Jan Weiler – „Munk“

Samstag, 21. September 2024

(Heyne, 382 S., HC) 
Mit Romanen wie „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, „Antonio im Wunderland“, „Das Pubertier“ und „Der Markisenmann“ avancierte der Kolumnist, Drehbuchautor und Schriftsteller Jan Weiler zu einem bemerkenswerten Bestseller-Phänomen, das sich mittlerweile auf Hörbücher und -spiele ebenso erstreckt wie auf die Krimi-Reihe um Kommissar Martin Kühn. Mit seinem neuen Roman „Munk“ hat Weiler die 52 Folgen seines in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Fortsetzungsromans „Die Summer aller Frauen“ zu einem ausführlicheren Roman verarbeitet. 
Nachdem der international bekannte Architekt Peter Munk auf der Zugfahrt seiner Heimatstadt Freiburg nach Zürich seine Handschuhe vergessen hatte, machte er sich nach dem Absolvieren seines Geschäftstermins auf den Weg ins Kaufhaus Globus, um dort neue Handschuhe zu erwerben. Dass er dort glaubte, Nadja wiederzusehen, die ihn wegen eines Perkussionisten verlassen hatte, setzte dem 51-Jährigen offenbar so zu, dass er auf der Rolltreppe einen Herzinfarkt erlitt. 
Nach der Entlassung aus der Herzklinik des Zürcher Krankenhauses befindet sich Munk nun auf dem Weg der Besserung, doch nimmt er sich eine Auszeit und wählt das auch wegen seiner Diskretion gern von Prominenten frequentierte Mönchhof-Resort aus, um sich den Ursachen für den Infarkt zu stellen. Da er mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, sich gesund ernährt, weder raucht noch trinkt und über eine sportliche Figur verfügt, scheinen körperliche Gründe nicht dafür verantwortlich gewesen zu sein. Nach den üblichen Anwendungen, Spaziergängen und viel Zeit zum Lesen macht Munk erst am dritten Tag die Bekanntschaft von Doktor Grenzmann, der dem Architekten nach dem ersten Kennenlernen die Aufgabe stellt, sich über die Beziehungen seines Lebens Gedanken zu machen und eine Liste der wichtigsten Personen anzufertigen. 
Munk denkt an seinen Vater zurück, der ein skrupelloser Bauunternehmer und Nazi war, von dem er sich – auch nach dessen Tod - so weit wie möglich zu entfernen versucht. Doch im Zentrum von Munks Betrachtungen stehen die 13 Frauen, mit denen er im Laufe seines Lebens eine wie auch immer geartete Beziehung unterhielt. Da die Beziehung mit Nadja noch so frisch hinter ihm liegt, rekapituliert er das Kennenlernen in einer Galerie und die unglückselige Verquickung von Privat- und Arbeitsleben als Erstes, um sich dann daran zu erinnern, wie er nach einer Party in den 1980ern ganz unspektakulär seine Jungfräulichkeit mit Judith verlor und wie die Schlittschuhläuferin Nicole seine erste große Liebe wurde. Munk hatte wenig erquickliche Affären im Ausland mit Ana und Harper, aber auch mit der jungen Influencerin Fanny und Claudia, die er in die Flucht schlug, weil er keine Kinder haben wollte, und Andrea… 
„Den anderen ein Wohlgefallen zu sein, war ein Leitspruch des Hermann Munk. Er verwendete ihn häufig, meist als mahnenden Appell in Richtung seiner Kinder. Für ihn selbst galt dieses Credo indes nicht. Aber bei Peter Munk hinterließen diese Worte ihre Wirkung. Er fand die Vorstellung nicht abwegig, dass man sich immer bemühen sollte, der Umwelt gutzutun. Er bemühte sich darum und als er Andrea kennenlernte, wollte er diesen Anspruch doppelt und dreifach gerecht werden, denn er wollte sie heiraten. Die Beziehung mit ihr war dann so, als würde er in ein brennendes Haus laufen.“ (S. 147)
Wenn man ohne jegliche Vorwarnung mit gerade mal 51 Jahren einen Herzinfarkt erleidet oder durch eine ähnlich drastische Zäsur dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist, stimmt es einen im Idealfall nachdenklich und begibt sich in die Ursachenforschung. Bei Jan Weilers Protagonisten wird dies durch die Anleitung seines Arztes in einer schicken Reha-Klinik in Gang gesetzt, worauf sich der gutsituierte und beruflich erfolgreiche, in Liebesdingen aber wenig geschickte Architekt Peter Munk vor allem mit den Frauen in seinem Leben auseinandersetzt. Das Spektrum reicht vom unbeholfenen Gefummel in Teenagerjahren über sehr kurze Affären mit diebischen und ehebrecherischen Frauen bis zu heiratswilligen Kandidatinnen mit Kinderwunsch und einer Beziehung am Arbeitsplatz mit einer Influencerin, deren Vater Munk fast hätte sein können. 
Bereits diese vielschichtige Aufzählung macht deutlich, dass Munk mit fast jeder Art von Frau bzw. der klischeehaften Vorstellung solcher Frauen im Bett gewesen ist. Das liest sich zwar kurzweilig, vor allem wenn es mit authentisch wirkenden Details wie der Atmosphäre in dem Eisstadion in den 80ern oder der Streamingprojekte mit dem Gesamtwerk von Regisseuren wie Hitchcock, Kurosawa, Scorsese und Fellini gespickt ist, doch hinterlässt keinen bleibenden, schon gar nicht originellen Eindruck. 
Auch wenn „Munk“ weitgehend aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, kommen zwischendurch aber auch die Meinungen der beteiligten Frauen zum Ausdruck, allerdings hätte Weiler auf eine Vereinigung der weiblichen Perspektiven am Ende ruhig verzichten können. 

Robert R. McCammon – „Blutdurstig“

Montag, 9. September 2024

(Knaur, 496 S., Tb.) 
Nach „Baal“, „Höllenritt“ und „Tauchstation“ legte der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon 1981 seinen vierten Roman vor, der hierzulande erstmals 1988 unter dem Titel „Blutdurstig“ erschien. Man merkt diesem Frühwerk noch deutlich an, dass McCammon zwischen den bereits etablierten Horror-Autoren Stephen King, Dean R. Koontz und Peter Straub seine eigene Stimme zu finden versucht. 
Ende Oktober zählt Detective Captain Andy Palatazin zu den Polizisten, die Jagd auf einen Serienmörder machen. Nachdem ein Polizeibeamter den Mund einer der ermordeten Frauen mit toten Kakerlaken vollgestopft vorfand, dauerte es nicht lange, bis Gayle Clarke vom Los Angeles Tattler den Killer in ihrer Schlagzeile als „Kakerlak“ bezeichnete. Allerdings hinterließ der Kakerlak seit dreizehn Tagen keine Toten, keine Briefe mehr. Doch während der Mann namens Walter Benefield bereits auf der Suche nach seinem nächsten Opfer ist, breitet sich in Los Angeles eine weitaus größere Bedrohung aus. In dem Schloss, in dem einst dem Horrorfilmstar Orlen Kronsteen der Kopf abgehackt worden war, hat sich der Vampirfürst Prinz Vulkan mit seiner rechten Hand Falco eingenistet, der nach nichts weniger strebt, als ganz Los Angeles mit Untoten zu bevölkern. Als am Hollywood Memorial zwanzig Gräber geschändet und die Särge abtransportiert werden, haben weder die Öffentlichkeit noch die Polizei einen Schimmer, was ihnen da blüht, auch nicht, als weitere Friedhöfe auf ähnliche Weise verwüstet werden. Doch Palatazin, der aus dem ungarischen Krajeck stammt, bekommt bald mehr als eine Ahnung, was in der Stadt der Engel vor sich geht… 
„Wie viele hatten den Ruf des Meisters bereits vernommen? Wie viele irrten nachts bereits blutdürstig durch die Straßen? Tausend? Fünftausend? Zehntausend? Es würde schleichend geschehen, wie damals, vor so langer Zeit, in Krajeck, - bis die Stadt dem Meister und seiner Brut preisgegeben wäre. Er musste es einfach jemandem erzählen, der ihm glauben würde. Aber wem? Wem?“ (S. 255) 
Als die Gefahr auch anderen Menschen bewusstwird, scheint es schon zu spät zu sein, denn ein Sandsturm hat alle Zufahrtswege der Stadt unpassierbar gemacht… 
McCammon hat bereits in seinen ersten Werken zumindest ein erzählerisches Talent an den Tag gelegt, das zumindest in sprachlicher Hinsicht zu überzeugen verstand. Allerdings hapert es auch in seinem vierten Roman an einer originellen Geschichte. Die Vampir-Thematik haben andere Autoren wie Bram Stoker mit seinem Klassiker „Dracula“ und Stephen King (mit „Brennen muss Salem“) bereits ausgeschöpft. Dean Koontz dagegen hat nie einen Vampir-Roman geschrieben – aus gutem Grund, wie sich bei „Blutdurstig“ zeigt, denn McCammon reiht nur die vertrauten Elemente einer Vampirgeschichte aneinander. Selbst Prinz Vulkans Gehilfe Benefield kann seine literarische Herkunft von Draculas Diener Renfield nicht verhehlen. Dazu kommen das verwunschene Schluss als Vampir-Residenz, die Särge mit Erde aus der Heimat, Knoblauch, Kruzifixe und das ganze Gedöns – und leider auch viel zu viele Figuren, die nur oberflächlich charakterisiert werden. Der Sandsturm, der Los Angeles einkesselt, muss da als einzige originelle Idee herhalten, doch reicht das bei weitem nicht aus, um aus „Blutdurstig“ einen interessanten Roman zu machen.


Michael Connelly – (Renée Ballard: 5, Harry Bosch: 24) „Wüstenstern“

Dienstag, 3. September 2024

(Kampa, 416 S., HC) 
Es war ein kluger Schachzug des renommierten Thriller-Autors Michael Connelly, vor einigen Jahren mit Renée Ballard eine neue, interessante Figur einzuführen, die ausführlich in ihrem ersten Abenteuer „Late Show“ vorgestellt wurde, bevor sie nach ihrer Strafversetzung in die Nachtschicht beim LAPD unweigerlich den berühmt-berüchtigten Kollegen Harry Bosch kennenlernte. Seit dem zweiten Ballard-Band „Night Team“ werden die Bande zwischen Ballard und Bosch zunehmend enger geknüpft. Im fünften Ballard- und bereits 24. Bosch-Roman stehen die Zeichen einmal mehr auf Veränderung. 
Ein Jahr ist es her, dass Detective Renée Ballard aus Frust vor allem über Politik, Bürokratie und Frauenfeindlichkeit den Dienst quittiert und die Late Show verlassen hat, doch statt wie geplant mit dem bereits pensionierten Bosch gemeinsam als Privatermittler weiterzumachen ließ sie sich vom Polizeichef mit dem Angebot überreden, bei einer Rückkehr zum LAPD sich ihre neue Stelle aussuchen zu dürfen. Sie hatte sich zunächst für die Robbery-Homicide Division in Downtown entschieden und darf nun nach ausdrücklicher Initiative von Stadtrat Jake Perlman nun die neue Einheit Offen-Ungelöst leiten. Bosch nimmt ihr Angebot an, als Ehrenamtlicher dabei zu helfen, den nach wie vor ungeklärten Mord an Perlmans kleiner Schwester zu bearbeiten. 
Für Bosch bietet diese Tätigkeit zudem die Möglichkeit, sich um einen weiteren Fall zu kümmern, der zu den schlimmsten zählt, den Bosch und seine Kollegen nie aufklären konnten: Finbar McShane hat 2013 die vierköpfige Gallagher-Familie mit einer Nagelpistole ausgelöscht und ihre Leichen in der Wüste verscharrt, doch beweisen konnte ihm Bosch nichts. Neben Bosch sind noch der ehemalige FBI-Mann Thomas Laffont, Lilia Aghzafi von der Las Vegas Metro, der pensionierte Deputy District Attorney Paul Masser, die empathisch begabte Genealogin Colleen Hatteras und Lou Rawls, der auf Drängen des Stadtrats dazugestoßen ist, mit an Bord. 
Die Zusammenarbeit im Team läuft nicht ganz reibungslos, auch nicht zwischen Ballard und Bosch, doch dann hat Bosch eine Idee, die zunächst dem Pearlman-Mord neuen Schwung verleiht, denn ein Wahlkampfbutton bringt den Fall mit einem weiteren ungeklärten Mord in Verbindung… 
„Die Wahlen von 2005 hatten am 8. November stattgefunden, nur drei Tage nach dem Mord an Laura Wilson. Irgendwann während des Wahlkampfs hatte sie einen Unterstützerbutton bekommen, der in ihrer Krimskramsschublade gelandet war. Was, wenn überhaupt etwas, bedeutete das? War es Zufall, dass Laura Wilson einen Button bekommen hatte, der für einen Kandidaten warb, dessen Schwester elf Jahre zuvor von dem Mann ermordet worden war, der auch sie umbringen sollte?“ (S. 106) 
Michael Connelly zählt zu den ganz wenigen Thriller-Autoren, die trotz jahrelanger Erfolgswelle nie oder sehr selten an Qualität einbüßen. Das liegt vor allem daran, dass er seine Ermittler nicht nur interessante Fälle bearbeiten lässt, sondern in der detaillierten Beschreibung des Polizeialltags, ohne dabei den langweiligen Aspekten wie stundenlanger Beschattung zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Stattdessen lässt Connelly sein Publikum den Ermittlern über die Schulter schauen, so dass man sich als Leser und Leserin mitten im Geschehen glaubt. Dazu gewährt der Autor tiefe Einblicke in die Politik der Strafverfolgung, wenn etwa wichtige Entscheidungen ausgesessen werden, bis eine entscheidende Wahl erfolgt ist und sich die politische Stimmung verändert hat. 
Connelly versteht es geschickt, die Fälle Pearlman und Gallagher parallel laufen zu lassen, um zum Finale hin die Zügel zu straffen und die Handlung mit etwas Action und Spannung zu würzen. So lässt man sich als Krimi- und Thriller-Fan gern unterhalten! 

John Katzenbach – (Dr. Frederick Starks: 3) „Die Familie“

Donnerstag, 29. August 2024

(Droemer, 636 S., Pb.) 
Als ehemaliger Gerichtsreporter für „The Miami Herald“ und „The Miami News“ waren die menschlichen Abgründe das tägliche Brot von John Katzenbach, und wie sein Kollege Michael Connelly avancierte der Sohn einer Psychoanalytikerin und des früheren US-Justizministers Nicholas Katzenbach aus dieser „Schule“ zu einem der besten Thriller-Autoren seiner Zeit. Drei seiner Romane wurden sogar schon verfilmt (als „Das mörderische Paradies“, „Im Sumpf des Verbrechens“ und „Das Tribunal“). Nun legt Katzenbach mit „Die Familie“ den Abschluss seiner Trilogie um den Psychoanalytiker Dr. Frederik Starks vor, die mit „Der Patient“ und „Der Verfolger“ ihren Anfang nahm. 
Eigentlich sollte der einst in New York erfolgreich praktizierende Psychoanalytiker Dr. Frederik Starks schon vor 15 Jahren unter den Toten weilen. Am Abend seines 53. Geburtstags wurde er von einem Psychopathen, der sich „Rumpelstilzchen“ nannte, per Brief zu einem tödlichen Spiel aufgefordert, bei dem er in einer Frist von 15 Tagen die Identität des Briefeschreibers lüften muss, sonst würde er Dr. Starks Familie umbringen – es sei denn, der Psychiater beendet selbst sein eigenes Leben. 
Nachdem er seinen eigenen Tod überzeugend vorgetäuscht und sich in Miami ein neues Leben aufgebaut hatte, haben ihn die drei überlebenden Mitglieder der diabolischen Familie jedoch nach fünf Jahren erneut ausfindig gemacht und ihn in ein weiteres perfides Spiel verwickelt, das er mit knapper Not überlebte. Seine Hoffnung, dass seine Peiniger damals das Zeitliche gesegnet haben, war jedoch verfrüht, denn nun hat sich ein Unbekannter, der sich Zerberus nennt, in seinen Computer gehackt und konfrontiert ihn mit einer Aufgabe, die ganz in das Schema seiner früheren Peiniger passt: Starks hat vierzehn Tage Zeit, aus den zwölf Patienten, die Zerberus ihm auflistet, den einen herauszufinden, der Selbstmord begehen will, und diesen verhindern, sonst werden die beiden letzten beiden Menschen, die ihm noch am Herzen liegen, getötet. 
Indem er seine zwölf ehemaligen Patienten abtelefoniert, stößt er auf Alexander Williams, der sich einen Namen als Kriegsfotograf gemacht hatte, von sich aus die Therapie beendete und nun nicht auffindbar zu sein scheint. Die Suche nach ihm entwickelt sich zu einer ausgetüftelten Schnitzeljagd, bei der Starks einmal mehr von den schauspielerischen Qualitäten seiner Peiniger überrascht wird. Schließlich findet er in Williams‘, bei einer Sekte untergekommener Schwester Annie und dem ebenfalls dort lebenden Teenager Owen zwei wichtige Verbündete im Wettlauf gegen den Tod. Mit ihnen zusammen will Starks den Spieß umdrehen und selbst das Überraschungsmoment für sich nutzen… 
„Sie hatten geschafft, was nur wenigen Killern gelang: Jeden seiner Instinkte, seine Ausbildung, seine Erfahrung und seine Persönlichkeit hatten sie gegen ihn selbst in Stellung gebracht, bis er langsam, aber sicher das Gefühl bekam, nicht länger gegen sie zu kämpfen, sondern ein unfreiwilliger Akteur in ihrer Inszenierung zu sein. Scheinwerfer. Kamera. Action. Auftritt auf Kommando, Bühne links. Es schien ausweglos. Ich schlafwandle in meinen eigenen Tod.“ (S. 481f.) 
Sechzehn Jahre sind zwischen den Veröffentlichungen der ersten beiden Dr.-Starks-Romane „Der Patient“ und „Der Verfolger“ vergangen. Für „Die Familie“ hat Katzenbach „nur“ sechs weitere Jahre gebraucht. Man muss die ersten beiden Bände der Trilogie nicht unbedingt kennen, um „Die Familie“ lesen und verstehen zu können – dafür rekapituliert der Autor die wesentlichen Story-Elemente der vorangegangenen beiden Werke ausführlich genug, um ein Gefühl für das Wesen der Widersacher von Dr. Starks zu bekommen. 
Die Zeit, die sich Katzenbach genommen hat, um einen raffiniert durchdachten Schlussakkord für seine Trilogie zu setzen, kommt „Die Familie“ sehr zugute, denn auch wenn einige Elemente des Plots sehr konstruiert wirken, bekommt das Publikum eine Story serviert, die komplizierte Wendungen nimmt, um am Ende doch recht vorhersehbar zu enden. 
Im Vergleich zu Bestsellerautoren wie James Patterson und Lee Child, die ihre Protagonisten jedes Jahr ein neues, zusehends uninspiriertes „Abenteuer“ erleben lassen, wirkt Katzenbachs Arbeit weit substanzieller und anspruchsvoller – auch mit seinem achtzehnten hierzulande veröffentlichten Roman. Dafür sorgen vor allem die psychologisch stimmigen Figuren, denen viel Raum zur Entwicklung gegeben wird.

Andrew O‘Hagan – „Caledonian Road“

Donnerstag, 22. August 2024

(Ullstein, 784 S., HC) 
Der aus Glasgow stammende Andrew O’Hagan ist hierzulande kaum bekannt, doch das könnte sich mit seinem epischen Gesellschaftsroman „Caledonian Road“ ändern. Dabei veröffentlichte er bereits 1995 mit „The Missing“ sein erstes Buch, nachdem er vier Jahre dem Redaktionsstab von „London Review of Books“ angehört hatte. Seither folgten sechs Romane, zwei weitere Sachbücher und als Ghostwriter die unautorisierte Biografie von Julian Assange. „Caledonian Road“ ist nach „Mayflies“ der siebte Roman des Schotten und setzt sich auf kluge Weise mit dem auseinander, was in der heutigen britischen Gesellschaft schiefläuft. 
Der 52-jährige, in London lebende Kunsthistoriker Campbell Flynn befindet sich im Mai 2021 auf der Höhe seines intellektuellen Schaffens. Sein während des Lockdowns erschienene Biografie über den niederländischen Maler Vermeer entwickelte sich zu einem Bestseller, sein BBC-Podcast „Kultur und ihre Unzulänglichkeiten“ erreichte auch ein jüngeres Publikum, und in der Aktentasche wartet bereits das Manuskript für sein nächstes Projekt. 
Dennoch könnte die Welt rosiger aussehen. Zwar konnte Flynn die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, hinter sich lassen und mit der Psychotherapeutin Elizabeth, der 54-jährigen Tochter einer Gräfin, als Frau Eingang in die bessere Gesellschaft finden, doch verfügt er längst nicht über die finanziellen Mittel, die ihm seiner Meinung nach zustehen sollten. Dazu kommt, dass ausgerechnet sein bester Freund, der Kaufhauskönig Sir William Byre, in einen üblen Finanzskandal verwickelt ist, der immer größere Wellen schlägt, zumal bekannt wird, dass er eine 23-jährige Frau, der er eine Wohnung gekauft hat, misshandelt haben soll. Byre hat seinem Freund Flynn nicht nur mit einem großzügigen Darlehen ausgeholfen, sondern seinerseits zwielichtige Geschäfte mit den Russen gemacht, die durch den Ukraine-Krieg natürlich nicht mehr besonders angesehen sind. 
Abhilfe soll Flynns neues Buch schaffen, wobei „Männer, die in Autos weinen. Die Krise der männlichen Identität im 21. Jahrhundert“ unter dem Pseudonym des bekannten Schauspielers Jake Hart-Davis erscheinen und Millionen einbringen, doch Hart-Davis macht in Interviews zum Buch eine schlechte Figur und proklamiert einen Männer-Begriff, der in der Öffentlichkeit angesichts der MeToo-Bewegung gar nicht gut ankommt, denn Männer seien eigentlich Opfer. Einen Ausweg aus dem Dilemma scheint ihm der Student Milo Mangasha anzubieten, der Flynn in die Welt des Darknets, der Deepfakes und zwielichtiger Geschäfte mit Kryptowährungen einführt. Nach ahnt er nicht, dass er selbst nur ein Spielball von Kräften darstellt, über die er keine Kontrolle besitzt… 
„Er hatte immer recht unbekümmert über das Gute geschrieben, über Wahrheit und Harmonie, aber hatte er sich von diesen Dingen nicht in Wirklichkeit weit entfernt, und hatte er jetzt noch eine andere Wahl, als einen Weg zurück zu finden? Heuchler leben davon, dass sie ihre Position gegen die äußere Realität verteidigen, das wusste er, aber in diesem Jahr, in diesem Frühling, war es Campbell klar geworden, dass er das mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ 
Allein die Tatsache, dass O’Hagan seinem fast 800 Seiten umfassenden Roman ein Verzeichnis mit 60 Personen voranstellt, macht deutlich, dass es bei „Caledonian Road“ nicht nur um die Geschichte des Abstiegs eines Mannes geht, dem seine Eitelkeit und sein Unvermögen, mit Geld umzugehen, zum Verhängnis wird. Es geht auch darum, wie Geschäfte mit illegalen Einwanderern gemacht werden, wie die Verzweigungen der britischen Wirtschaft mit russischen Oligarchen den Brexit finanziert haben sollen. 
In leicht verständlicher Sprache streift O’Hagan die Welt der Galerien, der Medien, der Schleuser und der jungen Leute, die sich irgendwie orientieren wollen, gegen Korruption und Heuchelei ankämpfen und sich einen Platz in dieser Welt erobern wollen, ohne andere auszubeuten. Allerdings hat der Autor mit der immensen Herausforderung zu kämpfen, all seine Figuren so unterzubringen, dass man sie als Leser nicht aus den Augen verliert. Das gelingt ihm nur bei den wenigsten. 
Dazu findet sich in „Caledonian Road“ auch keine echte Identifikationsfigur, so dass man die beschriebenen Mechanismen in der Welt von heute zwar wahrnimmt, aber kaum Mitgefühl oder auch nur Sympathie für die Figuren aufbringt. Nichtsdestotrotz ist O’Hagan ein humorvolles und weitsichtiges Gesellschaftsportrait der von Lockdown und Brexit arg gebeutelten Briten gelungen. 

David Baldacci – „Gefährliches Komplott“

Sonntag, 11. August 2024

(Lübbe, 496 S., HC) 
Wie seine berühmten Kollegen James Patterson, John Grisham oder Stephen King hatte auch David Baldacci das Glück, seinen Erstlingsroman erfolgreich verfilmt zu sehen und so seine weitere Karriere als Schriftsteller in den Gefilden internationaler Bestsellerlisten zu erleben. Nachdem Baldaccis Romandebüt „Absolute Power“ aus dem Jahre 1996 bereits ein Jahr später von und mit Clint Eastwood in der Hauptrolle verfilmt worden war, schrieb der US-Amerikaner zwar weiterhin voneinander unabhängige Thriller (und gelegentlich auch etwas seichtere Stoffe), verlegte sich seit Anfang der 2000er Jahre aber beginnend mit dem Ermittler-Duo Sean King und Michelle Maxwell sowie dem Camel Club auf ganze Romanreihen. Mit „Gefährliches Komplott“ legt Baldacci nun einen Thriller mit einer charismatischen Protagonistin vor, der ebenfalls das Zeug besitzt, zu einer eigenen Reihe erweitert zu werden. 
Nach der Trennung von ihrem Mann, der das gemeinsame Bankkonto leergeräumt hatte und mit seiner Sekretärin durchgebrannt war, schlägt sich Mickey Gibson weitgehend allein mit ihren beiden Kleinkindern Darby und Tommy durch und ist froh, nach ihrem aufreibenden Job als Detective bei der Polizei nun bei ProEye meist im Homeoffice vermögende Steuer- und Kreditbetrüger aufzuspüren. Wenn sie dann doch mal das Haus für einen Auftrag verlassen muss, übernehmen Micks Eltern die Betreuung ihrer Kinder, so auch, als eine vermeintlich neue Mitarbeiterin namens Arlene Robinson bei ProEye sie damit beauftragt, zu einem alten Herrenhaus am James River in Virginia zu fahren, um dort eine Inventur der Inneneinrichtung durchzuführen. Doch als sie dort eintrifft und einen Mann tot vorfindet, entwickelt sich ihr Leben zu einer Tour de Force. 
Wie sich herausstellt, wurde der Mann vergiftet, und da sich Gibson nicht bei ihrem Chef wegen des Auftrags rückversichert hatte und nun feststellen muss, dass der Auftrag gar nicht von ProEye erteilt worden sei und es die neue Mitarbeiterin gar nicht gebe, sieht sich die ehemalige Polizistin nun selbst dem Verdacht ausgesetzt, etwas mit dem Mord an dem Mann zu tun zu haben, der zunächst als Daniel Pottinger identifiziert wird, hinter dem allerdings der Mafiabuchhalter Harry Langhorne steckt. 
Gibson wird erneut von der Frau kontaktiert, die sich zunächst als Arlene Robinson vorgestellt hat, sich nun aber als Clarisse ausgibt und ihr nahelegt, weiterhin für sie zu arbeiten, da Langhorne offensichtlich eine Menge Mafiageld beiseitegelegt hat, nach dem etliche Leute her sind. Mickey Gibson ist sich unsicher, ob der ermittelnde Detective Wilson Sullivan wirklich auf ihrer Seite steht, bringt sich und ihre Familie durch die Arbeit an dieser Schatzsuche in Gefahr, aber auch auf Clarisse haben es mächtige Gegner abgesehen… 
Trotz seines beachtlich produktiven Outputs zählt David Baldacci noch zu den Bestseller-Autoren, die auch nach über fünfzig Romanen noch packende, interessante Geschichten mit faszinierenden Hauptfiguren zu erzählen wissen. Das trifft auch auf „Gefährliches Komplott“ zu, einen Thriller, der sich auf das Verwirrspiel mit Identitäten, dunklen Mafiageschäften und undurchschaubaren Finanzaktionen in den Tiefen des Internets fokussiert, aber genügend Raum für die Charakterisierung der beiden weiblichen Hauptfiguren lässt, die der Autor jeweils aus ihrer eigenen Perspektive erzählen lässt. 
Das ist nicht immer leicht nachzuvollziehen und birgt auch einige unnötige Längen, doch versteht Baldacci es souverän, die Spannung durchgehend auf einem hohen Niveau zu halten. Beim temporeichen Finale geht es wie so oft übertrieben hoch her, doch macht es neugierig, ob und wie es mit Mickey Gibson wohl weitergeht…  

Lee Child & Andrew Child – (Jack Reacher: 26) „Der Kojote“

Mittwoch, 7. August 2024

(blanvalet, 364 S., HC) 
Seit Lee Child 1997 mit „Killing Floor“ (dt. „Größenwahn“) seinen ersten Thriller um den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher veröffentlicht hat und gleich mit einem Anthony Award und einem Barry Award für den Besten Erstlingsroman ausgezeichnet worden ist, schiebt der britisch-US-amerikanische Autor in verlässlicher Regelmäßigkeit jedes Jahr ein neues Abenteuer seines Protagonisten nach, der es bislang auf zwei Kino-Einsätze – mit Tom Cruise in der Hauptrolle – und eine TV-Serie bei Amazon Prime gebracht hat. Dass es allerdings langsam ermüdend zu sein scheint, den per Anhalter oder Bus allein durch die USA reisenden Reacher mit immer neuen, halbwegs interessanten Fällen zu betrauen, kann kaum verwundern. Tatsächlich haben sich in den letzten Bänden bereits sichtliche Verschleißerscheinungen bemerkbar gemacht – vermutlich deshalb hat Child angekündigt, die Erfolgsreihe mittelfristig in die Hände seines Bruders Andrew zu geben. Der ist zwar auch schon selbst als Andrew Grant als Autor auf dem Markt präsent, hierzulande aber weitgehend unbekannt. Die zweite Zusammenarbeit der beiden Brüder lässt allerdings wenig Hoffnung auf eine reibungslose Übergabe mit neuen Entwicklungen…
Jack Reacher ist einmal mehr zu Fuß unterwegs, wie gewöhnlich ohne Gepäck, diesmal in der Wüste Arizonas, als er auf einen Jeep stößt, der gegen einen Baum geprallt ist und in dem der ehemalige Ermittler der Militärpolizei eine Frau vorfindet, die eigentlich den Männern auflauert, die über Informationen über ihren Bruder Michael verfügen. 
Der ist offensichtlich ein Bombenbauer, der für den zwielichtigen Geschäftemacher Dendoncker gearbeitet hat und nun nach einem kryptischen Hilferuf, den er seiner Schwester Michaela Fenton hinterließ, verschwunden ist. Wie Reacher erfährt, war die Frau, die eine Beinprothese trägt, bei einer Aufklärungseinheit in Wiesbaden stationiert und strebt nur noch danach, ihren Bruder aufzuspüren und Dendoncker auszuschalten. Der scheint mit seinem Cateringdienst, der auf Bordverpflegung spezialisiert ist, Drogen und Waffen zu schmuggeln. Reacher beschließt, der Frau zu helfen, und gerät dabei selbst in die Fänge des skrupellosen Geschäftsmanns, der eine offene Rechnung mit einem Konkurrenten begleichen will und dafür eine raffiniert konstruierte Bombe zum Einsatz bringen will. Um das zu verhindern, muss Reacher volles Risiko gehen, denn mittlerweile haben Dendonckers Schergen auch Michaela in ihre Gewalt bringen können… 
„Ich sollte seine Schmutzarbeit für ihn erledigen. Sein Gerät an den vorgesehenen Ort bringen. Bis dahin würde er Fenton leben lassen. Dann würde er sie liquidieren – und mich ebenfalls. Vielleicht war unter seinem Truck eine Sprengladung angebracht. Vielleicht würde mir jemand mit einem Scharfschützengewehr auflauern. Jedenfalls gab es kein Szenario, in dem er Fenton und mich am Leben lassen konnte. Ich verstand Dendonckers Worte, als er seinen Plan erläuterte. Ob er jedoch meine verstand, als ich zustimmte, war die Frage. Die Antwort würde ihm nicht gefallen.“ (S. 270) 
Der 26. Jack-Reacher-Band „Der Kojote“ hat mehr als nur mit dem Problem der Glaubwürdigkeit zu kämpfen (denn wie wahrscheinlich ist es im Laufe der Jahre, dass Reacher bei seinen Wanderungen durch die USA stets in eine hochbrisante Situation gerät, die sich jeweils nur durch seine profunde Erfahrung als Ermittler und seine körperliche Schlagkräftigkeit lösen lässt?), sondern diesmal vor allem mit dem mehr als schleppenden Spannungsaufbau. 
Reacher und seine diesmalige Gefährtin Michaela Fenton werden zwar von der Mission getrieben, Michaela Bruder zu finden und Dendocker in die Schranken zu weisen, doch wird der Großteil des ohnehin nur 360 Seiten umfassenden Plots damit verbracht, minutiös die einzelnen Schritte zu beschreiben, die Reacher als Ich-Erzähler unternimmt. Zwar versuchen die Child-Brüder, ihren Helden immer mal wieder ein paar Fäuste schwingen und Tritte austeilen zu lassen, aber diese Action-Intermezzi reichen nicht aus, um das Interesse an dem Fall aufrechtzuerhalten. Zwar entschädigt das raffiniert konstruierte Finale etwas für die misslungene Dramaturgie, doch vielleicht ist es auch einfach mal an der Zeit, Reacher in Rente gehen zu lassen.  

Till Raether - „Treue Seelen“

Dienstag, 30. Juli 2024

(btb, 352 S., HC) 
Till Raether ist zwar mit einer Reihe von Kriminalromanen um den Hamburger Kommissar Danowksi und seinen Kolumnen und Artikeln in der „Brigitte“ und dem „SZ Magazin“ bekannt geworden, doch mit seinem Roman „Treue Seelen“ kehrt der 1969 in Koblenz geborene Autor ins Westberlin seiner Jugend zurück und lässt anhand zweier Beziehungen und einer Affäre die Lebenswelten im West- und Ostberlin nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl auferstehen. 
Die aus dem Rheinland stammenden und seit der Ersti-Fete an der Uni liierten Barbara und Achim hat es vor allem beruflich nach Berlin gezogen. Dort war nämlich eine Stelle als Pyrotechniker in leitender Funktion beim Bundesamt für Materialprüfung ausgeschrieben. Es winkten eine lukrative Berlinzulage und Verbeamtung nach sechs Monaten. 
Doch vor allem Barbara setzt die Spießigkeit in der Nachbarschaft und die Eintönigkeit in der viel zu großen Wohnung in Zehlendorf zu, während sie weiter Umzugskisten auspackt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, wenn er zusammen mit der ehemaligen Punkerin und jetzigen Laborantin Sonja Dobrowolski genügend Feuerwehrraketen getestet hat. Die Angst um radioaktive Strahlen setzt ihr so zu, dass es nur noch Fertiggerichte gibt und schließlich an Trennung denkt. So hat sie sich das dann doch nicht vorgestellt. Achim wiederum verliebt sich in die zehn Jahre ältere Nachbarin Marion, die vor dem Mauerbau aus Ost- nach Westberlin geflüchtet ist und nun in Dahlem im PX-Store der US-Army arbeitet, während ihr Mann Volker beim Bundesgrenzschutz angestellt ist. 
Zunächst begegnen sich Achim und die zweifache Mutter auf dem Dachboden beim Wäscheaufhängen, dann unternehmen sie Ausflüge an Orte, an denen sie wahrscheinlich nicht erkannt werden, sogar in den Osten, wo sie Marions Schwester Sybille wiedersehen. Als Achim heimlich einen aus dem Labor entwendeten Geigerzähler zerlegt in einer Märklin-Modelleisenbahn nach Ost-Berlin schmuggelt, gerät die Geschichte aus den Fugen… 
„Es begann eine Woche, in der sie einander aus dem Weg gingen. Am ersten Morgen dachte Achim noch: Na ja, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hat. Am ersten Morgen dachte Marion noch: Na, wie sieht es denn jetzt aus, wo ich mal eine Nacht nicht darüber geschlafen habe. Aber es sah nicht so gut aus, fand sie. Das war doch alles ihrs. Das hatte sie doch gerade alles erst zurückbekommen, ganz mühsam hatte sie einen winzigen Zipfel von dem erhascht, was mal gewesen war und was in Zukunft vielleicht irgendwie wieder sein könnte, oder einen Zipfel von etwas ganz anderem, Neuem, nicht mal das wusste sie, und dann kam er.“ (S. 305) 
Bereits mit der ersten Seite steckt Till Raether das Terrain seines Romans „Treue Seelen“ ab. Die Tatsache, dass zweiunddreißig Menschen direkt bei der Kernschmelze eines Reaktors in Tschernobyl gestorben und halbe Million Sowjets komplett verstrahlt seien, hätte fast das Hoffest ausfallen lassen, doch Feste sollten gefeiert werden, wie sie fielen, und niemand wollte wirklich auf den berühmten Zwiebeldip von Frau Sudaschefski verzichten. Raether fängt die Stimmung des geteilten Berlins inmitten des Kalten Krieges absolut authentisch ein und inszeniert vor diesem Hintergrund eine absolut gewöhnliche Liebesgeschichte, die jedoch in aller Heimlichkeit ausgelebt werden muss, da die beiden Protagonisten doch noch anderweitig liiert sind. 
Es ist auch weniger die Liebesgeschichte, die „Treue Seelen“ interessant macht, sondern die Vermittlung des Lebensgefühls, der enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen, die die Jugend aus der Provinz mit der Metropole verknüpft, in der immerhin auch David Bowie gewirkt hat. Doch abseits der Kreuzberger Szene und anderer Schmelztiegel ist das Leben in West-Berlin eben doch vor allem eins: eng und spießig. Da lässt sich auch schwer eine neue Liebe entfalten, zumal noch einige Altlasten mitgetragen werden. So bildhaft und authentisch das Leben in Berlin Mitte der 1980er auch geschildert wird und so anschaulich Raether mit der Sprache spielt, verliert „Treue Seelen“ gerade im letzten Drittel an Sogkraft, wenn der politische Widerstand im Untergrund in Ost-Berlin thematisiert wird und die Beziehung zwischen Achim und den beiden Schwestern Marion und Sybille den Plot zerfasern lässt. 
Am Ende hat Raether ein wenig zu viel gewollt und probiert, Liebesgeschichte und Heimatkunde, Zukunftsängste und Agenten-Thriller – hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.  

David Mitchell – „Utopia Avenue“

Sonntag, 21. Juli 2024

(Rowohlt, 748 S., HC) 
Seit seinem 1999 veröffentlichten Debütroman „Ghostwritten. A Novel in Nine Parts“, der fünf Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Chaos“ von Rowohlt erschien, hat sich der Brite David Mitchell mit ausladenden Romanen als einer der interessantesten zeitgenössischen Autoren von der Insel etabliert und durfte sogar eine Verfilmung seines Romans „Cloud Atlas“ durch Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern mit Tom Hanks, Hugh Grant und Halle Berry in den Hauptrollen feiern. Mit seinem 2020 veröffentlichten Roman „Utopia Avenue“ lässt Mitchell die Folk-Rock-Szene rund um den „Summer of Love“ anhand der titelgebenden, fiktiven Band auferstehen und lädt sein Publikum zu einer berauschenden Zeitreise und Begegnungen mit Stars wie David Bowie, Janis Joplin und Leonard Cohen ein. 
Die Folk-Sängerin Elf Holloway hat noch kaum die Trennung von ihrem Freund Bruce Fletcher, mit dem sie das Duo Fletcher & Holloway bildete, verkraftet, da sich ihr in London bereits ein neues Betätigungsfeld auf. Der ehrgeizige Musikmanager Levon Frankland ist 1968 gerade zur rechten Stelle, um eine neue Band aufzubauen, zu der neben Elf auch der völlig abgebrannte, gerade von seiner Hauswirtin vor die Tür gesetzte Bluesbassist Dean Moss, der niederländische Gitarrenvirtuose Jasper de Zoet und der Jazzdrummer Griff Griffin zählen und die fortan unter dem Namen Utopia Avenue firmieren. Es folgt der obligatorische Marathon mit der Suche nach einem geeigneten Plattenlabel, der Auswahl der ersten, durch Würfeln bestimmten Singles und ermüdenden Tourneen durch die kleinen Clubs, bis ein Auftritt bei „Top of the Pops“ die Dinge langsam ins Rollen bringt: Nach einem Auftritt in Italien wird Dean am Flughafen von einem Polizisten ein Päckchen mit Drogen untergeschoben, Levon wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Dieser Vorfall löst international heftige Proteste aus und macht Utopia Avenue auch in den USA populär, wo sie mit ihrem zweiten Album touren. Doch Jasper bekommt wieder psychotische Schübe, die die weitere Karriere der Band bedrohen… 
„Der Auftritt im Ghepardo ist bizarr und peinlich. Bizarr, weil Jasper völlig passiv dabei zusieht, wie sein Ex-Körper fehlerfrei seine Gitarrenparts spielt. Peinlich, weil man, um das Publikum zu begeistern, nicht nur technisches Können braucht, sondern auch Feeling, und ohne Jasper ist Klopf-Klopf ein seelenloser Automat. Utopia Avenue müssen bei ihrem Amerika-Debüt deutlich mehr bieten. Elf, Dean und Griff denken bestimmt, dass Jasper sie im Stich lässt. Und fünf-, sechshundert New Yorker teilen denselben Eindruck: Jasper de Zoet hat keinen Bock. Es tut ihm weh, dass Utopia Avenue so glanzlos untergehen.“ (S. 618) 
David Mitchell lädt mit „Utopia Avenue“ zu einer schillernd-bunten, psychedelisch angehauchten und musikalisch verrückten Zeitreise ein. Akribisch verbindet er die einzelnen Biografien der vier fiktiven Band-Mitglieder von Utopia Avenue zu mehr als nur einer Band-Biografie. Er beschreibt eindringlich, unter welch schwierigen Bedingungen Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen, wie komplex sich das Schreiben und Arrangieren von Songs und das Aufrechterhalten der Bandchemie gestalten. 
Vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges, einer wachsenden Protestkultur und Fragen des Feminismus entfaltet Mitchell eine atmosphärisch stimmige Gesellschaftsstudie, einen fesselnden Künstlerroman und einen berauschenden Drogen-Trip mit fatalen Folgen. Zwar tritt der episodenhafte Charakter von Mitchells früheren Romanen nicht ganz so deutlich hervor, doch springt der Autor immer wieder in der Zeit ein kleines Stück vor und zurück, um einzelne Zusammenhänge deutlicher zu machen. Vor allem fesselt die musikalische Qualität des Romans, den man am liebsten mit einer passenden Spotify-Playlist oder noch besser mit dem Soundtrack auf ausgesuchten Vinyl-Scheiben liest.  

Philippe Djian – „Doggy Bag – Sechs“

Samstag, 20. Juli 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Es ist vollbracht. Der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Oh…“) arbeitete zwischen 2005 und 2008 an einer literarischen Soap, die zwar den hehren Anspruch verfolgte, dass Fernseh-Junkies wieder ein Buch in die Hand nehmen, letztlich aber die erotischen Verwicklungen, die Djians Romane auch zuvor schon geprägt haben, auf imposante 1600 Seiten ausufern ließ. Da sind sie also wieder, die Sollens-Brüder Marc und David, ihre frühere gemeinsame Geliebte Édith, die nach zwanzig Jahren mit einer Tochter im Schlepptau zurückkehrt und sich für Marc entscheidet, Marcs und David getrennte Eltern Irène und Victor, die zwar wieder in einem Haus leben, aber nicht wieder zueinander finden. 
Marc beabsichtigt, trotz seiner Sexsucht, die er bei den Anonymen Sexaholikern mit ihren Zwölf Schritten leider vergeblich in den Griff zu bekommen versucht, Édith zu heiraten und damit auch seiner Vaterschaft einen offiziellen Charakter zu verleihen. 
Leider kommen ihm dabei nicht nur seine ungebremste Libido ins Gehege, sondern auch verschiedene Probleme in der Familie. Der Wintereinbruch mit satten zweistelligen Minusgraden, Eisglätte und Schneemassen macht der ganzen Stadt zu schaffen, während sein Bruder nur mit einer elektronischen Fessel seine „Freiheit“ genießen darf, nachdem er in einem Tobsuchtsanfall einen Menschen getötet hatte. Victor hat den Weg zu Gott zurückgefunden, aber auch unerwartet die Kraft der Levitation entdeckt, was ihn weithin zu einem Heiligen werden lässt – nicht aber in den Augen seiner Frau Irène, die ihm dieses manipulative Verhalten durch eine Affäre mit dem Polizeichef De Watt heimzahlt. Außerdem hat sich Marcs Tochter Sonia, nachdem ihr Liebhaber Roberto spurlos verschwunden ist, wieder mit auf eine Affäre mit dem Zahnarzt eingelassen, den sie nicht mal auch nur annähernd attraktiv findet. Doch am schwersten wiegt das Erdbeben, das das Autohaus in die Tiefe stürzen lässt… 
„All diese Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. All diese Zeit, die sie gebraucht hatten, um die Flammen zu ersticken, die sie früher verzehrt hatten. Man hatte ihnen ind den letzten Monaten arg zugesetzt. Verdammt arg zugesetzt. Niemand käme auf die Idee, das Gegenteil zu behaupten. Die Ereignisse schüttelten sie wie Stürme das Korn auf den Feldern – aber Stürme löschen Erinnerungen nicht aus. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre Seite an Seite verbracht. Mehr oder weniger. Welcher Orkan konnte das auslöschen?“ (S. 243) 
Im sechsten und letzten Band seiner „Doggy Bag“-Soap geht Djian merklich die Luft aus. Nachdem vielschichtige Beziehungen und Affären, Ehebrüche, ungeklärte Vaterschaften, Vergewaltigungen und Naturkatastrophen für ordentlich Wirbel in den vergangenen fünf Bänden gesorgt haben, scheinen sich die Dinge nun zu normalisieren. Dass Marc von seiner Sexsucht nicht geheilt werden kann, illustriert Djian mit einer fast schon absurden Episode, als er seinen Protagonisten zu einer bekannten Schlampe gehen lässt, die sich, bevor sie sich zum Geschlechtsverkehr bereiterklärt, von ihrem spitzen Freier erst den Anus sauberlecken lässt. 
Doch das ist nur eine der stark überspitzten Episoden, die das Geschehen interessant machen sollen, wo es kaum noch Interessantes zu entdecken gibt. Da müssen schon weitere unglaubliche Phänomene wie der unvorstellbare Kälteeinbruch zu Weihnachten und das noch unvorstellbarere Erdbeben herhalten, um mehr als nur symbolisch das hilflose Treiben der Figuren zu veranschaulichen, die mehr Opfer ihres ungezügelten Temperaments zu sein scheinen als mit eigenem Willen ausgestattet. Das ist sicher kein Stoff für Serien-Junkies, die sich ihre tägliche Soap-Dosis vor dem Fernseher reinziehen, sondern eher für die hartgesottenen Djian-Fans, die sich aber eher an dem ausgefeilten Stil des Autors als an der ausufernden Geschichte von „Doggy Bag“ begeistern dürften. 

 

Cormac McCarthy – „Stella Maris“

Mittwoch, 10. Juli 2024

(Rowohl, 240 S., HC) 
16 Jahre nach seinem letzten, auch noch erfolgreich mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle verfilmten Roman „Die Straße“ widmete sich der am 13. Juni 2024 verstorbene Pulitzer- und National-Book-Award-Preisträger Cormac McCarthy mit seinen letzten beiden Werken einmal mehr den großen Fragen der Menschheit, thematisierte Liebe, Wahnsinn und die Wissenschaften. 
Das über 500-seitige Epos „Der Passagier“ schilderte die Geschichte des Bergungstauchers Bobby auf der mysteriösen Suche nach einem Vermissten. Von seiner jüngeren, hochintelligenten Schwester Alicia Western erfahren wir vor allem, dass sie zwar eine geniale junge Mathematikerin und virtuose Violinistin gewesen ist, aber Selbstmord verübt hat, nachdem bei ihr paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war. „Stella Maris“ stellt weniger eine Fortsetzung von „Der Passagier“ dar, sondern einen Teil der ganzen Geschichte aus der Perspektive von Alicia. 
Nach zwei früheren Aufenthalten in dieser Einrichtung kehrt die zwanzigjährige Alicia Western im Oktober 1972 in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Stella Maris zurück und begibt sich in eine Therapie, die allein aus Gesprächen mit dem dreiundvierzigjährigen Psychiater Dr. Cohen besteht. 
Zu mehr hat sich die Doktorandin der Mathematik an der Universität von Chicago nicht bereiterklärt. Es erschien ihr der einzig mögliche Zufluchtsort, da sie von der psychiatrischen Klinik St. Coletta, in der Rosemary Kennedy untergebracht war, nicht angenommen wurde. In ihren Gesprächen klammert sie ihre Beziehung zu ihrem Bruder Bobby aus, erwähnt aber, dass sich ihre Eltern beim „Manhattan Project“ kennengelernt haben, wo ihr Vater als Physiker wirkte und ihre Mutter damit beschäftigt war, Uran anzureichern. Alicia spricht in ihren Therapiesitzungen vor allem über das Wesen der Mathematik, über die Natur der Probleme, die Grothendieck, Gödel, Riemann, Poincaré und Noether angetrieben haben, aber auch über die Geister, die sie ab ihrem elften Lebensjahr wahrzunehmen begann, vor allem ein Zwerg mit Flossen statt Händen. Alicia streift in ihren Beschreibungen verschiedene Überlegungen zu wissenschaftlichen Disziplinen, findet den Bogen von Jung und Freud zu Wittgenstein
Am Ende spricht sie dann doch über die inzestuöse Liebe zu ihrem Bruder, über ihre Selbstmordgedanken und den Wahnsinn. 
„Wenn wir noch an Hexen glauben würden, würden wir sie auch verbrennen. Hässliche Weiber mit Hakennasen würden auf den elektrischen Stuhl geschnallt. Anscheinend hat nie jemand bemerkt, dass die stereotype Hexe jüdische Züge tragen soll. Ich glaube, der Skeptizismus ist ganz okay. Wenn man ertragen kann, was damit einhergeht. Ich bin froh, dass man mich gut behandelt, aber ich weiß, dass das nicht unbedingt so bleiben muss. Wenn diese von der Vernunft geschaffene Welt irgendwann den Bach runtergeht, wird sie die Vernunft mitnehmen.“ (S. 171) 
Ähnlich wie „Der Passagier“ stellt „Stella Maris“ keine leichte Lektüre dar, auch wenn der Aufbau als reines Zwei-Personen-Stück konzipiert ist, als einfach nur aufeinander folgende Gesprächssitzungen zwischen Psychiater und Patient. Dabei wird deutlich, dass Cormac McCarthy, der seit Jahrzehnten dem Santa Fe Institute angehört, mehr der Wissenschaft als der Literatur zugetan ist. Die mathematischen Theorien, die wie zuvor schon auf dem Gebiet der Physik in „Der Passagier“ thematisiert wurden, könnten schon mal den Leser in Versuchung führen, das Buch beiseite zu legen, doch die einzigartig gekonnte, karge Sprache des vielleicht bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellers lässt einen durchhalten, und dann geht es auch mit weniger komplizierten Sachverhalten weiter, die allerdings durchweg den brillanten Geist durchschimmern lassen, der die Zwanzigjährige durchzieht. 
„Stella Maris“ erzählt auf spannende Weise, wozu der menschliche Geist im Spannungsfeld zwischen Liebe, Wissenschaft, Kunst und Spiritualität in der Lage ist – im schöpferischen wie zerstörerischen Sinne. 

 

Joe R. Lansdale – „More Better Deals“

Sonntag, 7. Juli 2024

(Festa, 288 S., HC) 
In einem Aufsatz für Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für Science Fiction und Phantastik bezeichnete der österreichische Schriftsteller Andreas Gruber die Werke seine US-amerikanischen Kollegen Joe R. Lansdales als „Synthese aus ironischer Gesellschaftskritik und Splatterpunk“. Diese einzigartige Mischung prägte nicht nur die berühmten Romane um Hap & Leonard, sondern seit Anfang der 1980er Jahre auch Romane wie „Akt der Liebe“, „Ein feiner dunkler Riss“, „Gauklersommer“ und „Das Dickicht“, die hierzulande bei prominenten Verlagen wie Heyne, DuMont und Suhrkamp erschienen. Mittlerweile werden Lansdales Romane nur noch sporadisch ins Deutsche übertragen und dann auch nur vor allem auf harten Horror spezialisierten Verlag Festa veröffentlicht. Dass Lansdale längst nicht mehr zu den Größen des Genres zählt, beweist „More Better Deals“ aus dem Jahr 2020. 
Ed Edwards ist ein mit allen Wassern gewaschener Gebrauchtwagenverkäufer, der Kilometerzähler so weit wie gerade noch realistisch zurückdreht, Reifen mit Schuhcreme einschmiert, um sie neuer aussehen zu lassen, und die Käufer so lange beschwatzt, dass sie vergessen, das kaum lesbare Kleingedruckte ebenso wenig wahrzunehmen wie die überall angebrachten Schilder, dass alle Deals endgültig seien. Verlässt ein verkaufter Wagen das Gelände, haben Ed und sein fettleibiger Chef Dave damit nichts mehr am Hut. Allerdings muss er manchmal auch angezahlte Autos zurückholen, wenn die weiteren Raten ausgeblieben sind, so wie bei der attraktiven Drive-In-Kino- und Tierfriedhof-Betreiberin Nancy und ihrem gewalttätigen Mann Frank. 
Der ist als Lexikonverkäufer zum Glück kaum zu Hause, also packt Ed die Gelegenheit beim Schopf und lässt sich auf eine heiße Affäre mit der Mittzwanzigerin ein. Da Nancy ebenso wie Ed von einem besseren Leben träumt und nicht länger unter der alkoholinduzierten Gewalt ihres Mannes leiden will, macht sie ihrem Liebhaber ein Angebot, das er nicht ablehnen kann, denn bei Franks Tod winkt die Versicherungspolice in Höhe von 10.000 Dollar. Ed plant, mit einem Teil des Geldes seiner 19-jährigen Schwester Melinda eine College-Ausbildung zu ermöglichen und seiner alkoholsüchtigen Mutter zu beweisen, dass nicht nur sein Bruder es etwas zu gebracht hat. 
Seit sie sich mit einem Schwarzen eingelassen hat, der ihre Kinder mit dem Makel der Gemischtrassigkeit befleckte, führt sie ein unglückseliges Leben, dem Ed gerne eine positive Wendung verleihen möchte. Nancy und Ed hecken also einen Plan aus, Frank ins Jenseits zu befördern. Das erweist sich zwar als überraschend schwierig, doch dieser Teil des Plans geht zumindest noch auf. Dass die Versicherung sich allerdings bei den verräterischen Umständen von Franks Tod weigert, die Vertragssumme auszuzahlen, und auch noch Nancys Cousin Walter Verdacht schöpft, dass Nancy und Ed gemeinsame Sache gemacht haben, müssen sie noch einen Schritt weitergehen. 
„Tatsächlich fing ich an, bei dem Gedanken daran, eine gewisse Aufregung zu empfinden. Auch etwas Angst, ja, aber nicht so wie in Korea. Dies war gewöhnliche Angst. Hier aber ging es eigentlich darum, clever zu sein. Das war nicht viel anders, als Leuten einen Gebrauchtwagen aufzuschwatzen, den sie weder wollten noch brauchten, sie denken zu lassen, er sei genau das Richtige für sie. Hier ging es darum, etwas vorzugaukeln, das in Wirklichkeit ganz anders war. Ein emotionaler Taschenspielertrick.“ (S. 87) 
Nicht nur das Thema der Rassendiskriminierung ist in Lansdales „Hap & Leonard“-Romanen, aber auch in seinen anderen großartigen Südstaaten-Thrillern schon weitaus differenzierter ausgearbeitet worden, auch bei der Ausarbeitung der Figuren hat Lansdale in diesem recht kurzen Roman mächtig geschlampt, stellen sie doch nichts weiter als White-Trash-Klischees dar, die von einem besseren Leben träumen, das sich aber nur durch halbwegs lukrative Verbrechen verwirklichen lässt. 
Zunächst entfaltet der Autor ein recht vertrautes Szenario, bei dem ein gelangweilter Gebrauchtwagenhändler einer gerissenen Femme fatale auf den Leim zu gehen scheint. Nach einigen mehr oder weniger sinnvoll erscheinenden Wendungen verpufft die Geschichte am Ende ohne großen Knalleffekt. Dabei ist nicht mal der plakative Schreibstil von Lansdale auch nur annähernd mit dem seiner früheren Glanzzeiten zu vergleichen. Viel eher wirkt „More Better Deals“ so, als hätte Lansdale ein aus gutem Grund unvollendetes Manuskript von Richard Laymon recht lustlos finalisiert. Es bleibt zu hoffen, dass Festa bei der Auswahl weiterer Lansdale-Werke etwas mehr Qualitätsbewusstsein beweist. 

Don Winslow – (Danny Ryan: 3) „City in Ruins“

Freitag, 5. Juli 2024

(HarperCollins, 448 S., HC) 
Noch mag man es kaum glauben: Bestseller-Thriller-Autor Don Winslow („Tage der Toten“, „Zeit des Zorns“, „Jahre des Jägers“) beendet mit der Trilogie um den irischen Mafioso Danny Ryan seine Schriftsteller-Karriere, um seine geistigen Kräfte fortan ganz auf seine politische Arbeit, vor allem auf den Kampf gegen Donald Trump zu widmen. So bewunderungswürdig diese Ambition ist, dürften seine zahlreichen Fans in aller Welt ebenso enttäuscht darüber sein, keine weiteren Meisterwerke der Spannungsliteratur mehr von Winslow erwarten zu dürfen. 
Mit der Danny-Ryan-Trilogie hat Winslow jedenfalls noch mal einen ganz großen Wurf hingelegt. Nach „City on Fire“ und „City of Dreams“ bildet „City in Ruins“ nun den fulminanten Abschluss der Reihe und vielleicht auch von Don Winslows eindrucksvoller Karriere als Schriftsteller.
Nachdem Danny Ryan vor weniger als zehn Jahren den Krebstod seiner geliebten Frau verwinden und mit seinem Sohn Ian und seinem senilen Vater aus Rhode Island fliehen musste, hat er es in Las Vegas zu Reichtum gebracht, hat seinen Anteil aus dem bewaffneten Überfall auf die Vorräte eines Drogenkartells in die Tara Group gesteckt, ist nun Mitbesitzer zweier großer Hotels auf dem Strip. 
Doch hat der Multimillionär noch längst nicht genug, denn beim Bieten um das letzte aus dem Bauboom der fünfziger Jahre übriggebliebene Hotel, das Lavinia, geht es vor allem ums Prestige. Ryans Konkurrent Vern Winegard hat den Kauf schon fast unter Dach und Fach gebracht, doch Ryan hat einen Traum, will ein luxuriöses Hotel mit Haien in riesigen Aquarien und einer Lobby in Blau- und Grüntönen bauen, mit eindrucksvollen Wellen und Palmen. 
Um das ehrgeizige Projekt finanziell stemmen zu können, geht die Tara Group an die Börse, doch kauft Winegard munter die Aktien auf, so dass Ryan sich gezwungen sieht, sich mit dem schwerreichen Abe Stern zu verbünden, der bekanntlich eine tiefe Abneigung gegen Las Vegas hegt. Mit Sterns Sohn Josh entwickelt Ryan eine geeignete Strategie, den Traum vom „Il sogno“ zu verwirklichen, doch dann gerät die Feindschaft zwischen Ryan und Winegard völlig außer Kontrolle. 
Neben dem Ringen um das Lavinia präsentiert „City in Ruins“ noch verschiedene Nebenschauplätze, darunter die Versuche von FBI-Agentin Regina Moneta, den offensichtlich von Danny Ryan begangenen Mord an ihrem (korrupten) Kollegen und Liebhaber Jardine zu rächen, und Marie Bouchards Anklage gegen Peter Moretti Jr., der seine Mutter und ihren Liebhaber erschossen haben soll… 
Auch im Abschluss seiner Trilogie hält Don Winslow das Tempo hoch. Bravourös manövriert er seine Leserschaft durch die Machenschaften seiner Figuren, wobei Danny Ryan wie so viele andere eigentlich das kriminelle Leben hinter sich lassen wollen, um mehr Zeit mit der Familie verbringen zu können und nicht ständig über der Schulter nach möglichen Attentätern Ausschau halten zu müssen. Dabei nimmt der Autor durch kurze Rückschauen und Zusammenfassungen auch das Publikum mit, das – aus welchen Gründen auch immer – die ersten Bände noch nicht kennt. 
Mit wenigen, knackig kurzen Sätzen und Dialogen verleiht Winslow seinen Figuren Kontur, macht die Anspannung spürbar und lässt die Leser vor allem mit Danny Ryan mitfiebern. 
„City in Ruins“ präsentiert sich dabei zwar auch als klassischer Mafia-Thriller in bester „Der Pate“-Manier, greift aber auch Elemente des Wirtschafts- und Justizthrillers auf, um der Geschichte einen aktuellen Rahmen zu verleihen. Das ist so packend geschrieben, dass man sich nur wünschen kann, dass Winslow irgendwann doch noch wieder an den Schreibtisch zurückkehrt, um uns mit weiteren grausam guten Geschichten zu verwöhnen.  

James Ellroy – „Die Bezauberer“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Ullstein, 672 S., HC) 
James Ellroy darf getrost als legitimer Erbe von Hardboiled-Autoren wie Ross Macdonald, Dashiell Hammett und Raymond Chandler angesehen werden. Wie finster und abgründig seine Werke sind, demonstrieren allein schon die auf seinen Geschichten basierenden Verfilmungen wie „L.A. Confidential“, „Dark Blue“ und „Street Kings“. Nun legt der Meister des schwarzen Krimis mit „Die Bezauberer“ ein ideenreiches, verspieltes und verstörendes Werk rund um den Tod von Hollywood-Ikone Marilyn Monroe vor. 
Als Anfang August 1962 die B-Film-Schauspielerin Gwen Perloff eines Spätnachmittags von drei Männern mit Fidel-Castro-Masken entführt worden ist, bekommt Darryl F. Zanuck, Chef von 20th Century Fox, die Information, dass Rick Danforth und Buzzy Stein dahintersteckten, und informiert wiederum Polizeichef Bill Parker. Er schickt den legendären Schnüffler Freddy Otash und die sogenannten „Herrenhüte“ los, die beiden Männer zum Reden zu bringen, wobei Otash den Verdächtigen Danforth skrupellos von der Klippe am Freeway in den Tod stößt und so durch dessen Komplizen das Versteck mitgeteilt bekommt, in dem Perloff gefangen gehalten worden ist. 
Doch es kommt noch schlimmer: Marilyn Monroe wird nach einem tödlichen Pillencocktail tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihr Tod ist nicht zuletzt deshalb so brisant, weil Otash zuvor erst den Auftrag von dem mit der Mafia verkehrenden Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa den Auftrag erhalten hatte, die Wohnung der Schauspielerin zu verwanzen, um nach ihrem Tod im Auftrag von Parker Material ausfindig zu machen, das US-Präsident John F. Kennedy von Gerüchten um eine Affäre mit der Toten befreit. Während seiner Recherchen stößt Otash tief in einen Sumpf von Affären und schmutzigen Geschäften und kommt einem „Sex-Widerling“ auf die Spur, der bereits sechs geschiedenen Frauen aufgelauert hatte. Es geht um Aktienhandel und Drogengeschäfte, um Pornos und sogenannte „Fick-Karten-Decks“, bei denen niemand Geringerer als Orson Welles den Auslöser betätigt haben und auch die Monroe beteiligt gewesen sein soll. 
„Innerhalb ihres allumfassenden Niedergangs musste Marilyn Monroe ein Geheimleben führen. Das sie befähigte, selbst dann überlegt und präzise Kurs zu halten, wenn das innere Chaos sie zu überwältigen drohte. Eine eindeutige Schlussfolgerung aus theoretischen Überlegungen und praktischen Erkenntnissen. Das betraf ihr Bargeldversteck, ihre Verkleidungen, ihre heimlichen Telefonate und ihren Ausflug ins Valley. Ebenso ihren schrägen Fahrstil und die zugehörigen Polizisten-Flirts. Alles in allem verwies das auf eine neu belebte Tollkühnheit, verbunden mit einer irren Verachtung des eigenen goldenen Käfigs, dessen Grenzen und Regeln sie nun durch ein verblüffendes und verblüffend anonymes neues Rollenspiel zu überschreiten suchte.“ 
Allein der Umstand, dass Ellroy seinen neuen Roman rund um den von Verschwörungstheorien umrankten Tod von Marilyn Monroe angesiedelt hat, macht neugierig. Der preisgekrönte Schriftsteller etabliert mit dem real existierenden Freddy Otash (1922-1992), der übrigens Pate für Jack Nicholsons Figur Jake Gittes in Roman Polanskis „Chinatown“ stand, eine Figur mit eidetischem Gedächtnis und korruptem Charakter. Im Sauseschritt rast Otash durch den Sündenpfuhl in Hollywood, in dem Liz Taylor und Richard Burton am Set des Mega-Flops „Cleopatra“ ebenso verwickelt sind wie ihr Porno-drehender Schauspielkollege Roddy McDowall, der Kennedy-Klan, schräge Psychiater und diverse Mafia-Größen. 
Es handelt sich dabei aber nicht um eine weitere Verschwörungstheorie, wer für Marilyn Monroes Tod verantwortlich gewesen sein könnte, sondern um eine rein fiktionale Bearbeitung einiger realer Umstände mit ebenso realen, allerdings stark verfremdeten Personen. Letztlich bekommen die Reichen und Schönen, die Begabten und Möchtegern-Promis allesamt ihr Fett weg. Wie Ellroy die Drogen- und Sexexzesse in ultrakurzen, pfeilschnellen Sätzen herunterballert, ist schon eine Wucht, aber natürlich nichts für Zartbesaitete. 
„Die Bezauberer“ fesselt mit prominenten Figuren und abstrus-obszönem Setting, das immer neue Haken schlägt und die Leserschaft am Ende atemlos und verstörend zurücklässt. 

 

Ross Macdonald – (Lew Archer: 5) „Wer findet das Opfer“

(Diogenes, 312 S., Pb.) 
Dass Ross Macdonald (1915-1983) neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler der prominenteste Autor klassischer Hardboiled-Detektivromane gewesen ist, kommt nicht von ungefähr, schließlich wurden zwei seiner Lew-Archer-Romane mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt („Harper“, „Unter Wasser stirbt man nicht“). 1954 erschien mit „Find a Victim“ der fünfte von insgesamt 18 Lew-Archer-Romanen. Nun hat Diogenes im Rahmen der Wiederveröffentlichung seiner Werke Macdonalds Roman in neuer Übersetzung und mit einem Nachwort von Donna Leon herausgegeben. 
Auf dem Weg nach Sacramento, wo er einem Gesetzgebungsausschuss Bericht erstatten muss, entdeckt Privatdetektiv Lew Archer am Rand des südkalifornischen Highways einen angeschossenen Anhalter und bringt ihn in die nächste Kleinstadt namens Las Cruces, wo er beim Motel Kerrigan’s Motor Court einen Krankenwagen kommen lässt. 
Für das Opfer, das als Tony Aquista identifiziert wird, kommt allerdings jede Hilfe zu spät. Der Vorfall wirft natürlich Fragen bei der Polizei auf. Bis der Papierkram erledigt ist, soll Archer in der Stadt bleiben. Die Zeit nutzt er für eigene Ermittlungen. Bereits bei seiner Ankunft bei den Kerrigans hat Archer die Spannungen zwischen Kerrigan und seiner Frau gespürt. Er stößt auf ein undurchdringlich erscheinendes Netz aus verbotenen Geschäfts- und vor allem Liebes-Beziehungen. Aquista war nicht nur Fahrer eines mittlerweile vermissten Trucks, der Kerrigans Whiskey geladen hatte, sondern auch in Kerrigans Angestellte und Geliebte Anne Meyer verschossen gewesen ist. Anne ist ebenso wie der Truck, der dem Speditionsunternehmen ihres Vaters gehört, verschwunden. 
Annes Schwester Hilda wiederum ist mit Sheriff Church verheiratet, der mehr mit der Sache zu tun hat, als es zunächst den Anschein hatte, und Archer gefährlich nah auf die Pelle rückt. 
„Angst durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hatte eine Waffe in meiner Tasche. Ich griff nicht danach. Mehr hätte es nicht gebraucht, um es wie Selbstverteidigung aussehen zu lassen. Und er war Polizist. Die .45er in seiner Hand zog ihn zu mir. Sein lässiges Schweigen war schlimmer als alle Worte. Wenn es vorbei sein sollte mit mir, dann war dies der Zeitpunkt und der Ort, im Valley unter weißem Himmel und mitten in einem Fall, den ich niemals lösen würde.“ (S. 207) 
Ein zufällig von Lew Archer auf der Straße aufgelesener Verletzter bildet den Ausgangspunkt für ein vertracktes Kleinstadt-Rätsel, in dem Alkohol und Drogen ebenso eine Rolle spielen wie ein Banküberfall und verschiedene Fehden und mehr oder weniger geheime Affären. Dieses Knäuel zu entwirren kostet Archer nicht nur viel Laufarbeit und Gehirnschmalz, sondern auch das nötige Einfühlungsvermögen bei den „Frauen in Not“ und die Kraft und den Willen in den körperlichen Auseinandersetzungen. Da Macdonald seinen Privatdetektiv als Ich-Erzähler auftreten lässt, weiß der Leser stets nur so viel, wie Archer selbst in Erfahrung bringt. Dabei verfügt der Protagonist über einen intakten moralischen Kompass, der Archer die Nöte der Frauen, allen voran Kate Kerrigan, nicht ausnutzen lässt, und ein Durchhaltevermögen, mit dem er auch unter Bedrohung seines eigenen Lebens und der mehr als nur vagen Möglichkeit, selbst wegen Mordverdachts in den Fokus der Ermittlungen zu geraten, den Mord an Aquista aufklären will.  
Ross Macdonald fängt die vielschichtige, geheimnisvolle und verworrene Atmosphäre in Las Cruces meisterhaft ein, brilliert mit messerscharfen Dialogen und fein gezeichneten Figuren, die auf verschwörerische Weise miteinander verbandelt sind und oft ohne Rücksicht auf Verluste nur ihr eigenes Glück verfolgen.  

Arnon Grünberg – „Gnadenfrist“

(Diogenes, 154 S., TB.) 
Mit Romanen wie „Amour fou“, „Monogam“ und „Mit Haut und Haaren“ hat der niederländische Schriftsteller und Blogger Arnon Grünberg vornehmlich sexuelle Gelüste, wie auch immer geartete Beziehungen thematisiert und damit teilweise messerscharfe Sittenbilder gezeichnet, die die oft kurios anmutenden Kontaktsuchen in der modernen Mittelschicht ebenso amüsant wie scharfsinnig reflektierten. Insofern bietet auch der bereits 2006 erschienene, nun wiederveröffentlichte Kurzroman „Gnadenfrist“ wenig Neues, gibt sich aber nicht mit Nebenschauplätzen ab, sondern zeigt fokussiert auf, wie ein Diplomat durch eine unglückselige, zerstörerische Liebesbeziehung all das zerstört, was er sich sein Leben lang aufgebaut hat. 
Eigentlich hat Jean Baptist Warnke alles, wovon ein Mann nur träumen kann: Eine kluge wie schöne Frau, in die er auch nach acht Jahren noch verliebt ist, zwei kleine Töchter im Alter von anderthalb und vier Jahren sowie einen einträglichen und aussichtsreichen Job als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima. Dabei hat er nichts weiter zu tun, als repräsentative Aufgaben bei Botschaftsessen wahrzunehmen oder niederländischen Gefangenen Mut zuzusprechen. 
Zu den Höhepunkten seiner eintönigen Arbeitstage zählt der tägliche Besuch im Café El Corner, wo er zu seinem Kaffee stets die recht aktuelle Newsweek durchblättert. Dort lernt er die junge Soziologie-Studentin Malena kennen, die ihn zu einer Gesangsaufführung einlädt. Warnke sieht die Einladung als willkommene Gelegenheit, sich mit der einheimischen Bevölkerung zu befassen, und geht hin. Nach der Aufführung ist Warnke mit Malena allein. 
„Die herrliche Hand des Mädchens liegt in seinem Schritt. Dort gehört sie nicht hin, das weiß er, doch er will sie nicht wegschieben. Das hier ist eine andere Kultur, da muss man Brücken bauen, gerade als Diplomat. Eine Hand im Schritt bedeutet in diesem Milieu etwas anderes als in Den Haag oder Voorschoten. Warnke will niemanden vor dem Kopf stoßen, darum lässt er die Hand liegen. Und er findet es herrlich, wie weich, wie warm, wie klein diese Hand ist.“ (S. 57) 
Es ist der Beginn einer leidenschaftlichen sexuellen Beziehung, die jedoch von einem schrecklichen Ereignis überschattet wird. In der japanischen Botschaft kommt es zu einer schrecklichen Geiselnahme. Eigentlich sollten Warnke und sein Botschafter ebenfalls zu dem dortigen Empfang gehen, doch Malena riet ihm eindringlich davon ab. Nach dem Vorfall ist Malena spurlos verschwunden, und nicht nur in Den Haag fragt man sich, warum die Niederländer nicht zu dem Empfang gegangen sind, was Warnke zunehmend in Erklärungsnöte bringt… 
„Er tue nichts“, antwortet der Diplomat Jean Baptist Warnke auf die Frage des Mädchens, was er beruflich mache. Die Langeweile und Wirkungslosigkeit seines Jobs sind vielleicht ein Grund dafür, warum der Protagonist in Grünbergs kurzer Erzählung so offen für die Affäre mit der schönen einheimischen Studentin ist. Jedenfalls beschreibt Grünberg genüsslich, wie der eigentlich mit allen Wassern gewaschene Diplomat und Familienvater durch den liebestollen Rausch, den er mit Malena erfährt, sein Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. 
Dabei geht der Autor nicht besonders subtil vor, sondern beschreibt den tiefen moralischen Fall seines unglückseligen Antihelden mit lakonischer Präzision. Vor allem der Gegensatz zwischen der unterkühlt wirkenden, sachlich und politisch geprägten diplomatischen „Arbeit“ und der destruktiven Liebesbeziehung macht „Gnadenfrist“ zu einem kurzweiligen, bitter-melancholischen, wenn auch allzu vorhersehbaren Lesevergnügen.