Robert R. McCammon – „Baal“

Samstag, 9. September 2023

(Knaur, 346 S., Tb.) 
Der 1952 in Birmingham, Alabama, geborene Robert R. McCammon gesellte sich in den ausgehenden 1970er Jahren zu der Elite bereits etablierter Horrorautoren wie Stephen King und Dean Koontz hinzu, als er im Alter von 25 Jahren seinen Debütroman „Baal“ veröffentlichte, mit dem der Autor seine Variante des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse thematisierte. 
Als sich die zwanzigjährige Kellnerin Mary Kate Raines nach dem Ende ihrer Schicht auf den Weg zur Bushaltestelle macht, wird sie in einer dunklen Gasse von einem Mann angegriffen und brutal vergewaltigt. Als sie im Krankenhaus untersucht wird, stellt der behandelnde Arzt merkwürdige Verbrennungsmale an ihrem Körper fest, die die Form von Handabdrücken aufweisen, und zwar nicht nur im Unterleib und auf Armen und Schenkeln, sondern auch auf jedem Lid ist ein Fingerabdruck hinterlassen worden. Mary Kate bringt das Kind gegen den Willen ihres Mannes Joe zur Welt, doch stellt sie bald fest, dass ihr Sohn Jeffrey etwas aus der Art geschlagen ist. 
Nachdem Joe unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, wächst Jeffrey in einem Knabeninternat auf, wo er sich allerdings weigert, auf seinen Namen zu hören, und stattdessen mit Baal angesprochen zu werden fordert. Bald schon versammelt der Junge seine Altersgenossen um sich und beunruhigt mit seinem Verhalten sowohl die Schwestern als auch Pater Dunn. Schließlich brennt das Waisenhaus nieder… 
Jahre später reist Dr. Donald Naughton, Professor der Theologie an der Universität von Boston City, im Rahmen seiner Recherchen über Messiaskulte nach Kuwait, wo ein Mann namens Baal ganze Menschenmassen aus aller Welt mobilisiert hat, ihm zu folgen und sich in wilder Raserei während der Versammlung zu paaren. Als Dr. James Virga, Naughton Vorgesetzter an der Universität, nichts mehr von Naughton hört und schließlich von dessen Frau Judith einen verstörenden Brief ihres Mannes vorgelegt bekommt, reist er selbst nach Kuwait, um seinen Freund ausfindig zu machen, doch was er dort entdeckt, übersteigt jede Vorstellungskraft. 
Virga lernt einen geheimnisvollen Mann namens Michael kennen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Baal bis ans Ende der Welt zu jagen und unschädlich zu machen. Dr. Virga schließt sich dem Mann an und folgt ihm bis nach Grönland, wo Baal nach einem Zwischenfall im Nahen Osten mit einigen seiner Anhänger geflüchtet sein soll… 
„Wo ist Gott? fragte er sich. Ist die Menschheit so hoffnungslos verloren, dass Gott diesen Augenblick ohne einen einzigen barmherzigen Atemzug geschehen lässt? Ist Baal so mächtig geworden, dass selbst Er mit Entsetzen geschlagen ist? Der Gedanke machte ihn frösteln. Ihm schien, als wäre der gewaltige Mechanismus, der die letzten Augenblicke der Menschheit einläutete, in Bewegung gesetzt worden; er tickte die Sekunden fort wie eine gigantische Pendeluhr.“ (S. 238) 
McCammon bezeichnet seinen 1978 veröffentlichten Debütroman in dem 1988 geschriebenen Nachwort als „Zorniger junger Mann“-Roman, als ersten Versuch, aus der Tretmühle eines öden Jobs herauszukommen und seine Brötchen als Schriftsteller zu verdienen. Besonders originell wirkt der Plot dabei nicht. Die kurz abgehandelten Stationen von Baals Lebenslauf von seiner Zeugung über das Aufwachsen bei der überforderten Mutter und in katholischen Internaten bis zu seinen erfolgreichen Methoden, massenhaft Jünger zu rekrutieren, bewegen sich in vertrauten Regionen, die William Peter Blattys „Der Exorzist“ (1971) und dessen erfolgreiche Verfilmung durch William Friedkin sowie Filme wie „Das Omen“ (1976) und „Rosemaries Baby“ (1968) vorgezeichnet haben, um damit eine neue Welle des Horrorkinos loszutreten. 
Das Finale im eisigen Grönland erinnert zudem an Mary Shelleys „Frankenstein“. McCammons „Baal“ zeichnet sich eher durch die exotischen Schauplätze in Kuwait und Grönland aus, die der Autor eindrücklich vor den Augen des Lesers mit Leben erfüllt, und die gut gezeichneten Charaktere, während der Plot doch recht skizzenhaft ausgefallen ist und mehr Tiefe hätte vertragen können. Für einen Debütroman besticht „Baal“ zudem durch eine bildreiche Sprache, die in späteren Werken des Autors noch geschliffener zum Ausdruck kommt. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 6) „Joe Country“

Dienstag, 5. September 2023

(Diogenes, 480 S., Pb.) 
Zwar hat Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studiert hat und dann als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift gearbeitet hat, bereits ab 2003 vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm veröffentlicht, doch erst mit der 2010 begonnenen Reihe um Jackson Lamb und seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ erreichte der englische Schriftsteller auch ein internationales Publikum. 2018 fing der Diogenes Verlag an, die Reihe auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Mit „Joe Country“ ist bereits der sechste Roman der Slough-House-Reihe erschienen, die seit 2022 mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Fernsehserie bei Apple TV+ ausgestrahlt wird. 
Slough House, die abrissreife, verschimmelte Bruchbude, in der der unter Flatulenz und Abneigung gegen jegliche Höflichkeitsformen leidende Jackson Lamb seine liebevoll und sarkastisch als „Slow Horses“ bezeichnete Agenten führt, bekommt Zuwachs. Lech Wicinski wurde mit Kinderpornographie auf seinem dienstlichen Laptop erwischt und muss bis zur Aufklärung der Sachlage Dienst in Slough House schieben. Dort versucht Louisa Guy noch immer, über den Tod ihres Kollegen und Liebhabers Min Harper hinwegzukommen, als sie einen Anruf von Harpers Frau Clare erhält, die ihren Sohn Lucas vermisst und um Louisas Mithilfe bei der Suche bittet. 
Während River Cartwright seinen Großvater „O.B.“ (Old Bastard) beerdigen muss und dabei mal wieder Kontakt zu seiner egomanischen Mutter bekommt, versammelt sich auf dem Friedhof eine Reihe illustrer Gäste, darunter die neue MI5-Chefin Diana Taverner. Die Zeremonie wird allerdings empfindlich gestört, als unerwartet Rivers Vater, der in Ungnade gefallene Ex-CIA-Agent Frank Harkness, auftaucht und River zu einer ungewohnten Verfolgungsjagd animiert. 
Wie sich herausstellt, ist Harkness mit einem Team von drei Söldnern eingereist Während Louisa mit Hilfe der attraktiven Ex-Polizistin und Ex-Agentin Emma Flyte und ihrem Kollegen Roddy Ho Lucas‘ Handy in Wales ausfindig macht, wo der junge Mann mal als Kellner ausgeholfen hat, erfährt die Alkoholikerin Catherine Standish von ihrem Chef Jackson Lamb, wie und vor allem warum dieser seinen Vorgänger Charles Partner ausgeschaltet hat. 
Im verschneiten Wales spitzen sich die Ereignisse zu, als Louisa und Emma unfreiwillige Bekanntschaft mit Rivers Vater und seiner Crew machen. Die Sache entwickelt sich zu einem brisanten Politikum, bei dem nicht nur der Name eines Royals geschützt werden muss, sondern auch die Beziehung zwischen Lamb und Taverner einmal mehr auf dem Prüfstein steht… 
„Di Taverner hatte der Beerdigung beigewohnt und würde von Lamb genauso wenig vermuten, dass er Harkness‘ Anwesenheit ignorierte, wie sie damit rechnete, dass er sich in die Luft erhob oder die Zähne putzte. Aber das war nicht anders zu erwarten; ein Großteil des Lebens in Slough House wurde durch das ständige Tauziehen zwischen den beiden bestimmt. River hatte mal vorgeschlagen, sie sollten sich ein Zimmer nehmen – am besten schalldicht, abgeriegelt und mit einem Krokodil drin.“ (S. 152) 
Mick Herron hat mit der „Slough House“-Reihe fraglos die amüsanteste Variante des modernen Spionage-Romanes hoffähig gemacht. Während die von Herrons Landsmann Ian Fleming in den 1950er Jahren initiierte Reihe um den MI6-Agenten James Bond immerhin mit einigen pointierten Sprüchen aufwarten konnte, fiel die ebenfalls erfolgreich verfilmten „Jason Bourne“-Romane von Robert Ludlum recht humorlos aus. Da wirken Mick Herrons Plots weitaus erfrischender, die Figuren skurriler, der Humor derber. 
„Joe Country“ wartet nicht nur mit einem spannenden Fall für die lahmen Gäule auf, sondern beleuchtet auch die Beziehungen in Slough House etwas näher. Dabei kommt die Beziehung von River Cartwright zu seiner bislang durch Abwesenheit glänzende Mutter allerdings etwas kurz, wohingegen Jackson Lamb und Catherine Standish ihr Verhältnis ebenso neu definieren wie Di Taverner ihre Stellung beim MI5 durch einen geschickten Schachzug zu zementieren versucht. Die Action spielt sich dagegen in Wales mit allerlei Beteiligten verschiedener Lager ab und sorgt für die spannenden Momente in „Joe Country“. Vergnüglicher lassen sich Spionage-Romane wohl kaum lesen. Mit „Slough House“ und „Bad Actors“ hat Herron bereits zwei weitere Jackson-Lamb-Romane veröffentlicht, so dass wir uns auch hierzulande darauf freuen dürfen, die ungewöhnlichen Abenteuer von Lamb, Cartwright, Taverner & Co. weiter zu verfolgen.


 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 7) „Playback“

Donnerstag, 31. August 2023

(Diogenes, 236 S., HC) 
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, für einen Hungerlohn ihre Geschichten in zehn Cents teuren Pulp-Zeitschriften zu veröffentlichen, hat es Raymond Chandler (1888-1959) geschafft, ab 1939 auch Romane zu veröffentlichen und mit seiner Figur des moralischen Privatdetektives Philip Marlowe eine Gallionsfigur des von ihm stark mitgeprägten Genres des Hardboiled-Krimis zu schaffen. 1958, fünf Jahre nach „Der lange Abschied“, erschien mit „Playback“ der siebte und letzte Marlowe-Roman. Der einzige nicht verfilmte Marlowe-Roman erschien nun in einer Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach und mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Philip Marlowe soll im Auftrag des Rechtsanwalts Clyde Umney aus L.A., der wiederum für eine einflussreiche Kanzlei in Washington tätig ist, in einem Zug eine junge Frau identifizieren, ihr unauffällig folgen, bis sie sich irgendwo ein Zimmer genommen hat, und dann Bericht erstatten. Angesichts der spärlichen Informationen, die ihm von Umneys Sekretärin Miss Vermilyea übermittelt werden, ist Marlowe fast abgeneigt, den Auftrag nicht anzunehmen, doch sowohl die Sekretärin als auch die zu beschattende Person sehen attraktiv genug aus, um sein Interesse zu wecken. Es handelt sich um die 1,62m große, rothaarige und nicht mal dreißigjährige Eleanor King, der Marlowe bis in ein Hotel nach Esmeralda folgt, wo sie unter dem Namen Betty Mayfield eingecheckt hat. 
Marlowe bekommt jedoch nicht nur das Gefühl, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten worden sind, sondern bekommt es auch noch mit zwei undurchsichtigen Typen zu tun: Larry Mitchell drängt sich Betty Mayfield auf so sichtlich unangenehme Weise auf, dass sie kurzerhand Reißaus nimmt. Und dann scheint Marlowes Berufskollege Ross Goble aus Kansas City ebenfalls auf die junge Frau angesetzt worden zu sein. Marlowe kann die Mayfield zwar in Del Mar ausfindig machen, hat es aber nach seiner Rückkehr nach Esmeralda mit einem weiteren Problem zu tun. Auf dem Balkon der jungen Frau liegt der verhasste Mitchell, mit Mayfields Pistole erschossen. Mayfield macht Marlowe schöne Augen und ein verheißungsvolles Angebot, wenn er sich um die Leiche kümmert. 
Dann findet Marlowe einen weiteren Mann tot vor…
„Ich musste zur Polizei und den Erhängten melden. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Warum war ich zu seinem Haus gegangen? Weil er, wenn er die Wahrheit gesagt hatte, Mitchells Aufbruch am Morgen mitbekommen hatte. Und warum hatte das eine Bedeutung? Weil ich hinter Mitchell her war. Ich wollte ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Worüber? Und von da an hatte ich nur noch Antworten, die zu Betty Mayfield führten…“ (S. 169) 
„Playback“, Raymond Chandlers letzter Philip-Marlowe-Roman, hatte eine schwierige Geburt hinter sich, musste der Autor doch mitten im Schreibprozess den Tod seiner über alles geliebten Frau Cissy verarbeiten, u.a. in einem teuren Privatsanatorium. Dass „Playback“ letztlich nicht ganz die Intensität und komplexe Spannungsdramaturgie aufweist wie beispielsweise „Der tiefe Schlaf“ und „Der lange Abschied“, kann daher kaum überraschen. Aber auch wenn „Playback“ weniger Tote und weniger Spannung aufweist, hat der Roman seine starken Momente, fährt einige interessante Figuren auf, zu denen neben der obligatorischen, unberechenbaren Femme fatale auch der sympathische Polizeicaptain Alessandro und der charismatische Henry Clarendon IV. zählen, und unterhält immer wieder mit einigen knisternd erotischen Momenten, pointierten Dialogen und treffenden Milieubeschreibungen. 
Das macht zwar noch kein Meisterwerk aus, stellt aber einen würdigen Abgang für eine Ikone unter den Privatdetektiven dar. 

 

Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

Sonntag, 27. August 2023

(Diogenes, 400 S., HC) 
Dennis Lehane weiß, wie man filmreife Geschichten schreibt. Sein 2001 veröffentlichter Roman „Mystic River“ wurde von Clint Eastwood verfilmt, „Shutter Island“ von Martin Scorsese, „Gone Baby Gone“ und „Live by Night“ von Ben Affleck. Dazu schrieb der in Boston geborene und lebende Schriftsteller die Drehbücher zu einigen Folgen von „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“. Mit seinem neuen Roman lässt Lehane eigene Kindheitserinnerungen aufleben, nämlich die Unruhen, die sich im Zuge kontroverser Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1974 ereigneten. 
Obwohl die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik eingelegt hat, in dem sie ihrem Zweitjob nachgeht, reicht es nicht, um die Gasrechnung zu bezahlen. Doch mehr Sorgen bereitet ihr der Umstand, dass ihre 17-jährige Tochter Jules eines Nachts nicht nach Hause zurückgekommen ist. Nachdem sie bereits ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Vietnam durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist Jules noch alles, was der Alleinerziehenden im Leben geblieben ist. Mary Pat grast ihre Nachbarschaft in Commonwealth ab, verfolgt nebenbei die geplanten Protestaktionen gegen die richterliche Anordnung, dass im kommenden Schuljahr Kinder aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht werden sollen. Das betrifft vor allem die beiden Schulen mit der größten afroamerikanischen (Roxbury High School) und mit der größten weißen Schülerschaft (South Boston High School). 
Die Proteste werden von dem Tod des 20-jährigen schwarzen Jungen Augustus Williamson überschattet, dessen Wagen in dem falschen Viertel liegengeblieben war, worauf er in der Columbia Station von einer U-Bahn erfasst worden ist. Als Mary Pat Jules‘ Freunde über den Verbleib ihrer Tochter ausfragt, bekommt sie nur ausweichende Antworten, bis sie erfährt, dass Jules ein Verhältnis mit dem verheirateten Gangster Frank „Tombstone“ Toomey hatte, was ihr offensichtlich am Ende das Leben kostete. 
Nachdem Mary Pat nichts mehr zu verlieren hat, macht sie Jagd auf die Mörder ihrer Tochter und schreckt vor nichts zurück. Selbst der ihr wohlgesinnte Cop Bobby Coyne vermag den Rachefeldzug der verzweifelten Mutter nicht stoppen, zweifelt auch er an der Gerechtigkeit in der Welt. 
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens. Und manchmal schlaucht es, an diese Diskrepanz zu denken.“ (S. 155) 
Dennis Lehane hat im Alter von neun Jahren miterlebt, wie sein Vater auf der Heimfahrt nach Dorchester in South Boston eine falsche Abzweigung genommen und auf Southies Hauptgeschäftsstraße in eine Protestaktion gegen die Einführung von Schultransporten zur Aufhebung der Rassentrennung gekommen war. Dieser Moment erfüllte den jungen Lehane mit so viel Angst, dass er nun passend zum 60. Jahrestag der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Bürgerrechtler Martin Luther King einen bewegenden Kriminalroman über den leider nach wie vor nicht aus der Welt geschafften Rassismus und seinen Folgen geschrieben hat. 
Vor dem Hintergrund der sehr plastisch beschriebenen Protestaktion inszeniert der Autor einen filmreifen Plot, bei dem zwar die Morde an einem jungen Schwarzen und einer noch jüngeren Weißen im Mittelpunkt stehen, doch Lehane nutzt dieses Szenario geschickt, um die Ressentiments sowohl der Weißen als auch der Schwarzen gegeneinander zu thematisieren, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. „Sekunden der Gnade“ erzählt von den Folgen einer fehlgeleiteten Erziehung, bei der die „Anderen“ aus Gewohnheit diffamiert werden. Er erzählt von Hass, Gewalt, Drogen- und Waffengeschäften. 
Mit Mary Pat hat er eine komplexe Protagonistin erschaffen, die selbst von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert gewesen ist und mittlerweile selbst hart zuzuschlagen versteht. Sie kann sich selbst nicht von rassistischen Ressentiments freisprechen und ist voller ambivalenter Gefühle wie Hass und Mitgefühl, was die Figur so interessant macht. 
Im nachfolgenden Interview sagt Lehane: „Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ 
Diese Vielschichtigkeit macht auch „Sekunden der Gnade“ aus, der sich als fesselndes Kriminaldrama ebenso gut liest wie als profunde Milieu- und Gesellschaftsstudie mit nach wie vor erschreckend aktuellem Bezug. 

 

Robert Bloch – „Die Pension der verlorenen Seelen“

Mittwoch, 23. August 2023

(Heyne, 141 S., Tb.) 
Zwar hat Robert Bloch (1917-1994) seine schriftstellerische Karriere in Jugendjahren mit der Adaption und Fortsetzung des „Cthulhu“-Mythos seines Idols H. P. Lovecraft begonnen, doch im weiteren Verlauf erweiterte der Bestseller-Autor von „Psycho“ (1959) seine Tätigkeit auf die Genres des Psycho-Thrillers, Horrors und der Science-Fiction. Weniger bekannt sind Blochs Bemühungen im Bereich der humorvollen Fantasy, wurden sie hierzulande doch mit Vorliebe unter dem Etikett „Horror-Stories“ verkauft. Das trifft auch auf den 1969 unter dem passenden Titel „Dragons and Nightmares“ veröffentlichten Band zu, der 1973 bei Heyne seine deutsche Übersetzung als „Die Pension der verlorenen Seelen“ erfuhr. Die drei hier enthaltenen Stories sind gewiss alles andere als „Horror-Stories“. 
Auf der Suche nach einer Arbeit wird einem verzweifelten Schriftsteller in „Die Pension der verlorenen Seelen“ eine Anstellung als Hausdiener beim Millionär Julius Margate vermittelt. Für 800 Dollar und freier Kost und Logis muss der Kandidat allerdings einige besondere Voraussetzungen mitbringen: Er soll nicht nur tierlieb und ein guter Reiter sein, sondern auch auf Bäume klettern können, zur Blutgruppe AB gehören und einen Intelligenzquotienten von mindestens 140 haben. 
 Es dauert nicht lange, bis Margates neuer Hausdiener hinter die Bedeutung der ungewöhnlichen Stellenbeschreibung kommt: Der Vampir Mr. Simpkins ist gegen Blutgruppe AB allergisch – allerdings wurden ihm ohne Vorwarnung gerade beim Zahnarzt alle Zähne gezogen. Zu den weiteren Gästen in Margates Haus zählen der Werwolf Jory, die Baumnymphe Myrte, der Zentaur Gerymanx und die Nixe Trina, in die sich der Hausdiener gleich verliebt. Doch als Margate Captain Hollis nach Griechenland schickt, um ein weiteres mythisches Wesen einzufangen, geraten die Dinge außer Kontrolle, denn Hollis bringt ausgerechnet die Medusa mit, die Margates Truppe im Nu in Stein verwandelt. 
Der unangekündigte Besuch der Hexe Miss Teriös scheint gerade zur rechten Zeit zu kommen, doch gibt sie sich nicht die nötige Mühe, um die Rückverwandlung der versteinerten Wesen ordnungsgemäß zu vollziehen. Stattdessen landen die verschiedenen Persönlichkeiten in anderen Körpern… 
„In dem allgemeinen Durcheinander war die Schaufensterpuppe, die eigentlich keine Seele hatte, offenbar in Myrtes Baum geraten. Trina aber gelangte in den nunmehr vakanten Leib der Puppe. So standen die Dinge also. Ein Vampir im Leib eines Werwolfes, ein Werwolf im Leib eines Vampirs. Ein Mann in der Gestalt eines Zentauren, und der Zentaur in der Gestalt einer Nixe. Die Nixe in der Gestalt einer Schaufensterpuppe, und eine Baumnymphe in Gestalt eines Mannes … Und ich – inmitten all dieser Verwicklungen – in einem Riesenschlamassel.“ (S. 69) 
Die beiden sich ergänzenden Geschichten „Die alten Rittersleut …“ und „Der eifrige Drache oder: Hermann“ greifen einmal mehr die bei Bloch beliebte Zeitreise-Thematik auf. Ein Hühnerfarmer, der von dem Gauner Tommy Malloon regelmäßig um Schutzgeld erpresst wird, macht zunächst die Bekanntschaft mit dem Ritter Pallagyn, der von Merlin in die Zukunft geschickt wurde, um das Kappadokische Taburett zu suchen, was sich als schwieriger erweist als erhofft. In der zweiten Geschichte schlüpft aus einem riesigen Ei ein niedlicher Drache, der für eine Million Dollar an einen Show-Unternehmer verkauft werden soll. Doch da schießt ihm ausgerechnet Tommy Malloon in die Quere… 
Wer mit „Die Pension der verlorenen Seelen“ klassische Gruselgeschichten erwartet – wie die Bezeichnung auf der Titelseite ja verspricht -, wird bitter enttäuscht, denn die drei hier versammelten Geschichten fallen eher in die Kategorie humorvoller Fantasy. Bloch schlägt sich hier zwar wacker, wartet auch mit ein paar originellen Einfällen auf, doch handelt es sich hier doch ganz eindeutig um einen massiven Etikettenschwindel. Fantasy-Freunde wird dieser Band nämlich auch nicht wirklich begeistern…

 

Robert Bloch – „Horror Cocktail“

Sonntag, 20. August 2023

(Heyne, 142 S., Tb.) 
Robert Bloch war bereits im Kindesalter begeisterter Leser der „Weird Tales“ und kam als 15-Jähriger in Kontakt mit Schriftstellern wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith, begann ab 1930, eigene Kurzgeschichten im Stile Lovecrafts zu verfassen, bis er sich mit seinem 1947 veröffentlichten Debütroman „The Scarf“ (dt. „Der Schal“) auch im Krimi-Genre einen Namen machen konnte. Nicht zuletzt durch seinen von Alfred Hitchcock verfilmten Roman „Psycho“ (1959) ist Bloch auch hierzulande bekannt geworden. 
Neben weiteren Romanen wie „Werkzeug des Teufels“ und „Shooting Star“ sind bereits ab den 1960er Jahren auch etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von Robert Bloch erschienen. „Horror Cocktail“, 1972 im Heyne Verlag veröffentlicht, vereint acht ursprünglich zwischen 1953 und 1960 publizierte Geschichten, die zwar als „Horror-Stories“ deklariert werden, allerdings eher dem Krimi und der Science-Fiction zuzuordnen sind. 
In „Studienkreise“ macht Don Freeman, verantwortlicher Leiter der Playlights-Produktion, in einer Bar die Bekanntschaft von Professor Herbert Claymore, Leiter der Physikalischen Fakultät an der Yardley-Universität, der sich als Zeitreisender entpuppt und Freeman die zündende Idee für eine neue Show liefert. „Partnertausch“ erzählt die Geschichte von Willis T. Millaney, der sich als Agent beispielsweise darum kümmert, dass seine Stars in den Fernsehshows unterzubringen und ihre Verträge einhalten. Bei Buzzie Waters gestaltet sich dieser Part mal wieder als schwierig, da er nicht zur verabredeten Zeit am Set erschienen ist und spurlos verschwunden zu sein scheint. Millaney findet seinen Zögling zwar, sieht sich allerdings zu drastischen Maßnahmen mit tödlicher Wirkung gezwungen, so dass er nun Joe Traskin als Buzzies Double aufbauen muss, um nicht aufzufliegen. 
In der „Der letzte Meister“ kommt ein gewisser John Smith mit einer mysteriösen Kugel aus dem Jahr 2903, um einige berühmte Gemälde von Rembrandt, Tizian, Raphael, El Greco, Gauguin, Holbein, van Gogh u.a. zu besorgen, um sie vor der Zerstörung durch den ihm bereits bekannten Krieg zu retten. Doch die Millionen Dollar, mit denen er diese zu kaufen versuchte, sorgen für Probleme, mit denen der Zeitreisende offensichtlich nicht gerechnet hat. 
„Die ganz oben“ handelt von der Verwirrung, die das aufgehende Hollywood-Sternchen Kay Kennedy anrichtet, als sie den Produzenten Edward Stern kennenlernt. Sie imponiert ihm mit ihrem profunden Wissen der Filmgeschichte. Während ihr Begleiter Mike Charles Stern anbettelt, ihn mit einem neuen Regieprojekt zu betrauen, drängt Kennedy den einflussreichen Produzenten dazu, dass sie ebenfalls in den elitären Club der Leute aufgenommen wird, die immer etwas zu sagen haben, solange sie auch im Geschäft sind. Doch die Bedingungen zur Aufnahme bei Dr. Loxheim haben es in sich… 
In „Kain und Abel“ betritt der junge Abel die antiquarische Buchhandlung von Mr. Kain und verlangt nach drei ungewöhnlichen Büchern, mit denen er zu erkennen gibt, dass er von Mr. Kains besonderer Profession weiß, nämlich die Einführung in das Morden. Doch das Lehrer-Schüler-Verhältnis nimmt eine ungewöhnliche Wendung. 
„Als er seine Mission beendet hatte, kehrte er in den Buchladen zurück und verbarg sich hinter der Perücke, dem Schnurrbart und der Brille. Nach einer Weile hat er sich eingelebt. Und nach einer weiteren kleinen Weile kamen die ersten Schüler. Die Bücherei blieb im Geschäft. Man findet solche Geschäfte in den Seitenstraßen jeder großen Stadt. Und manchmal fragt man sich, wie es der Besitzer wohl fertigbringt, davon zu leben…“ (S. 106) 
Während „Das Geschenk“ die Geschichte von dem Agenten Gibson erzählt, der die attraktive Lani als Model aufzubauen versucht, die dann aber die Bekanntschaft des schwerreichen Öl-Prinzen Ahmed macht, finden sich vier Kleinkriminelle auf einmal im Jahr 1766 wieder, um einen Goldschatz in Philadelphia an sich zu bringen, der ihre Sorgen in der Gegenwart lösen soll. 
„Dreimal recht tödlich“ vereint am Ende drei kurze unspektakuläre Episoden über das Töten. 
Die Inhaltsangaben machen bereits deutlich, dass es hier weniger um übernatürliches Grauen geht, sondern dass es vor allem die Doppelgänger-Thematik und das Spiel mit den Zeitreisen, nicht zuletzt ganz primitive Motive des Mordens aus Habsucht und Rache, oft im Dunstkreis von Hollywood, im Zentrum der einzelnen Geschichten stehen. Das ist wunderbar kurzweilig und amüsant, aber selten packend und einfallsreich. 

 

Dan Simmons – „Ilium“

Samstag, 19. August 2023

(Heyne, 828 S., Pb.) 
Kaum hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons mit seinen ersten beiden, jeweils preisgekrönten Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ im Horror-Sektor etabliert und Kollegen wie Stephen King zum Staunen gebracht, setzte er mit „Hyperion“ und „Das Ende von Hyperion“ neue Meilensteine – diesmal im Science-Fiction-Genre. In der Folge ließ sich Simmons nie auf ein Genre festlegen. Auf die Kurzgeschichten-Sammlungen „Styx“, „Lovedeath. Liebe und Tod“ und „Welten und Zeit genug“ folgten weitere Horror-Werke wie „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ebenso wie die Thriller „Die Feuer von Eden“, „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“, die Action-Trilogie um den Privatermittler Joe Kurtz und die Fortsetzung der „Hyperion“-Saga mit „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“
Bevor sich Simmons auch noch auf epische historische Abenteuer-Romane verlegte, erschien 2003 mit „Ilium“ ein weiteres Science-Fiction-Epos, mit dem sich der Autor der Herausforderung stellte, alte griechische Sagen mit klassischer Literatur und Science-Fiction zu verknüpfen. 
Thomas Hockenberry hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Professor für Philosophie an der University of Indiana gelehrt und wurde nach seinem Tod von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um als Zeitzeugen vom Kampf um Troja zu berichten. Neun Jahre nach seiner Wiedergeburt lebt Hockenberry in einer Scholiker-Kaserne mit anderen kenntnisreichen „Ilias“-Forschern, um der Muse Melete am Olymp Bericht über die Entwicklungen im Trojanischen Krieg zu berichten, ohne zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen. Mithilfe von spezieller High-Tech-Ausrüstung ist es Hockenberry und seinen Kollegen möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen, ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Allerdings muss der Scholiker bald feststellen, dass zwischen Homers epischer Erzählung und den eigenen Beobachtungen signifikante Diskrepanzen bestehen… 
„Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus‘ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert.“ (S. 496) 
Währenddessen werden auf dem Mars bedrohlichen Quantenaktivitäten gemessen, denen ebenso intelligente wie empathische Cyborgs von den Jupitermonden mit einer Expedition auf den Grund gehen sollen. Zu diesen sogenannten Moravecs zählen auch Mahnmut, Erforscher der Meerestiefen auf Europa und Shakespeare-Experte, und Orphu, ein Hochvakuum-Moravec von Io und Proust-Kenner. Nachdem ihr Raumschiff in einer Mars-Umlaufbahn von einem Streitwagen abgeschossen worden ist, sind sie allerdings die einzigen, die schwer lädiert ihr Ziel erreichen und mit neuen Gefahren konfrontiert werden, aber auch hilfsbereiten kleinen grünen Männchen (KGM) begegnen 
Und schließlich hat sich auch auf der Erde einiges getan. Verschiedene Katastrophen haben dazu geführt, dass der einst blaue Planet in der Zukunft nur noch von einigen hunderttausend sogenannten „Altmenschen“ bewohnt wird, denen es bestimmt ist, genau 100 Jahre alt zu werden und während ihres Daseins kontinuierlich von Servitoren und Voynixen betreut und beschützt werden, da die Wälder von genetisch rekonstruierten Sauriern bevölkert sind. 
Dan Simmons hat sich einiges vorgenommen für sein neues, wiederum wenigstens zweibändiges Science-Fiction-Epos, das 2005 mit „Olympos“ seine Fortsetzung gefunden hat. Simmons‘ Publikum wird nicht nur mit den unzähligen Göttern, Musen und Gestalten aus Homers „Ilias“ konfrontiert, sondern ebenso mit Verweisen auf die Werke von Shakespeare, Marcel Proust, Robert Ranke-Graves und Alfred Lord Tennysons „Ulysses“ bombardiert, dass man sich ebenso verloren und verwirrt fühlt wie Simmons‘ eigene Protagonisten. 
Unter denen nimmt der von den Göttern des Olymps wiederbelebte Gelehrte Hockenberry als Ich-Erzähler zwar eine Schlüsselstellung ein, doch durch die immer wieder eingeschobenen Handlungsstränge auf dem Mars und der alten Erde wird das Figurenarsenal doch sehr schnell unübersichtlich. Auf besonders tiefgreifende Psychologisierungen verzichtet Simmons zugunsten einer höchst komplexen Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen, Planeten und Figurenkonstellationen miteinander verknüpft. Das erfordert eine beständig hohe Aufmerksamkeit, zumal die Verbindungen zwischen all den Göttern und ihren Weggefährten für den Nicht-Ilias-Kundigen schwer nachzuvollziehen sind.  
Dan Simmons hat mit „Ilium“ fraglos ein packendes, wenn auch zu verspieltes, überdimensioniertes Science-Werk-Epos geschaffen, erreicht allerdings nicht die Intensität, erzählerische Finesse und Sogkraft seiner gefeierten „Hyperion“-Tetralogie. 

Henning Mankell – „Der Chinese“

Sonntag, 6. August 2023

(Zsolnay, 606 S., HC) 
Zwar begann der Schwede Henning Mankell bereits in den 1970er Jahren seine Schriftsteller-Karriere, doch erst mit den zu Beginn der 1990er Jahre initiierten Romanen um Kriminalkommissar Kurt Wallander wurde Mankell international berühmt und löste auch hierzulande eine Mankell-Mania aus, in deren Folge viele weitere skandinavische Autoren die Bestseller-Listen stürmten. Nach dem 8. Band „Die Brandmauer“ schien jedoch Schluss zu sein. Es folgten noch der Sammelband „Wallanders erster Fall und andere Erzählungen“ sowie mit „Vor dem Frost“ der angedeutete Auftakt einer neuen Reihe, in der Linda Wallander die Arbeit ihres Vaters fortsetzt.  
Mankell versuchte, sich mit den Romanen „Tiefe“ (2005), „Kennedys Hirn“ (2006) und „Die italienischen Schuhe“ (2007) auf anderen literarischen Pfaden zu etablieren, doch wiesen sie nach wie vor vertraute Krimi- und Thriller-Elemente auf, die zunächst auch Mankells 2008 veröffentlichten Roman „Der Chinese“ prägen. Doch dann verhebt sich der Autor an einer sehr persönlichen Geschichtslektion über das Reich der Mitte. 
Als der Fotograf Karsten Höglin auf der Suche nach Motiven für seine Dokumentation über verlassene Dörfer und von der Entvölkerung bedrohte Ortschaften von Hudiksvall nach Hesjövallen fährt, macht er eine grausige Entdeckung. Offenbar wurden bis auf ein Alt-Hippie-Pärchen und eine alte senile Frau alle achtzehn Bewohner des Dorfes und ein kleiner Junge auf bestialische Weise in ihren Häusern getötet. Die Polizei steht vor einem Rätsel, zumal kein Motiv zu erkennen ist. Vivi Sundberg und Erik Huddén, die die Ermittlungen leiten, stellen schnell fest, dass die Opfer den Familien Andersson, Andrén und Magnusson angehörten, die durch Heirat allesamt miteinander verwandt waren. Als die Richterin Birgitta Roslin in der Zeitung von dem Massaker liest und dabei entdeckt, dass einige der Toten den Namen Andrén trugen, ahnt sie sofort, dass ihre Adoptiveltern August und Britta Andrén unter den Mordopfern sind. 
Zwar nimmt die Polizei bald einen geständigen Mann fest, doch die Richterin ist fest davon überzeugt, dass mehr hinter dem Massaker steckt. Sie besucht mit Sundberg das Haus ihrer Adoptiveltern und nimmt aus einer Schublade Tagebücher mit und erfährt bei einer Internetrecherche, dass auch im US-Bundesstaat Nevada eine Schlosserfamilie namens Andrén brutal ermordet worden ist. 
Bei der Lektüre der Tagebücher entdeckt sie schließlich einen Zusammenhang zwischen den Morden in den USA und Schweden mit chinesischen Arbeitern, die in Mitte der 1800er Jahre in den USA das Schienennetz verlegten, das den Westen mit dem Osten des Landes verbinden sollte. Als sich der Verdächtige in seiner Zelle erhängt hat, nimmt Birgitta Roslin eigene Ermittlungen auf und reist mit ihrer Freundin Karin nach Peking… 
„Es war zu groß, dachte sie. Nicht dass ein zielbewusster Mann es nicht allein durchführen konnte. Aber ein Mann, der in Hälsingland lebt und nur ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung hat? Er gesteht etwas, was er nicht begangen hat. Dann zeigt er der Polizei eine selbstgeschmiedete Waffe und erhängt sich in seiner Zelle. Natürlich kann ich mich irren. Aber etwas stimmt hier nicht. Seine Festnahme verlief viel zu glatt. Und was für eine Rache konnte das sein, die er als Motiv nannte?“ (S. 316) 
Henning Mankell hat sich mit seinem Roman „Der Chinese“ viel vorgenommen. Der auf zunächst knapp 150 Seiten entwickelte Kriminalfall mit dem Abschlachten fast aller Bewohner eines kleinen Dorfes in Schweden dient nur als Auftakt für einen Exkurs, der die Ereignisse lebendig macht, die die Richterin Birgitta Roslin in den von ihren Adoptiveltern aufbewahrten Tagebüchern entdeckt. Hier steht die erschütternde Reise der drei verarmten und durch den Mord an ihren Eltern verwaisten Brüder San, Wu und Guo Si, die im Jahr 1863 aus einem abgelegenen Dorf in der chinesischen Provinz Guangxi nach Kanton fliehen, entführt und wie Tausende anderer armer chinesischer Bauern nach Amerika gebracht werden, wo sie unter der Führung eines schwedischen Vorarbeiters das Gebirge abtragen, das den Weg frei für die Eisenbahn machen soll, die durch den ganzen Kontinent führt. 
Ein weiterer Handlungsstrang eröffnet sich, als Birgitta Roslin nach China reist, wo ihr zunächst die Handtasche gestohlen wird und dann die Bekanntschaft der undurchsichtigen hohen Beamtin Hong macht. Mit der Feindschaft zwischen Hong und ihrem mächtigen Bruder Ya Ru thematisiert Mankell die enorme Herausforderung, mit der das kommunistische China die Armut im eigenen Land bekämpfen will. Ya Ru macht sich dafür stark, dass Millionen von armen Bauern nach Afrika umgesiedelt werden, um dort in fruchtbaren Flussgebieten sich eine neue Existenz aufbauen zu können. 
Die Krimihandlung gerät dabei komplett in den Hintergrund, und das rote Band, das am Tatort in Hesjövallen gefunden wird und zu einem China-Restaurant führt, verkommt zu einem Hitchcock-typischen MacGuffin. Vielmehr ist dem Autor daran gelegen, sich mit der Geschichte Chinas auseinanderzusetzen und dabei vor allem den Maoismus in den Vordergrund stellt. So interessant seine Ausführungen auch sind, nehmen sie dem Krimi-Plot die Zugkraft, und in den konstruierten Verbindungen zwischen den Schweden, Chinesen, Amerikanern und zuletzt auch Afrikanern verliert Mankell vollends den Faden. Zwar versucht er zum Ende hin, die losen Fäden wieder zusammenzufügen, doch gelingt ihm das nur sehr bedingt. Damit zählt „Der Chinese“ mit seinem überfrachteten, überambitionierten Plot und der am Ende recht eindimensionalen Analyse der chinesischen Kultur und Politik zu den schlechteren Romanen des 2015 verstorbenen Autors. 

 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 18) „Die 18. Entführung“

Sonntag, 30. Juli 2023

(Blanvalet, 432 S., Pb.) 
Für sein Erstlingswerk „The Thomas Berryman Number“ (dt. „Der Auftrag“) wurde James Patterson, ehemaliger Werbetexter und Leiter einer Werbeagentur, 1977 noch mit dem Edgar Allan Poe Award für den besten Debütroman ausgezeichnet, doch mit der literarischen Qualität ist es bei dem Oeuvre des US-amerikanischen Bestseller-Autoren, der 2010 mehr Bücher verkauft haben soll als seine prominenten Kollegen Dan Brown, John Grisham und Stephen King zusammen, nie besonders gut bestellt gewesen. Dass seine Romane ganzjährig in den internationalen Bestsellerlisten vertreten sind, dafür sorgt nicht zuletzt Pattersons Legion von Co-Autoren, die seine Entwürfe zu fertigen Romanen verarbeiten. So ist Maxine Paetro bei der 2001 begonnenen Erfolgsreihe den „Women’s Murder Club“ oder „Club der Ermittlerinnen“ bereits seit dem vierten Band mit am Start. Der 18. Band „Die 18. Entführung“ setzt die Thriller-Reihe recht unspektakulär fort. 
Als die gebürtige Bosnierin Anna Sotovina in der Nähe ihrer Wohnung in San Francisco Slobodan Petrović entdeckt, traut sie kaum ihren Augen. Der serbische Kriegsverbrecher, der auch für den Tod ihres Mannes und ihres gemeinsamen Babys verantwortlich gewesen ist, wurde doch von dem internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag rechtskräftig verurteilt und dürfte sich ganz gewiss nicht frei in San Francisco bewegen. Nachdem ihre Anzeige beim FBI nicht weiterverfolgt wird, macht sie zufällig die Bekanntschaft von FBI-Special Agent Joe Molinari, der der völlig verstörten jungen Frau mit der entsetzlichen Brandnarbe im Gesicht schnell Glauben schenkt, nachdem er auf eigene Faust eigene Ermittlungen aufgenommen hat. Offenbar hat Petrović einen Deal ausgehandelt, bei dem er vermeintlich höherrangige Offiziere denunzierte und Immunität genießt, solange er keine Straftat begeht. 
Während der FBI-Mann Petrović, der unter dem Namen Antonije „Tony“ Branko ein Steak-Restaurant in der Stadt führt. Währenddessen ermittelt Molinaris Frau, Detective Lindsay Boxer, mit ihrem Partner Rich Conklin im Fall von drei spurlos verschwundenen Lehrerinnen. 
Als mit Carly Myers die erste der drei Freundinnen misshandelt, vergewaltigt und erdrosselt in der Dusche eines Motelzimmers aufgefunden wird, scheint den Kriminalbeamten die Zeit davonzulaufen, denn alles deutet darauf hin, dass der/die Täter nicht zum ersten und letzten Mal so vorgegangen sind. Schließlich wird sogar Petrović mit den Entführungen und Misshandlungen der drei Lehrerinnen in Zusammenhang gebracht, doch Beweise lassen sich dafür schwer finden… 
„Welchen Wert hatte die Aussage eines namenlosen Zeugen, der Petrović vielleicht nur deshalb angeschwärzt hatte, um das Gericht milde zu stimmen? Selbst der Bericht über die Menschenjagden im Wald war ja durch nichts sonst belegt. Joe und ich sprachen darüber und kamen zu dem naheliegenden Schluss, dass weder das SFPD noch das FBI diese in Europa begangenen und von namenlosen Zeugen benannten Verbrechen näher untersuchen konnten.“ (S. 328) 
Patterson und Paetro setzen bei dem 18. Fall des „Women’s Murder Club“ auf hochgradig emotionale Themen. In der zufälligen Begegnung zwischen dem verurteilten serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Petrović und einem seiner Opfer wird die Problematik angerissen, fundierte Beweise für die unzähligen Schreckenstaten von Kriegsverbrechern vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vorlegen zu können, doch liegt der Fokus in dem vorliegenden Roman auf der persönlichen Tragödie, die Anna Sotovina im Bosnien-Krieg erleiden musste und den schrecklichen Erinnerungen, die sie durch das Wiedersehen mit ihrem Schänder in ihrer neuen Wahlheimat in San Francisco heimsuchen. 
Lindsay Boxers Weggefährtinnen, die Bloggerin Cindy Thomas, die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Staatsanwältin Yuki Castellano, spielen bei diesem Fall kaum eine oder gar keine Rolle, vielmehr spielen sich SFPD-Beamtin und der Special Agent die Bälle zu, um sowohl Beweise dafür zu finden, dass Petrović wieder straffällig geworden ist, als auch das Verschwinden der Lehrerinnen bzw. die damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. Das wird in gewohnt einfacher Sprache in kurzen Kapiteln routiniert abgespult und kommt ohne große Wendungen zu einem früh vorhersehbaren und Ende. Echte Spannung kommt bei einem so geradlinig inszenierten, wendungsarmen Plot leider kaum auf. 

Robert McCammon – „Boy’s Life“

Freitag, 28. Juli 2023

(Luzifer Verlag, 582 S., HC) 
Nach seinem 1978 veröffentlichten Debüt „Baal“ avancierte der 1952 geborene US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon in den 1980er Jahren mit Romanen wie „Bethany’s Sin“ (dt. „Höllenritt“), „The Night Boat“ (dt. „Tauchstation“), „They Thirst“ (dt. „Blutdurstig“), „Usher’s Passing“ (dt. „Das Haus Usher“) und „Swan Song“ (dt. „Nach dem Ende der Welt“) nach Stephen King, Peter Straub, Clive Barker und Dean Koontz zu einem der interessantesten Horror-Autoren, doch sorgte offenbar ein Zerwürfnis mit seinem damaligen Verleger über die von McCammon gewünschte Ausweitung seiner Genre-Vorlieben für eine zehnjährige Schaffenspause. 
Zuvor erschien 1991 mit „Boy’s Life“ einer der besten Romane des Schriftstellers. Nachdem Knaur den Titel 1992 im Taschenbuch als „Unschuld und Unheil“ erstveröffentlicht und Area 2004 eine günstige Hardcover-Ausgabe nachgeschoben hatte, legte der Luzifer Verlag 2020 eine broschierte Neuauflage mit dem Originaltitel „Boy’s Life“ nach. 
Der zwölfjährige Cory Jay Mackenson lebt 1964 in der Kleinstadt Zephyr im Süden Alabamas. Wenn er nicht gerade mit seinen Freunden Johnny Wilson, Davy Ray Callan und Ben Sears abhängt, vergnügt er sich mit Superhelden-Comics und Magazinen wie „Berühmte Monster der Filmgeschichte“, „Screen Thrills“, „National Geographics“ und „Popular Mechanics“. Eines Märzmorgens begleitet Cory seinen Vater auf dessen Milchtour, auf die er auch Kunden südlich in der Nähe von Saxon’s Lake beliefert. Als sie am Park vorbei aus Zephyr hinaus in den Wald fahren, als plötzlich ein Auto aus der bewaldeten Kurve auf sie zufährt, von der Route Ten abkommt, die Böschung hinunterfährt und in den tiefen See stürzt. Sein Vater will den Fahrer retten, kann aber nur noch registrieren, dass dieser bereits tot war, splitternackt, mit ans Lenkrad gefesselten Händen und einer Tätowierung mit einem Totenkopf mit nach hinten zeigenden Flügeln auf der Schulter, bevor der Wagen für immer auf den Grund des Sees sinkt. Als Sheriff Amory mit den Ermittlungen beginnt, wird die Identität des unbekannten Toten nicht gelüftet. 
Der einzige weitere Hinweis auf die Tat stellt eine grüne Feder dar, die Cory unter seinem Schuh entdeckt, und eine Gestalt, die der Junge am Waldrand gesehen hat. Während sein Vater fortan von nächtlichen Alpträumen heimgesucht wird, verbringt Cory die nachfolgenden Sommerferien vor allem damit, das Geheimnis um die Feder und den vielleicht sogar aus Zephyr stammenden Mörder zu ergründen. Dabei macht Cory auch die Bekanntschaft der übersinnlich begabten Lady, die Corys Vater schließlich den vielleicht entscheidenden Tipp gibt. 
Cory verfügt nicht nur über eine blühende Fantasie, sondern auch ein enormes Ausdrucksvermögen, so dass er seine Erlebnisse in eine Geschichte einfließen lässt, die nicht nur einen Preis beim jährlichen Literaturwettbewerb der Stadt gewinnt, sondern auch dem Mörder signalisiert, dass Cory vielleicht mehr gesehen hat, als seine Geschichte andeutet. Als im Herbst noch immer keine Spur zu dem Mörder zu führen scheint, macht Cory zunehmend beunruhigende Entdeckungen…
„Was ich in der stillen Oktoberluft spürte, wenn Halloween näher rückte, waren nicht die Spukgestalten aus Plastik, sondern gigantische, mysteriöse Kräfte, die am Werk waren. Diese Kräfte konnte man nicht benennen. Man konnte sie weder als kopflosen Reiter, heulenden Werwolf noch grinsenden Vampir bezeichnen. Diese Kräfte waren so uralt wie die Welt und das Gute oder Böse in ihnen so rein und unverfälscht wie die Naturelemente. Statt Monster unter meinem Bett zu sehen, sah ich die Armeen der Nacht ihre Schwerter und Äxte für einen Kampf in Nebelschwaden schärfen.“ 
In der langen Aufzählung seiner Danksagung erwähnt Robert R. McCammon so unterschiedliche Einflüsse wie die Produktionen der Hammer Film Studios und ihre Stars Peter Cushing und Christopher Lee, aber auch Edgar Allan Poe, Edgar Rice Burroughs, Roger Corman, James Bond, Hans Christian Andersen, Vincent Price und nicht zuletzt Ray Bradbury, der in seinen Romanen und Erzählungen wohl am eindrücklichsten seine ausgeprägte Fabulierkunst dazu nutzte, um den Zauber und die Magie kindlicher Vorstellungskraft zu beschreiben. 
In „Boy’s Life“ macht der Ich-Erzähler Cory Mackenson gleich zu Beginn klar, dass der 1500-Seelen-Ort Zephyr voller Magie sei, und obwohl ebenfalls schnell der Mord an dem Mann in den Fokus rückt, der nackt, ans Lenkrad gefesselt und bereits ermordet mit seinem Auto für immer im Saxon’s Lake versinkt, dreht es sich bei dem epischen Roman nicht nur um „Die Suche nach einem Mörder“, wie der Untertitel andeutet, sondern um eine tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte, in der der junge Protagonist viel zu schnell mit den Schrecken des Todes konfrontiert wird, aber auch die Magie von Urzeitmonstern und rasenden Fahrrädern kennenlernt. 
McCammon erzeugt mit seiner bildgewaltigen Sprache einen magischen Sog, entwickelt ein Gespür für interessante Figuren und lässt seinen kindlichen Helden ganz gewöhnliche, aber auch ebenso besondere Abenteuer erleben, bis er mit hartnäckig ausgeprägter Sherlock-Holmes-Logik dem Mörder auf die Spur kommt. In der packenden Mischung aus Entwicklungs-, Mystery- und Kriminalroman hat Robert R. McCammon Anfang der 1990er Jahre ein großartiges literarisches Werk kreiert, das locker in einem Atemzug mit Stephen Kings „Es“ und Dan Simmons„Sommer der Nacht“ genannt werden muss. 

Lee Child – (Jack Reacher: 25) „Der Sündenbock“

Mittwoch, 26. Juli 2023

(Blanvalet, 416 S., HC) 
Allein die Tatsache, dass bereits zwei von Lee Childs Jack-Reacher-Romanen mit Hollywood-Superstar Tom Cruise in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt worden sind, untermauert die Sonderstellung, die der in England geborene Lee Child in den literarischen Kreisen der Thriller-Liebhaber genießt. Seit er 1997 mit „Killing Floor“ (dt. „Größenwahn“) sein preisgekröntes Schriftsteller-Debüt und den ersten Band seiner Reihe um den ehemaligen Militärpolizisten veröffentlicht hat, der nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst meist per Anhalter und mit leichtem Gepäck durch die USA reist, legt Child im zuverlässigen Jahrestakt einen neuen Band seiner Erfolgsreihe vor. 
„Der Sündenbock“ ist dabei nicht nur das bereits 25. Abenteuer von Jack Reacher, sondern auch das erste, das Lee Child (der mit bürgerlichem Namen James Dover Grant heißt) mit seinem jüngeren Bruder Andrew Child verfasst hat, der wiederum unter seinem richtigen Namen Andrew Grant bereits eigenständige Romane veröffentlichte. 
Jack Reacher hat in einer Bar in Nashville gerade (unter angemessener Gewaltanwendung) dafür gesorgt, dass eine Band, die dort gespielt hat, auch ihr mit dem Besitzer ausgehandeltes Honorar erhält, lässt er sich von einem Versicherungsvertreter im Auto in eine Kleinstadt bei Pleasentville mitnehmen, wo er auf der Suche nach einem Coffeeshop beobachtet, wie mehrere Typen versuchen, einen jungen Mann in ihre Gewalt zu bringen. 
Reacher entschärft die Situation auf gewohnte Weise und erfährt, dass es sich bei dem Mann, dem er aus der Klemme geholfen hat, um Rusty Rutherford handelt, einen bei der Stadt angestellten IT-Experten, den man fristlos entlassen hat, weil er dafür verantwortlich gemacht wird, dass die komplette Infrastruktur der Stadt lahmgelegt werden konnte und Hacker ein millionenschweres Lösegeld fordern. Doch Reacher merkt sehr schnell, dass mehr hinter der Sache steckt. 
Detective Goodyear will Reacher sofort aus der Stadt haben, nachdem er in zwei Prügeleien verwickelt gewesen ist. Doch Reacher hat andere Pläne. Zusammen mit Rutherford und seiner Freundin Sarah Sands, mit der ein Programm entwickelt hat, das solche Hackerangreife abwehren soll, versucht Reacher herauszufinden, nach welchen Dokumenten die Erpresser suchen, die sich offensichtlich auf den Servern der Stadt befunden haben. Dabei stoßen sie auf einen Mann namens Klostermann, der im Zusammenhang mit dem Tod der Journalistin Toni Garza steht… 
„… an der Sache mit der Familiengeschichte war etwas faul. Dass er sie für seinen Sohn aufschreiben wollte. Ihm mit einer goldenen Schleife überreichen. Nein. Viel wahrscheinlicher war, dass die Familie eine Leiche im Keller hatte. Etwas Illegales. Etwas Peinliches. Etwas, das Klostermann begraben wollte. Oder umdeuten. Etwas, das zehntausend Dollar wert war, bloß damit er’s sehen durfte. War es auch Toni Garzas Leben wert? Oder das von Rutherford?“ (S. 216) 
Wenn man sich erst einmal mit der Prämisse angefreundet hat, dass Jack-Reacher-Romane stets damit beginnen, dass der hünenhafte Ex-Militärpolizist entweder per Anhalter oder per Bus irgendwo strandet, wo er instinktiv in eine so problematische Situation hineinmanövriert wird, dass nur seine profunden Erfahrungen als Ermittler zur Bereinigung des Problems führen, bekommt Lee Childs liebevoll als „Reacher Creatures“ bezeichnetes Publikum die gewohnte Mischung aus effizient inszenierter Action und sorgfältiger Ermittlungsarbeit geboten, die diesmal zwar die mittlerweile vertraute Hacker-Thematik als Ausgangspunkt aufweist, sich dann aber mit fortlaufender Handlung als Mischung aus Agenten-Hatz und Vertuschungsmanövern erweist. 
Viel Raum für ausgefeilte Charakterisierungen der Figuren bleibt bei dem handlungsgetriebenen Plot nicht, doch das Spannungslevel wird auf konstant hohem Niveau gehalten, wie es die Reacher-Fans lieben. Allerdings weist die Thriller-Reihe erste Ermüdungserscheinungen auf, was auch ein Grund dafür sein dürfte, dass Lee Child seinen jüngeren Bruder nicht nur als Co-Autoren ins Boot geholt hat, sondern ihm mittelfristig auch ganz das Zepter für die Fortsetzungen übergeben will. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 15) „Dunkle Tage im Iberia Parish“

Samstag, 22. Juli 2023

(Pendragon, 480 S., Pb.) 
Zwar hat der 1936 im texanischen Houston geborene James Lee Burke bereits seit Mitte der 1960er Jahre (hierzulande noch unveröffentlichte) Romane wie „Half of Paradise“ (1965), „To the Bright and Shining Sun“ (1970), „Two for Texas“ (1982) und „The Lost Get-Back Boogie“ (1986) veröffentlicht, doch internationale Anerkennung heimste der Südstaaten-Autor erst mit der 1987 begonnenen Reihe um den Vietnam-Veteranen, Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux ein. 
Der 2006 erschienene 15. von insgesamt 23 Bänden, „Dunkle Tage im Iberia Parish“, zählt zu den besten Werken der Reihe, aus der sowohl „Heaven’s Prisoners“ als auch „In the Electric Mist“ verfilmt worden sind. 
In den 1980er Jahren nahm Dave Robicheaux vom NOPD an einem Austausch-Programm mit der Trainingsakademie für Polizeischüler im Dade County, Florida, teil, wo er in der Mordkommission des Miami Police Department arbeitete und Strafrecht an einem College in der Nähe der Kleinstadt Opa Locka unterrichtete. Vor allem war diese Zeit aber durch exzessiven Alkoholkonsum geprägt, was dazu führte, dass er nicht verhindern konnte, dass sein einziger Freund, der wegen seiner Spielsucht hochverschuldete Kriegsheld Dallas Klein, von Handlangern des Buchmachers Whitey Bruxal getötet worden ist, als der Geldtransporter der Firma, für die Klein arbeitete, überfallen wurde. 
Zwei Jahrzehnte später sind der Raubüberfall und der Mord an Dallas Klein noch immer unaufgeklärt, doch Robicheaux wird zwei Jahrzehnte später noch immer von Schuldgefühlen geplagt. Mittlerweile ist er Detective im Iberia Parish Sheriff‘s Department und lebt mit seiner Frau, der ehemaligen Nonne Molly, am Bayou Teche. Als eine junge Frau mit einem gekennzeichneten 100-Dollar-Schein im Casino Chips eintauschen will, stellt Robicheaux fest, dass es sich bei der jungen Dame um Trish Klein handelt, Dallas Kleins Tochter. Wenig später wird die Kellnerin Yvonne Darbonne nahe der Zuckerfabrik tot aufgefunden. Offensichtlich hat sich die 18-Jährige mit dem neben ihrer Hand liegenden .22er Revolver selbst erschossen. Die Obduktion ergibt, dass das Mädchen jede Menge Alkohol, Gras und Ecstasy intus und kurz vor ihrem Tod Sex mit mehreren Partnern hatte. 
Die Ermittlungen führen zunächst zu dem Unternehmer Bello Lujan, mit dessen Sohn Tony die Tote liiert gewesen sein soll und der auch in einen Vorfall von Fahrerflucht verwickelt ist, bei dem ein Obdachloser ums Leben kam. Tonys Freund Slim wiederum ist der Sohn von Whitey Bruxal, dessen Handlanger Tommy „Lefty“ Lee Raguza kurzen Prozess mit allen macht, die seinem Chef in die Quere kommen. Am meisten verdächtigt wird allerdings der schwarze Drogenhändler Monarch Little. Ebenfalls vor Ort ist FBI-Agentin Betsy Mossbacher, die vor allem hinter Bruxals illegalen Machenschaften her ist. Robicheaux ist vor allem besorgt, dass sein bester Kumpel Clete Purcel etwas mit Trish Klein angefangen hat, die mit ihren merkwürdigen Freunden offenbar vorhat, sich an Bruxal für den Mord an ihrem Vater zu rächen… 
„Es war einer dieser Momente, in denen die Wahrheit nichts als wehtun würde. Hatte Clete vielleicht recht? Waren wir am Ende des Weges angelangt und führten einen aussichtslosen Kampf gegen Kräfte, die längst von Gesellschaft und Staat anerkannt wurden? Waren wir wie zwei Narren, die auf einem sinkenden Schiff die Sektkorken knallen ließen? Redeten wir uns ein, dass wir ewig jung bleiben würden, wenn wir ab und an einen Scheißkerl verprügelten, und dass die Party niemals enden würde?“ (S. 329) 
Oft genug wird James Lee Burkes rechtschaffender Protagonist Dave Robicheaux von den Dämonen seiner Vergangenheit heimgesucht, die von ihm während des Vietnamkriegs Besitz ergriffen haben und sich in Form alkoholindizierter Delirien bemerkbar machen. Diesmal ist es ein unaufgeklärter Mord an seinem damaligen einzigen Freund Dallas Klein, der den Detective wieder stärker umtreibt, als Kleins Tochter Trish unvermittelt in seinem Bezirk auftaucht und offensichtlich mehr vorhat, als nur das hiesige Casino zu erleichtern. 
Zusammen mit seinem Partner Clete hat Robicheaux alle Mühe, die losen Fäden zusammenzuführen, die der Mord an der 18-jährigen Kellnerin, die Fahrerflucht mit einem toten Obdachlosen als Folge und rassistische Vorfälle, in denen der Sohn des einflussreichen Bello Lujan, ein schwarze Drogendealer und der Buchmacher Whitey Bruxal verwickelt sind, hinterlassen haben. 
Die komplexe Krimi-Handlung reichert Burke wie gewohnt mit bilderreichen Beschreibungen der Landschaft und Kultur in Louisiana sowie gesellschaftskritischen Überlegungen an, die die Bobbsey Twins vor allem immer dann anstellen, wenn sie es mit besonders selbstgefälligen Exemplaren der menschlichen Spezies zu tun haben, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Reichtums glauben, sich alles erlauben zu können. 
Trotz aller brutalen Gewalt spart Burke nicht an der Hoffnung auf eine bessere Welt, zu der jeder ein wenig beitragen kann, indem er nur das Richtige tut.  
„Dunkle Tage im Iberia Parish“ ist somit nicht nur ein starkes Stück Kriminalliteratur, sondern auch ein zutiefst moralisches Lehrstück mit zwei charismatischen Protagonisten, wie sie das Genre noch nie erlebt hat. 

 

Engman & Selåker – (Wolf & Berg: 1) „Sommersonnenwende“

(Ullstein, 592 S., Pb.) 
Pascal Engman hat seit seinem Thriller-Debüt „Der Patriot“ aus dem Jahr 2017 bereits mit „Feuerland“ und „Mörderische Witwen“ zwei Romane veröffentlicht, in der die schwedische Kriminalkommissarin Vanessa Frank ermittelt. Für seinen neuen Roman hat er sich nicht nur mit dem renommierten Journalisten Johannes Selåker zusammengetan, der bei Aftonbladet, Expressen und Aller Media als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig gewesen ist, sondern gleich eine weitere vielversprechende Reihe ins Leben gerufen, in der Kriminalkommissar Tomas Wolf und die Journalistin Vera Berg einen etwas holprigen Start bei der Suche nach dem Mörder einer jungen Frau in einem Stockholmer Vorort erwischen. 
Die Bilder, die sich Tomas Wolf im Oktober 1993 bei seinem Einsatz als Mitglied der schwedischen UN-Soldaten in Bosnien-Herzegowina in den Kopf gebrannt haben, lassen den Kriminalkommissar nicht mehr los, vor allem aber nicht die Bekanntschaft der jungen Frau Azra, die er aus einem Versteck in einem von Kroaten verwüsteten Dorf gerettet hat. Seit er wieder daheim ist, plagen Wolf ganz andere Probleme. Für seine Frau Klara und die beiden Kinder Alexander und Ebba wollte Wolf eigentlich die Anzahlung für ein neues Haus leisten, doch das dafür zurückgelegte Geld hat er anderweitig ausgegeben, was zu einer handfesten Ehekrise führt. Auf dem Weg zu seinem Bruder, der ihm noch Geld schuldet, landet er in dem schäbigen Vorort Märsta an einem Tatort, wo eine junge Migrantin unter einer Plane vergewaltigt und erdrosselt aufgefunden worden ist. 
Derweil hat sich die Journalistin Vera Berg in Malmö von ihrem drogenschmuggelnden, unzuverlässigen Freund Jonny Müller getrennt und sich mit dessen sechsjährigen Sohn Sigge heimlich nach Stockholm aufgemacht, wo sie als überregionale Journalistin in der Hauptstadtredaktion der Kvällsposten einen neuen Job antritt und gleich die Berichterstattung über diesen Mordfall übernimmt. 
Wolf und Berg gehen allerdings auf unterschiedliche Weise bei der Suche nach dem Mörder vor, denn im Gegensatz zu dem Kommissar weiß die Journalistin von einem ähnlichen Fall aus Malmö, wo ebenfalls eine vor dem Bosnienkrieg geflüchtete Frau vergewaltigt und ohne Slip aufgefunden worden war. Und sie verfügt – wenigstens für kurze Zeit - über eine Zeichnung, die eine Freundin des einen Opfers vom Täter angefertigt hat. 
Wolf gerät aufgrund seiner neonazistischen Vergangenheit selbst in den Kreis der Verdächtigen, aber auch der der bekannte schwedische Schauspieler und Frauenliebling Micael Bratt sowie der LKW-Fahrer Jörgen Waltz werden von den Ermittlern ins Visier genommen. 
„Was wusste sie eigentlich über Wolf? Er war als Jugendlicher in der White-Supremacy-Bewegung gewesen. Er hatte es als Jugendsünde abgetan. Aber wenn das stimmte, warum hatte er dann nicht mit seinem Bruder gebrochen, der noch immer ein Vollblut-Nazi war?“ 
Das schwedische Autoren-Duo Engman & Selåker hat sich mit „Sommersonnenwende“ gleich mehrerer brisanter Themen angenommen, den Gräueln des Bosnien-Krieges ebenso wie der Flüchtlings-Thematik mit dem damit verbundenen Rassismus neonazistischer Gruppierungen, zu denen Kriminalkommissar Tomas Wolf mehr als nur berufliche Verbindungen aufweist. Schließlich entwickelt sich auch das frauenverachtende Verhalten von Männern zu einem wesentlichen Punkt, wobei Selåker als Journalist selbst einen wesentlichen Beitrag zur #MeToo-Untersuchung geleistet hat. 
Dies alles vermengt das Duo zu einem packenden Thriller, der im schwedischen Sommermärchen des Jahres 1994 angesiedelt ist, als die schwedische Fußballnationalmannschaft bei der WM in den USA überraschend den 3. Platz belegte. Engman & Selåker nehmen sich viel Zeit für ihre beiden so unterschiedlichen Protagonisten, wobei ihre Wege lange Zeit nebeneinanderher verlaufen und sowohl Wolf als auch Berg nebenbei ihre privaten Probleme in den Griff bekommen müssen. 
Das ist vielleicht etwas viel Stoff für einen Auftaktroman einer neuen Serie und wird der Komplexität der Themen kaum gerecht, aber die interessanten Protagonisten und der tempo- und abwechslungsreiche Plot machen „Sommersonnenwende“ zu einem kurzweiligen Thriller-Vergnügen.  

Dan Simmons – „Flashback“

Freitag, 7. Juli 2023

(Heyne, 638 S., Pb.) 
Seit Dan Simmons seinen Beruf als Grundschullehrer aufgegeben und 1985 mit „Song of Kali“ seinen ersten Roman veröffentlicht hat, bewegt er sich souverän zwischen den Genres, schreibt Horror- und Psycho-Thriller ebenso wie rasante Detektiv-Thriller und vor allem Science-Fiction-Epen, wofür er gerade zu Anfang seiner Karriere mit etlichen renommierten Preisen wie dem World Fantasy Award, Locus Award, Bram Stoker Award, Hugo Award und British Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Seit 2007 hat Simmons mit „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ vor allem epische Historien-Abenteuer veröffentlicht, dazwischen aber mit „Flashback“ (2011) auch wieder einen Science-Fiction-Roman. 
In den 2030er Jahren steht die Welt vor dem wirtschaftlichen Kollaps. In den einst so mächtigen USA setzt der als Weltkalifat bezeichnete Islam seinen Expansionskurs durch die Welt fort, nachdem er sich bereits einen Großteil Europas einverleibt und Israel mit einem atomaren Angriff ausgelöscht hat. Aber auch die Reconquista und einflussreiche japanische Millionäre ringen um die Macht in den wirtschaftlich wie politisch und sozial zerrütteten USA. 
Die Bevölkerung ist weitgehend von der „Flashback“-Droge abhängig, die es den Konsumenten ermöglicht, wieder und wieder die schönsten Stunden ihres Lebens nachzuempfinden. Davon macht auch der ehemalige Detective des Denver Police Department, Nick Bottom, Gebrauch, um den Verlust seiner vor fünf Jahren bei einem Autounfall getöteten Frau Dara zu verarbeiten. Allerdings hat er sich durch dieses Verhalten sowohl von seinem Sohn Val entfremdet als auch von seinem in Los Angeles lebenden Vater, den emeritierten Philosophieprofessor George Leonard Fox, bei dem Val seit dem Tod seiner Mutter lebt. Vor allem um seine durch exzessiven Flashback-Konsum in die Höhe geschossenen Schulden zu begleichen, nimmt Bottom einen Job als Privatermittler für den einflussreichen japanischen Diplomaten Hiroshi Nakamura an. 
Zwar gelang es Bottom schon vor sechs Jahren nicht, mit seiner Mannschaft beim DPD den Mord an Nakamuras Sohn Keigo aufzuklären, aber Nakamura will endlich Gewissheit haben und lässt Bottom von seinem Sicherheitschef Hideko Sato begleiten, der – wie Bottom schnell herausfindet – ebenfalls auf der Party anwesend war, in deren Verlauf Keigo Nakamura getötet worden ist. Während sein Vater auf Flashback noch einmal die alten Ermittlungsakten und die von Sato bereitgestellten Kameraaufnahmen durchgeht, plant Val mit seiner Gang in Los Angeles ein Attentat auf den japanischen Berater Daichi Omura. Dass sein Großvater zufällig direkt nach dem geplanten Anschlag mit Val Kalifornien nach einer Terrorwarnung verlassen und nach Denver gehen will, passt ihm gut in den Kram. Doch der angedachten Familienzusammenführung steht noch einiges im Weg. Vor allem ist Nick nach der überraschenden Entdeckung, dass seine Frau, die als Assistentin von Staatsanwalt Harvey Cohen vor sechs Jahren ebenfalls in der Nähe des Mord-Tatorts gesehen worden ist, dabei, eine große Verschwörung aufzudecken, doch der Weg zur Erkenntnis aller Zusammenhänge gestaltet sich steinig… 
„Was jetzt? Er war sicher, dass er alle Fakten kannte, die er für die Klärung dieses Verbrechens benötigte, doch selbst die gottverdammten Fakten schienen immer wieder zu verschwimmen und sich zu verschieben. Nick kam sich vor wie ein blinder Künstler mit einem Haufen Murmeln. Im Wesentlichen war er nicht weiter als sein Team von Ermittlern vor sechs Jahren, das damals zu dem Schluss gelangte, dass Keigo und nebenbei auch seine Freundin Keli Bracque möglicherweise von einem der Zeugen ermordet worden waren.“ (S. 541) 
Dan Simmons, der mit der „Hyperion“-Tetralogie und epischen Werken wie „Ilium“ und „Olympos“ seinen Stempel in der Science-Fiction-Literatur hinterlassen hat, gelingt auch mit seinem hierzulande vorletzten veröffentlichen Roman ein großer Wurf, der einen pessimistischen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft präsentiert. Demnach stehen sich nicht die beiden Weltmächte USA und Russland als Endgegner gegenüber, sondern das islamische Weltkalifat und Japan, wobei die immensen Kosten für das Sozialsystem als Verursacher für den Niedergang der USA ausgemacht werden. 
Aus dieser Konstellation entwickelt Simmons einen packenden und vielschichtigen Thriller-Plot, der spannende Fragen zur politischen Lage in der Welt, zur Verwirklichung von Allmachtsphantasien, Korruption und Eskapismus in einer nicht mehr lebenswert erscheinenden Welt erörtert. 
Darüber hinaus stellt „Flashback“ aber auch eine tiefgründige Familiengeschichte dar, in der sich Vater und Sohn nach ihrer Entfremdung zwangsläufig wieder annähern müssen. So provokativ einige von Simmons‘ Thesen in „Flashback“ auch ausfallen, lohnt sich eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen auf jeden Fall. Und wer einfach nur einen spannenden Thriller lesen möchte, wird ebenfalls bestens bedient. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 3) „Vatermörder“

Donnerstag, 6. Juli 2023

(Blanvalet, 478 S., HC) 
Mit seiner 1997 initiierten Reihe um den querschnittsgelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme und seiner Assistentin, der jungen Polizistin Amelia Sachs, hat Jeffery Deaver längst ein internationales Publikum in den Bann gezogen, zog eine Kinoadaption mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen ebenso nach sich wie eine zehnteilige Fernsehserie, die allerdings nach einer Staffel abgesetzt worden ist. Ähnlich wie sein Kollege David Baldacci hat Deaver aber längst weitere Romanreihen entwickelt und schreibt davon unabhängige Werke. 
Nach „Der Todesspieler“ und „Der böse Hirte“ legt der US-amerikanische Bestseller-Autor nun mit „Vatermörder“ den dritten Band um Colter Shaw vor, dessen Profession darin besteht, vermisste Personen aufzuspüren. 
Colter Shaw will die Mission seines ermordeten Vaters Ashton fortführen. Also legt er mit seiner Yamaha eine weite Reise bis zum Mission District von San Francisco zurück, wo sich in der Alvarez Street das Versteck des ehemaligen Fachmanns fürs Überleben befindet. Colters Vater hatte als Professor und Amateurhistoriker ein immenses Misstrauen gegenüber einflussreichen Konzernen, Unternehmern, Politikern und Institutionen entwickelt, die die Grauzone zwischen Legalität und Illegalität ausnutzen, um ihre ganz eigenen Interessen durchzusetzen. 
Im Kampf gegen diese Art der Korruption war Ashton Shaw mit einigen Freunden und Kollegen auf die BlackBridge Corporate Solutions gestoßen, die nicht nur im Bereich der Wirtschaftsspionage tätig ist, sondern auch einen besonders schmutzigen „urbanen Image-Plan“ verfolgt, bei dem ganze Stadtviertel mit kostenlosen Drogen überschwemmt werden, um die Kriminalitätsrate in die Höhe und die Grundstückspreise in den Keller schießen zu lassen, worauf die Bauunternehmen die begehrten Objekte zu Spottpreisen aufkaufen können. Wie Colter bei seinen weiteren Recherchen erfährt, ist BlackBridge hinter einem Dokument her, das Amos Gahl, ein ebenfalls getöteter Freund von Colters Vater, in einer BlackBridge-Kuriertasche entwenden konnte. 
Während BlackBridge nichts unversucht lässt, um an dieses Dokument zu gelangen, bekommt Colter unerwartete Schützenhilfe von seinem Bruder Russell, den er immer verantwortlich für den Mord an Ashton Shaw gehalten hat. Gemeinsam machen sie sich auf eine ungewöhnliche Schnitzeljagd. 
„Bevor sein Vater zum Anwesen zurückgekehrt und wenig später ums Leben gekommen war, hatte er sich ein letztes Mal in San Francisco aufgehalten. Womöglich hatte er genau in diesem Sessel die Hinweise zusammengetragen, die jemanden – seinen Sohn, wie sich herausstellt – dazu bringen sollten, seine Mission fortzuführen und BlackBridge Corporate Solutions zu Fall zu bringen, sofern Ashton keinen Erfolg haben würde.“ (S. 370) 
Mit dem dritten Band um den Vermissten-Aufspürer und Spurenexperten Colter Shaw präsentiert Jeffery Deaver nicht nur einen gewohnt spannenden Thriller-Plot, sondern taucht auch tiefer ein in die bislang kaum entschlüsselte Familiengeschichte. Auch in „Vatermörder“ erinnert sich der Serienheld an das Überlebenstraining, das Ashton Shaw seinen beiden Söhnen und deren Schwester angedeihen ließ, aber vor allem rückt das schwierige Verhältnis zwischen Colter und seinem älteren Bruder Russell, der mittlerweile seine eigenen Wege geht und für eine geheime Regierungsorganisation arbeitet, in den Fokus. Allerdings geht Deaver dabei nicht besonders in die Tiefe. Da die beiden Brüder kaum ein Wort miteinander reden, gewinnt ihre Beziehung noch kein tiefes Profil, bietet aber Raum für Entwicklung in den nachfolgenden Romanen. 
Die Thriller-Handlung rund um BlackBridge ist zwar actionreich und spannend, folgt aber durchweg konventionellen Pfaden und bietet kaum Überraschungen. Dass Colter nebenbei noch versucht, das Leben einer ganzen Familie zu retten, für die ein Tötungsbefehl existiert, sorgt zwar für Abwechslung, zerfasert aber auch die dramaturgische Stringenz. 
An die Klasse der ersten beiden Colter-Shaw-Bände kann „Vatermörder“ nicht ganz anknüpfen, doch bewegt sich der Thriller leicht über dem Genre-Durchschnitt.