(btb, 368 S., HC)
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert.
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst…
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen…
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165)
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen…
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle.
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst.