psychopathischen Täter systematisch in die Enge treibt, ist nicht nur packend mit sehr lebendigen Charakteren geschrieben, sondern auch mit der richtigen Portion Humor gewürzt. Das ist auch Peter Torbergs gelungener Neuübersetzung zu verdanken, der „Kalt wie dein Herz“ wie im Rausch durchlesen lässt. Besser kann Kriminalliteratur nicht sein! 

Peter Straub – (Blaue Rose: 2) „Koko“

Samstag, 14. Mai 2022

(Heyne, 559 S., Jumbo) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Straub hatte Anfang der 1970er Jahre mit seinen Mainstream-Romanen „Marriages“ (dt. „Die fremde Frau“) und „Under Venus“ (dt. „Das geheimnisvolle Mädchen“) zunächst noch mäßigen Erfolg, ehe er 1975 mit „Julia“ erstmals einen übernatürlichen Thriller präsentierte. In diesem Genre erreichte er mit den nachfolgenden Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“ und „Der Hauch des Drachen“ eine größere Popularität, bevor er durch seine Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ auch hierzulande zu einer wichtigen Stimme der phantastischen Literatur avancierte. Der nachfolgende Roman „Koko“ bescherte Straub schließlich seinen ersten World Fantasy Award
Der Kinderarzt Michael Poole ist im Sheraton Hotel in Washington, D.C., mit seinen Vietnamkriegskameraden verabredet, um gemeinsam an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Während er sich auf das Treffen mit seinem ehemaligen Lieutenant, Harry „Beans“ Beevers, Tina Pumo, dem Besitzer eines vietnamesischen Restaurants, und Conor Linklater vorbereitet, muss er an zwei weitere Kameraden denken, die er in Vietnam kennen und schätzen gelernt hat, den mittlerweile erfolgreichen Schriftsteller Tim Underhill und Manuel Orosco „M.O.“ Dengler, der bei einem Autounfall ums Leben kam, als er zusammen mit seinem Kameraden Victor Spitalny Fronturlaub in Bangkok machte. 
Bei ihrem Zusammentreffen kommt die Sprache sehr schnell auf eine Mordserie in Fernost, zu der Harrys noch als Berufssoldaten aktiven Brüder entsprechende Zeitungsberichte sammelten. Den Opfern wurden nicht nur Augen und Ohren entfernt, sondern auch Spielkarten in den Mund gelegt, auf denen neben kryptischen Botschaften der Name „Koko“ stand. Die Vermutung liegt nahe, dass Tim Underhill hinter „Koko“ stehen könnte, also machen sich Poole, Linklater und Beevers auf nach Singapur, wo sie den Schriftsteller vermuten, während Pumo sich weiterhin um sein Restaurant kümmern muss. Doch als das Trio Underhill tatsächlich ausfindig macht, hat Koko bereits wieder zugeschlagen. Offensichtlich räumt der Killer alle Journalisten aus dem Weg, die über die grausamen Morde an vietnamesischen Kindern bei Ia Thuc im Jahr 1968 berichten wollten, an denen Beevers Trupp beteiligt gewesen ist. Zusammen mit Underhill machen sich die drei Veteranen auf die Rückreise in die USA, wo Koko bereits weitere Zeitzeugen zu töten begonnen hat… 
 „Ich habe einen kleinen Jungen erschossen, sagte sich Poole. Doch er wusste, dass er dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden würde. Lieutenant Beevers hatte ein kleines Mädchen so lange gegen einen Baum geschleudert, bis dem armen kleinen Wesen der Kopf zersprungen war. Spitalny hatte Kinder in einem Graben bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wollte man sie dafür bestrafen, so musste man schon den ganzen Zug vor das Kriegsgericht stellen. Auch das war ganz entsetzlich. Diese Untaten würden keine Folgen haben. Was sich sozusagen in einem luftleeren Raum abspielte, zählte nicht. Das war das Schlimme.“ (S. 332) 
Peter Straub hat mit „Koko“ vor allem einen Vietnam-Roman geschrieben. Die Erinnerungen an den sinnlosen Krieg mit seinen brutalen Verbrechen an der Zivilbevölkerung verfolgen die vier Protagonisten noch heute. Und auch wenn sie sich mittlerweile ein neues Leben aufgebaut haben, können sie die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Vor allem können sie nicht zulassen, dass das sinnlose Morden fortgesetzt wird. Straub nimmt sich viel Zeit, sowohl seine vier Protagonisten als auch ihre Erinnerungen an ihren Einsatz in Vietnam ausführlich zu beschreiben. Es geht aber nicht nur um gemeinsame Vergangenheitsbewältigung, sondern auch darum, eine Mordserie aufzuklären. Dabei kommt der Autor nahezu ohne übernatürliche Elemente aus, mit denen er seine Erfolgsromane so überzeugend gespickt hat. Die begangenen Kriegsverbrechen sind grauenvoll genug, um sie noch in einen phantastischen Kontext zu stellen. Geschickt wechselt Straub immer wieder die Erzählperspektive, recht früh auch schon zu Koko, dessen Identität über den ganzen Roman hinweg immer wieder Rätsel aufgibt. So ist mit „Koko“ ein psychologisch tiefgründiger und extrem spannender Mix aus Kriegsroman und Krimi-Thriller gelungen, der zu Straubs besten Werken zählt. Es ist der 2. Band der „Blaue Rose“-Reihe, die mit der gleichnamigen Novelle begann und nach „Koko“ mit „Mystery“ und „Der Schlund“ fortgesetzt wurde. 

 

Dan Simmons – „Göttin des Todes“

Donnerstag, 5. Mai 2022

(Heyne, 318 S., Tb.) 
Dan Simmons hat den perfekten Start für seine Schriftsteller-Karriere hingelegt. Gleich mit seinem 1985 veröffentlichten Debüt „Song of Kali“ wurde er mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet und von Kollegen wie Dean Koontz („Der beste Erstlingsroman, den ich je gelesen habe“) und Stephen King hoch geschätzt. „Kein amerikanischer Autor der Gegenwart ist wie Dan Simmons befähigt, das Reale und das Irreale in gleichem Maße überzeugend zu verschmelzen“, wird Stephen King zitiert. Das trifft insbesondere auf Simmons‘ Debüt zu, das 1991 unter dem Titel „Göttin des Todes“ als deutsche Erstveröffentlichung erschien. 
Der amerikanische Schriftsteller Robert C. Luczak wird im uni 1977 von „Harper’s“ damit beauftragt, nach Kalkutta zu fliegen, um ein bisher unveröffentlichtes Manuskript des seit acht Jahren verschollenen bengalischen Dichters M. Das in Empfang ausfindig zu machen. Abe Bronstein, Herausgeber der kleinen Literaturzeitschrift „Other Voices“, für die Luczak überwiegend tätig ist, versucht vergeblich, seinen Freund von der Reise abzubringen. Für Luczaks Frau Amrita bietet die Reise zudem die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren und als potentielle Dolmetscherin tätig zu werden. 
Als Luczak mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen sieben Monate alten Tochter Victoria in Kalkutta landen, werden sie überraschenderweise von einem gewissen M.T. Krishna in Empfang genommen, der für einen verhinderten Freund des indischen Schriftstellerverbandes eingesprungen ist und sich als Teilzeitlehrer mit guten Kontakten zu Education Foundation der Vereinigten Staaten in Indien vorstellt. Am nächsten Morgen wird Luczak von Michael Leonard Chatterjee empfangen, der ihm als Vertreter des Schriftstellerverbandes von Bengalen versichert, dass M. Das noch lebe, doch von einem persönlichen Treffen zwischen Luczak und dem Bengalidichter will der Verband nichts wissen. Viel interessanter scheint die von Krishna arrangierte Begegnung mit dem Studenten Jayaprakesh Muktanandaji zu sein, der dem Amerikaner von einem Initiationsritus erzählt, bei dem die Kapalikas von jedem neuen Mitglied die Opferung einer menschlichen Leiche vor dem Standbild der Kali im Tempel der Kapalikas fordern. 
Im Laufe der Zeremonie wird diese Leiche durch Kali wiedererweckt. Als Luczak endlich das M. Das zugeschriebene Manuskript erhält, verbringt er eine schlaflose Nacht damit, das lange, verstörende Gedicht zu lesen, das sich ausführlich der hinduistischen Göttin des Todes und der Zerstörung widmet. Nun drängt Luczak sehr vehement darauf, M. Das persönlich zu treffen, worauf sich der in die Defensive getriebene Schriftstellerverband schließlich einlässt. Doch die Begegnung mit Das erschüttert Luczak zutiefst… 
„Ich habe eine Theorie zu Kalkutta entwickelt, obwohl Theorie eine zu hochtrabende Bezeichnung für eine intuitive Meinung ist. Ich glaube, es gibt Schwarze Löcher in der Wirklichkeit. Schwarze Löcher in der menschlichen Seele. Und tatsächlich Orte, wo aufgrund der Dichte von Elend oder schierer menschlicher Perversion die Beschaffenheit der Welt einfach auseinanderfällt und der schwarze Kern in uns alles andere verschlingt.“ (S. 314) 
Auch wenn der amerikanische Schriftsteller und Redakteur Robert Luczak die Hauptfigur in „Göttin des Todes“ verkörpert, nimmt die unheilvolle Atmosphäre in der indischen Metropole Kalkutta doch eine ebenso bedeutende Rolle ein. Simmons hält sich nicht lange mit einer Einführung auf, stellt nur kurz den Verleger Bronstein und den Ich-Erzähler Luczak vor, der sich bereits mitten in den Vorbereitungen für die Reise befindet. Die eigentliche Geschichte beginnt schließlich auch erst in Kalkutta, wo Luczak nicht nur mit dem allgegenwärtigen Elend konfrontiert wird, sondern auch etliche obskure Menschen kennenlernt, die das Mysterium um den seit Jahren verschwundenen Dichter M. Das nur intensivieren. 
In der detaillierten Beschreibung von Kulkuttas Atmosphäre und den dort verwirrenden Vorgängen liegt die Stärke von „Göttin des Todes“. Simmons liefert dabei auch einige eindringliche Beschreibungen der Riten rund um diese zerstörerische Göttin, konfrontiert seinen Protagonisten direkt mit ihrem Auftreten in seinen Träumen und legt so gekonnt die Grundlage für einen zunehmend verstörenden Plot, der nur durch den allzu versöhnlichen zu einem nicht ganz überzeugenden Schluss geführt wird. Simmons legte mit diesem atmosphärisch dichten Horror-Drama den erfolgreichen Start für seine Karriere, in der die Horror-Romane „Sommer der Nacht“, „Kinder der Nacht“ und „Kraft des Bösen“ ebenso nachhaltigen Eindruck hinterließen wie die Science-Fiction-Sagen um „Hyperion“ und „Endymion“, die Joe-Kurtz-Thriller und die historischen Romane „Der Berg“, „Terror“ und „Drood“

 

John Grisham – „Der Verdächtige“

Dienstag, 3. Mai 2022

(Heyne, 416 S., HC) 
Allein die Tatsache, dass seine ersten sieben Romane – von „Die Jury“ und „Die Firma“ über „Die Akte“ und „Der Klient“ bis zu „Die Kammer“, „Der Regenmacher“ und zuletzt „Das Urteil“ – verfilmt worden sind, spricht Bände über den Erfolg des ehemaligen Rechtsanwalts und Bestseller-Autors John Grisham. Seit seinem im Original 1989 veröffentlichten Debüt „Die Jury“ liefert der bekennende Baptist und Demokrat nahezu jährlich einen Bestseller ab und kehrt nun hin und wieder auch zu Figuren aus früheren Romanen zurück. So ist Jake Brigance, Grishams Protagonist aus „Die Jury“, zunächst 2013 in „Die Erbin“ zurückgekehrt, um dann noch einmal in „Der Polizist“ einen 16-Jährigen vor der Todesstrafe zu bewahren. Lacy Stoltz wiederum hat als Anwältin bei der Gerichtsaufsichtsbehörde in Florida in „Bestechung“ einen aufsehenerregenden Korruptionsfall aufgeklärt, bei der eine Richterin jahrelang erhebliche Bestechungsgelder kassiert hat. Nun wird sie mit einem Fall konfrontiert, bei dem ein amtierender Richter mehrere Morde begangen haben soll, die nie aufgeklärt werden konnten. 
Seit ihrem Erfolg vor drei Jahren scheint die Karriere von Lacy Stoltz beim Board on Judicial Conduct (BJC), zuständig für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern, ins Stocken geraten zu sein. Die dienstälteste Mitarbeiterin weiß weder, wohin ihre Beziehung zum FBI-Beamten Allie führt, noch ob sie sich vielleicht beruflich verändern soll. 
Da erhält sie einen zunächst anonymen Anruf von einer Frau, die sich später als die sechsundvierzigjährige Jeri Crosby vorstellt, die als geschiedene und alleinlebende Professorin Politikwissenschaft an der University of South Alabama in Mobile lehrt. Sie behauptet, dass ihr Vater Bryan Burke, Juraprofessor im Ruhestand, von einem amtierenden Richter namens Ross Bannick ermordet worden sein soll. Da weder Spuren noch Motiv ausgemacht werden konnten, ist allerdings nie jemand der Tat verdächtigt worden. Doch damit nicht genug: Jeri hat keine Kosten und Mühen gescheut, um weitere fünf ungelöste Morde ausfindig zu machen, die mit der gleichen Methode ausgeübt worden sind. Den Opfern wurde zunächst der Schädel zertrümmert, dann mit einem Nylonseil erdrosselt, wobei der Druck mit einem doppelten Mastwurf gesichert wurde. 
Offensichtlich rächt sich Bannick an all jenen, die ihn im Laufe seines Lebens gekränkt haben. Dabei beweist er unglaubliche Geduld und Vorsicht, und da die Morde in mehreren Bundesstaaten begangen wurden, sind nie irgendwelche Zusammenhänge untersucht worden. Auch wenn sich Lacy anfangs sträubt, sich mit diesen Vorwürfen auseinanderzusetzen, muss sie mit ihrem Team dem Fall widmen, als Jeri offiziell Beschwerde gegen Bannick einreicht. Die Professorin fühlt sich hinter ihrer anonymen Fassade so sicher, dass sie Bannick aufzuscheuchen versucht, indem sie ihm Gedichte schickt, die auf seine verschiedenen Opfer verweisen, doch Bannick ist auch in technischer Hinsicht so versiert, dass er bald herausfindet, wer ihm das Leben gerade so schwer zu machen versucht… 
„Die Person, die ihm nachstellte, war kein Cop, kein Privatdetektiv, kein Kriminalschriftsteller, der sich auf echte Fälle verlegt hatte und auf Nervenkitzel aus war. Sie war selbst betroffen, jemand, der seit vielen Jahren im Dunkeln agierte, beobachtete, Material sammelte, Spuren verfolgte. Er war mit einer neuen Realität konfrontiert, und brillant, wie er war, würde er auch damit fertigwerden. Er würde das Opfer finden und den Briefen ein Ende setzen. Schluss mit den albernen Gedichten.“ (S. 249) 
Um Lacy Stoltz noch einmal im Fall eines richterlichen Fehlverhaltens ermitteln zu lassen, brauchte es schon einen spektakulären Fall, den er mit der offensichtlichen Mordserie eines Richters auch spektakulär in Szene zu setzen weiß. Dabei wechselt Grisham immer wieder die Perspektive von Lacy Stoltz und Jeri Crosby auf der einen und Richter Ross Bannick auf der anderen Seite. Die persönlichen Hintergründe der drei Protagonisten kommen dabei auch nicht zu kurz, gehen allerdings auch nicht besonders in die Tiefe.  
Grisham konzentriert sich ganz auf die Jagd nach Bannick, die vor allem darin besteht, endlich Beweise für die ihm vorgeworfenen Taten zu finden, wobei vor allem das FBI involviert wird. Das hohe Tempo und die Spannung durch das Katz- und Maus-Spiel lassen fast darüber hinwegsehen, dass die Figur des Richters nicht besonders glaubwürdig gezeichnet ist und die Motivation seiner Taten mehr als fragwürdig erscheint, der Schluss fällt sogar enttäuschend aus. Ein spektakulärer Fall macht noch keinen guten Thriller aus, aber Grisham schreibt immerhin so routiniert und hat mit den beiden tragenden Frauenfiguren zwei sympathische Charaktere geschaffen, dass Grisham-Fans dennoch auf ihre Kosten kommen. Interessant ist dabei vor allem die Vorstellung, dass gerade ein Mann, der das Gesetz schützen soll, zum Verbrecher geworden ist.  

Dan Simmons – „Terror“

Freitag, 29. April 2022

(Heyne, 990 S., HC) 
Seit seinem 1985 veröffentlichten, mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debüt „Song of Kali“ (1991 erstmals als „Göttin des Todes“ in deutscher Sprache erschienen) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem im Horror- und Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht. 2007 schlug er mit dem historischen Roman „Terror“ ein neues Kapitel in seiner Laufbahn auf, das 2009 mit „Drood“ und 2014 mit „Der Berg“ eindrucksvoll fortgesetzt wurde. Mit dem fast 1000 Seiten starken „Terror“ versucht Simmons das Mysterium zu klären, wie die über hundertköpfige Besatzung zweier Royal-Navy-Schiffe bei der Expedition zur Durchquerung der Nordwestpassage spurlos verschwinden konnten. 
Am 19. Mai 1845 nehmen zwei Schiffe der Royal Navy - die HMS Terror unter Leitung von Kapitän Francis Crozier und ihr etwas kleineres, von Sir John Franklin geführtes Schwesternschiff HMS Erebus – von London aus Kurs Richtung Norden, um mit der legendären Nordwestpassage einen kürzeren Seeweg über die Arktis in den Pazifischen Ozean zu finden. Für Sir John Franklin ist es als Expeditionsleiter vielleicht die letzte Möglichkeit, seine Karriere ruhmreich zu beenden, nachdem er bereits vor dreiundzwanzig Jahren erfolglos versucht hatte, die Nordwestpassage bei einer Überlandexpedition durch Nordkanada zu finden. Von den einundzwanzig Männern, mit denen Franklin 1819 aufgebrochen war, starben neun Männer, von denen mindestens einer von den anderen aufgegessen wurde. Doch auch der neuen Expedition ist wenig Glück beschieden. Obwohl die Schiffe mit dicken Eisenplatten gepanzert und mit Heißwasserheizungen und Dampfmaschinen ausgestattet sind, frieren sie im Winter im Packeis ein. Dabei wird die Erebus von den sich ständig bewegenden Eismassen so schwer beschädigt, dass sie aufgegeben werden muss. Im Kampf gegen Temperaturen von minus 70° Grad, gegen durch verdorbene und zur Neige gehende Lebensmittel verursachten Hunger, der zu etlichen qualvoll dahinsiechenden Skorbut-Opfern führt, und schließlich gegen die wachsenden Differenzen innerhalb der über 130-köpfigen Besatzung gibt es immer mehr Todesfälle zu beklagen. 
Nach nicht mal einem Jahr sind drei Männer bereits an Schwindsucht und Lungenentzündung gestorben. Die Situation spitzt sich zu, als im Winter keine offenen Fahrrinnen mehr im Eis auszumachen sind und sich diese auch im folgenden Sommer nicht auftun. Dabei spielt allerdings nicht nur die Kälte und der Hunger eine tragende Rolle, sondern offensichtlich auch ein schwer zu definierendes, riesengroßes Monster, das einige Männer auf brutale Weise tötet. Einzig die durch das Fehlen ihrer Zunge stumme Eskimo-Frau Lady Silence könnte den übrig gebliebenen Männern einen Ausweg bieten… 
„Die Aufgabe eines Schiffs war der Tiefpunkt im Leben jedes Kapitäns. Es war das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Und in den meisten Fällen war es auch das Ende der Laufbahn bei der Navy. Für viele Kapitäne, die Francis Crozier persönlich gekannt hatte, war es ein Schlag, von dem sie sich nie mehr erholten. Aber Crozier empfand keine Verzweiflung dieser Art. Noch nicht. Viel wichtiger für ihn in diesem Augenblick war die blaue Flamme der Entschlossenheit, die immer noch in seiner Brust brannte: Ich will leben.“ (S. 553) 
Wie Dan Simmons in seiner Danksagung erwähnt, hat der Autor eine ganze Reihe an Quellen zur Rate gezogen, um die gescheiterte Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage nachzeichnen zu können. Es ist aber vor allem Simmons‘ eindringlicher, vor Details strotzender Schreibstil, der die Beschreibung der Erlebnisse in den letztlich drei Jahren der Expedition bzw. des Überlebenskampfes der Männer so authentisch macht. Simmons nimmt dabei die wechselnden Perspektiven sowohl der beiden Kapitäne Sir John Franklin und Crozier als auch des Schiffsarztes Harry D.S. Goodsir (der meist in altertümlicher Sprache Tagebuch führt), des Dritten Leutnants John Irving und des Unteroffiziers Harry Peglar ein. 
Auf diese Weise wird eine Atmosphäre geschaffen, die nicht nur die Körper und Geist herausfordernden Umstände bildlich vor Augen führt, sondern auch den Leser fast körperlich die unerträgliche Kälte und den Kampf gegen den Hunger und das unbekannte Wesen nachempfinden lässt, das auf dem Eis sein Unwesen treibt. Durch die Perspektivwechsel erledigt Simmons gleichzeitig die sorgfältige Charakterisierung der Expeditionsteilnehmer und macht so deutlich, wie es zu den aufrührerischen Protesten und der Spaltung der Crew gekommen ist. 
Eine besondere Rolle spielt schließlich die Inuit-Frau Lady Silence, deren Figur eine Brücke zu der Kultur schlägt, die es im Gegensatz zu den weißen Männern aus England gewohnt ist, im Eis zu leben. Auch wenn Dan Simmons die Handlung hätte arg straffen können, ist ihm ein Epos gelungen, das sich wie das authentische Zeugnis einer wahnwitzigen Expedition liest, wobei am Ende die Glaubensvorstellungen der Inuit näher ausgeführt und so die Expedition und ihre unerklärlichen Momente in einen anderen Kontext überführt werden, was dem Buch allerdings eher schadet als nützt.