Alan Parks – (Harry McCoy: 3) „Bobby March Forever“

Freitag, 24. Dezember 2021

(Heyne Hardcore, 428 S., Pb.) 
Mit John Niven und Irvine Welsh hat Heyne Hardcore bereits zwei schottische Schriftsteller mit ganz eigener Stimme im Programm, über die ihr Landsmann Alan Parks mit seiner Reihe um den in Glasgow agierenden Cop Harry McCoy auf andere Weise verfügt. Während ihm zwar der derbe Humor seiner berühmten Kollegen abgeht, fesselt er mit atmosphärisch stimmigen und fesselnden Krimis. Nach „Blutiger Januar“ und „Tod im Februar“ folgt mit „Bobby March Forever“ nun der dritte Teil in der McCoy-Reihe. 
Für den damals 17-jährigen Bobby March ging ein Traum in Erfüllung, als er mit seiner Band The Beatkickers und ihrem Manager Tom im Februar 1964 im Zug nach London saß, um bei dem berühmten Parlophone-Label eine Aufnahmesession zu absolvieren. Knapp zehn Jahre später hat Bobby vor allem als Gitarrist Karriere gemacht und wurde sogar von den Rolling Stones gebucht. Doch nun wird seine Leiche mit einer Nadel im Arm in seinem Hotelzimmer in Glasgow entdeckt. Für Detective Harry McCoy von der Glasgower Police Force scheint der Fall schnell geklärt: Überdosis. Doch als er mit Bobbys heruntergekommenen Vater redet, erwähnt dieser eine beige Tasche, die sein Sohn immer in seiner Nähe hatte, doch im Hotelzimmer war sie nicht aufzufinden. 
McCoy hat aber dringendere Aufgaben zu erledigen. So wird seit fünfzehn Stunden die dreizehnjährige Alice Kelly vermisst, und der korrupte wie geschniegelte Detective Inspector Bernard „Bernie“ Raeburn schickt seinen verhassten ehemaligen Partner McCoy zunächst von Tür zu Tür für die Befragungen der Nachbarn, dann schanzt er ihm eine Reihe von ungelösten Raubüberfällen zu, nur damit er aus seinem Umfeld verschwindet. Als hätte der dreißigjährige Cop nicht schon genug zu tun, bekommt er von seinem ehemaligen Vorgesetzten Chief Inspector Hector Murray den inoffiziellen Auftrag, dessen fünfzehnjährige Nichte Laura wieder nach Hause zurückzubringen, nachdem sie offensichtlich mit dem berüchtigten Donny MacRae durchgebrannt ist. 
Als Raeburn einen psychisch labilen Jungen für den mutmaßlichen Mord an Alice einem brutalen Verhör unterzieht, kommt es zur Katastrophe, worauf Raeburn seinen Hass gegenüber McCoy offen auslebt. Der versucht mit Raeburns Partner Douglas „Wattie“ Watson Licht in die verschiedenen Fälle zu bekommen, wobei sich ihre Wege mit McCoys früheren Kumpel Steven Cooper kreuzen, der mit seinen Handlangern Billy Weir und Jumbo Mühe hat, die Zügel in Glasgows Unterwelt in der Hand zu behalten, ist er doch selbst von dem Stoff abhängig geworden, den er vertickt. Als McCoy zu einer Beerdigung nach Belfast fährt, gerät er auch noch mitten in die Konflikte mit der IRA. Aber auch wieder zurück in Glasgow erlebt McCoy einige böse Überraschungen … 
„Was ihn betraf, so hatte der einzige Mensch, dem er vertraute, gerade die Grenze überschritten. Und wenn dieser Mensch die Grenze überschritten hatte, dann war die Schlacht verloren. Dann konnte er genauso gut auch aufgeben. Wenn Murray die Grenze überschritten hatte, dann würde die Polizei bald nur noch aus Raeburns bestehen. Ignoranten Arschlöchern, die ihre Macht ausspielten, in die eigene Tasche wirtschafteten, das Gesetz auslegten, wie es ihnen am besten in den Kram passte. Und damit wollte er nichts zu tun haben.“ (S. 394) 
Offensichtlich plant Parks, mit seiner Reihe um Harry McCoy jeden Monat des Jahres abzudecken. Dabei trägt sein dritter Band den März nur im Namen des viel zu früh verstorbenen Rockstars, dessen Karriere Parks immer wieder in kurzen Rückblenden Revue passieren lässt. Hier demonstriert Parks ein ähnlich ausgeprägtes Gespür für Rockmusik und das Umfeld, in dem sie entsteht, wie er die Atmosphäre im an allen Ecken und Enden abgefuckten Glasgow wunderbar einzufangen versteht. Es ist allerdings eine dreckige Welt, in der Gewalt, Folter, Korruption, Entführungen, Überfälle, Drogenmissbrauch, Erpressung und Drohungen den Alltag bestimmen. Selbst McCoy muss einiges an Prügeln über sich ergehen lassen, schlägt aber auch mal zu, wenn es die Situation erfordert. 
McCoy bleibt kaum etwas anderes übrig, die Pubs abzuklappern und seine Kontakte zur Glasgower Unterwelt aufzufrischen, um all die vertrackten Fälle zu lösen, die ihm Raeburn auf den Tisch geknallt hat. Parks gelingt das Kunststück, durch die geschickte Verknüpfung der Spuren, die sein sympathischer Protagonist in den verschiedenen Fällen verfolgt, ein hohes Tempo beizubehalten und sukzessive die Spannung zu erhöhen. Dabei nimmt sich der Autor aber auch die Zeit, seine Figuren und die Umgebung, in der sie leben und arbeiten, so lebendig zu beschreiben, als wäre sein Roman ein Drehbuch für das Kino im Kopf des Lesers. Vor allem die authentisch wirkenden Dialoge und die Schilderung der Musik- und Pubszene machen „Bobby March Forever“ zu einem stimmungsvollen Pageturner, bei dem am Ende vielleicht etwas zu konstruiert alle Fälle gelöst werden. Auf jeden Fall hat Alan Parks mit Harry McCoy einen charismatischen, lebensecht wirkenden Cop geschaffen, der uns hoffentlich noch lange begleiten wird.  

William Lindsay Gresham – „Nightmare Alley“

Mittwoch, 15. Dezember 2021

(Heyne, 510 S., Pb.) 
Gleich mit seinem ersten, 1946 veröffentlichten Buch „Nightmare Alley“ wurde William Lindsay Gresham (1909-1962) weltberühmt, erwarb Hollywood doch für 60.000 $ die Filmrechte und machte 1951 unter dem deutschen Verleihtitel „Der Scharlatan“ mit Tyrone Power in der Hauptrolle einen Film daraus. An diesen Erfolg konnte Gresham Zeit seines Lebens nicht mehr anknüpfen. Zwar schrieb er anschließend noch vorwiegend non-fiktionale Bücher wie „Monster Midway: An Uninhibited Look at the Glittering World of the Carny“ (1954), „Houdini: The Man Who Walked Through Walls“ (1959) und „The Book of Strength: Body Building the Safe, Correct Way“ (1961), doch setzte er seinem Leben 1962 mit einer Überdosis Schlaftabletten vorzeitig ein Ende. 
Es ist Guillermo del Toro („Hellboy“, „Shape of Water“) zu verdanken, diesen Klassiker der amerikanischen Literatur wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgeholt zu haben. Am 22.01.22 startet seine Neuverfilmung mit Bradley Cooper, Cate Blanchett und Toni Colette in den Hauptrollen in den deutschen Kinos, der Roman zum Film erschien nun einer Neuauflage bei Heyne Hardcore. 
In der Wanderzirkustruppe Ten-o-One präsentiert Clem Hoatley vor allem abnorme menschliche Kreaturen, die als sogenannte Geeks zum Gespött des Publikums werden, aber auch sein Interesse und seine Sensationslust ansprechen, z.B. mit Herculo den perfektesten Mann der Welt, mit Major Mosquito den kleinsten je gemessenen Menschen und mit Joe Plasky einen Halbmensch-Akrobaten. Stan Carlisle beginnt als Hellseher in der Show, wickelt das Publikum mit kleinen Tricks um den Finger und fängt eine Affäre mit der Wahrsagerin Zeena an, die mit dem alkoholkranken Pete verheiratet ist und bei der Stan als Assistent aushilft. Nachdem Stan Pete versehentlich mit Spiritus umgebracht hat (eigentlich wollte er ihm nur seinen ersehnten Alkohol besorgen), rückt Stan zu Zeenas Partner in ihrer Nummer auf und erfährt dabei, dass ihm größere Möglichkeiten offenstehen. 
Er macht sich mit der ebenfalls im Zirkus engagierten 15-jährigen Molly in die Stadt davon und beginnt dort erfolgreich, mit Mollys Hilfe die Reichen der Stadt auszunehmen, indem er als Spiritist Kontakt zu ihren geliebten Menschen im Jenseits aufnimmt. Als er dem anhänglichen Mädchen überdrüssig wird, hält sich Stan an die Psychologin Lilith Ritter, die allerdings gerissener ist, als Stan es für möglich gehalten hat. Als er den skeptischen Industriellen Grindle von seinen Fähigkeiten überzeugt hat, scheint nun das große Geld zu winken, doch dann beginnen die Dinge schiefzulaufen … 
„In Stanton Carlisle machte sich eine Angst ohne Gestalt oder Namen breit. Der Tod und Geschichten über das Sterben oder Brutalität gingen ihm unter die Haut wie Zecken und lösten Infektionen aus, die sich durch seinen Körper bis ins Gehirn vorarbeiteten und an ihm nagten.“ (S. 464) 
Im Alter von 29 Jahren wartete William Lindsay Gresham nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf seine Heimkehr in die Vereinigten Staaten, als er in einem Dorf nahe Valencia von die Geschichte eines Mannes erzählt bekam, der sogar die Köpfe von Hühnern und Schlangen abbiss, um an den ersehnten Alkohol zu kommen. 
Die Geschichte faszinierte den jungen Mann so sehr, dass er sie selbst in seinem ersten Roman verarbeitete. Dabei kam nicht nur seine Faszination für die Welt der Jahrmärkte und ihrer bunten Welt der Verführung und Täuschung zum Ausdruck, sondern auch sein Interesse an der Psychoanalyse, von der er hoffte, dass sie ihn von seinen inneren Dämonen befreien würde. Genau so wirkt „Nightmare Alley“ schließlich auch. Gresham beschreibt eindringlich die Atmosphäre, wie sie in den sensationsheischenden Jahrmärkten im 19. Jahrhundert herrschte, vor allem auch die Faszination, wie sein Protagonist immer deutlicher wahrnimmt, mit welchem Talent er gesegnet ist und wie er dieses gewinnbringend einsetzen kann. Es ist der altbekannte amerikanische Traum vom großen Glück, der Stan Carlisle seine Trickkiste auspacken lässt, wobei er immer skrupelloser vorgeht, um an das Vermögen seiner Klienten zu gelangen. Geschickt tarnt er seine Aktivitäten unter dem Deckmantel einer religiösen Vereinigung, gräbt besonders vertrauliche Informationen aus dem Lebenslauf seiner Opfer aus und überzeugt sie schließlich mit spektakulären Darbietungen, die jeden Zweifel an seiner Redlichkeit ausräumen. Allerdings wird er dabei von einem übersteigerten Ehrgeiz angetrieben, dass er nicht das größere Unheil wahrnimmt, das ihn in den Abgrund stürzt. 
Es kommt nicht von ungefähr, dass Gresham eine Psychologin ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt, war der Autor doch selbst von Persönlichkeiten wie Freud und Ouspensky fasziniert, benennt die Kapitel in seinem Roman nach der Großen Arkana im Tarot. Gresham gelingt es, die bewegende Odyssee seines Protagonisten mit einer lebendigen Sprache und einem guten Gespür für Atmosphäre, Tempo und Charakterisierungen zu schildern. Zum Finale hin schleichen sich zwar auch einige Längen ein, aber „Nightmare Alley“ stellt ein faszinierendes Werk dar, das Grand Guignol mit der Noir-Tradition ebenso verbindet wie mit Tod Brownings „Freaks“ und Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

 

James Sallis – (Turner: 3) „Dunkles Verhängnis“

Mittwoch, 8. Dezember 2021

(Heyne, 190 S., Tb.) 
Mit dem Privatdetektiv und Schriftsteller Lew Griffin sowie dem Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater John Turner hat der US-amerikanische Schriftsteller, Kritiker, Musiker und Übersetzer James Sallis sehr lebendige, charismatische Figuren geschaffen, die irgendwie durch das Leben gestrauchelt sind, ohne richtigen Plan von einem Job zum nächsten, ganz anders gearteten. Während es die Reihe um Lew Griffin, mit der Sallis 1992 seine Karriere erfolgreich startete, immerhin auf sechs Bände brachte, hat er sich bei John Turner von vornherein auf eine Trilogie beschränkt. Viel Neues hat der nach „Dunkle Schuld“ und „Dunkle Vergebung“ abschließende Band „Dunkles Verhängnis“ zwar nicht zu bieten, dafür aber Sallis‘ einzigartig lakonische wie bildhafte Sprache, mit der er eine Lebensweisheit nach der anderen hervorbringt. 
Als vor zwei Jahren seine Freundin Val von einem Auftragskiller in ihrem eigenen Haus und in Turners Gegenwart erschossen worden ist, hat sich nicht nur für den Aushilfssheriff das Leben in Cypress Grove für immer verändert. Doc Oldham hat seine Praxis aufgegeben und sie an einen jungen Mann abgegeben, der noch grün hinter den Ohren zu sein scheint. Nun sitzt er meistens draußen irgendwo herum und gibt kluge Sprüche und Erkenntnisse von sich, wobei er in Turner einen regelmäßigen Zuhörer findet. 
So schwadroniert der unter Grauem Star leidende Doc darüber, wie fragil das Leben so sei, dass jeder seine eigene Version davon habe, was die Wahrheit, das Leben, den eigenen Werdegang angeht. Turner erinnert sich dagegen an eine ihm überlieferte Episode, deren Quintessenz darauf hinausläuft, dass man einfach sehen müsse, wie viel Musik man noch mit den Mitteln machen könne, die einem bleiben. In diese philosophischen Betrachtungen hinein erreicht Turner die Nachricht, dass Billy, der Sohn des ehemaligen Sheriffs Lonnie Bates, mit einem unbekannten Wagen ins Rathaus gefahren sei. Wenig später erliegt er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Er war zuvor bei Kneipenschlägereien, Verkehrsvergehen und Hausfriedensbruch auffällig gewesen, hatte dann Milly geheiratet und wieder seinen Job im Baumarkt aufgenommen. 
Wie sich herausstellt, gehörte das Auto einer alten Dame aus Hazelwood, für die Billy und an Besorgungen gemacht hatte. Wenig später wird Milly vermisst und verletzt in einem Autowrack gefunden. Die Männer, die sie entführt haben, sind in einen Streit geraten, worauf der eine den anderen erschoss. Zu allem Überfluss taucht auch noch Eldon auf, der mit Val auf Tour gehen wollte, und erzählt Turner, dass er in Texas vielleicht jemanden umgebracht habe, er könne sich nicht erinnern … 
„Immer häufiger und ohne besonderen Anlass steigen Erinnerungen in uns auf, und es kommt so weit, dass alles uns an irgendetwas zu erinnern beginnt. Wir, unsere Handlungen, unser Leben, werden symbolisch. Wir stellen uns vor, die Welt würde dadurch tiefer, reicher; tatsächlich wird sie nur abstrakter. Wir reden uns ein, wir wüssten jetzt, auf was es wirklich ankommt im Leben, tatsächlich geht es nach wie vor nur darum, die tägliche Routine am Laufen zu halten.“ (S. 90) 
Mehr noch als in den beiden vorangegangenen Turner-Romanen dient in „Dunkles Verhängnis“ die Kriminalgeschichte nur als grobe Klammer, die den Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Erkenntnissen, die Turner in seinem durchaus abwechslungsreichen, aber auch richtungslosen Leben angesammelt hat und die in der vermeintlichen Einöde eines Provinznestchens immer dann in seinem Geist widerhallen, wenn er einmal mehr mit den Kuriositäten des Lebens konfrontiert wird. 
Was letztlich zu Billy Bates‘ geheimnisvoller Fahrt ins Rathaus geführt wird, löst Sallis am Ende ebenso lapidar auf, wie sein vom Leben etwas müder Protagonist mit seinen philosophischen Betrachtungen um sich wirft. Besonders erheiternd wirkt die Turner-Trilogie nicht, aber sie spendet Trost denjenigen, die ebenso wie Turner und seine Weggefährten das Gefühl haben, ihr Leben nicht selbst in der Hand zu haben, sondern einfach dahinzutreiben. 
Bei aller Lebensmüdigkeit und Gewalt begegnet Turner seinen Nächsten allerdings mit ungebändigter Empathie, hat stets ein offenes Ohr für jene, die ein Problem haben, auch wenn er selten etwas beitragen zu können scheint, um diese aus der Welt zu schaffen. Diese schwierige Balance meistert Sallis wie kein Zweiter. 

James Sallis – (Turner: 2) „Dunkle Vergeltung“

Dienstag, 7. Dezember 2021

(Heyne, 236 S., Tb.) 
Bereits mit seiner sechsbändigen, zwischen 1992 und 2001 veröffentlichten Reihe um den Privatdetektiv, Teilzeitlehrer und Schriftsteller Lew Griffin hat James Sallis die Konventionen des Krimi-Genres geschickt umschifft und mit ganz eigener Stimme vom Suchen und Sich-Verlieren und Finden, von Gegenwart und Vergangenheit, von Lebensentwürfen und geplatzten Träumen erzählt. Während von diesen sechs Bänden leider nur zwei ins Deutsche übersetzt und von DuMont veröffentlicht worden sind, erging es der nachfolgenden Trilogie um den Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater Turner hierzulande besser. 
Alle drei Romane sind unter den einheitlichen deutschen Titeln „Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“ und „Dunkles Verhängnis“ bei Heyne verfügbar. 
Eigentlich hatte sich Turner in das kleine, zwischen Memphis und Little Rock gelegene Nest Cypress Grove zurückgezogen, um seine Ruhe zu haben. Sowohl seine Tätigkeit als Cop als auch als Therapeut hat ihn im Leben nicht wirklich vorangebracht, doch musste er schnell feststellen, dass seine Erfahrungen vom örtlichen Sheriff bei einem Ritualmord durchaus nützlich sein könnten. Am Ende der Ermittlungen musste Sheriff Lonnie Bates angeschossen ins Krankenhaus eingeliefert werden, sein Deputy Don Lee wurde zum kommissarischen Sheriff ernannt, während Turner sich bereit erklärte, hin und wieder als Deputy auszuhelfen. 
In dieser Funktion kommt er gerade nach einem Gefangenentransport aus Marvell zurück, als Don Lee davon erzählt, wie er einen Mann festgenommen hat, der mit seinem Mustang mit hundertdreißig Meilen durch die Stadt gerast war und nun eine der beiden Arrestzellen belegt. Wie sich herausstellt, befinden sich im Kofferraum des Mustangs zweihunderttausend Dollar. Der Gefangene namens Judd Kurtz macht seinen Anruf, wenig später wird er gewaltsam befreit, wobei Don Lee und June verletzt werden. Turner braucht nicht lange, um festzustellen, dass Kurtz offenbar als Geldkurier für die Mafia in Memphis unterwegs gewesen ist. Er sucht dort seinen alten Kollegen Sam Hamill auf, räumt in der Stadt ein wenig auf und kehrt wieder nach Cypress Grove zurück, wo ihn seine Tochter J.T. aus Seattle, ebenfalls Polizeibeamtin, besucht. Natürlich braucht die Mafia nicht lange, um den Verantwortlichen für den Vergeltungsschlag in Memphis ausfindig zu machen. Fortan lebt Turner in ständiger Gefahr … 
„Man fängt an zu glauben, dass man eine Möglichkeit entdeckt, die Welt mit klarem Blick zu sehen, während man in Wirklichkeit lediglich eine Sprache lernt – eine gefährliche Sprache, weil sie den Blick verengt und uns vorgaukelt, man verstehe, warum die Menschen tun, was sie tun. Aber wir verstehen es nicht. Wir verstehen so wenig von allem.“ (S. 205) 
Wie wenig es bei James Sallis – sowohl in seiner Lew-Griffin-Reihe als auch in seiner Turner-Trilogie – um die klassische Auflösung von Verbrechen geht, untermauert der Autor mit seiner Art, die Gegenwart immer wieder mit Episoden aus der Vergangenheit seiner Protagonisten zu konfrontieren. 
In „Dunkle Schuld“, dem ersten Turner-Roman, wechselte Sallis sogar konsequent nach jedem Kapitel von einer Zeit in die andere. Im Vergleich dazu wirkt „Dunkle Vergeltung“ mehr wie aus einem Guss, auch wenn der Ich-Erzähler immer wieder Anekdoten von früheren Fällen wie dem vierfachen Kindermörder Lou Winter zum Besten gibt, die Tuners pessimistische Weltsicht illustrieren. Sallis nimmt sich Zeit, seine Beziehungen zur Anwältin Val, die mit einem schwarzen Musiker losziehen will, um auf verschiedenen Festivals zu spielen, und zu seiner Tochter J.T. zu beschreiben, die ihr Leben in Seattle aufgibt, um fortan Dienst in der Nähe ihres Vaters zu tun. 
Die Auseinandersetzung mit der Mafia gerät da fast zur Nebensache – wenn auch mit tragischen Folgen. Vielmehr macht Sallis in bester Noir-Tradition deutlich, was jedwede Entscheidung, ob bewusst getroffen oder nicht, mit dem Leben eines Menschen macht. Doch trotz aller Erschütterungen gibt Turner nicht auf. Er ist für seine Mitmenschen ein verlässlicher Freund, ein Mann der Tat, der bei all dem Tod um ihn herum den Humor nicht verliert – und seine Zuversicht, doch noch den einen oder anderen Lichtblick am Horizont zu erheischen. 

James Sallis – (Turner: 1) „Dunkle Schuld“

Montag, 6. Dezember 2021

(Heyne, 302 S., Tb.) 
Seinen Debütroman „The Long-Legged Fly“, Auftakt seiner Serie um den Privatdetektiv, Lehrer und Schriftsteller Lew Griffin, veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller, Poet, Kritiker, Übersetzer und Musiker James Sallis 1992 – da war er selbst bereits 48 Jahre alt. Mittlerweile wurde Sallis mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis (für „Driver“), dem Hammett Prize und dem Grand prix de littérature policière, und zählt zu den eigenwilligsten und bedeutendsten Krimi-Autoren unserer Zeit. Nach den sechs Lew-Griffin-Romanen (von denen leider nur die ersten beiden ins Deutsche übersetzt wurden) folgte 2003 der Auftakt einer Trilogie um den ehemaligen Soldaten, Polizisten, Gefangenen und Therapeuten Turner. 
Turner ist die Stadt leid, vor allem aber den Menschen, den die Stadt aus ihm gemacht hat. Nachdem er in einen Krieg geschickt worden war, den er nicht wollte, als Cop seinen Partner erschossen hatte, elf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, um dann festzustellen, dass er auch als Therapeut nur wenig tun konnte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, zieht er sich nach Cypress Grove zurück, einem Kaff im Nirgendwo zwischen Memphis und Little Rock. Doch auch hier hat er nicht lange Ruhe. Sheriff Lonnie Bates weiß natürlich von Turners früherer Vergangenheit als Großstadt-Cop und bittet ihn als Berater um Unterstützung bei einem Mord, der wie eine rituelle Tötung inszeniert worden ist. Das Opfer wurde an die Seite eines Carports mit ausgestreckten gekreuzigt und von einem Holzpflock durchbohrt. 
Die Spur führt zu einem offenbar kultisch verehrten Trash-Filmemacher mit den Initialen BR, von dessen mutmaßlichem letzten Meisterwerk „The Giving“ nur eine Szene dokumentiert ist, in der ein Schauspieler ebenso zu Tode gepfählt wird wie der Mann, der als Carl Hazelwood identifiziert wird und für einen Herumtreiber ungewöhnlich weiche Hände hatte. Für Turner, der in Cypress Grove viele neue Freunde wie die Anwältin Val Bjorn und eben Sheriff Bates findet, geht es weit mehr als um die Suche nach dem Täter, sondern die Ermittlungen führen ihn tief in seine eigene Vergangenheit, vor allem in die Zeit seines Gefängnisaufenthalts. 
„In dieser Kiste, die dein Zuhause und dein zweiter Körper geworden ist, erhält jeder noch so kleine Laut ein übertriebenes Gewicht. Das Entlangstreifen des Wärterknüppels über die Gitterstangen, der rasselnde Atem des Mannes auf der Pritsche unter dir, Unterhaltungen, die sich aus Nachbarzellen oder dem gegenüberliegenden Trakt einschleichen, ein Husten, das von Wand zu Wand prallt.“ (S. 171) 
James Sallis hat sich bereits mit seiner Lew-Griffin-Reihe wenig um Konventionen des Krimi-Genres geschert und die nicht immer erfolgreich abgeschlossenen Suchen seines Protagonisten nach vermissten Personen stets mit philosophischen Betrachtungen und Rückblicken in die bewegte Vergangenheit des Privatdetektivs und Schriftstellers unterfüttert. 
In „Dunkle Schuld“, dem Auftakt der nachfolgenden Trilogie um einen Ex-Cop, Ex-Sträfling und Ex-Therapeuten, der dem Moloch der Großstadt entkommen wollte und nun in der Provinz wieder in den Polizeidienst einsteigt, geht Sallis in dieser Hinsicht sogar noch strukturierter vor, wechselt mit jedem Kapitel von der Gegenwart in Turners Vergangenheit und wieder zurück. So bekommt der Leser mit jedem weiteren Kapitel aus Turners Vorgeschichte einen besseren Einblick in die irgendwie verloren wirkende Seele des sympathischen und unaufdringlich agierenden Mannes. 
Sein Einsatz in Vietnam, die versehentliche Tötung seines Partners während der Schlichtung eines Ehestreits, die elfjährige Haftstrafe und die unbefriedigende Tätigkeit als Therapeut haben tiefe Wunden in Turners Seele hinterlassen, aber das hindert ihn nicht, seine ganze Erfahrung einzubringen, um einen wirklich seltsamen Mordfall aufzuklären, der immer kuriosere Züge annimmt. 
Turner lernt dabei einen Filmfreak kennen, der sich auf Trashfilme spezialisiert hat und dem Ermittler seine persönliche Erkenntnis auf den Weg gibt, dass Trashfilme die Gesellschaft so zeigen, wie sie ist, während die Hochglanz-Produktionen aus Hollywood eher die Gesellschaft präsentiert, wie sie sich selbst gerne sieht. In gewisser Weise trifft das auch auf James Sallis‘ Werk zu, das weit entfernt davon ist, Trash zu sein. Aber seine Geschichten gehen in die Tiefe, folgen keinem Schema F und nehmen gerade die Biegungen, die auch das echte Leben so unvorhersehbar machen. 

 
Leseprobe James Sallis - "Dunkle Schuld"

James Sallis – (Lew Griffin: 2) „Nachtfalter“

Samstag, 4. Dezember 2021

(DuMont, 254 S., Tb.) 
Lew Griffin hat seine langjährige Tätigkeit als Privatdetektiv längst hinter sich gelassen und verdient in New Orleans seine Brötchen als Teilzeitlehrer und Schriftsteller, weshalb es dem mittlerweile Fünfzigjährigen möglich gewesen ist, seine Unterkunft in den respektablen Garden District zu verlegen. Doch als er in der Kinderintensivstation vor dem Brutkasten mit dem nicht mal 600 Gramm schweren Baby McTell steht, ist Griffin schon längst wieder auf der Spurensuche – und zwar auch auf den Spuren seines eigenen Lebens. Als seine langjährige Freundin LaVerne verstorben ist, taucht ihr letzter Ehemann, Chip Landrieu, bei ihm auf, um ihn zu engagieren. 
LaVerne hat nämlich zu der Zeit ihrer Ehe mit dem Arzt Horace Guidry eine Tochter namens Alouette geboren, zu der sie allerdings den Kontakt verlor, als Guidry nach der Scheidung das alleinige Sorgenrecht zugesprochen bekam. Doch Alouette nahm irgendwann Reißaus, brachte selbst viel zu früh ein Kind zur Welt – nämlich besagtes Baby McTell – und ist nun ihrerseits wie vom Erdboden verschluckt. Die Odyssee zu Alouette führt Griffin immer wieder zu sich selbst zurück, lässt Erinnerungen an vergangene Beziehungen – auch die zu der ehemaligen Prostituierten LaVerne – lebendig werden, aber auch an seine Zeit als Ermittler. Griffin kommt wieder mit all den düsteren Erlebnissen von Kindesmissbrauch und Gewalt in Berührung, die er längst hinter sich gehabt zu haben glaubte … 
„Wenn sich meine Phantasie in höhere Gefilde aufschwingt, denke ich mir Folgendes. Einst gab es Wesen, ein Geschlecht, eine Spezies (man kann es nennen, wie man will), die wahrhaftig auf diese Welt gehörten. Dann zogen sie irgendwann, aus irgendeinem Grund weiter, und wir traten an ihre Stelle. Seither versuchen wir einen endlosen Tag um den anderen, ihre Stelle einzunehmen. Aber wir werden immer Freunde bleiben, wir alle. Und trotz aller Mühen und sosehr wir uns auch verstellen mögen, werden wir nie ganz hierherpassen.“ (S. 108) 
Mit der Reihe um den Privatdetektiv/Lehrer/Schriftsteller Lew Griffin hat der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis eine einzigartige Krimi-Serie geschaffen, in der zwischen 1992 und 2001 zwar sechs Romane erschienen sind, aber nur die ersten beiden – „The Long-Legged Fly“ und „Moth“ – ins Deutsche übersetzt wurden. Sallis‘ Debüt „Die langbeinige Fliege“ (später unter dem Titel „Stiller Zorn“ wiederveröffentlicht) ging im Zeitraffer die Stationen in Griffins Leben durch, machte den Leser mit Griffins unterschiedlichen Tätigkeiten, Aufträgen und Frauenbekanntschaften vertraut, steckte aber auch das Menschenbild und das gesellschaftliche Terrain ab, in dem sich sein belesener Protagonist bewegt. 
Mit dem Nachfolgeroman „Nachtfalter“ präsentiert sich Sallis etwas orthodoxer, aber noch immer jenseits der Genrekonventionen. Es mag zwar vor allem die Suche nach der Tochter seiner langlebigen Freundin sein, die die Handlung hier vorantreibt, aber Griffin schweift immer wieder in philosophische Betrachtungen und seine eigene Vergangenheit ab, lässt Beziehungen zu den ganz unterschiedlichen Frauen in seinem Leben und Fällen Revue passieren, die auf grausame Weise seiner momentanen Suche ähneln. Im Gegensatz zu konventionellen Krimis baut sich auch bei „Nachtfalter“ kein gewöhnlicher Spannungsbogen auf. 
Dafür überzeugt Sallis mit seinem einzigartigen Gespür für Sprache und Musik, den Rhythmus der Großstadt, das Elend und die Gewalt, die prekären Abhängigkeiten von Drogen oder schlechten Menschen. Fans von Bestseller-Thriller-Autoren, deren Plots nach Schema F gestrickt sind, werden sich mit Sallis und seiner Lew-Griffin-Reihe kaum anfreunden können, doch wer sich auf sprachlich gewandte, philosophisch unterfütterte Gegenwartsliteratur mit kriminellen Elementen einlassen kann, wird fürstlich belohnt. 

 

James Sallis – (Lew Griffin: 1) „Stiller Zorn“

Sonntag, 28. November 2021

(DuMont, 189 S., Tb.) 
Seit Nicolas Winding Refns Verfilmung seines 2008 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Romans „Driver“ ist der aus Arkansas stammende Schriftsteller und Übersetzer James Sallis aus der internationalen Krimi- und Literaturwelt nicht mehr wegzudenken. Seine ersten Erfolge feierte Sallis mit der Reihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin, doch sind von den sechs zwischen 1992 und 2001 erschienenen Bänden leider nur die ersten beiden in deutscher Übersetzung erhältlich. Der erste Band, „The Long-Legged Fly“, wurde 1999 zunächst wortgetreu als „Die langbeinige Fliege“ in der von Martin Compart leider nur kurzlebigen Edition DuMont Noir mit einem lesenswerten Nachwort des Übersetzers Georg Schmidt veröffentlicht, 2013 als Neuauflage unter dem Titel „Stiller Zorn“
1964. Der Privatdetektiv Lewis „Lew“ Griffin schickt einen Mann namens Harry ins Jenseits, nachdem dieser sich an einem Mädchen aus Mississippi vergangen hatte, schlitzt ihm Kehle und Bauchdecke auf und kehrt irgendwann in sein Büro zurück, das er seit vier Tagen nicht mehr gesehen hat. Die Nachricht seiner Mutter, dass sein Vater im Sterben liegt, bekümmert ihn nicht weiter. Zwar ruft er seine Mutter im Krankenhaus von Memphis an, doch an einen Besuch denkt er nicht, da er an einem Fall arbeite. Für eine Gruppe von Gruppe von schwarzen Aktivisten soll er Corene Davis finden, die die Gruppe zu einem Vortrag eingeladen hatte, doch fehlt von ihr seit ihrem Flug von New York nach New Orleans jede Spur. Griffin findet die Gesuchte, nachdem er auf die Idee gekommen war, das Bild von Corene Davis aus dem Time Magazine aufhellen zu lassen. Offensichtlich wollte die populäre Aktivistin untertauchen, doch das ist ihr nicht so bekommen wie erhofft … 
Sechs Jahre später wird Griffin in seinem neuen Büro in Downtown von den aus Clarksdale, Mississippi, stammenden Eltern eines sechzehnjährigen Mädchens beauftragt, ihre offensichtlich nach New Orleans ausgebüchste Tochter ausfindig zu machen. Offensichtlich wollte sie in New Orleans Karriere als Schauspielerin machen. 1984 rappelt sich Griffin nach einem seiner vielen Alkoholexzesse wieder aus, wird aus der Touro Infirmary entlassen, wo er von einer Pflegerin namens Vicky besonders herzlich betreut wurde. Da der Detektiv nicht weißt, wo er unterkommen soll, bietet ihm eine alte Freundin, die Prostituierte Verne, einen Platz in ihrer Wohnung an, doch dann kommt er auf das Angebot von William Samson zurück, in dem von ihm geleiteten Rehabilitationszentrum ein Bett im Gemeinschaftszimmer zu belegen, dann zieht er zu Vicky, mit der er in letzter Zeit einiges unternommen hat. Er treibt Schulden ein und soll für einen Mann, den er in Samsons Zentrum kennenlernte, die Schwester finden. Weitere sechs Jahre später hat Griffin seine Tätigkeit als Privatdetektiv eigentlich hinter sich gelassen, unterrichtet und ist als Autor recht erfolgreich geworden, doch dann muss er seine alten Fähigkeiten reaktivieren, um seinen eigenen Sohn wiederzufinden, der sich nach einem Frankreich-Trip wie vom Erdboden verschwunden zu sein scheint. 
„Wenn es nur irgendwas gäbe, mit dem man die Welt und uns selbst neu erschaffen könnte. Ich dachte daran, wie ich erst vor ein paar Monaten am Fluss entlangspaziert war und mir die Worte Tabula rasa und Palimpsest durch den Kopf gegangen waren. Doch die Welt ändert sich nicht, und wir zumeist ebenso wenig. Wir schauen bloß weiter in den gleichen Spiegel, probieren unterschiedliche Hüte und Mienenspiele, versuchen es mit neuen Untugenden, Meinungen und Vorurteilen; tun so, genau wie die Kinder, als könnten wir Dinge sehen und spüren, die gar nicht da sind.“ (S. 140) 
Man spürt es immer wieder, wie der Einfluss des Jazz auch die Geschichten um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin prägt. James Sallis hat bereits in den 1980er Jahren Kritiken und Sachbücher zum Thema Jazz geschrieben, spielt selbst Instrumente wie das Horn, Fiedel, Mandoline und Dobro, und hat durch die Werke von Raymond Chandler gelernt, dass Detektivgeschichten ein Eckstein der amerikanischen Literatur darstellt. Von ihm hat Sallis den Grundgedanken übernommen, dass es in den Geschichten weniger um die Lösung eines Verbrechens geht als um die Erkenntnis, dass es keine Moral und Ordnung in der Welt gibt. 
In der Spanne von 26 Jahren, in denen sich die vier Episoden von „Die langbeinige Fliege“/“Stiller Zorn“ abspielen, hat Griffin auch nicht immer den gewünschten Erfolg bei seinen Ermittlungen, aber durch die Begegnungen mit den Menschen, die er durch die Suche nach vermissten Personen kennenlernt, geht ihm auch das Vertrauen in die Welt verloren, was ihm entweder Trost im Alkohol oder in Beziehungen suchen lässt, denen kein gutes Ende vorherbestimmt ist. 
In der Lebensgeschichte von Lew Griffin schwingt der trostlose Klang des Blues durch, und doch schlägt sich der Detektiv, Schuldeneintreiber, Lehrer und Schriftsteller irgendwie wacker, findet immer einen Unterschlupf, eine wie immer auch geartete Liebesbeziehung und einen Job. Er lässt sich nicht unterkriegen in dem Moloch der Großstadt, in der mehr als nur einzelne Menschen verloren gehen. Dabei sind es nur Fragmente, die Sallis seinem Publikum aus Griffins Leben präsentiert. Wenn er auf nicht mal 190 Seiten über ein Vierteljahrhundert im Leben seines Protagonisten rekapituliert, bleibt nicht viel Raum für ausführliche Charakterisierungen und vertrackte Plots. Vielmehr bietet Sallis‘ Debütroman eine Tour de force durch Schicksale, die Zeugnis davon ablegen, wie Schwarze immer noch ausgegrenzt und gedemütigt werden und auf der Suche nach etwas Glück auch auf falsche Versprechungen reinfallen. Die unorthodoxe Art, wie Sallis seine Figur durch das Leben straucheln, aber nicht fallen lässt, macht sein Debüt so fesselnd. 

 

Stephen King – „Dead Zone – Das Attentat“

Donnerstag, 25. November 2021

(Heyne, 560 S., Tb.) 
Bereits Mitte der 1970er Jahre avancierte Stephen King mit seinen ersten Romanen „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“ und der Kurzgeschichtensammlung „Nachtschicht“ zum Bestseller-Autor, dessen Werke schließlich von so illustren Regisseuren wie Stanley Kubrick, Brian De Palma, John Carpenter, Rob Reiner, George A. Romero und David Cronenberg verfilmt werden sollten. 1979 erschien mit „Dead Zone“ ein Thriller-Drama, das einmal mehr Stephen Kings erzählerisches Talent und sorgfältige Figurenzeichnung unter Beweis stellt. 
Im Alter von sechs Jahren stürzt Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen so schwer, dass er für einen Moment das Bewusstsein verliert. Als er wieder aufwacht, gibt er zunächst sinnlos erscheinende Worte von sich: „Nicht überbrücken! Die Explosion. Die Säure!“ Dass der kleine Junge damit einen Unfall vorhersagt, den Chuck Spier wenig später mit seinem alten ´48er De Soto haben wird, ahnt niemand, aber Johnny hat in der Folge immer wieder mal Ahnungen, die ihn auch als Erwachsener begleiten. Er wird Lehrer und zieht mit seiner Freundin Sarah Bracknell über den Jahrmarkt von Castle Rock, wo Sarah Zeugin wird, wie Johnny unglaublichen Erfolg am Glücksrad hat. Da Sarah schlecht wird, bringt Johnny sie schließlich nach Hause und lässt ein Taxi für sich selbst rufen. Das Taxi wird in einen Unfall verwickelt, Johnny fällt in ein Koma, die Ärzte haben längst die Hoffnung aufgegeben, während Johnnys Mutter eine religiöse Fanatikerin wird. 
Als Johnny nach viereinhalb Jahren überraschend aus dem Koma erwacht, fühlt sich Vera Smith in ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott bestätigt, verliert aber immer mehr den Bezug zur Realität und vor allem zu ihrer Familie. Johnny hat noch mehr als viereinhalb Jahre seines Lebens verloren, nämlich seine große Liebe Sarah, die mittlerweile verheiratet ist und Mutter eines Kindes. Johnny versucht zunächst, seine verkümmerten Muskeln wieder aufzubauen und ins Leben zurückzufinden. Seine hellseherische Gabe ist aber mittlerweile vollends ausgeprägt. Als er eine Krankenschwester warnt, dass ihre Wohnung gerade auszubrennen droht, und so tatsächlich Schlimmeres verhindert, wird Johnny zum gefundenen Fressen für die Medien. Das bleibt auch Sheriff George Bannerman nicht verborgen, der mit Johnnys Hilfe tatsächlich einen Serienmörder überführen kann. 
Am schockierendsten gestaltet sich für Johnny aber die Einsicht, dass der aufstrebende Politiker Greg Stillson in nicht allzu fernen Jahren US-Präsident wird und einen Atomkrieg heraufbeschwört. 
„Für Johnny war es noch nie so stark gewesen, niemals. Alles kam auf einmal wie ein dunkler Güterzug durch einen schmalen Tunnel, eine rasende Lokomotive mit einem einzigen gleißenden Scheinwerfer, und dieser Scheinwerfer wusste alles, und sein greller Lichtstrahl pfählte Johnny wie einen Käfer mit einer Nadel. Es gab keine Möglichkeit des Ausweichens, vollkommenes Wissen überrollte ihn und drückte ihn flach wie Blatt Papier zusammen, während der dunkle Zug über ihn hinwegraste.“ (S. 430) 
Johnny steht vor der schwierigen Entscheidung, ob er einen Mann töten darf, um größeres Unheil zu vermeiden … 
Stephen King gelingt es bis heute immer wieder, mit seinen immer noch oft dem Horror-Genre zugerechneten Romanen auch Kommentare zum Zeitgeist abzugeben, in denen seine Geschichten angesiedelt sind. Die Haupthandlung von „Dead Zone“ setzt im Oktober 1970 ein, dann wird sie nach viereinhalb Jahren, in denen der telepathisch begabte Hauptakteur aus dem Koma erwacht, fortgesetzt, so dass die Geschichte in die Amtszeit von US-Präsident Richard Nixon (1969-1974) fällt. Mit Johnny Smith steht ein ebenso kluger wie sensibler Mann im Mittelpunkt der Story, die von dem tiefen Unbehagen durch Nixons Präsidentschaft geprägt wird, die durch die Watergate-Affäre ihr unrühmliches Ende fand. 
Stephen King stellt seinen Protagonisten vor die schwierige moralische Frage, inwieweit man selbst ein Verbrechen begehen darf, um ein schlimmeres Übel – hier einen Atomkrieg! – zu verhindern. Der Autor charakterisiert Johnny Smith in allen Zügen, macht ihn für seine Leserschaft zur idealen Identifikationsfigur, mit der man zusammen leidet, dass viereinhalb Jahre des Lebens einfach im Koma verschwunden sind und damit auch die Liebe seines Lebens. Geschickt und behutsam baut King bis zum in jeder Hinsicht konsequenten Finale die Spannung auf. 
Das Buch war und ist so gut, dass es nicht nur 1983 von Regisseur David Cronenberg mit Christopher Walken als Johnny Smith und Martin Sheen als Greg Stillson verfilmt wurde, sondern auch noch eine über sechs Staffeln laufende Fernsehserie nach sich zog. 

 

David Baldacci – (Atlee Pine: 3) „Eingeholt“

Samstag, 20. November 2021

(Heyne, 512 S., HC) 
Eigentlich ist die das Field Office in Shattered Rock, Arizona, leitende FBI-Agentin Atlee Pine seit Jahren dabei, ihre Zwillingsschwester Mercy zu finden, die im Alter von sechs Jahren aus dem Haus ihrer Eltern in Andersonville entführt worden war. Atlee selbst ist bei dem Vorfall schwer verletzt worden. Ihr Chef Clint Dobbs hat Pine unbefristeten Urlaub genehmigt, um die Ereignisse vor dreißig Jahren in ihrer Heimatstadt zu untersuchen. Zwar hat sie in Andersonville den Verbleib ihrer Schwester nicht aufklären können, dafür aber eine Mordserie, wobei sie knapp einem Bombenanschlag entkommen ist. Was ihre privaten Recherchen angeht, hat die FBI-Agentin immerhin herausgefunden, dass sich ihre Mutter in jungen Jahren in einer Undercover-Mission bei der Mafia hat einschleusen lassen, wobei ein gewisser Bruno Vincenzo aus dem Verkehr gezogen werden konnte, der allerdings im Gefängnis ermordet wurde. 
Vincenzos Bruder Ito hat Pines Mutter für dessen Tod verantwortlich gemacht und die Pines in ihrem eigentlich sicheren Unterschlupf ausgemacht, Atlee fast getötet und ihre Schwester entführt. Nun befindet sich Pine mit ihrer Assistentin Carol Blum auf dem Weg nach Trenton, New Jersey, wo Itos Sohn Teddy in dem Haus seines Vaters gelebt hat, bevor er in Fort Dix seine Haftstrafe antreten musste. Nun scheint Itos Enkel Anthony in dem Haus zu wohnen, doch als sie den Mann vor Ort befragen will, türmt er und trifft dabei auf Special Agent John Puller vom CID. Der Militärpolizist ermittelt gegen Tony Vincenzo, weil er sich neben seinem Job im Fuhrpark von Fort Dix offensichtlich als Drogendealer betätigt. Pine und Puller bündeln ihre Kräfte, um sowohl Pines persönliche Mission und Pullers Ermittlungen voranzutreiben. 
Dabei stellen sie jedoch schnell fest, dass ihre Bemühungen von den allerhöchsten Stellen boykottiert werden. Ein hochrangige Army-General wird ins Ausland versetzt, nachdem er mit Puller gesprochen hat, Teddy wird in seiner Zelle ermordet, und schließlich entkommt Puller nur knapp einem Attentat. Mit der Hilfe von Pullers Bruder Bobby, einem IT-Experten im Dienst der Army, gelingt es Puller und Atlee, einer Verschwörung auf die Spur zu kommen, in die höchste politische Kreise involviert sind … 
Ähnlich wie David Baldaccis Kollege Michael Connelly in seiner neuen Reihe die Titelfigur Renée Ballard den schon berühmten Detective Harry Bosch gemeinsam ermitteln lässt, bringt auch Baldacci in dem dritten Band seiner Reihe um die taffe FBI-Agentin Atlee Pine mit dem erfahrenen Militärpolizisten John Puller zusammen. Das lässt zwar den Eindruck entstehen, als würden die weiblichen Protagonistinnen nur interessant genug erscheinen, wenn sie auf die tatkräftige Unterstützung ihrer populäreren männlichen Kollegen zurückgreifen können, doch bleiben sowohl Bosch als auch Puller in den Reihen um die weiblichen Cops und Agenten eher in der zweiten Reihe. Mit „Eingeholt“, dem dritten Band um die FBI-Agentin Atlee Pine und ihrer treuen Assistentin Carol Blum, verfolgt Baldacci den bereits erfolgreich umgesetzten Ansatz, Pines berührende persönliche Mission, den Verbleib ihrer vor dreißig Jahren entführten Zwillingsschwester aufzuklären, mit einem brisanten aktuellen Fall zu paaren. Das wirkt stellenweise etwas arg konstruiert, führt Pine und Puller aber auf eine lebensbedrohliche Odyssee, bei der viele Beteiligte getötet, gefoltert und schwer verletzt werden. 
Baldacci gelingt es souverän, die Schnitzeljagd mit viel Tempo und Dramatik voranzutreiben, bis sie völlig erschöpft ans Ziel kommen, das einige Überraschungen parat hat. So bietet „Eingeholt“ etwas überfrachtete, aber jederzeit packende Action und überzeugende Wendungen, so dass sich die Fans von Baldacci und Atlee Pine sicherlich auf weitere Fortsetzungen freuen dürfen.  

John Grisham – „Das Talent“

Montag, 15. November 2021

(Heyne, 398 S., HC) 
Mit seinen erfolgreich verfilmten Bestsellern wie „Die Firma“, „Die Akte“, „Die Jury“, „Der Klient“, „Der Regenmacher“ und „Die Kammer“ hat sich John Grisham Anfang der 1990er Jahre zum Shooting-Star des Justiz-Thrillers geschrieben. Doch statt jedes Jahr einfach einen weiteren spektakulären Fall vor Gericht zu präsentieren, hat er sich immer wieder gelegentlich eine „Auszeit“ genommen, um Romane zu schreiben, die von ihm geliebte Sportarten thematisierten. 
Nach „Der Coach“, „Touchdown“ und „Home Run“ legt der ehemalige Rechtsanwalt mit „Das Talent“ nun seinen vierten Roman in diesem Genre vor und erzählt die Geschichte eines siebzehnjährigen südsudanesischen Basketball-Spielers, der in den USA Karriere machen will. 
In der südsudanesischen Hauptstadt Juba gilt der siebzehnjährige Samuel Sooleymoon mit seinen 1,88 Meter Körpergröße als vielversprechender Point Guard, der über eine immense Schnelligkeit und Sprungkraft bekannt war, aber kaum den Korb von der Dreierlinie traf. Er wuchs in einem Dorf namens Lotta bei Rumbek, einer Stadt mit 30.000 Einwohnern, auf, und hat sein Leben meist mit Basketball und Fußball verbracht, während sein Vater Ayak in einer offenen Hütte, die als Schule galt, unterrichtete und seine ebenfalls hochgewachsene Mutter Beatrice sich als Hausfrau um den Garten und die Erziehung von Samuel und seinen beiden jüngeren Geschwistern James, Chol und Angelina kümmerte. Als Samuel eingeladen wird, in Juba an einem U18-Turnier teilzunehmen, macht er auf den Talentscout Ecko Lam einen so guten Eindruck, dass er tatsächlich zu Showturnieren in den USA eingeladen wird. 
Bei dem Turnier in Orlando gewinnt die südsudanesische Auswahl etliche Spiele, doch der Erfolg wird von der Nachricht überschattet, dass Rebellen Samuels Dorf zerstört haben. Wie sich später herausstellt, ist Samuels Vater bei dem Überfall umgekommen, während Angelina verschleppt worden ist und Beatrice mit den beiden Jungen in ein ugandisches Flüchtlingslager entkommen konnte. Samuel bleibt nach dem Turnier in den Staaten, wo der mit Ecko Lam befreundete Coach Lonnie Britt versucht, Samuel in die Auswahl zum NBA-Draft zu bekommen, und die Rechtsanwältin Ida Walker alle Hebel in Bewegung setzt, Samuels Familie ein Visum für die USA zu besorgen. Doch dazu muss Samuel seinen Highschool-Abschluss machen und Geld verdienen. Noch steht allerdings nicht fest, ob er tatsächlich das Zeug zum NBA-Profi hat. Die Gedanken an das Schicksal seiner Familie lassen Sooley, wie Samuel bald von seinen Fans genannt wird, nicht los … 
„Wenn im Wohnheim Nachtruhe herrschte und alles still war, saß er auf seinem Bett und durchforstete das Internet. Gelegentlich stieß er auf Fotos von Rhino Camp – Beatrice hatte gesagt, sie seien in Rhino South – und musterte angestrengt die Gesichter Hunderter Südsudanesen, in der verzweifelten Hoffnung, seine Mutter, James oder Chol zu entdecken. Immer noch klammerte er sich an den Gedanken, dass Angelina irgendwo dort war und nach ihrer Familie suchte.“ (S. 165) 
Bevor John Grisham eine Karriere als Rechtsanwalt und schließlich Bestseller-Autor einschlug, spielte er wie viele amerikanische Jungen davon, Profisportler zu werden, doch fehlte ihm das Talent, Baseball, American Football oder auch Basketball professionell zu spielen. Während Grishams bisherigen Sportromane „Der Coach“, „Touchdown“ und „Home Run“ aber noch einen gewissen Unterhaltungswert hatten, dümpelt die Story von „Das Talent“ leider über weite Strecken eher unspektakulär dahin. Dabei kommt das anfänglich noch etwas ausführlicher geschilderte Flüchtlingsdrama von Samuels Familie viel zu kurz. Stattdessen fokussiert sich Grisham auf die unglaubliche Karriere des südsudanesischen Jungen, der in kürzester Zeit nicht nur über zwei Meter groß wird, sondern dank unermüdlichen Trainings auch zum Matchwinner seiner College-Mannschaft wird, deren Siegesserie kein Ende zu nehmen scheint. 
Ein Großteil der Handlung nimmt dabei leider die Beschreibung der Spielverläufe ein, was für Nicht-Basketball-Fans schnell zur Zumutung wird. Vor allem leidet darunter die Intensität der an sich aufreibenden Schicksale des Basketball-Talents auf der einen und seiner im Flüchtlingslager verharrenden Familie auf der anderen Seite. Grisham beschränkt sich hier auf sehr sachliche, spröde Beschreibungen, die es der Leserschaft schwermachen, wirkliche Anteilnahme am Schicksal der Figuren aufzubringen. 
Das dramatische Finale ist letztlich wenig überzeugend gelungen, passt aber zu Grishams ohnehin unterdurchschnittlichen Werk. Er sollte besser bei seinen Justiz-Thrillern bleiben oder mehr Empathie für seine Figuren aufbringen, wenn es um eher emotionale Geschichten geht.  

Jo Nesbø – „Eifersucht“

Sonntag, 7. November 2021

(Ullstein, 268 S., HC) 
Seit Ende der 1990er Jahre zählt der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø mit seiner Krimi-Reihe um den alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole zu Skandinaviens Top-Autoren. Neben den bislang 12 Bänden um Harry Hole hat Nesbø aber auch immer wieder alleinstehende Werke wie „Der Sohn“, „Headhunter“, „Macbeth“ und „Ihr Königreich“ sowie Kinderbücher veröffentlicht. 
Mit „Eifersucht“ legt er nun seinen ersten Band mit Kurzgeschichten vor, die sich interessanterweise alle um das titelgebende Thema drehen. 
Auf dem Flug von New York nach „London“ – so der Titel der ersten Story – lernt der Ich-Erzähler in der Business-Class eine neben ihm sitzende weinende, attraktive Frau namens Maria kennen, die ihm erzählt, dass ihr Mann sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Sie ist deshalb so verzweifelt, dass sie ein Unternehmen damit beauftragt hat, sie zu töten. Das wird unwiderruflich innerhalb der nächsten drei Wochen geschehen. Die einzige Gewissheit, die Maria haben kann, ist, dass ihr Tod schmerzlos sein wird, Ort, Zeit und die Art und Weise zu sterben bleiben ihr unbekannt. Allerdings finden sich der Ich-Erzähler, der sich als Psychologe vorstellt, und Maria einander anziehend, so dass sie sich in einem Londoner Hotel treffen wollen, um zu überlegen, wie sie dem Mord-Vertrag entkommen können … 
Den Schwerpunkt der Geschichtensammlung bildet die 120 Seiten umfassende Titelgeschichte, in der der aus Athen stammende und auf das Mordmotiv „Eifersucht“ spezialisierte Ermittler Nikos Balli auf die Insel Kalymnos mit Julian Schmid den vermissten Zwillingsbruder von Franz aufspüren soll. Offensichtlich waren beiden Männer in dieselbe Frau verliebt, doch kurz vor Julians Verschwinden hat es einen Streit gegeben. Wenig später wird Julians Handtuch am Strand gefunden, Balli bekommt immer mehr das Gefühl, dass Franz seinen Bruder ermordet hat - u.a. durch eine SMS an Helena, in der Franz den Mord an Julian gesteht. 
Dieser Fall rüttelt in dem Ermittler Erinnerungen an die eigene Vergangenheit wach, denn wie die eineiigen Schmid-Zwillinge ist auch Balli begeisterter Kletterer gewesen, der zufällig Zeuge wurde, wie seine Frau Monique mit seinem Kumpel Trevor Sex hatte. 
„Welcher Schmerz wäre größer gewesen? Der, mit dem ich hätte leben müssen, wäre Trevor in jenem Sommer nach Frankreich gefahren und vielleicht für den Rest seines Lebens bei Monique geblieben, oder der, der mir zuteilwurde: sie jeden für sich zu verlieren? Und wäre eines von beidem schlimmer gewesen als ein Leben mit Monique auf der Grundlage einer Lüge. Ein Leben voller Verzweiflung, da unsere Ehe falsch war und nicht auf gegenseitiger Liebe beruhte, sondern auf gemeinsamer Schuld?“ (S. 144) 
Die Qualität der ersten beiden Geschichten gerade in Sachen Überraschungsmoment und psychologischer Tiefe erreichen die folgenden Geschichten nur noch selten. „Die Warteschlange“ fasziniert eher durch ihre brutale Kürze und die ebensolche Pointe, „Abfall“ thematisiert eine besondere Art der Müllentsorgung, wie sie einem Fahrer der Müllabfuhr natürlich naheliegt. „Das Geständnis“ fällt etwas zu weitschweifig aus, während „Odd“ der interessanten Frage nachgeht, ob ein Schriftsteller für eher die Kunst und ihr Erfolg oder die Liebe im Mittelpunkt stehen sollte. 
Jo Nesbø hat mit den sieben Geschichten rund um das Thema Eifersucht immer wieder interessante Ansätze gefunden, dieses wohlbekannte Mordmotiv in einen anderen Kontext zu stellen. Natürlich steht erwiesene Untreue dabei meist im Mittelpunkt der Geschichten, doch die psychologischen Aspekte reichen manchmal tiefer, wie der Autor oft sehr anschaulich darlegt. Der Unterhaltungswert zwischen den einzelnen Geschichten schwankt allerdings stark. Dabei hinterlassen „London“, „Eifersucht“ und „Odd“ die stärksten Eindrücke, während andere wie „Die Warteschlange“ oder „Das Geständnis“ wie Füllmaterial wirken. 
Auf jeden Fall dürften Nesbø-Fans jetzt wieder reif für einen Fall von Harry Hole sein. 

James Patterson – (Alex Cross: 25) „Danger“

Donnerstag, 4. November 2021

(Blanvalet, 444 S., Tb.) 
James Pattersons Thriller-Serie um den Kriminalpsychologen Alex Cross zählen seit Jahren zu den erfolgreichsten Thrillern weltweit – schließlich wurden bereits zwei von ihnen mit Morgan Freeman in der Hauptrolle („…denn zum Küssen sind sie da“, 1997, und „Im Netz der Spinne“, 2001) und einmal mit Tyler Perry („Alex Cross“, 2012) auch verfilmt. Im Jubiläumsband lässt der US-amerikanische Bestseller-Autor seinen sympathischen Protagonisten gleich gegen mehrere Auftragskiller antreten, die sukzessive die politische Elite der USA eliminieren. 
Fünf Tage nach der Beerdigung der 47-jährigen US-Präsidentin Catherine Grant, die überraschend im Oval Office tot zusammengebrochen war, erschießt Sean Lawlor die US-Senatorin Elizabeth Walker vor ihrem Haus. Bei den Ermittlungen bezieht der zuständige FBI Special Agent Ned Mahoney sowohl Alex Cross im Rahmen seiner Beratertätigkeit für das FBI als auch Alex‘ Frau Bree Stone, Chief of Detectives des Metropolitan Police Department in Washington, in das Team ein. 
Lawlor kann sich nur kurz über sein Honorar für den erledigten Auftrag freuen, denn von seiner Kollegin Kristina Varjan wird er mit einer Klaviersaite erdrosselt. Als der bekannte Gangster Fernando Romero nach einer Schießerei mit anschließender Geiselnahme den Mord an der Senatorin gesteht, scheint der Fall schnell zu den Akten gelegt werden zu können, doch in kurzer Abfolge fallen auch der amerikanische Präsident, der Sprecher des Abgeordnetenhauses, der Außenminister und die Finanzministerin Attentaten zum Opfer, worauf Larkin, der auf den Präsidentenposten nachgerückt ist, das Kriegsrecht ausruft. Alex Cross und seine Leute haben nicht viel Zeit, die offensichtliche Verschwörung aufzudecken, denn das Land droht im Chaos zu versinken … 
„Ich konnte verstehen, wieso die Leute kurz vor der Panik waren. Niemand wusste, wer oder was hinter den Attentaten steckte oder was als Nächstes kommen würde. Diese Angst und dazu die Unsicherheit reichten völlig aus, um die Menschen an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit zu drängen, und ich ging fest davon aus, dass es schon bald zu ersten Plünderungen und Aufständen kommen würde.“ (S. 262) 
Alex Cross hat es in seinen vielen Berufsjahren bereits mit den raffiniertesten Killern zu tun, aber für sein 25. (Roman-)Abenteuer hat sich sein Schöpfer noch mal was ganz Besonderes ausgedacht. In „Danger“ werden einfach mal die Superlative bemüht, und zwar in Reihe. Patterson begnügt sich nicht damit, nur eine hochrangige Politikerin durch einen Auftragsmörder eliminieren zu lassen, nein, es muss gleich mehr als eine Handvoll der hochrangigsten Staatsmänner und -frauen und eine ganze Schar von bestens vorbereiteten und koordinierten Killern sein, die die USA zu destabilisieren versuchen. Nebenbei avanciert Alex‘ sonst nur als Bankspieler eingesetzte Sohn Damon beim Basketballspiel gegen die stark favorisierte Mannschaft aus Georgetown natürlich als Matchwinner, nachdem Damons Schwester Jannie ohnehin schon als Leichtathletik-As Furore gemacht hat. 
Patterson drückt wie gewohnt stark aufs Tempo. Die über 100 sehr kurzen Kapitel und die einfache Sprache lassen das Publikum kaum Atem holen, allerdings bleibt bei so viel Action die erzählerische Tiefe auf der Strecke. Weder die Attentäter, die meist recht schnell wieder vom Spielfeld genommen werden, noch die politischen Scharmützel in der Frage um die rechtmäßige Präsidentschaftsnachfolge. Dazu wirkt es einfach unglaubwürdig, dass Cross als Kriminalpsychologe dem Präsidenten die Idee zur Ermittlungsstrategie vorlegt. 
Außerdem wirken die Nebenhandlungen wie Cross‘ Umgang mit seiner neuen Klientin, die er in seiner Teilzeit-Praxis betreut, und die anonymen Zettel mit dem Hinweis, dass Cross den Verfasser der Zeilen bitte aufhalten solle, eher störend, was zudem auf Kosten der Haupthandlung und ihrer Figuren geht. So ist „Danger“ zwar ein flott geschriebener und auch spannender Thriller geworden, der aber weit entfernt von Pattersons besten Arbeiten ist. 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 4) „Die Lady im See“

Samstag, 30. Oktober 2021

(Diogenes, 326 S., HC) 
Raymond Chandler (1888-1959) zählt neben Dashiell Hammett und James M. Cain zu den großen amerikanischen Hardboiled-Krimiautoren. Seine Figur des melancholischen Privatdetektivs Philip Marlowe hat nicht zuletzt durch Humphrey Bogarts Verkörperung in Howard Hawks' „Tote schlafen fest“ die Vorstellung des Publikums von einem Privatdetektiv geprägt. Leider hat Chandler bis zu seinem Tod nur sieben Marlowe-Romane (neben etlichen Kurzgeschichten) geschrieben, die nun nach und nach in einer Neuedition vom Diogenes Verlag erscheinen. „Die Lady im See“ stellt dabei den vierten Band in der Chronologie dar. 
Als Philip Marlowe das Treloar Building an der Olive Street betritt, wo die Gillerlain Company ihren Sitz hat, ist er auf dem Weg zu Derace Kingsley, dem Geschäftsführer des Kosmetik-Unternehmens. Er beauftragt Marlowe damit, seine Ehefrau Crystal zu suchen, die vor einem Monat einen Wochenendtrip zum gemeinsamen Wochenendhaus in der Nähe vom Puma Point unternommen hat, aber seitdem nicht mehr gesehen wurde. Das letzte Lebenszeichen seiner Frau erhielt Kingsley in Form eines Telegramms, in der Crystal ankündigte, über die mexikanische Grenze zu gehen, um sich scheiden zu lassen. Offenbar wollte sie ihren Liebhaber, den Gigolo Chris Lavery, heiraten, doch der habe Kingsley vor kurzem gegenüber behauptet, Crystal seit zwei Monaten nicht mehr gesehen zu haben. Marlowe macht sich also auf den Weg zum Privatsee Little Fawn Lake, wo er mit Bill Chess den Verwalter der Häuser von Kingsley und seines Freundes trifft. 
Von ihm erfährt Marlowe, dass Chess‘ Frau Muriel fast zu gleichen Zeit wie Crystal verschwand. Dann entdeckt Marlowe zufällig eine Leiche im See, die Chess nur anhand ihrer Kleider als Muriel identifizieren kann. Als auch noch ihr Wagen und ihre Kleider in einem Schuppen im Wald nahe des Sees gefunden werden, deutet alles darauf hin, dass die Frau im See ermordet wurde. Marlowe sucht daraufhin Lavery auf und stellt fest, dass sich gegenüber das Haus von Dr. Albert S. Almore befindet, bei dem Muriel Chess unter dem Namen Mildred Haviland als Arzthelferin arbeitete. Nach dieser Mildred suchte bereits ein Polizist namens De Soto, wie Marlowe von einer Lokalreporterin erfährt. Marlowe durchsucht das Haus von Bill Chess, nachdem dieser wegen Mordverdachts festgenommen wurde, und entdeckt eine Kette mit der Gravur „Von Al für Mildred, 28. Juni 1938. In Liebe.“ 
Als Marlowe dann auch Lavery erschossen in seiner Wohnung auffindet, scheint der Fall um das Verschwinden von Crystal Kingsley und Muriel Chess immer komplizierter zu werden … 
„Kingsleys Frau war bestimmt schon zur Fahndung ausgeschrieben oder würde es bald sein. Für die war die Sache in trockenen Tüchern. Eine widerliche Angelegenheit unter ziemlich widerlichen Menschen, zu viel körperliche Liebe, zu viel Alkohol und zu viel Nähe, die in wildem Hass münden, in Mordlust und Tod. Mir war das alles ein wenig zu einfach.“ (S. 184) 
Für seinen 1943 unter dem Titel „The Lady in the Lake“ erschienenen vierten Roman hat sich Chandler seiner beiden bereits 1938 und 1939 veröffentlichten Kurzgeschichten „Bar City Blues“ und „The Lady in the Lake“ bedient sowie beim Verweben der beiden Storys zu einem Roman auch die Geschichte „No Crime in the Mountains“ (1941) berücksichtigt, wie der Übersetzer der Chandler-Neuedition, Rainer Moritz, in seinem Nachwort erwähnt. Chandler beschreibt Bay City, wo sich der Großteil der Handlung abspielt, als wahren Sündenpfuhl, wo Dr. Almore die Prominenten mit Dorgen versorgt, schöne Frauen reihenweise den Männern die Köpfe verdrehen und sie als Wracks zurücklassen, und korrupte Cops wie Degarmo und die gewalttätigen Streifencops Cooney und Dobbs nahezu ungehindert ihre eigenen Dinger drehen. Auch wenn Philip Marlowe in erster Linie dem Police Captain Webber bei der Aufklärung der Morde hilft und dabei Kingsleys Auftrag nicht aus den Augen verlieren will, entpuppt sich „Die Lady im See“ weniger als klassischer Whodunit-Krimi, sondern als vertracktes Spiel um Identitäten, in das übrigens nicht nur die Femmes fatale verwickelt sind. 
Zwar nehmen die Verwicklungen zwischen den Vermissten- und Mordfällen zum Ende hin fast unübersichtliche Züge an, doch Chandler versteht es, mit seinem lakonischen Humor und seiner pointierten Sprache den Leser bei Laune zu halten, um Seite an Seite mit dem zutiefst moralischen Philip Marlowe zuzusehen, wie die Ordnung in der zerrütteten Welt wieder hergestellt wird.  

Kent Haruf – „Ein Sohn der Stadt“

Montag, 25. Oktober 2021

(Diogenes, 284 S., HC) 
Der am 24. Februar 1943 in Pueblo, Colorado, geborene Schriftsteller Kent Haruf schrieb leider nur sechs Romane, bevor er 2014 verstarb, und alle sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt, ebenfalls in Colorado gelegen. Nachdem sich sein letzter Holt-Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ nicht zuletzt durch die erfolgreiche Verfilmung mit Robert Redford und Jane Fonda in den Hauptrollen ein internationaler Bestseller wurde, erscheinen nach und nach auch die vorangegangenen Bände, mit „Ein Sohn der Stadt“ nun der zweite Roman in der Holt-Chronologie. 
Acht Jahre lang war der ehemalige Highschool-Footballstar Jack Burdette verschwunden – mit 150.000 Dollar, die er als Geschäftsführer der Farmerkooperative unterschlagen hat. Am späten Samstagnachmittag Anfang November kehrt der ehemalige Frauenschwarm in einem roten Cadillac überraschend nach Holt zurück, wobei er sich in jeder Hinsicht zum Nachteil verändert hat, gelbgesichtig, fettleibig, schmuddelig und mit schütterem Haar schindet er trotz seiner einschüchternden körperlichen Erscheinung keinen Eindruck mehr. Sheriff Bud Sealy nimmt Burdette sofort fest. Dabei ist dessen Vergehen längst verjährt. 
Pat Arbuckle, Herausgeber des „Holt Mercury“, erinnert sich, wie Jack Burdette bereits in der Schule alle für sich einnahm und vor allem von der hübschen Wanda Jo Evans angeschmachtet wurde, die ihm die Hausaufgaben machte und ihn mit Spickzetteln für die Seminararbeiten. Als Gegenleistung durfte sie ihn bei den Straßenrennen am Freitag- und Samstagabend begleiten. Nach dem Tod seines Vaters, der im betrunkenen Zustand von einem Güterzug erfasst wurde, brach er mit seiner streng religiösen Mutter und bezog ein Zimmer im Hotel Letitia, wo er regelmäßig Pokerrunden veranstaltete. 
Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damit, nach der Schule und an den Wochenenden im Getreidesilo der Farmer-Kooperative zu arbeiten, wo er sich so gut machte, dass ihm später der Job als Manager angeboten wurde, doch zunächst leistete er seinen Wehrdienst ab, bevor er nach Holt zurückkehrte, wo Wanda Jo weiterhin vergeblich darauf wartete, dass Jack sie zur Frau nahm. Stattdessen kehrte er in seiner Funktion als Manager nach einer Tagung von Kooperative-Managern in Tulsa nicht nur um Tage verspätet zurück, sondern präsentierte dabei mit Jessie auch noch seine Ehefrau, die er bei dem Kongress kennengelernt hatte. Das war nicht nur für Wanda Jo ein schwerer Schlag, sondern zeigte auch, aus welchem Holz Jack wirklich geschnitzt war. Schließlich ließ er Jessie mit den zwei Kindern sitzen und verschwand nach Kalifornien … 
„Offenbar wollte sie in Holt bleiben, um dies durchzustehen, aus nur ihr selbst bekannten Gründen. Als wäre sie entschlossen, auch auf solche Ereignisse in ihrer eigenen ruhigen und selbständigen Art zu reagieren, als hinge ihr Selbstbild allein davon ab. Als würde sie etwas beweisen wollen. Daher war es letztendlich tragisch. Es ging um mehr als nur Geld. Als es vorbei war, schmerzte es dermaßen, darüber nachzudenken, dass es nur sehr wenige Leute in Holt gab, die bereit waren, sich überhaupt daran zu erinnern.“ (S. 184f.) 
Während der 1., 1984 veröffentlichte Holt-Roman „The Tie That Binds“ noch auf seine deutsche Übersetzung wartet, erzählt Kent Haruf mit „Ein Sohn der Stadt“ aus der Perspektive des örtlichen Zeitungsverlegers Pat Arbuckle die Geschichte eines Idols, das nicht nur erst die Mädchen und später die Frauen in der Stadt verrückt machte, sondern seinen Charme mit krimineller Energie verband, bis er sich um 150.000 Dollar bereicherte und ohne ein Wort sowohl die Stadt als auch seine Familie verließ. 
Was Jack Burdettes Verschwinden und seine unerwartete Rückkehr nach acht Jahren bei den Bewohnern der Stadt auslöst, beschreibt Haruf in gewohnt einfacher, aber eindringlicher Sprache, die vor allem die Emotionen der Stadtbewohner einfühlsam beschreibt. Dabei geht es weniger darum, wie die Kooperative nach dem ungeheuerlichen Betrug weiter ihre Arbeit verrichtete, sondern um das Schicksal der Zurückgebliebenen, wobei Wanda Joe und Burdettes Frau Jessie besonders im Fokus der Erzählung stehen. 
Wirklich dramatisch entwickelt sich die Geschichte nach Burdettes Rückkehr. Hier macht der Autor deutlich, wie stark Burdette die Geschicke in Holt, die Schicksale der Menschen, die er betrogen und verlassen hat, noch immer zu lenken versteht.  
„Ein Sohn der Stadt“ dokumentiert auf beeindruckende Weise, mit welch großer Empathie Kent Haruf seine Figuren und ihre Entwicklung gestaltet, so dass man sich als Leser direkt im Geschehen, in den Herzen und Köpfen der Menschen glaubt. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 7) „Schach unter dem Vulkan“

Sonntag, 24. Oktober 2021

(btb, 430 S., HC) 
Seit der schwedische Erfolgsschriftsteller Håkan Nesser 2003 mit „Sein letzter Fall“ seinen zehnten und vorerst letzten Roman um Kommissar Van Veeteren veröffentlichte, etablierte er mit Inspektor Barbarotti eine neue Figur, die fortan in Serie ermittelte. Mit „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun der bereits siebte Roman um den längst zum Kommissar beförderten Barbarotti, der mit seiner Kollegin und Frau Eva Backman im fiktiven Kymlinge das mysteriöse Verschwinden dreier Schriftsteller aufklären muss. 
Der erfolgreiche Schriftsteller Franz J. Lunde leidet seit zwei Jahren unter einer Schreibblockade. Seiner Lektorin Rachel Werner hat er zwar versichert, bis Weihnachten ein Manuskript über sechzig, siebzig Seiten vorzulegen, die Hälfte des Vorschusses ist auch schon ausbezahlt worden, doch die zündende Idee ist ihm bislang noch nicht gekommen. Als Lunde bei einer Lesung in Ravmossen aus dem Publikum mit der Frage einer Frau aus dem Publikum konfrontiert wird, ob er das perfekte Verbrechen, das er in seinem letzten Buch beschrieb, selbst erlebt habe, bricht der Moderator zwar die Fragerunde ab, doch im Hotelzimmer macht sich anschließend Angst bei dem Autor breit, der gerade an einem sehr autobiografisch gefärbten Manuskript mit dem Titel „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“ arbeitet. 
Bei der anschließenden Lesung am 21. November in Kymlinge wiederholt sich der Vorfall, danach verschwindet Lunde spurlos von der Bildfläche. Als Lundes in der Schweiz lebende Tochter Viktoria tagelang keinen Kontakt zu ihrem Vater herstellen konnte, gibt sie eine Vermisstenmeldung auf. Während Barbarottis Kollegin und Frau Eva in Sydney verweilt, um ihrem fast dreißigjährigen Sohn Kalle aus der Klemme zu helfen. Er sitzt wegen des Verdachts auf Drogenbesitz und Misshandlung seiner Frau in Untersuchungshaft. In einem Gespräch mit Lundes Schwester und der Polizeianwärterin Sisulu erfährt Barbarotti, dass Lundes Frau vor einigen Jahren nach einer Wanderung an der Grenze zwischen den USA und Kanada verschwand und Lunde selbst vor ein, zwei Jahren auch völlig untergetaucht sei. 
Als aber mit der Lyrikerin Maria Green und dem gefürchteten Literaturkritiker Jack Walde zwei weitere Autoren von der Bildfläche verschwinden, ohne dass es einen Anhaltspunkt gibt, was es mit diesen Fällen auf sich hat, beginnen Barbarotti und seine dann aus Australien zurückgekehrte Frau mit der kaum Resultate bringenden Spurensuche. 
„Wie stellt man sicher, dass man mit diesem Frachter keinen Schiffbruch erleidet? Wenn nirgendwo Land in Sicht ist, wie gelingt es einem dann, wenigstens den richtigen Kurs zu finden? Er merkte, dass ihn Lindhagens länger zurückliegende Bemerkung ärgerte, drei Fälle ergäben ein besseres Muster als zwei. War das nur etwas gewesen, das man in die Runde warf, weil es schlau klang, oder war da etwas dran? Auf welche Weise konnte Jack Waldes Schicksal, wie immer es auch aussehen mochte, zur Klärung der Frage beitragen, was mit Franz J. Lunde und Maria Green passiert war?“ (S. 326) 
Mit „Schach unter dem Vulkan“ bewegt sich Nesser in einem Metiers, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, doch bekommt der Leser nur wenig Neues aus dem Literaturbetrieb vermittelt, außer einer Idee davon, wie verschroben und zurückgezogen Schriftsteller sein können. Davon abgesehen plätschert der neue Barbarotti-Roman ebenso ziellos dahin wie die Ermittlungen von Nessers Protagonisten, der selbst etwas blass bleibt. Die kurze Krise, die die räumliche Trennung von Barbarotti und Backman heraufbeschwört, ist schon so schnell überwunden, wie Eva Backman wieder aus Australien zurückkehrt und sich mit ihrem Mann in die Ermittlungen reinhängt. 
Auch hier gewinnen die Figuren wenig Profil, am meisten noch Lunde und der Kritiker Walde, der unter Pseudonym sehr erfolgreich Romane verfasst, die er als Kritiker gnadenlos verreißen würde, doch Spannung kommt nie auf, da es nie auch nur einen Hinweis auf das Schicksal der drei vermissten Autoren gibt und erst zum Ende der Fall eher zufällig gelöst wird. 
Bis dahin lässt Nesser auch recht oberflächliche Kommentare zu Donald Trump und den Auswirkungen der gerade um sich greifenden Corona-Pandemie in die Geschichte einfließen, überzeugt mit humorvollen Einfällen und sprachlichen Feinheiten, doch insgesamt zählt „Schach unter dem Vulkan“ definitiv zu den schwächeren Werken des schwedischen Bestseller-Autors.