(Rowohlt, 200 S., HC)
Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat gleich mit seinem Debüt, der 1987 veröffentlichten, aus den Novellen „Stadt aus Glas“, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ bestehenden „New-York-Trilogie“ international für Aufsehen gesorgt. Noch im gleichen Jahr erschien der kompakte Roman „In The Country of Last Things“, der zwei Jahre darauf in deutscher Übersetzung bei Rowohlt veröffentlicht wurde. In diesem dystopischen Briefroman lässt Auster eine junge Frau namens Anna Blume in einer unbestimmten Zeit und an einem nicht näher benannten Ort verzweifelt nach ihrem Bruder William suchen. Der Journalist wurde von seiner Zeitung vor einiger Zeit in die „Stadt“ geschickt, von wo er wöchentlich Berichte abliefern sollte, historische Hintergründe und Geschichten aus dem Leben, doch nach ein paar kurzen Nachrichten ließ William nichts mehr von sich hören.
Trotz aller Warnungen macht sich Anna daraufhin auf eine zehntägige Überfahrt mit dem Schiff, findet sich in einer Stadt voller Straßen und hungernden Menschen wieder, die ihrem elenden Leben auf verschiedenen Weisen ein Ende setzen wollen. Entweder schließen sie sich den „Rennern“ an, die sich regelmäßig zusammenfinden, um dann kreuz und quer solange durch die Straßen hetzen, bis sie tot umfallen, oder sie stürzen sich im Rahmen eines öffentlichen Rituals mit dem „Letzten Sprung“ von Hochhäusern. Sie treten Mordvereinen bei und wartet gegen eine geringe Gebühr darauf, von einem ihnen zugeteilten Attentäter ermordet zu werden.
Wer über mehr Vermögen verfügt, kann sich auch in Euthanasiekliniken begeben, um sich mehr oder weniger luxuriös aus dem Leben zu verabschieden. Das unstete Klima, der allgegenwärtige Hunger, die grässliche Mischung aus Tod, Abfall und Fäkalien, die die Straßen verstopft und die oft gefährliche Art, sich als Materialjäger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sorgen für eine hoffnungslose Atmosphäre. Einziger Anhaltspunkt für Anna ist die Fotografie eines weiteren Reporters, die ihr Williams Chef auf ihre hoffnungslose Mission mitgegeben hat.
Es dauert eine Ewigkeit, bis sie diesen Samuel Farr tatsächlich in einer heruntergekommenen Bibliothek entdeckt. Da ist der Mann nur noch ein Schatten im Vergleich zu der längst zerknitterten und ausgeblichenen Fotografie. Anna kommt bei dem Ehepaar Ferdinand und Isabel unter, übersteht in ihrer neuen Bleibe den harten Winter, muss sich aber der Zudringlichkeit des Mannes erwehren. Tags darauf liegt Ferdinand tot in einer Ecke, wird von Isabel und Anna, getarnt als Letzten Sprung, vom Dach des Hauses gestoßen. Als Isabel so schwer erkrankt, dass sie keine Nahrung, dann auch keine Flüssigkeiten aufnehmen und auch nicht mehr sprechen kann, besorgt ihr Anna ein Notizbuch, in das Isabel aber nur noch kurz etwas schreibt, bevor sie stirbt. Anna beschließt, das kaum benutzte Notizbuch zu nutzen, um ihrem alten Jugendfreund einen langen Brief von ihren Erlebnisse und Eindrücken in der „Stadt“ zu berichten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint …
„Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden.“ (S. 97)
Es ist nicht nötig, dass Paul Auster in seinem ebenso schmalen wie eindringlichen Roman „Im Land der letzten Dinge“ Orte und Zeiten präzisieren muss. Die lebendige Schilderung dessen, was seine Protagonistin in ihrem Notizbuch als Brief an ihren Jugendfreund über die Zustände in der nach außen hin abgeriegelten „Stadt“ berichtet, führt dem Leser allzu deutlich vor Augen, dass es selbst in unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft jederzeit zu solch fürchterlichen Lebensumständen kommen kann, wenn beispielsweise von diktatorischen Staaten das Kriegsrecht verhängt worden ist und die Bevölkerung inmitten der Bombentrümmer am Verhungern ist.
Auster lässt seine junge, aufopferungsvoll nach ihrem verschollenen Bruder suchende Anna Blume so einige Schicksalsschläge einstecken, aber irgendwie gelingt es ihr, all die Jahre zu überleben und Gefährten zu finden, die ihr das beschwerliche Leben angenehmer zu gestalten helfen. Selbst für Wohltätigkeit findet sich immer wieder eine Gelegenheit. Trotz des dystopischen Tons schleicht sich so durch die Augen der Briefschreiberin ein großes Maß an Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geschichte einer Suche, während der unglaubliche Zufälle dafür sorgen, dass es für Anna weitergehen kann.
Die Warnung, die Auster trotz des Science-Fiction-Gewands seiner Geschichte mit seinem erschreckend realistisch wirkenden Szenario ausspricht, hallt jedenfalls lange nach.