Sparta, New Jersey, im Juni 1965. Als der psychopatische Teenager Ray Pye mit seinen beiden Freunden Tim und Jennifer auf einem abgelegenen Zeltplatz beobachtet, wie zwei junge Mädchen sich küssen, brennt bei ihm eine Sicherung durch. Mit fünf Gewehrschüssen streckt er die beiden Mädchen brutal nieder. Während Lisa sofort ihren schweren Verletzungen erliegt, kann sich Elise ins Gebüsch retten, fällt jedoch ins Koma. Vier Jahre später stirbt das Mädchen im Krankenhaus. In der Zwischenzeit war Ray zwar der Hauptverdächtige in beiden Mordfällen, doch da er sich selbst meldete, am Abend zuvor am Tatort gewesen zu sein, und so seine vielen Fußspuren erklärte, konnten ihn Charlie Schilling und seine Kollegen nicht festnageln.
Charlies Kollege Ed Anderson hat schon vor Jahren den Dienst quittiert, als die Arbeit nicht mehr darin bestand, Katzen aus Dachrinnen zu retten und dafür zu sorgen, dass die Kinder sicher zur Schule kamen, sondern auf einmal die Untersuchung von schrecklichen Morden auf der Tagesordnung standen. Dafür vergnügt sich der alte Ed jetzt mit der jungen Sally Richmond, die ausgerechnet einen Job in dem von Ray geleiteten Motel annimmt und gleich an ihrem ersten Arbeitstag von ihrem Chef angebaggert wird. Ray ist zwar immer noch mit Jennifer zusammen, hat aber auch andere Mädchen am Start, feiert wilde Partys und verdient sich im Drogenhandel ordentlich was dazu. Die Zeiten haben sich geändert. Das hat nicht nur Ed zur Aufgabe seines Polizistenjobs bewogen, auch die junge Sally bemerkt die deutlichen Zeichen.
„Sie fragte sich, ob das Lokal sich verändert haben würde, wenn sie in einigen Jahren aus dem College kam. Es geschah so vieles in der Welt jenseits von Sparta. Rassenunruhen. Flowerpower. Vietnam. Hasch und Timothy Leary. Eine Imbissstube-Schrägstrich-Eisdiele, selbst eine gut besuchte wie diese, war bereits ein Anachronismus. Das Ende war abzusehen. Wie konnte das schlichte Vergnügen, einen Milchshake zu trinken, mit einem LSD-Trip mithalten? Sie fragte sich, ob die Neuntklässler von heute Lust hatten, den ganzen Abend – oder zumindest bis zehn, wenn der Laden dichtmachte – über einer Cherry-Cola zu hocken, wie sie früher mit ihren Freunden, während sie die neusten Geschichten aus dem Ort austauschten, einander anschmachteten, die im Regal ausliegenden Comics und Magazine lasen und auf den Drehhockern herumwirbelten wie auf einem Karussell im Vergnügungspark. Sie glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Es war wirklich ein Jammer, dachte sie. Der nachfolgenden Generation von Jugendlichen würde eine Menge Spaß entgehen. Und etwas, an dem ihr Herz hing, wäre früher oder später für alle Zeiten verschwunden.“ (S. 133 f.)In dieser Atmosphäre weitreichender Veränderungen der Lebenswelt vergnügt sich Ray nach Belieben mit Drogen und jüngeren Mädchen, kann es aber auf den Tod nicht leiden, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann. Das muss nicht nur Sally bitterlich am eigenen Leib erfahren …
Jack Ketchum wird nicht umsonst von Stephen King für den besten Horror-Autor Amerikas gehalten. Mit feinem Gespür für Situationen und Personen beschreibt Ketchum gnadenlos, wie in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld die Gewalt ausbricht. Oft gehört nicht viel dazu, kann der kleinste Funken einen Waldbrand auslösen. Vor dem Hintergrund von Woodstock und der Manson-Morde an Roman Polanskis hochschwangerer Frau Sharon Tate entwickelt der Autor ein bedrückendes Szenario junger Menschen, die in einer amerikanischen Kleinstadt alles andere als den amerikanischen Traum erleben, sondern sich Sorgen darüber machen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Während die klügeren Mädchen das College vor sich haben, hat der Schulabbrecher Ray nur sein aufgeblasenes Ego und seinen Rauschgifthandel, um wenigstens in seiner Heimatstadt das Großmaul zu mimen. Wie die tickende Zeitbombe schließlich explodiert, beschreibt Ketchum bis zum ernüchternd brutalen Finale in gewohnt drastischer, aber psychologisch gut beobachtender wie extrem spannende Weise.
Lesen Sie im Buch: Ketchum, Jack - The Lost
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