Im Juli 1975 bekamen die beiden jungen Polizistinnen Amanda Wagner und Evelyn Mitchell von ihrem neuen Sergeant Luther Hodge den Auftrag, einer Vergewaltigungsanzeige im Ghetto-Viertel Techwood nachzugehen, nachdem ein Anwalt namens Treadwell ordentlich Staub im Büro des Sergeants aufgewirbelt hatte. Unter der Adresse, zu der Wagner und Mitchell geschickt worden sind, war Treadwells Nichte Kitty gemeldet, doch von Jane Delray, einer der Untermieterinnen, erfuhren die beiden Polizistinnen vom Sittendezernat, dass nicht nur Kitty, sondern auch Lucy Bennett und Mary Halston seit Monaten verschwunden sind.
Doch als sie die Suche nach den vermissten Prostituierten auf eigene Faust fortsetzen wollten, wurden sie von ihren männlichen Kollegen immer wieder auf übelste Weise diskriminiert und ausgebremst. Allein Hodge hielt den unbeirrbaren Frauen so gut es geht den Rücken frei. In der Gegenwart verkündet Amanda Wagner bei einer Pressekonferenz, dass das Georgia Bureau of Investigation eine Fahndung nach der 19-jährigen Studentin Ashleigh Renee Jordan ausgegeben hat. Will Trent darf diesen Fall nicht bearbeiten, weil seine Chefin ihn zum Dienst am Flughafen abgeordnet hat.
So hat er Zeit, mit Dr. Sara Linton, mit der er seit Wochen liiert ist, einen Spaziergang nach Buttermilk Bottom zu machen, wo das Kinderheim stand, in dem Will aufgewachsen ist. Wenig später taucht Wills Chefin Amanda Wagner dort auf und berichtet ihm, dass sein wegen mehrfachen Mordes verurteilter Vater aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Will stellt sofort eine Verbindung zwischen dem aktuell vermissten Mädchen und den Fällen her, die vor 35 Jahren zur Verurteilung seines Vaters geführt haben. Offensichtlich findet die grausige Mordserie von damals heute ihre Fortsetzung.
„Sara hatte noch nie an das Konzept des Bösen geglaubt. Sie betrachtete das Wort als eine Ausrede – als Möglichkeit, Geistesgestörtheit oder Verderbtheit wegzuerklären. Ein sicheres Wort, hinter dem man sich verstecken konnte, statt der Wahrheit ins Auge zu sehen: dass Menschen zu abscheulichen Taten fähig waren; dass uns nicht viel davon abhielt, unseren niederen Trieben nachzugeben.“ (S. 344f.)Wie schon in „Harter Schnitt“, dem vorangegangenen Band in der „Georgia“-Reihe um Will Trent, Sara Linton, Evelyn Mitchell und Amanda Wagner, haben es die ProtagonistInnen in „Bittere Wunden“ mit einem sehr persönlichen Fall zu tun. Im Gegensatz zu dem dramaturgisch so homogen inszenierten Vorgänger wirkt „Bittere Wunden“ allerdings nicht nur wegen der Zeitsprünge wie ein dürftig aufeinander abgestimmtes Flickwerk, bei dem Karin Slaughter sich scheinbar nicht so recht entscheiden konnte, worauf das Buch seinen Fokus richten soll. Denn viel interessanter als der Fall der vermissten und gefolterten Mädchen ist der amerikanischen Bestseller-Autorin die Milieustudie gelungen, die den Leser eine Zeitreise zu dem Beginn der beruflichen Karriere der beiden Freundinnen Amanda und Evelyn unternehmen lässt.
Wie diese damals in einer Atmosphäre von Rassismus und Frauenfeindlichkeit ihren Weg bei der Polizei gemacht haben, ist eindrucksvoll emotional geschrieben und macht deutlich, warum die beiden taffen Frauen jetzt so sind, wie wir sie kennen. Ebenso aufschlussreich stellt sich Wills Reise in die Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit dem mörderischen Treiben seines Vaters dar. Seine Angst, dass er auch nur einen winzigen Teil seines Vaters in sich tragen könnte, lässt Will daran zweifeln, eine ernsthafte Beziehung zu einer Frau wie Sara zu unterhalten, die so ganz anders ist als seine Noch-Ehefrau Angie, mit der er durch eine traumatische Kindheit verbunden ist.
Karin Slaughter hätte sich damit begnügen können, den psychischen Befindlichkeiten ihrer Figuren auf den Grund zu gehen, doch als Thriller-Bestseller-Autorin musste natürlich auch ein Fall her, dessen Auflösung am Ende doch arg konstruiert wirkt.
„Bittere Wunden“ funktioniert wunderbar als gut recherchierte Geschichte über die sozioökonomische Struktur der Polizei in Atlanta in den 1970er Jahren und vor allem über die schwierige Rolle von Frauen innerhalb dieser staatlichen Organisation. Die Ermittlungen in den Fällen von damals und heute sind dagegen nicht so stringent dargelegt, wie wir es in schöner Regelmäßigkeit von Karin Slaughter gewohnt sind.
Leseprobe Karin Slaughter - "Bittere Wunden"