Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 14) „Der Todbringer“

Dienstag, 3. Dezember 2019

(Blanvalet, 574 S., HC)
Als William Sloane und seine Verlobte Anna beim Patel Designs in der South Bronx den mit einem anderthalbkarätigen Diamanten besetzten Verlobungsring abholen wollen, tötet ein maskierter Unbekannter mit einem Teppichmesser sowohl das junge Paar als auch den indischen Diamantenschleifer Jatin Patel. Dessen junger Mitarbeiter Vimal stößt wenig später in der Werkstatt auf die Toten und flüchtet. Ein anonymer Anrufer informiert die Polizei, die gleich vor mehreren Rätseln steht, weshalb Detective Lon Sellitto vom NYPD die fast vollständig gelähmte Forensik-Koryphäe Lincoln Rhyme um Unterstützung bittet.
Der maskierte Täter, von dem dank des anonymen Informanten eine gute Personenbeschreibung vorliegt, hat zwar drei Leichen hinterlassen und den Eigentümer zuvor gefoltert, aber mehrere Hundert Diamanten im offenen Tresor liegengelassen. Rhymes Frau Amelia Sachs untersucht mit Mel Cooper den Tatort und riecht, dass auch eine Schusswaffe abgefeuert wurde. Offenbar wurde der unbekannte Zeuge des Überfalls angeschossen, konnte aber fliehen. Der sogenannte Täter 47 (wegen der Siebenundvierzigsten Straße, in der die Morde verübt worden sind) lässt weitere Opfer folgen, die mit Diamanten zu tun gehabt haben, und sendet ein Bekennerschreiben als Textnachricht an verschiedene Fernseh- und Radiosender.
Doch nicht nur die Jagd nach Täter 47, der sich selbst als „Der Versprechende“ bezeichnet, hält die Ermittler in Atem, auch geschickt inszenierte Explosionen, die Erdbeben imitieren sollen, sorgen für weitere Todesfälle. Und schließlich nimmt Lincoln Rhyme einen besonders heiklen Berater-Auftrag an. Der Anwalt des mexikanischen Drogenhändlers El Halcón vermutet, dass seinem Mandanten nach einer Schießerei, bei der Bundesbeamte getötet wurden, Beweismaterial untergeschoben wurde.
„Rhyme las die Einträge durch, prägte sie sich ein und dachte weiter darüber nach, was der mexikanische Anwalt ihm erzählt hatte. Er dachte auch an Sachs, Sellitto, Cooper und die anderen, die unermüdlich gegen Täter 47 ermittelten. Was würden sie davon halten, dass ich in Erwägung ziehe, für das Team eines Drogendealers tätig zu werden?
Es gab keine einfache Antwort auf diese Frage, also ignorierte er sie vorerst und wandte sich wieder den Beweisen zu.“ (S. 312) 
Lincoln Rhyme hat in seiner langen Karriere zunächst beim NYPD und nach seinem folgenschweren Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens an Bett und Rollstuhl fesselte, als freier Berater vor allem für seine alte Dienststelle schon mit so manchen gewitzten Psychopathen zu tun gehabt. Doch in „Der Todbringer“ gestaltet sich die Identifizierung des Täters und die Jagd nach ihm als besonders schwierig, weil er an unterschiedlichen, schwer vorhersehbaren Fronten zuschlägt und kein eindeutiges Motiv bei seinem Vorgehen erkennen lässt.
Bestseller-Autor Jeffery Deaver präsentiert auch in seinem 14. Thriller um seinen prominenten Protagonisten Lincoln Rhyme einen akribisch recherchierten, detailreich beschriebenen und sehr komplexen Plot, bei dem drei zunächst unabhängig erscheinende Fälle auf furiose Weise zusammengeführt werden und gerade zum packenden Finale zahlreiche Wendungen aufweisen. So gekonnt Deaver die Spannungsschraube – wenn auch mit einigen Längen im Mittelteil - sukzessive anzieht und interessante Einblicke in das Geschäft mit Diamanten gewährt, so bleiben die Figuren selbst im Hintergrund. Deaver scheint bereits alles über das sympathische Ehepaar Rhyme und Sachs erzählt zu haben, denn bis auf wenige Nebensätze kommt das Privatleben der beiden nicht mehr zur Sprache. Dafür beschreibt er Vimal Lahoris Dilemma, sowohl als Zeuge von der Polizei als auch von Täter 47 gesucht zu werden, sowie den Machtkampf mit seinem Vater.
Die Mischung aus intelligent konzipierter, souverän geschriebener Thriller-Spannung und den persönlichen Geschichten der Protagonisten machen auch „Der Todbringer“ zu einem gelungenen Werk des Autors, der im Finale noch einen alten Bekannten ins Rampenlicht zurückholt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Todbringer"

Ian McEwan – „Die Kakerlake“

Sonntag, 1. Dezember 2019

(Diogenes, 134 S., HC)
In seinem früheren Leben war Jim Sams eine verhasste Kakerlake, die hinter der Täfelung im Westminster-Palast ihr Unwesen trieb, doch dann erwacht er eines Morgens aus unruhigen Träumen und findet sich in ungewohnter Umgebung wieder. Eine Frau, die sich offenbar als seine persönliche Referentin erweist, spricht ihn als Premierminister an und erinnert ihn an die Kabinettssitzung um neun und die anschließende Beantwortung von Fragen des Oppositionsführers. Zwar hegt er noch kurz Bedenken, ob er am Rednerpult auch mit nur zwei statt sechs Beinen so souverän stehen und wirken würde, doch den bevorstehenden Fragen sieht er äußerst gelassen entgegen, schließlich kennt er das Gebaren seiner früheren Artgenossen nur zu gut. Von seiner Mission, den Willen des Volkes durchzusetzen, will er sich partout nicht abbringen lassen.
Dafür bewirbt er ein Instrument, das „Reversalismus“ bezeichnet wird, wohinter sich eine Umkehr des Geldflusses verbirgt. Wer einen Job ausüben will, muss dafür bezahlen, wobei bessere Jobs auch höhere Entgeltzahlungen bedeuten. Beim Einkaufen erhält man den monetären Gegenwert für die Waren im Einkaufskorb, so dass man viel einkaufen muss, um sich einen besseren Job leisten zu können. Einzahlungen auf Geldkonten werden mit Negativzinsen belastet, so dass allen damit gedient ist, möglichst immer mehr Geld in Umlauf zu bringen. Das ambitionierte Projekt kann aber nur funktionieren, wenn auch außerhalb Großbritanniens Verbündete gewonnen werden können, weshalb Sams den Schulterschluss mit dem US-amerikanischen Präsident Tupper sucht. Der scheint angesichts einer Zahlung von über siebenhundert Milliarden Dollar auf sein privates Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln nicht abgeneigt. Schwieriger gestaltet sich der Austausch mit der deutschen Bundeskanzlerin, der die Argumentation ihres britischen Kollegen nicht einleuchten will.
Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautete letztlich die einzige Antwort: weil.“ (S. 116) 
Bereits mit seinen letzten Werken wie „Kindeswohl“ und „Maschinen wie ich“ setzte sich der preisgekrönte britische Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Trost von Fremden“, „Liebeswahn“) mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander, aber so nah am Puls der Zeit wie mit „Die Kakerlake“ war McEwan bislang noch nicht. Denn die gerade mal gut 130 Seiten umfassende Geschichte präsentiert sich als bitterböse Satire auf den vom Autor gehassten Brexit, wobei er sich ganz ungeschminkt auf Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beruft, in der Gregor Samsa eines Morgens als Kakerlake erwacht. McEwan kehrt nicht nur Kafkas Idee auf den Kopf, sondern entlarvt mit der ungewöhnlichen Metamorphose seines Protagonisten, der gleichermaßen als Verkörperung sowohl von Theresa May als auch Boris Johnson dient, die argumentativ schwach unterfütterten Brexit-Pläne der britischen Regierung. Mit dieser Satire rennt McEwan bei den Brexit-Gegnern natürlich offene Türen ein. In die Tiefe geht der Autor mit seinem kurzweiligen und humorvollen Werk dabei nicht, so als würde es sich bei diesem absurden Szenario auch nicht lohnen. Dafür bekommt natürlich auch der amerikanische Präsident sein Fett weg und es wird kurz demonstriert, wie die ebenfalls aktuelle „MeToo“-Debatte auch genutzt wird, um politische Gegner wie den eigenen Außenminister auszubooten. Das ist bei aller Kürze witzig auf den Punkt gebracht, doch kann sich „Die Kakerlake“ nicht in die Reihe von Meisterwerken einreihen, die wir von McEwan gewohnt sind.
Leseprobe Ian McEwan - "Die Kakerlake"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 11) „Der Verein der Linkshänder“

Mittwoch, 27. November 2019

(btb, 606 S., HC)
Um sich gegen unliebsame Geburtstagsgäste und -glückwünsche zu wappnen, gibt der pensionierte Kriminalkommissar Van Veeteren bekannt, anlässlich seines 75. Geburtstages mit seiner Lebensgefährtin Ulrike Fremdli nach Neuseeland verreisen zu wollen. Ganz so weit weg möchte das Paar zwar nicht, doch dass der geplante Trip kein reines Vergnügen zur Erholung wird, dafür sorgt schon Van Veeterens früherer Kollege Münster, der den Bücherliebhaber mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwanzig Jahren hatten es Münster und Van Veeteren nämlich mit einem verheerenden Brand einer Pension in Oosterby zu tun, bei dem vier Personen ums Leben gekommen sind, die zu Schulzeiten den „Verein der Linkshänder“ gegründet und sich in Mollys Pension zu einem Wiedersehenstreffen verabredet hatten.
Als mutmaßlicher Täter wurde schnell das Vereinsmitglied Qvintus Maasenegger ausgemacht, der das Treffen organisiert hatte, aber nicht unter den Toten identifiziert werden konnte und danach untergetaucht geblieben war. Dass der vermeintliche Täter nun selbst tot in einem nahegelegenen Waldstück entdeckt wurde, stellt die offensichtlich voreilig gezogenen Schlüsse bei den Ermittlungen auf den Kopf, denn Maasenegger wurde wohl in etwa zur gleichen Zeit getötet wie seine vier Vereinskollegen in der Pension.
Da die Pension, in der Van Veeteren mit seiner besseren Hälfte die nächsten zwei Wochen verbringen will, nur wenige Kilometer vom damaligen Tatort entfernt liegt, nimmt der Pensionär Kontakt mit dem damals zuständigen Kommissar vor Ort und dem jetzigen Kommissar Radovic auf und versucht, die Ereignisse von damals neu aufzurollen und weitere Hintergrundrecherchen durchzuführen. Dabei ergeben sich Zusammenhänge mit einem Entführungsfall und einem Brief, mit dem eine ehemalige Nonne ihr Gewissen erleichtern will. Als eine weitere Leiche mit einer Axt im Kopf entdeckt wird, kommen auch Kommissar Barbarotti und seine Kollegin/Freundin Eva Backman ins Spiel …
„Der Fall war wirklich nicht besonders kompliziert gewesen. Der Meinung war damals jeder gewesen. Sie waren sich alle einig und hatten völlig daneben gelegen.
Denn der Abend in Mollys betagter Pension war nicht so abgelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Oder doch, das war er wohl schon, aber die Teilnehmerliste stimmte nicht. Es mussten sechs Personen beteiligt gewesen sein, nicht fünf. Fünf Opfer und ein Täter. Nicht vier Opfer und ein Täter, oder?“ (S. 154) 
2006 erschien mit „Sein letzter Fall“ der eigentlich letzte Roman mit dem charismatischen Kommissar Van Veeteren, der sich damals seines einzigen ungelösten Falls in seiner Karriere noch einmal annehmen musste. Mittlerweile genießt er seinen wohlverdienten Ruhestand und kann sich seiner Leidenschaft für Bücher widmen. Doch sein Ermittlerinstinkt wird durch Münsters Besuch reaktiviert, denn die Entdeckung von Maaseneggers Leiche wirft ein unschönes Licht auf die schlampigen Ermittlungen vor zwanzig Jahren, was auch Van Veeterens Lebensgefährtin nicht müde wird zu betonen, die übrigens als „Vernehmungspsychologin“ sehr stark in den neu aufgerollten Fall involviert ist. Irgendwann in der zweiten Hälfte, als eine weitere Leiche auftaucht, kreuzen sich doch noch die Wege von Van Veeteren und Nessers aktuellen Serien-Protagonisten Gunnar Barbarotti, der jedoch kaum zur Aufklärung beitragen kann. Nesser erweist sich in seinem elften Roman um Van Veeteren einmal mehr als souveräner Erzähler, der einen alten Fall zum Anlass nimmt, den fast 75-jährigen Pensionär eine verpfuschte Ermittlung im neuen Licht zu betrachten, wobei ihm seine pfiffige Lebensgefährtin Ulrike Fremdli mehr als nur eine beiläufige Unterstützung gewährt. Geschickt verwebt der Autor verschiedene Zeitebenen und Handlungsorte, bringt durch das Rekapitulieren vergangener Ereignisse, Briefe, Erinnerungen, Tagebucheintragungen, neue Verhöre und aktuelle Gedanken des Täters auf raffinierte Weise nach und nach die Puzzleteile zur Auflösung zusammen und hält so die Spannung auf einem hohen Niveau.
Die immer wieder eingestreuten philosophischen Betrachtungen des pensionierten Kommissars und der warmherzige Humor machen auch „Der Verein der Linkshänder“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das erst zum Ende hin durch einige Längen leicht getrübt wird. Wer weiß, vielleicht kehrt Van Veeteren doch noch für den einen oder anderen kniffligen Fall ins Rampenlicht zurück …
Leseprobe Håkan Nesser - "Der Verein der Linkshänder"

Cormac McCarthy – „All die schönen Pferde“

Donnerstag, 21. November 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
Die beiden jungen Männer John Grady Cole und Lacey Rawlins haben genug vom eintönigen Leben als Viehtreiber in New Mexico und träumen von großen Abenteuern. Nachdem Grady bei seinem Großvater auf dessen Ranch im texanischen San Angelo aufgewachsen war, hält den Sechszehnjährigen nichts mehr dort, als der alte Mann 1949 stirbt. Zusammen mit ihren Pferden hoffen sie jenseits der Grenze in Mexiko ihr Glück zu finden und werden unterwegs vom dreizehnjährigen Jimmy Blevins ergänzt, der offensichtlich auf einem Pferd reitet, das ihm nicht gehört, und zudem eine Waffe trägt, die ihm aber während eines Gewitters gestohlen wird. Tatsächlich finden sie in der Nähe von Coahuila Arbeit auf einer mexikanischen Hacienda, wo sich der reiche Pferdezüchter schnell beeindruckt von Gradys Pferdekenntnissen und seiner Fähigkeit zeigt, Wildpferde zuzureiten.
Doch das Glück der angebotenen Festanstellung hält nicht lange an: Grady verliebt sich in die hübsche Tochter des Patrons und beginnt eine heimliche Liebesaffäre mit Alejandra, die allerdings nicht lange geheim bleibt. Vor allem Alejandras dem unspektakulären Leben auf dem Lande nach Mexiko City entflohene Mutter interveniert und untersagt ihrer Tochter jeden weiteren Umgang mit dem unterprivilegierten Jungen, den sie zu bestechen versucht. Als währenddessen Blevins beim Versuch, seine Pistole zurückzubekommen, einen Mann tötet, festgenommen wird und beim Verhör die Namen seiner beiden vermeintlichen Komplizen verrät, dauert es nicht lange, bis auch Rawlins und Grady verhaftet werden und eine harte Zeit in einem mexikanischen Gefängnis verbringen müssen, wo sie gequält und zusammengeschlagen werden.
„Er erinnerte sich an Alejandra und an die Traurigkeit, die er von Anfang an in ihren geneigten Schultern gesehen und zu verstehen gemeint hatte, obwohl er doch gar nichts von ihr wusste, und er empfand eine Einsamkeit wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Er fühlte sich gänzlich fremd in dieser Welt, auch wenn er sie immer noch liebte. Er fand, in der Schönheit der Welt lag ein Geheimnis verborgen. Er fand, der Herzschlag der Welt hatte einen furchtbar hohen Preis.“ (S. 312) 
Zwischen 1965 und 1985 veröffentlichte der aus Rhode Island, Providence, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy gerade mal fünf Romane (darunter „Ein Kind Gottes“ und „Die Abendröte im Westen“), doch erst mit dem 1992 erschienenen Werk „All the Pretty Horses“ gelang McCarthy der Durchbruch, der mit der Platzierung auf Bestseller-Listen und der Auszeichnung mit dem National Book Award einherging. Dabei ist „All die schönen Pferde“ – im Jahre 2000 auch erfolgreich von Billy Bob Thornton mit Matt Damon und Penelope Cruz in den Hauptrollen verfilmt – alles andere als leichtverdauliches romantisches Western-Abenteuer.
Zwar greift McCarthy verschiedene Mythen und Träume von Freiheit und einem Leben in Abenteuer auf, doch nimmt er sich viel Zeit, die unwirtlichen Umstände zu beschreiben, unter denen die beiden jugendlichen Freunde Richtung Mexiko losziehen. Auf ihrem Roadtrip zu Pferde machen sie die unterschiedlichsten Bekanntschaften, von denen ausgerechnet die mit dem gerade mal 13-jährigen Blevins tragische Konsequenzen nach sich zieht. Zu dem dramatischen Verlauf trägt aber natürlich auch die unmögliche Liebe zwischen dem reichen Mädchen und dem mittellosen Abenteurer bei, die vorhersehbaren Zügen folgt.
Der Mythos vom Reisen durch unentdeckte Landstriche bekommt durch schicksalhafte Begegnungen zunehmend tiefere Risse, findet die romantische Liebe letztlich keine Erfüllung. McCarthy beschreibt diese Odyssee in einer unvergleichlichen Sprache, die die karge Landschaft und die wilden Pferde zum Leben erweckt, wobei die teils wunderschönen Dialoge mitten ins Herz gehen.
„All die schönen Pferde“ ist der Auftakt der sogenannten „Border-Trilogie“, zu der noch „Grenzgänger“ (1994) und „Land der Freien“ (1998) zählen.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 1) „Das grobmaschige Netz“

Samstag, 16. November 2019

(btb/Weltbild, 256 S., HC)
 Als der Gymnasial-Lehrer Janek Mitter morgens um zwanzig nach acht aufwacht, spürt er nur die unangenehmen Nachwirkungen des Saufgelages vom vorigen Abend. Nicht mal an seinen Namen kann er sich erinnern. Immerhin ist er bei sich zuhause, wie ihm erste Schritte durch die Wohnung verraten. Merkwürdig ist nur, dass die Badezimmertür von innen verriegelt ist. Mit einem Schraubenzieher öffnet er die Tür und sieht sich mit einer furchtbaren Entdeckung konfrontiert: Seine Kollegin Eva Ringmar, mit der er seit drei Monaten verheiratet ist, liegt mit seltsam verrenkten Gliedmaßen tot in der Badewanne. JM, wie er üblicherweise genannt wird, wirft zwei weitere Schmerztabletten ein und informiert die Polizei.
Da er vorgibt, unter einem völligen Gedächtnisverlust über den gestrigen Abend zu leiden, wird Mitter als Tatverdächtiger festgenommen, aber auch seinem Anwalt Rüger kann er keine weiteren Angaben machen. Vor Gericht wirkt Mitter seltsam unbeteiligt, was auch Kriminalkommissar Van Veeteren überrascht, der den Prozess eher aus Langeweile verfolgt und schon ans Aufhören denkt. Er gibt sich eine Woche Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen, dann kündigt er oder macht zumindest erst einmal Urlaub in Australien. Sein Gefühl, dass irgendetwas merkwürdig an dem Fall ist, trügt Van Veeteren nicht, denn als der Angeklagte verurteilt und in ein Sanatorium eingeliefert, wo ihm seinem Gedächtnis wieder auf den Sprung geholfen werden soll, wird auch er ermordet. Zusammen mit seinem Kollegen Münster nimmt Van Veeteren die wenigen Freunde und Bekannten, vor allem aber das Kollegium der beiden Ermordeten ins Visier. Schon bald kommen die Ermittler zum Schluss, dass der Täter nicht zum ersten Mal getötet hat und sehr persönliche Motive gehabt haben muss. Dabei scheint sich vor allem Evas Vergangenheit zum Schlüssel für die Auflösung zu erweisen …
„Wenn Eva Ringmar eine Schattengestalt war, dann waren die Konturen ihres Mörders noch um einiges vager. Der Schatten eines Schattens war er. Van Veeteren fluchte und biss seinen Zahnstocher entzwei.
Sprach denn überhaupt irgendetwas dafür, dass er auf der richtigen Fährte war? Tappte er denn nicht in mehr als nur einer Hinsicht im Dunkeln? Und was, zum Henker, mochte der Mörder für ein Motiv haben?“ (S. 177) 
Es ist ein ungewöhnlicher Fall, mit dem sich der ausgebrannte Kriminalkommissar Van Veeteren in dem Romandebüt des schwedischen Schriftstellers Håkan Nesser aus dem Jahre 1993 herumschlägt. Dabei ist weniger der Umstand, dass sich der vermeintliche Täter nicht an die Ereignisse des Vorabends erinnern kann, so außergewöhnlich, sondern die geschilderte Ermittlungsarbeit und vor allem die gebrochene Figur von Van Veeteren, der auch heute noch zu den charismatischsten Ermittlern zählt, die das Krimi-Genre hervorgebracht hat. Als er nach 20 Seiten eingeführt wird, bekommt der Leser gleich einen Eindruck von dessen Persönlichkeit. Seine Frau hatte sich vor acht Monaten – eigentlich unwiderruflich – zum vierten oder fünften Mal von ihm getrennt, beginnt aber, ihn wieder anzurufen. Seine Anfang zwanzigjährige Tochter Jess lebt mit ihrer eigenen Familie weit entfernt in Borges, sein Sohn Erich sitzt im Staatsgefängnis von Linden eine zweijährige Strafe wegen Rauschgiftschmuggels ab. Sein Vater starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Van Veeteren selbst ist seinen Job müde, allerdings zerreißt der Polizeichef regelmäßig seine Kündigungsschreiben. Mit seinem Kollegen Münster spielt er Badminton, geht ab und zu auch mit ihm einen trinken. Davon abgesehen lebt Van Veeteren letztlich doch für seine Arbeit. „Das grobmaschige Netz“ gibt trotz der kurzen Länge von gerade mal 250 Seiten einen guten Eindruck von den Verhörmethoden und dem verlässlichen Instinkt des Hauptkommissars, der so gar kein Identifikationspotenzial für den Leser hergibt, aber deutlich macht, dass Polizisten ebenso wie Opfer, Täter und Zeugen ganz normale Menschen mit ihren persönlichen Eigenschaften, Sorgen, Träumen und Hoffnungen sind, dass nie viel zu fehlen scheint, bis aus einem gesetzestreuen, unauffälligen Bürger ein Mörder wird.
Trotz des melancholischen Grundtons blitzt immer wieder ein leiser Humor in den Dialogen auf, sorgen die etwas zerpflückt aneinandergereihten Absätze für Sprünge im Handlungsverlauf und zwischen den beteiligten Figuren, die manchmal wie aus dem Nichts in die Szenerie zu fallen scheinen. Doch während die übrigen Beteiligten sehr blass bleiben, gewinnt Van Veeteren schon in seinem ersten literarischen Auftritt an interessanter Kontur, die in den nachfolgenden Romanen deutlich an Profil zulegt.

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 2) „Jugendroman“

Mittwoch, 13. November 2019

(Atlantik, 541 S., Tb.)
Nach dem Umzug von Vallendar bei Koblenz ins emsländische Meppen durfte sich der dreizehnjährige Martin Schlosser zwar darauf freuen, nicht mehr sechs Stunden im vollgefurzten PKW bis zu den Großeltern in Jever verbringen zu müssen, sondern nur noch zwei Stunden zu brauchen, doch davon abgesehen hält das neue Zuhause nicht viele Freuden für den Pubertierenden bereit. Mit seinen Geschwistern Volker, Wiebke und Renate verbindet Martin nicht mehr viel, dafür vermisst er seine Freunde, von denen ihm sein bester Kumpel Michael regelmäßig per Brief Bericht erstattet, wie langweilig ihm ständig sei.
Martin kickt in der C-Jugend vom SV Meppen und träumt schon von einer Karriere als Weltklassespieler, der irgendwann zusammen mit Jupp Heynckes, Sepp Maier und Dieter Müller in der Nationalelf stürmen würde. Doch während seine Lieblingsmannschaft von Borussia Mönchengladbach zum dritten Mal hintereinander Meister wird, kommt seine eigene Mannschaft ziemlich oft heftig unter die Räder, so dass ihm irgendwann die Lust am Training vergeht.
Wenig erbaulich erweisen sich auch die Arbeitseinsätze in Papas Keller, wenn dieser wieder sägt, schraubt und hämmert, oder im Garten beim Unkrautjäten.
„Im Treppenhaus hatte Volker einen ziehengelassen. Wiebke übte Tonleitern, Mama kramte auf dem Dachboden Teppichreste für Renates neue Wohnung zusammen, Papa brachte den fertiggeknüpften Lampenschirm testhalber überm Esstisch an, und in meinem Stern-Horoskop stand der schlaue Ratschlag: Ärgern Sie sich nicht weiter mit dieser Gesellschaft herum. Kehren Sie ihr den Rücken zu, für immer! Nichts lieber als das. Alle Brücken abbrechen und untertauchen, um irgendwo anders ein neues Leben anzufangen.“ (S. 336) 
Sinnlos erscheint dazu der Unterricht in der Schule. Martin ist sich sicher, dass er die mathematischen und physikalischen Lehrsätze, die er pauken muss, nie wieder im Leben benötigen wird. Dafür verdient er sich mit kurzen Aufsätzen zu ausgesuchten Fragestellungen in der Zeit jeweils 25 Mark und verguckt sich in seine Mitschülerin Michaela …
Nach dem ersten Band („Kindheitsroman“) der nach wie vor fortgesetzten Chronik des Lebens von Gerhard Henschels Alter Ego Martin Schlosser sind der Ich-Erzähler und sein Publikum in Martin Schlossers Pubertät angekommen, die nach dem Umzug von Vallendar nach Meppen von den Pflichten bei der Hausarbeit, Fußballtraining, Konfirmandenunterricht und wenig erbaulichem Schulalltag geprägt sind. Der Briefwechsel mit seinem Freund Michael und die Freuden an der politischen und kulturellen Bildung halten Martin zum Glück bei der Stange. Beim Lesen von Mario Puzos „Der Pate“ und der Biografien von Anthony Quinn und Curd Jürgens bleiben vor allem die Schilderung von erotischen Erlebnissen in Erinnerung.
Henschel, der als akribischer Chronist seiner Zeit gilt, verbindet wie in „Kindheitsroman“ und den nachfolgenden Werken die Eckpunkte seines eigenen Lebens mit Anekdoten aus dem zeitgeschichtlichen Geschehen. Hier sind vor allem die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Aktivitäten der RAF, die Auseinandersetzungen zwischen der CDU und CSU und Günter Wallraffs Undercover-Einsatz in der BILD-Redaktion zu nennen, dazu fließen Reflexionen über Alben der Beatles, Joan Baez und Insterburg & Co sowie Filme mit John Wayne, Roman Polanski und Alain Delon ein, Kommentare zu den Boxkämpfen von Muhammed Ali und den Spielen sowohl der Gladbacher als auch der Nationalmannschaft.
Die Aneinanderreihung verschiedenster Anekdoten aus dem Leben von Martin Schlosser geriert sich einmal mehr als amüsantes Sammelsurium von Ereignissen, die die Welt, vor allem aber den aufgeweckten wie humorvollen Ich-Erzähler Mitte der 1970er Jahre bewegt haben. Das bietet vor allem für Schlossers Zeitgenossen einen unerschöpflichen Fundus an Erinnerungen an die Zeit, in der sie aufgewachsen sind, und macht neugierig auf die Fortsetzung, in der hoffentlich auch die Frage beantwortet wird, ob Michaela Martins Gefühle erwidert.

Philippe Djian – „Betty Blue – 37,2° am Morgen“

Mittwoch, 6. November 2019

(Diogenes, 396 S., Tb.)
Eigentlich könnte der Ich-Erzähler in Philippe Djians ein erfolgreicher Schriftsteller sein. Stattdessen droht sein handgeschriebenes Manuskript in einem Pappkarton in Vergessenheit zu geraten, während er seinen Lebensunterhalt als Mädchen für alles in einer Bungalow-Anlage verdient und sich nebenbei mit der temperamentvollen Betty vergnügt, die er seit einer Woche kennt. Da der Vermieter mit diesem Arrangement nicht so ganz einverstanden ist, erklärt sich der verhinderte Schriftsteller bereit, alle Bungalows neu zu streichen, damit Betty auch weiterhin bei ihm wohnen kann. Betty platzt dabei so richtig der Kragen und leert einen Farbeimer über dem Wagen des verhassten Vermieters. So bekommt der Protagonist in den Mittdreißigern einen ersten Vorgeschmack auf die Temperamentsausbrüche seiner Freundin.
Doch das ist erst der Anfang. Als Betty das Manuskript findet, ist sie von dem Text so begeistert, dass sie es persönlich abtippt und Kopien an verschiedene Verleger aus dem Telefonbuch schickt. Der Absender eines garstigen Ablehnungsschreibens bekommt es schließlich persönlich mit Betty zu tun. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, zieht das Paar zunächst bei Eddie und Lisa ein, wo sie in Eddies Pizzeria arbeiten, dann verschafft Eddie den beiden einen Job im Klavierladen, den seine verstorbene Mutter betrieben hat. Hier findet der verkannte Schriftsteller genügend Zeit, um an einem neuen Manuskript zu arbeiten, aber Bettys Anfälle nehmen immer besorgniserregendere Züge an …
„Sie müsste einsehen, dass das Glück nicht existiert, dass das Paradies nicht existiert, dass es nichts zu gewinnen oder zu verlieren gibt und man im wesentlichen nichts ändern kann. Und wenn du glaubst, die Verzweiflung ist alles, was einem dann bleibt, dann irrst du dich noch einmal, denn auch die Verzweiflung ist eine Illusion.“ (S. 282) 
Mit seinem dritten Roman nach „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ ist Philippe Djian Mitte der 1980er Jahre der internationale Durchbruch gelungen, angefeuert durch die erfolgreiche Verfilmung des Roman durch Jean-Jacques Beineix („Diva“) aus dem Jahre 1986. Wie in vielen von Djians Romane hadert auch in „Betty Blue“ der Ich-Erzähler mit seinem Schicksal als verkannter Schriftsteller. Es ist ihm auch egal. Hauptsache, er verdient etwas Geld, hat genügend Zeit, sich in der Sonne zu fläzen, mit Betty zu bumsen und etwas zu trinken. Mehr erwartet er gar nicht vom Leben. Doch an Bettys Seite kann er sich nicht einfach weiter so durch das Leben treiben lassen, denn Betty erwartet mehr von einem so talentierten Schriftsteller.
Während sie alles daransetzt, mit ihrem Liebsten aus dem Alltagstrott auszubrechen, bleibt ihm nicht anderes übrig, als mit ihr mitzuziehen. Djian erzählt diese außergewöhnlich leidenschaftliche Liebesgeschichte in einem rasanten, präzisen Stil, der in jedem Absatz deutlich macht, was vor allem der empathische Ich-Erzähler empfindet, der schließlich meint, auch Betty so gut zu kennen, wie es niemand sonst vermag. Die Beziehung zwischen den beiden und vor allem Bettys dem Borderline-Syndrom geschuldetes überschäumendes Temperament machen Stimmung und Tempo des Romans aus, wobei sich Tragik und Humor überzeugend die Waage halten. So ist Djian mit „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ ein ebenso gefühlvoller wie aufrüttelnder Roman über Liebe, Treue, Loyalität und Leidenschaft gelungen, wie es ihm später in dieser Intensität kaum noch gelingen sollte.

Andrea De Carlo – „Die Laune eines Augenblicks“

Samstag, 2. November 2019

(Piper, 266 S., HC)
Seit fünf Jahren unterhält Luca mit seiner Lebensgefährtin Anna einen alternative angehauchten Reiterhof. Doch als er bei einem Ausritt Anfang März vom Pferd stürzt, wird ihm neben den schmerzhaften körperlichen Blessuren bewusst, dass sein Leben ganz und gar nicht so verläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Als er sein Leben vor- und rückwärts an sich vorbeiziehen lässt, stellt er sogar fest, dass er noch nie glücklich war. Er lernt Alberta kennen, die ihn auf dem Weg zurück zum Reiterhof in ihrem Pick-up aufgabelt und ins Krankenhaus bringt. Luca ist fasziniert von der temperamentvollen Frau, küsst sie und will sie wiedersehen.
Doch als er sie das nächste Mal in Rom besucht, findet er sie – nach einem missglückten Selbstmordversuch - ohnmächtig, dem Tode nahe, auf dem Fußboden vor. Schnell wird ihm bewusst, dass er Albertas Schwester Maria Chiara noch interessanter findet. Mit ihr zusammen löst er sich von seiner Vergangenheit, von den Erinnerungen an seine früheren Beziehungen (aus der ein Sohn hervorgegangen ist) und seinen vorangegangenen Job als Verleiher internationaler Independent-Filme ebenso wie von seinem Leben mit Anna auf dem Reiterhof.
Langsam kommen sich die beiden näher. In vielen Gesprächen sezieren sie ihr jeweiliges Leben und werden sich bewusst, was sie vom Leben erwarten. Doch es dauert seine Zeit, bis sich Luca und Maria Chiara voll und ganz einander hingeben, aber dann gibt es kein Zurück …
„Wir schienen uns nicht mehr voneinander lösen zu können, wir schienen nicht aufhören zu können, den Druck unserer eng aneinander geschmiegten Körper zu spüren, das Gefühl des Gefundenhabens und der Zuflucht, das Gefühl, heimgekehrt, einer tödlichen Gefahr entronnen zu sein.“ (S. 157) 
Seit seinem 1981 veröffentlichten Debüt „Creamtrain“ hat der aus Mailand stammende Autor Andrea De Carlo das Gefühlsleben der Menschen seiner Generation analysiert. In seinem zehnten Roman, hierzulande 2001 veröffentlichten „Die Laune eines Augenblicks“ hat sein Protagonist bereits ganz unterschiedliche Karrieren und Beziehungen hinter sich. Das traumatische Erlebnis eines Reitunfalls, der in körperlicher Hinsicht zum Glück keine schwerwiegenden Folgen nach sich zieht, geht mit einer zunächst erschreckenden Bewusstseinsänderung einher, doch Luca zieht daraus sofort die Konsequenzen, trennt sich von seiner Existenzgrundlage und Freundin, lässt sich auf eine neue Frau ein, die er auf ganz neue, gemächliche Weise kennenlernt.
De Carlo bleibt seinem Erfolgskonzept treu und reflektiert sehr detailliert das Gefühlsleben seiner Figuren, die sich natürlich in aufregenden Liebesbeziehungen neu entdecken und erfinden. Das ist insofern immer wieder lesenswert, weil diese ausschweifenden Innenansichten jenseits oberflächlicher Personenbeschreibungen aufzeigen, wie empfindlich die Seelen der Menschen gestrickt sein können, und wie schwierig es ist, einen Partner zu finden, der sich auf all diese komplex ineinander verwobenen Eigenschaften einlassen mag.
Der Plot bleibt dabei sehr minimalistisch. Abgesehen von dem einleitenden Reitunfall und der Begegnung mit Alberta und Maria Chiara passiert eigentlich nicht viel. Stattdessen konzentriert sich De Carlo ganz auf die Gedanken und Gefühle, die Luca und Maria Chiara miteinander teilen und über wegweisende Ereignisse wie das Spielen einer Klaviermelodie, die beide so lieben, zu einem Liebespaar werden.
In dieser sukzessiv voranschreitenden Annäherung des Ich-Erzählers an die Frau, die ihm endlich die ersten Glücksmomente seines Lebens verschafft, erweist sich De Carlo wirklich als Meister der bildhaften Sprache und der feinsinnigen Psychologisierung seiner Figuren, die irgendwie auch immer Abbilder seines eigenen Lebens zu sein scheinen.

R. R. Sul – „Das Erbe“

Dienstag, 29. Oktober 2019

(dtv, 222 S., HC)
Bis zu seinem siebten Lebensjahr musste Wolf tagsüber im Haus bleiben, litt er doch – so sein Arzt – unter der Mondscheinkrankheit. Also schlief Wolf tagsüber und ging erst nachts auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder schliefen. Dann tritt mit Bob ein neuer Mann in das Leben seiner wahnhaften Mutter und verändert Wolfs Leben von Grund auf. Er schenkt ihm einen Motorradhelm, so dass er sich auch tagsüber gefahrlos im Freien bewegen kann, und geht mit dem Jungen erneut zu einem Arzt, der ihm attestiert, ganz normal zu sein. Wolfs unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidende Mutter verkraftet die Neuigkeit nicht, lebt sich mit Bob auseinander und bringt sich in einer Klinik schließlich mit Tabletten um.
Die vielen Jahre, in denen Wolf nur mit seiner Mutter zusammenlebte und nur nachts auf den Spielplatz durfte, haben aber ihre tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Er zieht zu seinem Großvater nach Hannover, erbt nach dessen Tod nicht nur dessen Wohnung und eine Hütte in den österreichischen Bergen, sondern auch – zusammen mit dem Erbe seiner Mutter - über eine halbe Million Mark. Finanziell abgesichert, igelt sich Wolf zuhause völlig ein, entdeckt die Welt durch seine Puzzle, mit denen er die Wände dekoriert. Der Höhepunkt des Tages ist die Essenslieferung, doch die von ihm verehrte Botin kommt nicht wieder, nachdem er ihr eines Tages nur in Unterhose bekleidet die Tür öffnete, mit dem Papagei auf der Schulter und obszön geschminktem Mund. Doch nach und nach tritt Wolf aus seiner selbstgewählten Isolation heraus, nimmt einen Job als Türsteher ein, trifft dort seine Jugendfreundin Lina wieder und erlebt seine erste Liebesbeziehung .
 „Lina gehörte zu mir, seitdem sie zum ersten Mal in die Erdatmosphäre eingetreten war. Was nichts daran änderte, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wollte nicht mit ihr in einem Draußen leben, mit all den anderen. Dazu war ich nicht fähig. Auch nicht ihr zuliebe. Ich fand, dass ich dann nicht mehr echt wäre, für sie. Ich wollte bei mir bleiben. Mit ihr. Das war mir Welt genug.“ (S. 35f.) 
Lina hat das seltsame Leben mit Wolf allerdings nach acht Jahren satt. Stattdessen tritt sein Stiefbruder Freddy plötzlich in sein Leben, der anfangs ebenso wortkarg kommuniziert wie Wolf früher. Als sie gemeinsam erstmals die geerbte Berghütte in Österreich besuchen, kommen sie sich zwar etwas näher, doch Freddy verhält sich immer seltsamer und kehrt immer dann in Wolfs Leben zurück, wenn er es am wenigsten erwartet. Als Wolf allerdings selbst Vater wird, beginnt er das Leben mit anderen Augen zu sehen …
Unter dem exotisch anmutenden Pseudonym R. R. Sul ist mit „Das Erbe“ ein schlicht wie elegant gestalteter Roman bei dtv erschienen, in dem der unter außergewöhnlichen Umständen aufgewachsene Protagonist Wolf als Ich-Erzähler in oft stark verkürzten Sätzen (ohne Verb) sein Leben reflektiert. Dabei wird schon in der Reflexion seiner Kindheit deutlich, wie die Krankheit seiner überängstlichen Mutter die Saat seiner weithin selbstgewählten Isolation bestimmt. Dass sich der finanziell unabhängige Wolf dann doch auf einzelne Menschen einlässt und sogar geliebt wird, zählt zu den bemerkenswertesten Entwicklungen, die Wolf durchmacht.
Der Leser wird schließlich Zeuge, wie die Liebesbeziehungen scheitern, wie daraus aber mit Karl und Augustin Kinder gedeihen, die Wolf im Leben verwurzeln, ihn in Beziehung zu seiner Familie bringen, in der nichts so lief, wie es sein sollte. Wie der Autor vor allem seinen Protagonisten zum Leben erweckt, wie er ihm in dessen eigenen Beschreibungen ein starkes psychologisches Profil verleiht und durch seine Beobachtungen auch seine Mitmenschen charakterisiert, zählt zu den besonderen Stärken des Romans, der sich auf ebenso amüsante wie düster-bedrohliche Weise mit der Herausforderung auseinandersetzt, in einer dysfunktionalen Familie aufzuwachsen und sich selbst von der kranken Umgebung zu emanzipieren und sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Die oft abrupt eintretenden Veränderungen in Wolfs Leben und die präzise, manchmal abgehackt kurze Sprache sorgen für ein atemloses Lesevergnügen eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches.
Leseprobe R. R. Sul "Das Erbe"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck: 8) „Opfer 2117“

Samstag, 26. Oktober 2019

(dtv, 588 S., HC)
Der 32-jährige spanische Journalist Joan Aiguader hadert mit seinem Schicksal. Er ist nicht nur total abgebrannt und kann nicht mal die zwei Euro für den Kaffee bezahlen, den er an der Promenade am Strand von Barcelona bestellt hat, sondern hat vier weitere Absagen für seine Kurzgeschichten zu verkraften. Doch dann entdeckt er ein Fernsehteam am Strand, das auf die „Tafel der Schande“ und die darauf gezählten Flüchtlinge hinweist, die seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken sind, und eine Reportage über einen Mann bringt, dessen Leiche erst vor wenigen Stunden am Badestrand Ayia Napa auf Zypern angeschwemmt wurde. Der eben noch völlig niedergeschlagene Joan spürt auf einmal seinen journalistischen Instinkt, „borgt“ sich das Geld für die Flüge nach Zypern und zurück und will mit der Reportage über den ertrunkenen Mann die Welt aufrütteln. Vor Ort wird Joan jedoch Zeuge einer weiteren Welle von angeschwemmten Leichen, darunter die einer alten Frau, die Joans Aufmerksamkeit fesselt. Tatsächlich scheint sich sein Blatt zum Guten zu wenden, als er mit seiner Story und dem Foto der alten Frau die Titelseite bei Hores del dia schmückt. Doch wie sich herausstellt, ist die alte Frau, die als „Opfer 2117“ bekannt geworden ist, nicht ertrunken, sondern wurde ermordet, während der zuvor in der spanischen Fernsehreportage erwähnte tote Mann als Anführer einer Terrorzelle identifiziert worden ist.
Während Joan damit beauftragt wird, die ganze Geschichte hinter dieser Tragödie zu erzählen, identifiziert Assad die alte Frau auf dem Foto als Lely Kababi, jene Frau, bei der seine Familie damals in Syrien Zuflucht fand, als sie aus dem Irak geflohen waren. Bei der Sichtung des weiteren Fotomaterials zu dem Fall, das ihm seine alte Arbeitskollegin Rose aus anderen Zeitungen zur Verfügung stellt, entdeckt Assad nicht nur seine Frau Marwa und eine seiner Töchter, sondern bekommt es mit seinem größten Widersacher Ghaalib zu tun, der nicht nur die beiden Frauen in seiner Gewalt hat, die Assad alles bedeuten, sondern einen gewaltigen Terroranschlag in Deutschland plant. Carl Mørck, Assads Chef beim Kopenhagener Sonderdezernat Q, das sich sonst nur mit alten ungelösten Fällen befasst, begleitet Assad auf dem Weg nach Frankfurt, während die wieder zurückgekehrte Rose mit ihrem Kollegen Gordon einem 22-jährigen Jungen namens Alexander nachjagt, der das Schicksal von Opfer 2117 zum Anlass nimmt, mit seinem Samuraischwert loszuziehen, um wahllos Menschen zu töten, sobald er bei dem Computer-Spiel „Kill Sublime“ Level 2117 erreicht hat. Währenddessen folgen Carl, Assad und der Verfassungsschutz den Terroristen nach Berlin …
„Assad atmete tief durch: Vielleicht begriffen sie jetzt endlich, wogegen sie antraten: Ghaalib war das personifizierte Böse. Nichts weniger als das. Lange starrte er auf den Zettel. Er habe nicht viel Zeit, stand da. Nicht viel Zeit! Und Berlin war so unendlich groß!“ (S. 400) 
Seit seinem 1997 veröffentlichten Debütroman, der in Deutschland unter dem Titel „Das Alphabethaus“ erschienen ist, wurde der aus Kopenhagen stammende Jussi Adler-Olsen vor allem durch seine 2007 initiierte Reihe um Carl Mørck und das Kopenhagener Sonderdezernat Q zum internationalen Bestseller-Autor. Mit „Opfer 2117“ präsentiert Adler-Olsen nicht nur den bereits achten Teil der Reihe, die auch kontinuierlich für das Kino adaptiert wird, sondern auch einen ungewöhnlich aktuellen Fall, der vor allem die bisher so geheimnisvolle Geschichte von Assad endlich lüftet – wenn auch auf extrem dramatische Weise.
Geschickt verleiht der Autor der Tragödie der andauernden Flüchtlingskatastrophe über die bloße Anhäufung von Opferzahlen hinaus ein individuelles Gesicht und verbindet sie mit der Familiengeschichte von Assad – und stellt diese auch noch in den ebenso aktuellen Kontext des Terrorismus. Als würde dies für eine packende, vielschichtige Story noch nicht reichen, fahnden die in Kopenhagen gebliebenen Q-Mitarbeiter Rose und Gordon nach einem psychisch labilen jungen Mann, der seine Wut gegen die Gleichgültigkeit in der Welt mit seinem Samuraischwert Ausdruck verleihen will. Das ist selbst bei knapp 600 Seiten, die der Autor mit seiner Geschichte füllt, ein anspruchsvolles Unterfangen, das ihm zum größten Teil bravourös gelingt.
Indem er ständig die Perspektiven zwischen Carl, Assad, Joan, Alexander, Ghaalib, gelegentlich auch Rose und Gordon wechselt, hält er das Tempo hoch. Dazu sorgen die ersten Terrorzwischenfälle in Frankfurt für Spannung, zu der auch Assads Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Ghaalib und dessen Vorbereitungen zu seiner finalen Konfrontation mit seinem Erzfeind ihren Anteil beitragen. Für die emotionale Komponente sorgen nicht nur die traurigen Schicksale der toten Flüchtlinge, sondern vor allem Assads Sorge um das Schicksal der – zählt man die tot aufgefundene Lely dazu – vier wichtigsten Frauen in seinem Leben und Carls Beziehung zu Mona, die mit 51 Jahren noch ein Kind von Carl erwartet.
Bei so vielen Themen bleibt zwangsläufig die Tiefe auf der Strecke. Vor allem der Nebenplot mit Alexander wirkt dabei nicht glaubwürdig und trägt leider auch zum ärgerlich konstruierten Happy End bei. Adler-Olsen hätte gut auf diesen Handlungsstrang verzichten können und so der im Fokus stehenden Geschichte um Opfer 2117 und der Vereitelung von Ghaalibs Terrorplänen mehr Aufmerksamkeit widmen können. So wirken die Sprünge zwischen den Protagonisten, Zeiten und Orten doch sehr gehetzt und oberflächlich. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Opfer 2117“ aber rasant erzählte, actionreiche Spannung mit brisant aktuellen, sehr persönlich gestalteten Themen und nach wie vor sympathisch gezeichneten Figuren, unter denen hier vor allem Assad endlich deutliche Konturen gewinnt.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen "Opfer 2117"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 21) „Mein Name ist Robicheaux“

Mittwoch, 23. Oktober 2019

(Pendragon, 600 S., Pb.)
Als Dave Robicheaux die schwerkranke Mafia-Größe Fat Tony Nemo/Tony Squid/Tony Nine Ball/Tony the Nose in seinem Büro aufsucht, bekommt er ein Schwert aus dem Bürgerkrieg überreicht, auf dessen Messinggriff der Name von Lieutenant Robert S. Broussard eingraviert ist und von dem der Mafioso glaubt, dass es die in New Iberia ansässige Familie gern in ihrem Besitz haben möchte. Tony Squid wartet aber auch mit Informationen über den Mann auf, der vor zwei Jahren Robicheaux‘ Frau Molly an einer Kreuzung so schwer gerammt hat, dass sie verstarb. Offensichtlich hat der Mann vor zehn oder fünfzehn Jahren schon ein Kind in Alabama überfahren. Bevor sich der Detective des New Orleans Police Department jedoch mit diesen Informationen befasst, hilft er seinem besten Kumpel Clete Purcel aus der Klemme, steckt er doch mit 250.000 Dollar bei einem Kredithai in den Miesen und droht sein Haus zu verlieren.
Robicheaux stattet dem elitären, doch stets bürgernahen Aristokraten Jimmy Nightingale einen Besuch ab, da dieser Teilhaber bei der Gesellschaft ist, bei der Purcel die Hypothek aufgenommen hat. Dafür, dass sich Nightingale, der für den US-Senat kandidieren will, sich um Purcels Hypothek kümmert, bittet er Robicheaux, ihn mit dem Romanautor Levon Broussard bekanntzumachen, um mit ihm und Tony Nemo die Verfilmung eines seiner Bücher zu realisieren. Robicheaux stattet anschließend T.J. Dartez einen Besuch ab, jenem Mann, der an dem Unfall beteiligt war, bei dem Molly zu Tode gekommen ist. Nach einer durchzechten Nacht wacht Robicheaux mit blutig verschrammten Fingerknöcheln auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Als Dartez tot auf seinem Grundstück aufgefunden wird, kann Robicheaux nicht beschwören, dass er nicht für den Tod des Mannes verantwortlich ist.
Während sich Robicheaux in diesem Fall vor allem mit seinem korrupten Kollegen Spade Labiche herumschlagen muss, erfährt er von Purcel, dass Nightingale längst nicht der Saubermann sei, den er in der Öffentlichkeit zu repräsentieren versucht, sondern sich von einem schmierigen Typen namens Kevin Penny Koks und Prostituierte habe liefern lassen. Purcel, der als Privatdetektiv Büros in New Orleans und New Iberia unterhält, hat auch ein privates Interesse an Penny, denn er ist berüchtigt dafür, seinen Sohn Homer zu schlagen, weshalb ihn Purcel am liebsten aus dem Verkehr ziehen will. Das Filmprojekt von Broussard, Nightingale und Tony Nemo nimmt langsam Formen an, wobei Robicheaux‘ Tochter Alafair einen Drehbuchentwurf beisteuert. Als Broussards Frau Rowena Nightingale allerdings beschuldigt, sie auf seinem Boot betrunken gemacht und vergewaltigt zu haben, läuft nicht nur das Filmprojekt aus dem Ruder. Ein Auftragskiller, der sich Smiley nennt, dezimiert konsequent Leute aus dem Umfeld der Filmproduktion. Und Purcel ist wieder einmal in eigener Mission unterwegs …
„Er war der Gauner aus der volkstümlichen Sagenwelt, der die Respektabilität mit Scheiße bewarf. Aber er war ein erheblich komplexerer Mann, im Kern eine griechische Tragödie, eine prometheische Gestalt, die niemand als solche erkannte, einer der 36 Gerechten der jüdischen Legende, der für uns alle litt. Falls es Engel unter uns gibt, wie der Apostel Paulus sagt, dann war ich überzeugt, dass Clete einer von ihnen war, seine Flügel verhüllt in Rauch, sein Umhang getaucht in Blut …“ (S. 410) 
Seit James Lee Burke 1987 seine preisgekrönte Reihe um den Vietnam-Veteran und Alkoholiker Dave Robicheaux ins Leben gerufen hatte, sind mittlerweile insgesamt 22 Bände erschienen, die weithin zum Besten gehören, was das Krimi-Genre zu bieten hat. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat sich seit 2015 der rühmlichen Mission angenommen, die großenteils noch unveröffentlichten bzw. nicht mehr lieferbaren Titel um den charismatischen, von den Dämonen seiner Vergangenheit in Fernost und des Alkohols verfolgten Cop Dave Robicheaux neu aufzulegen. In der Chronologie der Reihe war Pendragon mittlerweile bis zum 16. Band „Sturm über New Orleans“ gekommen, so dass zum jetzt veröffentlichten 21. Band „Mein Name ist Robicheaux“ einige Sprünge zu erwähnen sind, von denen neben dem Tod von Robicheaux‘ Frau Molly vor allem die Entwicklung seiner Adoptivtochter Alafair am bemerkenswertesten ausfällt. Sie hat nämlich eine Karriere als Schriftstellerin hingelegt und sich damit auch die Bewunderung von Levon Broussard verdient. Davon abgesehen sind Dave Robicheaux und sein bester - und eigentlich einzig nennenswerter - Freund Clete Purcel wie gewohnt den geschickt agierenden Gangstern auf der Spur, die ihre Aktivitäten gekonnt unter dem Deckmantel der Kultiviertheit verstecken, aber unter ihrer glänzenden Oberfläche mächtig Dreck am Stecken kleben haben. Burke erweist sich einmal mehr als Meister darin, das besondere Klima in Amerikas Süden mit der Verderbtheit gerissener wie skrupelloser Gauner zu verknüpfen und angesichts der Wut, die sowohl Robicheaux als auch Purcel gegenüber den schändlichen Taten, gegen die sie ankämpfen, immer wieder zu extremen Mitteln zu greifen bereit sind, bis sie sich im letzten Moment doch eines Besseren besinnen.
Die Figuren sind in „Mein Name ist Robicheaux“ wieder angenehm vielschichtig angelegt. Einer simplen Kategorisierung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, entzieht sich Burke bewusst, lässt seine Protagonisten aber auch lange nur dunkel ahnen, mit welcher Art von Verbrechern sie es letztlich zu tun haben. Die Spannung wird durch sich häufende Todesfälle und neue Mitspieler im Karussell der Gewalt konstant auf einem hohen Niveau gehalten, wobei die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren erst nach und nach freigelegt werden. Alafair präsentiert sich in dem Wirbel um die Hollywood-Produktion und im Umgang mit den nicht immer koscheren Menschen, mit denen ihr Vater zu tun hat, als erfrischend eigenständige Persönlichkeit, doch im Mittelpunkt stehen natürlich Dave, der in der Geschichte wieder als Ich-Erzähler auftritt, und sein Kumpel Clete, dessen Part in dem Plot in der dritten Person wiedergegeben wird.
Bildreich beschreibt Burke, wie die beiden Kriegsveteranen damit hadern, wie sie mit offensichtlichen Verbrechern umgehen sollen, wie sie das Jucken in ihren Fingern, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, unter Kontrolle zu bekommen versuchen und bei der Last vor der richtigen Entscheidung auch mal gern einen über den Durst trinken und sich mit den falschen Frauen einlassen. Ergänzt wird der Roman durch die kurze Erzählung „The Wild Side of Life“, in der der Kriegsveteran Elmore auf den Ölfeldern an der Golfküste arbeitet und durch die Bekanntschaft der verheirateten, von ihrem Mann misshandelten Loreen an ein Verbrechen an indianischen Ureinwohnern erinnert wird, bei dem er tatenlos zugesehen hat.

David Morrell – (Thomas De Quincey: 2) „Die Mörder der Queen“

Montag, 21. Oktober 2019

(Knaur, 448 S., Tb.)
London, 1855. Beim sonntäglichen Elf-Uhr-Gottesdienst in der St. James Church sorgt bei den Mächtigen und Reichen des Viertels Mayfair, die die Kirche besuchen, die Ankunft einer nicht standesgemäß aussehenden Gruppe von vier Personen für Aufmerksamkeit, vor allem als die Fremden die oberste Bankschließerin bitten, sie zu der für Lord Palmerston reservierten Bank zu führen. Es spricht sich schnell herum, dass sich unter dieser Gruppe sowohl der berüchtigte Opiumesser Thomas De Quincey und seine Tochter Emily zählen, die gerade in Lord Palmerston Haus untergebracht sind, als auch Detective Inspector Ryan von Scotland Yard. Kaum hat Reverend Samuel Hardesty den Gottesdienst begonnen, bei dem der tapfer im Krimkrieg kämpfende Colonel Anthony Trask als Ehrengast begrüßt wird, bemerkt er, wie sich ein scharlachroter Fleck unter der Loge von Lady Cosgrove ausbreitet. Als die Dame mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wird, übernehmen Ryan, sein Assistent Becker und De Quincey umgehend die Ermittlungen, denn der Täter könnte noch immer in der Kirche sein.
Aus der Hand der Toten sichern die Polizisten einen mit Trauerflor umrandeten Brief, der nur zwei Worte enthält, die Ryan an die schrecklichen Ereignisse vor fünfzehn Jahren erinnern. Damals haben verschiedene Männer versucht, ein Attentat auf Queen Victoria zu verüben. Zwar wurde bei dem Versuch, die Königin zu töten, niemand verletzt, aber der Attentäter Edward Oxford wurde verhaftet und verurteilt, aber wegen seiner offensichtlichen Hirngespinste um eine Gruppe von Verschwörern, die sich „Young England“ nennt, wegen Geisteskrankheit ins Bethlem Royal Hospital überführt. Offensichtlich versucht nun jemand, das damals praktizierte Unrecht wieder gutzumachen, denn nach Lady Cosgrove und ihrem Mann folgen noch weitere Opfer, die mitverantwortlich für den Umgang mit dem Angeklagten waren.
Vor allem dem gebildeten Autor Thomas De Quincey, der sowohl mit seiner Autobiographie „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als auch mit seinem True-Crime-Werk „Der Mord als schöne Künst betrachtet“ für Aufsehen gesorgt hat, fallen bei der Art der inszenierten Morde und den hinterlassenen Botschaften Verweise zu dem Schicksal eines Jungen auf, der damals bei verschiedenen Stellen vergeblich versucht hatte, Hilfe für seinen Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu bekommen. Während Scotland Yard mit De Quinceys Unterstützung fieberhaft nach der Identität des Jungen sucht, versucht der Attentäter weiterhin, Queen Victoria das Leben zu nehmen …
„Er wollte Angst sehen. Er wollte Schmerzen sehen. Eine schnelle Bestrafung konnte nicht sühnen, was seiner Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern angetan worden war, seiner geliebten Emma mit den leuchtend blauen Augen und der kleinen Ruth mit dem sonnigen Gemüt und der bezaubernden Zahnlücke.
Jetzt neigte er im fallenden Schnee den Kopf.
Heute Nacht zumindest werdet ihr vier in Frieden ruhen, dachte er. Unvermittelt packte ihn die Trauer um zwei weitere Menschen, die er liebte.“ (S. 353) 
Der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller David Morrell hat bereits mit seinem 1972 veröffentlichten Debütroman „First Blood“ Weltruhm erlangt, denn die daraus resultierende Filmreihe um den von Sylvester Stallone verkörperten Vietnam-Veteranen John Rambo trug erheblich zum Starruhm des Hauptdarstellers bei und ging dieses Jahr bereits in die fünfte Runde. In der Folge schrieb Morrell aber nicht nur Spionage-Romane wie „Der Geheimbund der Rose“, „Verschwörung“ und „Verrat“, sondern auch die Thriller „Testament“, „Massaker“ und „Totem“ sowie die Horror-Thriller „Creepers“ und „Level 9“, bevor er 2013 mit „Murder as a Fine Art“ den Start seiner Reihe um die historisch bedeutsame Persönlichkeit von Thomas De Quincey vorlegte. Knaur hat den im viktorianischen London spielenden Roman unter dem Titel „Der Opiummörder“ veröffentlicht und legt nun den mit Spannung erwarteten Nachfolger „Die Mörder der Queen“ vor, wobei Morrell geschickt historische Tatsachen und Figuren zu einem äußerst stimmungsvollen Gesellschaftsportrait und Thriller verwebt und die besonderen Fähigkeiten von Thomas De Quincey in den Mittelpunkt seiner historischen Thriller stellt.
Sowohl in der Einleitung als auch im Nachwort beschreibt Morrell, wie er dazu inspiriert wurde, De Quincey als Protagonisten einer hoffentlich noch lange fortgesetzten Reihe zu etablieren, und was den Mann besonders auszeichnet, der mit seinem 1821 veröffentlichten Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als Erster seine Drogensucht öffentlich machte und vor Freuds Traumdeutung die Ansicht vertrat, dass wir von Gedanken und Empfindungen geleitet werden, „von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie haben“.
Zusammen mit seinem kriminalistischen Spürsinn sind das die Elemente, die dem Plot seine Spannung verleihen. Vor allem gelingt es Morrell aber, tief in die Atmosphäre des viktorianischen Englands einzutauchen und die Unterschiede zwischen den in Prunk und Luxus lebenden Adligen und den im Schlamm wühlenden Armen aufzuzeigen. Dabei sind ihm aber auch die Charakterisierungen seiner Figuren hervorragend gelungen. Wie sich der Laudanum-abhängige Thomas De Quincey und seine fürsorgliche Tochter Emily auch in höheren Kreisen zu bewegen verstehen und die Ermittlungen von Scotland Yard vorantreiben, bietet das größte Lesevergnügen, und die Auflösung des Rätsels, wer sich hinter dem potentiellen Attentäter verbirgt, bleibt bis zum Schluss spannend.
Leseprobe David Morrell - "Die Mörder der Königin"

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 1) „Der große Schlaf“

Samstag, 19. Oktober 2019

(Diogenes, 294 S.)
Der in Los Angeles lebende und arbeitende Privatdetektiv Philip Marlowe wird eines Vormittags im Oktober zum vier Millionen Dollar schweren General Sternwood gebeten, der nicht nur an seinen Altersgebrechen leidet, sondern vor allem an den wilden Eskapaden seiner beiden Töchter. Nachdem seine jüngere Tochter Carmen bereits von einem Mann namens James Brody um fünftausend Dollar erpresst worden ist, damit er sie in Ruhe lässt, dreht es sich nun um Schuldscheine, die auf Carmens misslungenen Glücksspiel-Aktivitäten zurückzuführen sind und für die der Buchhändler Arthur Geiger eine Summe von eintausend Dollar verlangt. Während der Unterhaltung kommt die Sprache auch auf Rusty Regan, einen ehemaligen IRA-Offizier, dessen Ehe mit Sternwoods älterer Tochter Vivian sich als Farce entpuppt hat, an dem der alte Mann aber einen Narren gefressen hat. Dass Regan einfach spurlos verschwunden ist, macht Sternwood schwer zu schaffen.
Auch wenn er Marlowe nicht explizit damit beauftragt, auch nach Regan zu suchen, spielt der Vermisste im Verlauf der Ermittlungen immer wieder eine Rolle. Als Marlowe Geigers Buchhandlung aufsucht, stellt er fest, dass sich Geiger auf den Handel mit illegalen pornographischen Werken spezialisiert hat. Schließlich folgt er dem Buchhändler nach Hause, hört Pistolenschüsse, findet Geiger tot und Carmen Sternwood nackt – unter offensichtlich unter Drogeneinfluss – auf einem Sessel vor einer Kamera vor, deren Fotoplatte entfernt worden ist. Nun wird auch Carmen erpresst, will sie die Nacktfotos der vergangenen Nacht zurückhaben. Marlowe stellt Verbindungen zwischen Geiger und Joe Brody her, zwischen Vivian und dem Gangster Eddie Mars, in dessen Spielcasino sie regelmäßig Gast ist, und bekommt zu hören, dass Eddies Frau Mona mit Rusty Regan durchgebrannt sein soll.
Als auch noch Sternwoods Chauffeur tot in seinem Auto aus dem Hafenbecken geborgen wird, scheinen die Dinge immer verworrener zu werden, und Marlowe hat einige Mühe, den Überblick zu behalten, zumal die Frauen in dieser Geschichte ihm immer wieder Avancen machen …
„Ich schaute sie wieder an. Jetzt lag sie still, ihr Gesicht bleich auf dem Kissen, die Augen groß und dunkel und so leer wie Regenfässer bei Dürre. Eine ihrer kleinen fünffingrigen, daumenlosen Hände zupfte ruhelos an der Decke. Irgendwo in ihr erwachte ein schwaches Glimmen des Zweifels. Sie wusste noch nichts davon. Frauen – selbst netten Frauen – fällt es schwer einzusehen, dass ihre Körper nicht unwiderstehlich sind.“ (S. 194) 
Der 1888 in Chicago geborene und in England aufgewachsene Raymond Chandler hatte bereits eine bewegte Karriere (u.a. im britischen Marineministerium, als Journalist, Buchhalter in einer Molkerei, Soldat im Ersten Weltkrieg und Direktor einer kalifornischen Ölgesellschaft) hinter sich, ehe er sich ernsthaft dem Schreiben widmete und erst im Alter von 51 Jahren 1939 mit „The Big Sleep“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Der mittlerweile zum Klassiker nicht nur der Kriminalliteratur avancierte Roman stellte nicht nur die später von Humphrey Bogart („Tote schlafen fest“, 1946) und Robert Mitchum („Tote schlafen besser“, 1978) im Kino verkörperte Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe vor, sondern wurde Teil der sogenannten „Schwarzen Serie“, in der neben Chandler Autoren wie Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross Macdonald ihre hartgesottenen Ermittler in einer Welt agieren ließen, die bis in ihre Grundfesten korrupt und zerrüttet schien.
Donna Leon weist in ihrem Nachwort zu wunderbaren Neuübersetzung des Romans durch Frank Heibert darauf hin, dass Chandler die heile Welt der Agatha-Christie-Romane zur Hölle schickte. Wenn dort ein Verbrechen die Norm verletzte, wurde der Bösewicht festgenommen und bestraft, womit die Ordnung wiederhergestellt worden war. Dass für Chandler die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt und durch alle Schichten Neid, Missgunst und Gier zu beobachten sind, machen seine Romane, die Diogenes nun nach und nach in überarbeiteten Fassungen wiederveröffentlicht, zu vielschichtigen Milieustudien. Dabei scheint die Handlung fast schon zur Nebensache zu werden. Die fällt bereits in Chandlers Debütroman so komplex aus, dass der Handlung und den Motiven der unzähligen Beteiligten kaum zu folgen ist. So werden bestimmte Vorkommnisse auch gar nicht aufgeklärt und dienen nur dazu, die Verderbtheit der Menschen in einer Welt aufzuzeigen, in der sich niemand an Regeln zu halten scheint.
Marlowe selbst bewegt sich dabei selbstbewusst zwischen den Reichen und den Gangstern auf der Straße, zwischen dem oberflächlichen Glanz und dem Schmutz in den Gassen. Mit seiner ihm eigenen Prinzipientreue scheint er schon eine wohltuende Ausnahme in einer moralisch verkommenen Welt zu bilden. Auch wenn sich die Ereignisse in „Der große Schlaf“ immer wieder überschlagen und unzählige Orte und Figuren ins Spiel kommen, nimmt sich Chandler viel Zeit, die düstere Atmosphäre von Verzweiflung, Sehnsucht und Gier sowie die Charakter seiner Figuren zu beschreiben. Seine phantasievollen Allegorien wirken auch nach achtzig Jahren herrlich erfrischend und machen Marlowes Konfrontationen mit den Bösen und Blondinen so lesenswert.
Leseprobe Raymond Chandler - "Der große Schlaf"

Stewart O’Nan – „Henry persönlich“

Dienstag, 15. Oktober 2019

(Rowohlt, 480 S., HC)
Henry Maxwell, der seinen Namen einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Geistlichen verdankt, dem ein Buntglasfenster in der Calvary Episcopal Church gewidmet ist, steht kurz vor seinem 75. Geburtstag und der Goldenen Hochzeit mit seiner fünf Jahre jüngeren Frau Emily. Gemeinsam verbringen sie in ihrem Haus in Pittsburgh ihren gleichförmigen Alltag, zu dem Spaziergänge mit ihrem Hund Rufus und Reparaturarbeiten rund ums Haus gehören. Zum Valentinstag entführt Henry seine Frau gern in ihr Lieblingsrestaurant, freut sich, wenn er Rabattmarken beim Kauf von Spülmittel einlösen kann, ärgert sich aber auch, wenn er glaubt, beim Weihnachtsbaumkauf über den Tisch gezogen worden zu sein, weil er für einen Baum mit weichen Nadeln mehr bezahlen musste als für einen mit harten.
Während Emily die Kontakte zu Nachbarn und Freunden aufrechterhält und so Henry stets mit neuesten Informationen versorgen kann, geht Henry mit seinen alten Freunden aus dem Labor Golfen, engagiert sich im Kirchenvorstand und sieht sich die Spiele seine Lieblings-Football-Mannschaft regelmäßig im Fernsehen an. Da Kinder und Enkel weit weg wohnen, treffen sie sich nur zu den Feiertagen in ihrem Ferienhaus in Chautauqua.
Am meisten Sorgen bereitet ihm die mit dem Alter zunehmenden Gebrechen, die er immer öfter vor Emily geheim hält. Dass sein Arzt Dr. Runco, der in Henrys Alter gewesen ist und ihn am Leben erhalten hat, vor ihm stirbt, macht ihn besorgt, aber auch seine Tochter Margaret, die zu Alkoholexzessen neigt und glaubt, ihr Mann Jeff betrügt sie mit einer Jüngeren, bereitet ihm und seiner Frau immer wieder Kummer.
 „Er brauchte länger als nötig, um sich zu erinnern, was er gerade tat und warum. Ein Leben lang hatte er Zeitpläne und Fristen gehandhabt, da war es nur natürlich, dass er sich als träge empfand und ihm ein konkretes Ziel fehlte. Er hätte gern geglaubt, dass es bloß Tagträume waren, doch die Leere, die sich auf ihn herabsenkte, hatte etwas Zermürbendes.“ (S. 303) 
2011 veröffentlichte der Pittsburgh geborene und lebende Schriftsteller Stewart O’Nan („Abschied von Chautauqua“, „Westlich des Sunset“) mit „Emily, allein“ das einfühlsame Portrait einer achtzigjährigen Frau, die seit Jahren verwitwet ist und nach dem Zusammenbruch ihrer Schwägerin Arlene ihrem Leben eine neue Richtung zu geben versucht. Mit „Henry persönlich“ dreht O’Nan die Zeit um gut zehn Jahre zurück und konzentriert sich in der Ehe von Henry und Emily Maxwell auf den noch lebenden Henry, natürlich mit ständigem Bezug auf Emily, die er immer an seiner Seite weiß. O’Nan beschreibt kurz die Kindheit seines Protagonisten, seine Schwärmerei für seine Klavierlehrerin und seine erste große Liebe zu Sloan, dann – nach dem Krieg – das Kennenlernen von Emily. Der Autor erweist sich wie gewohnt als sorgfältiger Chronist des Lebens ganz gewöhnlicher Mittelschichtsmenschen, die er nie be- und schon gar nicht verurteilt, sondern mit selbstverständlich wirkender Grund-Sympathie charakterisiert, indem er ihre Alltagsverrichtungen, Hobbys und Gedanken wiedergibt.
Wie „Emily, allein“ wartet auch „Henry persönlich“ mit keinen spannenden, dramatischen und wendungsreichen Höhepunkten auf, sondern widmet sich völlig unaufgeregt der Schilderung von Alltagsbetätigungen und familiären Sorgen, wie sie ganz gewöhnliche Menschen teilen. Natürlich bekommen die Gedanken im Alter eine andere Qualität, drehen sich zunehmend um die eigene Sterblichkeit, wobei jede plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustands kritisch beäugt wird. Doch das hält Henry nicht davon ab, sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu genießen, wozu die Einladungen zum Essen zu besonderen Anlässen ebenso zählen wie das Golfspielen und die Familienzusammenkünfte in Chautauqua.
Auch wenn sich die Figuren in „Henry persönlich“ nicht nennenswert entwickeln und größere Dramen ausbleiben, gefällt der Roman als realistisches Portrait eines ganz gewöhnliches Mannes und bietet so enorm großes Identifikationspotenzial für seine Leserschaft.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Henry persönlich"

Steven Price – „Die Frau in der Themse“

Dienstag, 8. Oktober 2019

(Diogenes, 916 S., HC)
Mit nicht mal vierzig Jahren hat William Pinkerton, Sohn des berühmten amerikanischen Detektivs Allan Pinkerton, bereits dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen. Sein gefürchteter Vater war vor sechs Monaten gestorben, während er selbst vor sechs Wochen die amerikanische Heimat verlassen hat, um 1885 im verhassten London nach Ben Porter, einem Agenten seines Vaters, zu suchen. Porter war jahrelang im Auftrag von Pinkertons Vater hinter dem berüchtigten Dieb Edward Shade her, ohne auch nur die geringste Spur zu finden. Als Pinkerton eine Frau namens Charlotte Reckitt verhören wollte, die vor zehn Jahren Shades Komplizin gewesen war, ist sie nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge in den Fluss gesprungen.
Während er mit Scotland-Yard-Chief-Inspector John Shore weiter nach Shade fahndet, ist auch Adam Foole dem Ruf nach London gefolgt, weil ihn Charlotte Reckitt, seine große Liebe, um Hilfe gebeten hatte. Als Kopf, Torso und Beine einer jungen Frau gefunden werden, machen sich Pinkerton und Shore auf der einen Seite, Shade und seine recht Hand Foole auf der anderen Seite auf die Jagd nach ihrem vermeintlichen Mörder. Die Besessenheit, mit der beide Parteien das Geheimnis von Charlotte Rickett zu lösen versuchen, lässt die Wege von Pinkerton und Shade zwangsläufig miteinander kreuzen, aber die Begegnung wartet mit einigen Überraschungen auf, vor allem für Pinkerton, dessen Vater bereits von Edward Shade besessen war.
„Sein Vater wollte Shade nicht presigeben, wollte das köstliche Rätselraten um Shades Existentz geheim und für sich behalten. Als sein Vater gebrechlicher wurde, saß er gern mit wackelndem Kopf inmitten der Blumen im Garten, William schwieg neben ihm und beobachtete, wie die Bienen von Rose zu Rose flogen. Und manchmal kam es ihm vor, als würde noch ein Dritter neben ihnen sitzen, ein Gespenst, auf dem der Blick seines Vaters von Zeit zu Zeit ruhte.“ (S. 340) 
Der kanadische Lyriker und Autor Steven Price feiert mit „Die Frau in der Themse“ sein Debüt in der deutschen Literaturwelt, nachdem sein erster Gedichtband „The Anatomy of Keys“ (2006) mit dem Gerald Lampert Award ausgezeichnet wurde und sein Romandebüt „Into That Darkness“ 2011 erschienen war. Sein zweiter Roman „By Gaslight“, der nun in deutscher Erstübersetzung bei Diogenes vorliegt, präsentiert Price ein über 900 Seiten umfassendes Epos, das im viktorianischen England kurz vor dem mörderischen Treiben von Jack the Ripper angesiedelt ist und vordergründig als Detektivroman angelegt ist. Doch die beharrliche Suche des berühmten Detektivs William Pinkterton nach der schattenhaften Gestalt von Edward Shade bildet nur den Rahmen einer viel komplexeren Geschichte, in der es um Familie, Liebe, Täuschung, Verrat und Identität geht und deren Handlung zwar überwiegend 1885 in London angesiedelt ist, darüber hinaus aber immer wieder zwischen Amerika, Südafrika und Europa, zwischen 1862 und 1917 hin- und herspringt.
Dazu werden die Kapitel abwechselnd aus der Perspektive des Meisterdetektivs und des Meisterdiebes geschrieben, so dass es nicht immer leicht fällt, die Übersicht zu behalten. Zum Glück beschränkt sich der Autor auf ein für die abgedeckten Jahre und Kontinente überraschend überschaubares Figurenensemble und füllt sie Seiten dafür mit den Inneneinsichten und Dialogen seiner Hauptfiguren und mit der anschaulich detaillierten Milieubeschreibung. Wie Adam Foole und William Pinkerton Katz und Maus miteinander spielen, ist geschickt inszeniert, wartet mit unzähligen interessanten Wendungen auf und ist doch etwas ausufernd geraten.
So sehr „Die Frau in der Themse“ durch die ausführlichen Beschreibungen an atmosphärischer Dichte gewinnt, leidet die Dramaturgie ein wenig unter den immerwährenden Zeitsprüngen, Ortswechseln und Perspektivänderungen, aber nichtsdestotrotz bietet das historische Drama fein gesponnene Unterhaltung mit bemerkenswerten Charakteren.
Leseprobe Steven Price - "Die Frau in der Themse"

Anthony McCarten – „Die zwei Päpste“

Donnerstag, 3. Oktober 2019

(Diogenes, 400 S., HC)
Als Papst Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 überraschend verkündete, wegen seines fortgeschrittenen Alters zurückzutreten, sorgte er für ein Novum in der Kirchengeschichte. Erstmals seit 1415 würde die katholische Kirche zwei lebende Päpste an ihrer Spitze haben. Neben dem „Papa emeritus“ würde der wenige Tage später zum neuen Papst Franziskus gewählte Argentinier Jorge Bergoglio dafür sorgen, die Geschicke der vor allem durch weltweit bekannt gewordene Missbrauchsfälle ins Trudeln geratene katholischen Kirche zu lenken.
Der in Neuseeland geborene und in London lebende Autor Anthony McCarten („Englischer Harem“, „Jack“), selbst eingefleischter Katholik, hat sich die spannendste Episode der jüngeren Kirchengeschichte vorgenommen, um ein Sachbuch darüber zu schreiben. Nachdem der zweifach Oscar-nominierte McCarten bereits die Drehbücher für Filme wie „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Die dunkelste Stunde“ und „Bohemian Rhapsody“ verfasst hatte, dient seine Biografie über die beiden so unterschiedlichen Päpste als Grundlage für den im November anlaufenden Netflix-Film mit Anthony Hopkins und Jonathan Pryce in den Hauptrollen.
Die Gegensätzlichkeit der beiden Figuren arbeitet McCarten in den jeweiligen Biografien von Josef Ratzinger und Jorge Bergoglio auf. Abwechselnd beschreibt der geschulte Autor den Werdegang der beiden Männer. Während sich der Argentinier dabei vor allem als „Sünder“ betrachtete, der zu den Jesuiten ging, um in den Elendsvierteln bei den Menschen zu sein, war Ratzingers Kindheit von der Herrschaft des Hitler-Regimes geprägt, bevor er systematisch die Karriere zum Priester einschlug und sich dabei den intellektuellen Problemen in der Kirche widmete und nicht in der Seelsorge tätig wurde wie sein späterer argentinischer Konkurrent und Nachfolger.
Trotz aller – anhand umfangreicher Sekundärliteratur – herausgearbeiteter Unterschiede waren beide Männer von einer tiefen Skepsis gegenüber ihrem Amt ausgestattet, das ihnen zu schwer auf den Schultern zu liegen schien. Die ausführlich geschilderten Vorgänge in den jeweiligen Konklaven zur Papstwahl machen auch deutlich, in welche Lager die zur Wahl stehenden Kardinäle aufgeteilt waren, wie konservative Kräfte immer wieder versucht haben, revolutionär anmutende Thesen, wie sie gerade Bergoglio vertreten hat, in Schacht zu halten. Bergoglio hing vor allem sein zweifelhaftes Verhalten während der argentinischen Militärdiktatur (1976 – 1983) nach, als er sich nicht vehement genug gegen die unmenschlichen Verhältnisse in seiner Heimat zur Wehr setzte, denn offensichtlich lagen der Kirche stichhaltige Beweise dafür vor, in welchem Ausmaß die Junta ihre Kritiker beseitigte. Auf der anderen Seite machte Ratzinger in seiner Funktion als Erzbischof von München und Freising (1977 – 1981) die Affäre um einen Priester zu schaffen, der trotz verschiedener sexueller Missbrauchstaten weiterhin in der Seelsorge eingesetzt worden war. Aber auch die 2007 auf Druck der Traditionalisten wieder gestattete Missa Tridentina (die ein Karfreitagsgebet enthält, in dem die Juden aufgefordert werden, Jesus Christus anzuerkennen, und die die Blindheit des jüdischen Volkes gegenüber Christi Wahrheit thematisiert) setzte Papst Benedikt zu.
„Nicht umsonst wurde daraufhin spekuliert, ob dieser Papst arrogant, inkompetent, wenig vorausschauend oder einfach nur gleichgültig war. War Benedikt derart selbstbewusst bezüglich theologischer Fragen, dass er ohne Berater agierte? Oder besser: War er so blauäugig, dass er mit nichts anderem als positiven Reaktionen rechnete? Wie dem auch sei, eines war gewiss: Der Papst war unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen.“ (S. 207) 
McCarten macht durch solche Kommentare deutlich, wie seine Sympathien zwischen den beiden Päpsten verteilt sind, dennoch beschreibt er die Vorgänge hinter den Kulissen des Vatikans mit sachlicher Distanz, indem er auf eine Menge Quellenmaterial zurückgreift (die Anmerkungen nehmen immerhin volle 40 Seiten des Buches ein). Der Autor beschreibt die Entwicklung der Kirche vor allem seit dem Wirken von Papst Johannes Paul II., dokumentiert die interessante Prozedur der Wahl zum Papst, macht dabei auf das Dilemma der „päpstlichen Unfehlbarkeit“ aufmerksam und legt dar, wie die beiden Päpste mit den Herausforderungen umzugehen pflegten, die durch die Krise der römisch-katholischen Kirche mit ihren 1,28 Milliarden Mitgliedern noch immer zu bewältigen sind. Auch für Nicht-Katholiken und überhaupt Nicht-Gläubige ist die Aufarbeitung der Geschichte, die Anthony McCarten anhand der beiden zwei letzten Päpste erzählt, äußerst aufschlussreich und spannend geschrieben. Auf die Verfilmung von Fernando Mereilles („Der ewige Gärtner“) darf man also gespannt sein!
Leseprobe Anthony McCarten - "Die zwei Päpste"