James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 1) „Dunkler Strom“

Donnerstag, 26. November 2015

(Edel:eBooks, 349 S., eBook)
Vernon Smothers, der vierzig Hektar des Landes von Rechtsanwalt Billy Bob Holland außerhalb von Deaf Smith auf Pachtbasis bewirtschaftet, beauftragt Holland damit, seinen 19-jährigen Sohn Lucas aus dem Gefängnis zu holen. Er soll das Mädchen Roseanne Hazlitt geschlagen und vergewaltigt haben, doch der Junge behauptet, betrunken gewesen zu sein und sich an nichts erinnern zu können. Außerdem seien da noch andere Jungs gewesen, mit denen Roseanne zu tun hatte.
Das Mädchen erliegt wenig später ihren Verletzungen im Krankenhaus, und Lucas muss sich auch wegen Totschlags vor Gericht verantworten. Als Holland und Deputy Sheriff Mary Beth Sweeney die Ermittlungen aufnehmen, drängt die Zeit, denn der Gefängnisschließer Harley Sweet ist für seine schikanöse Art, mit den Gefangenen umzugehen, bekannt. Dieser wird allerdings eines Tages von dem Insassen Jimmy Cole erdrosselt, der unerkannt aus dem Gefängnis spazieren kann und die Zeugin ermordet, die seinen Zellennachbarn Garland T. Moon belastet hat.
Nun muss auch Lucas um sein Leben bangen, denn er kann mit seiner Aussage Moon ebenfalls schaden. Und Holland als Lucas‘ Anwalt kann sich seines Lebens auch nicht mehr sicher sein …
„Moon hatte gesagt, manche Menschen seien von Geburt an anders. Hatte er damit nur sich gemeint, oder bezog sich das auch auf Menschen wie mich und Urgroßpapa Sam? Oder Darl Vanzandt?“ (Pos. 2221) 
Billy Bob Holland muss feststellen, wie verzwickt sich der Fall gestaltet. Da spielen nicht nur die Differenzen zwischen Arm und Reich eine Rolle und die Angelegenheiten der DEA, sondern ganz persönliche Verwicklungen, die bis in die Geschichte von Billy Bob Hollands Vorfahren zurückreichen.
Nach seiner Kultfigur Dave Robicheaux hat der amerikanische Schriftsteller James Lee Burke mit Billy Bob Holland einen weiteren charismatischen Protagonisten kreiert, der wie Robicheaux als Polizist angefangen hat, aber nicht in Mississippi, sondern in Texas sein Amt ausführt und mittlerweile als Rechtsanwalt praktiziert. Und wie Robicheaux hat Holland eine bewegte Vergangenheit mit einem gewalttätigen Vater und Großvater im Stammbaum und seinem Kollegen L.Q. Navarro in der schmerzlichen Erinnerung, dass er für dessen Tod verantwortlich gewesen ist.
Außerdem hat er seinem Pächter Vernon in Houston die Frau ausgespannt, bis er sie zurückholte und Holland sie nie wieder zu Gesicht bekam. Aus diesem Gerüst hat Burke einen faszinierenden Thriller kreiert, der nur stellenweise einen Justiz-Thriller darstellt, vor allem aber eine differenzierte Milieustudie mit einem vielschichtigen Plot und undurchschaubaren wie faszinierenden Figuren.
Leseprobe James Lee Burke - "Dunkler Strom"

Graham Masterton – „Grauer Teufel“

Dienstag, 24. November 2015

(Festa, 414 S., Pb.)
Jerry Maitland ist gerade zum Teilhaber bei Shockoe Immobilien befördert worden und hat mit seiner schwangeren Frau Alison ein großes, schmales Haus im historischen Church-Hill-Viertel von Richmond bezogen, als das zunächst Jerry auf unerklärliche Weise schwer verletzt wird und Alison gerade, als sie den Notruf alarmiert, mit einer Art Schwert zerstückelt wird.
Als Lieutenant Decker Martin und sein junger Kollege Hicks die Ermittlungen aufnehmen, will niemand einen Täter gesehen haben. Auch lassen sich in dem Blutbad überhaupt keine Beweise finden, weder die Tatwaffe noch Fußspuren oder Fingerabdrücke.
Allein das unter dem Downsyndrom leidende Mädchen Sandra konnte mit ihrer besonderen Gabe einen ganz in Grau gekleideten Mann in einem schweren Mantel mit Flügeln und einem Schwert sehen, von dem sie einen Tag später eine erstaunlich akkurate Zeichnung abliefert.
Wenig später häufen sich die Todesfälle, die auf scheinbar unsichtbare Täter hinweisen. Davon abgesehen gibt es keine offensichtlichen Verbindungen zwischen den Morden.
Allerdings scheint die legendäre Teufelsbrigade, die im Bürgerkrieg eine Schlacht entschieden hat, im Stammbaum der Toten eine Rolle gespielt zu haben. Und als Decker seine vor zwei Jahren verstorbene Freundin Cathy immer wieder zu sehen beginnt und dabei der Name der heiligen Barbara auftaucht, beginnt der zunächst skeptische Lieutenant auch an den Einfluss der Santería-Religion zu glauben.
„Vor seinem geistigen Auge sah Decker Cathys Kopf wieder und wieder explodieren. Die Vorstellung, dass sie diese Szene in einer Endlosschleife ertragen musste, war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte inzwischen genug gesehen und gehört, um daran zu glauben, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod tatsächlich gab. Die Geister der Verstorbenen wandelten weiterhin über die Erde, auch wenn sie sich nur in bestimmten Momenten zu erkennen gaben.“ (S. 215) 
Decker bekommt von mehreren Seiten die Warnung zu hören, dass sich die heilige Barbara an ihm rächen will, und setzt den Santero Moses Adebolu darauf an, einen Gegenzauber zu erwirken. Mittlerweile häufen sich die Anzeichen, dass Decker selbst in höchster Lebensgefahr schwebt… Nachdem die Autoren-Karriere des Briten Graham Masterton bei „Penthouse“ und mit dem Verfassen von Sex-Ratgebern begonnen hatte, ist er mittlerweile neben Clive Barker, Ramsey Campbell und James Herbert einer der bekanntesten Horror-Schriftsteller von der Insel, dessen Werke früher bei Bastei Lübbe, Goldmann und Heyne erschienen sind und der seine deutsche Verlagsheimat nun bei Festa gefunden hat.
Mit „Grauer Teufel“ ist Masterton ein thematisch vielschichtiger, atmosphärisch stimmiger und spannender Horror-Thriller klassischer Ausprägung gelungen, der Besonderheiten des amerikanischen Bürgerkriegs, der katholischen Heiligen und der aus Afrika eingeführten Santería-Religion miteinander verbindet. Dabei hat er vor allem mit Decker Martin einen starken und empathischen Protagonisten kreiert, den der Leser gleich sympathisch findet, aber auch die Nebenfiguren sind Masterton glaubwürdig gelungen. Wer Freude an einem atmosphärisch dichten Voodoo-Thriller hat, ist mit „Grauer Teufel“ bestens bedient.
Leseprobe Graham Masterton - "Grauer Teufel"

David Baldacci – (John Puller: 3) „Escape“

Donnerstag, 19. November 2015

(Heyne, 606 S., HC)
Die United States Disciplinary Barracks in Fort Leavenworth galten bislang als das bestgesicherte militärische Hochsicherheitsgefängnis in den USA. Und doch gelingt dem wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilten Robert „Bobby“ Puller nach dem Ausfall sowohl der Strom- als auch der Notstromversorgung eine spektakuläre Flucht. Kurz nach dem Vorfall wird ausgerechnet Pullers Bruder, Spezialagent der Criminal Investigation Division (CID), der Militärstrafverfolgungsbehörde derArmy, ins Pentagon geladen, wo er von Drei-Sterne-General Aaron Rinehart, Air-Force-General Timothy Daughtrey und James Schindler vom National Security Council damit beauftragt wird, seinen Bruder wiederzufinden und festzunehmen.
Für den Auftrag wird ihm die ebenso attraktive wie undurchsichtige Veronica Knox von Inscom zur Seite gestellt, der den militärischen Nachrichtendienst der US Army darstellt. Mit ihren Fragen wirbeln die beiden Ermittler viel Staub auf. Zunächst wird Daughtrey erschossen in Pullers Motelzimmer aufgefunden, dann verschwinden die Transformatoren, an denen man hätte feststellen können, ob ein Sprengstoffsatz für den Stromausfall verantwortlich gewesen war, und schließlich wird Puller entführt und kann sich nur mit Not befreien.
Je mehr Puller und Knox ihre Ermittlungen vorantreiben, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass Bobby unschuldig ins Gefängnis gewandert ist und hochrangige Militärangehörige als Spione dafür gesorgt haben, Massenvernichtungswaffen in die falschen Hände gelangen zu lassen …
Und über allem hängt die Frage, wie sich Puller verhalten würde, wenn er seinen Bruder tatsächlich in seine Gewalt bringt.
Könnte ich auf Bobby schießen? Oder er auf mich? Nein. Nie und nimmer. Das war die Antwort, die ihm sofort in den Sinn kam. Andererseits hatte Bobby zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Er hatte auf der Flucht höchstwahrscheinlich einen Menschen getötet. Falls man ihn wieder fasste, würde man ihn möglicherweise wegen Mordes zum Tode verurteilen, auch wenn es Hinweise darauf gab, dass er in Selbstverteidigung gehandelt hatte. Unter diesen Umständen würde Bobby vielleicht lieber kämpfend untergehen. Oder er würde zulassen, dass sein Bruder ihn tötete. Puller wusste nicht, welche Möglichkeit die schlimmere war.“ (S. 221) 
Mit „Zero Day“ und „Am Limit“ hat der amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci eine neue Reihe ins Leben gerufen, in der der militärische CID-Agent John Puller heikle Ermittlungsaufträge innerhalb seiner eigenen Reihen zu erledigen hat. Dabei kamen sein hochdekorierter, aber an Demenz erkrankter Vater, Drei-Sterne-General John „Durchbruch“ Puller, und sein wegen Hochverrats verurteilter Bruder Bobby eher am Rande vor.
In seinem neuen Roman „Escape“ wird nicht nur die Familiengeschichte der Pullers etwas gelichtet, sondern bildet auch das Zentrum von John Pullers neuem Auftrag. Geschickt gewährt Baldacci nicht nur weitere Einblicke in die unüberschaubaren Strukturen der militärischen Behörden und Einheiten, sondern entwickelt ein ebenso undurchdringlich erscheinendes Geflecht aus militärischen Geheimnissen, Spionage-Verdächtigungen, Lügen und Morden, dass der Leser kaum Zeit zum Luftholen bekommt.
Das Finale überrascht mit etlichen Wendungen und bringt einen hochklassigen Thriller zum Abschluss, der Lust auf weitere Puller-Abenteuer macht.
 Leseprobe David Baldacci - "Escape"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 16) „Der Untergrundmann“

Dienstag, 17. November 2015

(Diogenes, 363 S., Pb.)
An einem strahlenden Septembermorgen füttert Privatdetektiv Lew Archer gerade seine Buschhäher mit Erdnüssen, als er den Nachbarsjungen Ronny Broadhurst kennenlernt, der mit seiner Mutter vorübergehend in die Wohnung der Wallers eingezogen ist, nachdem sich Jean Broadhurst von ihrem Mann Stanley getrennt hat. Dieser holt Ronny gerade ab, um mit ihm zu Oma Nell nach Santa Teresa zu fahren, mit einer Blondine auf dem Beifahrersitz. Doch bei Ronnys Oma kommen sie nie an.
Als Jean und Lew sich auf die Suche nach Ronny machen, erfährt Archer, dass sich Stanleys Leben ganz um die Suche nach seinem Vater Leo dreht, der vor fünfzehn Jahren mit der Frau eines anderen durchgebrannt sein soll, aber die gebuchte Schiffspassage nach San Francisco nie angetreten hat.
Als auch Stanley ermordet aufgefunden wird, ermittelt Archer auf einmal nicht nur in der Entführung des Braodhurst-Jungen, für die ein halbwüchsiges Paar verantwortlich zu sein scheint, sondern auch in der Mordsache, deren Wurzeln in einem Verbrechen liegen, das bereits vor fünfzehn Jahren begangen worden ist. Je mehr sich Archer mit dieser Geschichte aus Leidenschaften, Lügen, Erpressung und Affären auseinandersetzt, desto verworrener präsentiert sich das Beziehungsgeflecht zwischen allen Beteiligten.
„Ich begann zu ahnen, wo das Problem lag. Ein gar nicht mal seltenes Problem, das entsteht, wenn Familien sich in eine so fade und erstickende Traumwelt einspinnen, dass die Kinder schließlich ausbrechen, um sich an den scharfen Kanten der erstbesten sich bietenden Realität zu wetzen. Oder sich mit Hilfe von Drogen ihre eigene Traumwelt schaffen.“ (S. 135) 

Neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zählt Ross Macdonald (1915 – 1983) zu den großen Autoren der amerikanischen Kriminalliteratur, und die Neuübersetzung von Karsten Singelmann des im Original 1971 erschienenen Klassikers „Der Untergrundmann“ bei Diogenes zeigt auch eindrucksvoll, warum Macdonald nicht nur ein begnadeter Krimiautor, sondern einfach ein grandioser Erzähler gewesen ist.
Bereits mit der Einführung der klassischen Dreieckskonstellation einer einsamen Frau, des eifersüchtigen Ehemanns und des gut beobachtenden Außenseiters, der unversehens zwischen die Fronten gerät, hat Macdonald einen Konflikt initialisiert, der sich im Verlauf der weiteren Geschichte immer weiter fein verästelt, bis alle Beteiligten irgendwie ihre Wunden zu lecken und lange verborgene Geheimnisse preiszugeben haben.
Mit Lew Archer schuf Macdonald dabei einen sympathischen Protagonisten, der ebenso wie die Menschen, mit denen er in dieser Geschichte zu tun hat, unter großer Einsamkeit leidet, der aber im Gegensatz zu den meisten von ihnen zu großer Empathie fähig ist und vor allem den Frauen stets mit Respekt und oft sogar großer Sympathie begegnet, was für die Kriminalliteratur jener Zeit absolut außergewöhnlich gewesen ist, wie auch Donna Leon in ihrem für die Neuübersetzung extra verfassten Nachwort bemerkt.
„Der Untergrundmann“ zeichnet sich bei allen vertrackten Wendungen, die die Geschichte im Verlauf von zwei ereignisreichen und durch einen verheerenden Waldbrand überschatteten Tagen nimmt, durch eine geschliffene Sprache und großartige Figurenzeichnung aus, wobei die Flammen des Waldbrands nicht nur das Zuhause der Menschen bedrohen, sondern gleichsam als Metapher für die Zerstörung menschlicher Schicksale stehen. Auf die weiteren Neuübersetzungen klassischer Lew-Archer-Romane darf der Krimi- und Literaturfreund deshalb mehr als gespannt sein. 


 

Jussi Adler-Olsen – „Takeover – Und sie dankte den Göttern …“

Sonntag, 8. November 2015

(dtv, 592 S., HC)
Nach siebenundzwanzig Jahren, die die Halbindonesierin Nicky Landsaat auf der Schattenseite von Amsterdam verbracht hat, sind ihre Examensnoten von der Handelshochschule so gut, dass sie ihrem tyrannischen Vater und ihren bereits vom rechten Weg abgekommenen Geschwistern Bea und Henk entfliehen kann. Als sie im August 1996 die Einladung zu einem Traineekursus bei der Investmentfirma Christie N.V. erhält, gelingt es ihr tatsächlich, trotz der verspäteten Anmeldung einen der begehrten Trainee-Plätze zu ergattern und das Vertrauen des Geschäftsführers Peter de Boer zu gewinnen.
Der hat nicht nur mit einer Anklage durch die Eltern seiner Frau Kelly mit kämpfen, die ihm vorwerfen, Kelly in den Selbstmord getrieben zu haben, sondern bekommt es auch mit dem undurchsichtigen wie skrupellosen Marc de Vires zu tun. Dieser unterhält Kontakte zur CIA unterhält und beauftragt de Boer mit einem heiklen Auftrag im Irak, den er nicht ablehnen kann. Um herauszufinden, was de Vires vorhat, schleust sich Nicky als Kindermädchen für dessen Neffen Dennis ein …
„Als sie de Vires‘ Korrespondenz entdeckte, überlegte Nicky einen Augenblick lang, den Computer auszuschalten. In diesem sehr kurzen Moment beschlich sie nicht nur eine ungute Ahnung von Unglück, Blut und Gewalt. Ihr wurde plötzlich auch das Ausmaß ihrer Neugier bewusst, ihr Ehrgeiz und besonders die von Liebe kaum noch zu unterscheidende Hingabe, die sie für Peter de Boer empfand und für alles, was er repräsentierte. Nicky feuchtete ihre Fingerspitzen an, rieb sie aneinander und ließ sie dann über die Tastatur gleiten, als zöge eine übernatürliche Kraft sie an einen vom Schicksal bestimmten Ort.“ (S. 308) 
Seit der norwegische Thriller-Autor Jussi Adler-Olsen mit seiner Reihe um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q die internationalen Bestsellerlisten gestürmt hat, erscheinen zwischenzeitlich auch Adler-Olsens ältere Werke, die bislang aber nicht an die Qualität seiner Erfolgsreihe anschließen konnten. Das trifft auch auf „Takeover“ zu. Dabei beginnt der Roman vielversprechend: Eine junge Frau bekommt die Chance, dem Elend, in dem ihre Familie lebt, mit ihrer hervorragenden Ausbildung zu entkommen, und lässt sich auf eine gefährliche Beziehung mit ihrem Gönner Peter de Boer ein, die weit über berufliches Engagement hinausgeht. Doch auch wenn Adler-Olsen die schwierigen Familienverhältnisse sowohl bei den Landsaats als auch bei den de Boers und den de Vires‘ herauszuarbeiten versucht, wirken die Charakterisierungen nur skizziert, so dass der Leser kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren bekommt, am ehesten wohl mit der taffen Protagonistin Nicky Landsaat.
Was dem Roman allerdings fast zum Verhängnis wird, sind die irgendwann unüberschaubaren politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Verwicklungen, die den Lauf der Geschichte immer wieder ins Stocken geraten lassen. Adler-Olsen macht in „Takeover“ viele Fässer auf. Es geht um wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, bei dem jedes noch so unlautere Mittel recht ist, es geht um familiäre Tragödien und schließlich um den Krieg um Öl, in den nicht nur der Irak und Kuwait verwickelt sind, sondern natürlich auch die USA, so dass die CIA auch ihre Finger im Spiel hat.
So bietet der komplexe Plot viele Möglichkeiten für Verrat, Intrigen, Gewalt, Folter und Mord, aber auch für ebenso viele Wendungen, Nebenhandlungen und Ablenkungsmanöver.
Immerhin gelingt es dem Autor, bei der zerfaserten Dramaturgie dennoch Spannung aufzubauen. Mørck-Fans werden mit diesem hochpolitischen und komplexen Thriller nicht unbedingt was anfangen können, aber lesenswert ist dieses Frühwerk aus dem Jahr 2003 (und neu aufgelegt im Jahr 2008) allemal. Schließlich sind die hier angerissenen Themen nach wie vor hochaktuell.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Takeover"

Dennis Lehane – „Am Ende einer Welt“

Freitag, 30. Oktober 2015

(Diogenes, 394 S., HC)
Mit seinen zwei Destillerien, einer Phosphatmine und Anteilen an verschiedenen Firmen in seiner Heimatstadt Boston zählt Joe Coughlin Anfang der 1940er Jahre in seiner Wahlheimat Ybor City nicht nur als einer größten Arbeitgeber und Investoren, sondern auch gütiger Spender und Wohltäter. Seine von ihm veranstalteten Partys sind legendär und vereinen wie selbstverständlich die prominenten Größen der halblegalen und legalen Gesellschaft.
Seit seine Frau verstorben ist, agiert Joe nur noch im Hintergrund als consigliere der Familie Bartolo, stellt aber so den Mittelsmann für das gesamte Verbrechersyndikat Floridas dar und kontrolliert darüber hinaus mit Meyer Lansky Kuba und den Transportweg für Rauschgift von Südamerika bis nach Maine.
Doch sein Leben als anerkannter Geschäftsmann und Vater des kleinen Tomas gerät in starke Turbulenzen, als er durch die wegen Mordes an ihrem Mann inhaftierte Theresa Del Fresco die Botschaft übermittelt bekommt, dass ein Killer auf ihn angesetzt ist. Da sich Joe überhaupt nicht vorstellen kann, wer ein Interesse daran haben könnte, sein Licht auszublasen, beginnt eine zermürbende Suche nach dem Killer …
„Natürlich hatte man schon früher versucht, ihn umzubringen, aber damals hatte es gute Gründe gegeben – ein Mentor war zu dem Schluss gekommen, dass Joe größenwahnsinnig geworden sei; davor waren es Mitglieder des Klan gewesen, denen es nicht besonders gefiel, dass ein bleicher Yankee ihnen im eigenen Revier zeigte, wie man richtig Geld machte; und davor war es ein Gangster gewesen, in dessen Freundin er sich verliebt hatte. All das waren gute Gründe gewesen.
Warum ich?“ (S. 138) 
Nach „In der Nacht“ erzählt der amerikanische Bestseller-Autor Dennis Lehane mit „Am Ende einer Welt“ die Geschichte der Coughlin-Familie, die in „Im Aufruhr jener Tage“ ihren Anfang nahm, weiter. Während es im Auftakt der Coughlin-Reihe um den aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Thomas Coughlin ging, der sein Glück in Hollywood versuchte, thematisierte „In der Nacht“ den Aufstieg seine jüngeren Bruders Joe zur Unterweltgröße in Lehanes Heimatstadt Boston.
In dem neuen Werk ist es nicht mehr Coughlin, der die Fäden in der Unterwelt zieht, sondern Dion Bartolo, aber in dem existentiellen Drama steht Coughlin einmal mehr ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Wie Lehane die Fallstricke der mächtigen italienischen Familien knüpft, bietet einmal mehr ganz großes Kino, wie Lehanes Hollywood-Vorlagen „Gone, Baby, Gone“, „Mystic River“, „Shutter Island“ und die Drehbücher zu drei Folgen der gefeierten Serie „The Wire“ bereits dokumentiert haben.
Der preisgekrönte Bestseller-Autor trifft auch in „Am Ende einer Welt“ immer den richtigen Ton, beschreibt die unheilschwangere Atmosphäre der bleigetränkten Unterwelt von Ybor City so eindrücklich, als wäre man mittendrin. Das liegt nicht nur an der packenden Handlung, die ohne überflüssige Nebenplots auskommt, sondern auch an der feinen Charakterisierung der Figuren und der engen Familienbindungen, die im Ehrenkodex der Italiener tief verwurzelt sind.
Fortsetzung folgt – hoffentlich …
Leseprobe Dennis Lehane - "Am Ende einer Welt"

Jason Starr – „Phantasien“

Sonntag, 25. Oktober 2015

(Diogenes, 393 S., Pb.)
Auf der Dinnerparty im neuen, 2,6 Millionen Dollar teuren Haus der Lerners in Bedford Hills beobachtet Deb Berman, wie ihr Mann Mark – wenn auch nur kurz – die Hand ihrer gemeinsamen Nachbarin Karen Daily hält. Auf der Heimfahrt nach South Salem macht sie ihm eine Szene, verlangt, dass er sich von der geschiedenen Frau, die bereits durch ihre verschiedenen Internet-Bekanntschaften einen gewissen Ruf genießt, fernhalten soll, obwohl sie eine gemeinsame Freundin ist und ihre Kinder Elana und Matthew mit ihren eigenen, Riley und Justin, ebenfalls miteinander befreundet sind.
Unausgesprochen zwischen beiden bleibt, dass Mark sich tatsächlich nichts sehnlicher wünscht, als mit Karen zusammen zu sein, und auch fest davon überzeugt ist, dass Karen seine Gefühle erwidert. Deb wiederum unterhält eine Affäre mit dem 18-jährigen Highschool-Abbrecher Owen Harrison, der in dem örtlichen Country Club jobbt, wo die Bermans und Karen natürlich auch Mitglied sind.
Als Deb dort wenige Tage nach dem Streit Mark wieder mit Karen sieht, fliegen diesmal zwischen Karen und Deb die Fetzen. Auf einmal wird sich Deb aber auch bewusst, dass sie die Scheidung will und dass es keine gute Idee gewesen ist, eine Affäre mit Owen anzufangen …
„Zum ersten Mal, wurde ihr klar, sah sie ihn so, wie Riley und wahrscheinlich alle anderen ihn sahen – er hatte eindeutig etwas Abseitiges an sich. Er studierte nicht, wohnte bei seinen Eltern und hatte einen Aushilfsjob ohne Aufstiegschancen. Schlimmer noch, er hatte weder echte Interessen noch Ehrgeiz, und seine Persönlichkeit war nicht sonderlich interessant. Er war weder witzig noch klug, noch ein amüsanter Gesprächspartner. Aus ihrer neuen Perspektive als getrennte Frau konnte sie nichts besonders Faszinierendes an ihm erkennen.“ (S. 119) 
Der 1966 in Brooklyn geborene, immer noch in New York lebende Autor Jason Starr („Panik“, „Dumm gelaufen“) blickt mit seinem neuen, sehr humorvollen Thriller-Drama „Phantasien“ hinter die schillernden Kulissen eines wohlhabenden Vororts in New York, wo keine freundschaftliche wie amouröse Beziehung das ist, wonach sie aussieht.
Hinter den leuchtenden Statussymbolen schicker Häuser, teurer Autos, exklusiver Club-Mitgliedschaften und traditioneller familiärer Bindungen tobt in der Savage Lane nicht nur ein Zickenkrieg. Hier werden vor allem verbotene und gefährliche Begierden geweckt, verwirklicht, verheimlicht und abgetan, schließlich auch mit tödlicher Gewalt beendet.
Starr beschreibt die liebestollen Verwicklungen zwischen Teenagern und Erwachsenen in lockerem Ton, lässt zwischen den Zeilen aber jede Menge Sarkasmus durchsickern, der die großen Lebens- und Liebes-Lügen als zerstörerischen Selbstbetrug enttarnt.
Dass am Ende kaum jemand ohne Schaden aus dieser liebestollen Geschichte herauskommt, ist da nur konsequent.
Leseprobe Jason Starr - "Phantasien"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 16) „Sturm über New Orleans“

Dienstag, 20. Oktober 2015

(Pendragon, 576 S., Pb.)
Der in New Orleans als Polizist arbeitende Vietnam-Veteran und trockener Alkoholiker Dave Robicheaux hat bereits 1957 erlebt, wie Hurrikan Audrey über die Küste von Louisiana hereingebrochen war, und 1964 befand er sich im Auge von Hilda, die den Wasserturm von Delcambre aufs Rathaus stürzen ließ. Aber was Katrina mit seiner Stadt anrichtet, übersteigt jedes Grauen, das er bisher in seinem bewegten Leben erfahren musste. In diesem Chaos hat Robicheaux die Vergewaltigung an der 15-jährigen Thelma Baylor aufzuklären. Die Annahme, dass die Tat von den beiden Melancon-Brüdern und Andre Rochon begangen worden ist, scheint sich während der polizeilichen Ermittlungen zu verfestigen. Doch bevor die drei Kleinkriminellen dem Gesetz überführt werden können, rauben sie das Haus des schweren Ganoven Sidney Kovlick aus, der dafür bekannt ist, nicht gerade zimperlich mit den Leuten umzugehen, die ihm in die Suppe spucken.
Schließlich gibt Thelmas Vater, der Versicherungsvertreter Otis Baylor, zwei Schüsse auf die Verdächtigen ab, als sie gerade versuchen, ihr Diebesgut auf seinem Grundstück zu verstecken. Doch niemand will diesen Vorfall bezeugen, schon gar nicht Thelma.
Zu allem Überfluss hat Robicheaux noch die ehrgeizige FBI-Agentin Betsy Mossbacher an den Fersen und muss den verschwundenen Priester Jude LeBlanc auffinden, der zuletzt dabei gesehen wurde, wie er mit einer Axt ein Loch in das Dach einer Kirche schlug, um die darin eingesperrten Menschen zu befreien. Dazu kommen Blutdiamanten, al-Qaida und Falschgeld ins Spiel – und ein unheimlich wirkender Typ namens Ronald Bledsoe, aus dessen Poren das pure Böse zu strömen scheint.
„Angeblich sind wir eine christliche Gesellschaft oder zumindest eine, die von Christen begründet wurde. Unserem selbstgestrickten Mythos zufolge verehren wir Jesus, Mutter Teresa und den heiligen Franz von Assisi. Aber ich glaube, in Wahrheit sieht es anders aus. Wenn wir uns gemeinsam bedroht fühlen oder verletzt sind, wollen wir die Gebrüder Earp samt Doc Holliday holen, und wir wollen, dass die üblen Kerle abgeknallt, umgelegt, kaltgemacht und mit Bulldozern untergepflügt werden.“ (S. 377) 
James Lee Burke, einer der ganz Großen und Beständigen der Kriminalliteratur, der seit einigen Jahren in Deutschland nicht mehr veröffentlicht und erst durch den Heyne- und nun auch durch den Pendragon-Verlag wiederentdeckt worden ist, äußert bereits in seinem Gruß an seine deutschen Leser, dass „Sturm über New Orleans“ sein wütendstes Buch ist.
Indem er seinen beliebten wie sperrigen Protagonisten Dave Robicheaux diverse Fälle in dem von Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans bearbeiten lässt, legt er in seiner präzise geschliffenen Prosa auch deutlich noch einmal den Finger in eine nach wie vor schwärende Wunde. Burke lässt in dem epischen Roman, der das Elend, das die keineswegs überraschende Naturkatastrophe über die Bevölkerung in New Orleans gebracht hat, keinen Zweifel daran, dass die Regierung für dieses unvorstellbare Ausmaß des Grauens verantwortlich gewesen ist, dass sich weiterhin die Wohlhabenden schadlos am Wiederaufbau halten werden.
In die eindringliche Schilderung der bedrückenden Atmosphäre der Verwüstung webt Burke eine vielschichtige Handlung, die er mit ganz unterschiedlichen Figuren bevölkert, die sich wiederum nur selten in schablonenhafte Kategorien einordnen lassen. Selbst die ehrenhaftesten Typen werden von schlimmen Träumen und Gelüsten geplagt. Burke, der selbst in Louisiana an der Ostküste aufgewachsen ist, versteht es, mit seinem gleichbleibend bedachten Erzählfluss die niederschmetternde Atmosphäre der Stadt, die Robicheaux‘ Freund Clete Purcel gern als „die Große Schmuddlige“ bezeichnet, in filmreifer Qualität abzubilden und dabei auch den mehr oder weniger latenten Rassismus ebenso zu thematisieren wie die Bösartigkeit unter den Menschen, die sich auch unter den Besten von uns einzunisten droht.
Dass der Pendragon Verlag ankündigt, in den kommenden Jahren weitere Robicheaux-Krimis des mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors zu veröffentlichen, zählt wohl zu den schönsten Versprechen, die dieses Jahr in der literarischen Landschaft zu vernehmen gewesen sind.
Leseprobe James Lee Burke - "Sturm über New Orleans"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 11) "Der Giftzeichner"

Sonntag, 11. Oktober 2015

(Blanvalet, 573 S., HC)
Lincoln Rhyme denkt gerade über einen letzte Woche verübten Mord in Downtown nach, als er über den Tod zu sinnieren beginnt und über die Betrachtungsweisen über den Tod. Dass sein bislang schärfster Widersacher, der als „Uhrmacher“ bekannte Richard Logan, in seiner Haft an einem schweren Herzinfarkt gestorben ist, erfüllt Rhyme mit Trauer, denn nun blieb ihm die Möglichkeit verwehrt, Logans scharfen Intellekt und die präzisen Strukturen seiner Taten ergründen zu können. Doch dann wird Ryhmes Intellekt bei einem neuen Fall gebunden: Eine junge Frau wurde in einem Versorgungstunnel unterhalb des Modegeschäfts, in dem sie arbeitete, tot aufgefunden, das Wort „zweiten“ wurde ihr in ungewöhnlicher Fraktur-Schrift meisterhaft auf den Bauch tätowiert, allerdings nicht mit Tinte, sondern mit dem aus dem Wasserschierling gewonnenen Gift Cicutoxin.
Ein Motiv können Rhyme, Sachs und der ermittelnde Detective Lon Sellitto vom NYDP nicht ausmachen, aber als die nächsten Toten mit ähnlich rätselhaften wie todgiftigen Tätowierungen entdeckt werden, wird Rhyme klar, dass er persönlich von dem Täter herausgefordert wird, denn die Spuren am ersten Tatort führen zu dem kriminalsachlichen Buch „Serienstädte“, in dem Rhyme ein Kapitel gewidmet ist.
Offensichtlich scheint sich der Täter vom Knochenjäger inspiriert zu fühlen, der Rhyme und Sachs damals in die Schlagzeilen gebracht hat.
„Während Billy mit der American Eagle den überaus hübschen Bauch seines neuen Opfers bearbeitete, dachte er darüber nach, wie fasziniert er von Gottes persönlicher Leinwand war.
Haut.
Sie war auch Billys Leinwand, und er war so sehr auf sie fixiert, wie der Knochenjäger auf das Skelettsystem des Körpers fixiert gewesen war – was Billy interessiert bei der Lektüre von Serienstädte festgestellt hatte. Er respektierte die Besessenheit des Knochenjägers, aber ehrlich gesagt konnte er sie nicht ganz nachvollziehen. Haut war bei Weitem der aufschlussreichere Aspekt des menschlichen Körpers. Sehr viel zentraler. Viel wichtiger.“ (S. 243) 
Billy Haven wird mit seiner American-Eagle-Tätowiermaschine bereits im zweiten Kapitel als Täter eingeführt, erscheint im Vergleich zu früheren Serienmördern, mit denen es Lincoln Rhyme und Amelia Sachs in den zehn Fällen zuvor zu tun hatten, allerdings ziemlich blass. Das trifft leider auch auf den Plot zu, den Thriller-Bestseller-Autor Deaver auf den ersten 300 Seiten entwickelt.
Wenn der Leser Lincoln Rhyme und Amelia Sachs noch nicht aus früheren Büchern kennen sollte – was zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlich ist -, wird er wenig über ihre Hintergründe und Geschichte erfahren. Auf der anderen Seite gibt es für langjährige Fans wenig Neues zu entdecken. Mit der Charakterisierung seiner Figuren hält sich Deaver wenig auf, stattdessen entwirft er eine routiniert strukturierte, aber wenig packende Mordserie, die einzig etwas über die Intention des Killers und die Wirkungsweisen pflanzlicher Gifte offenbart.
Seine Meisterschaft demonstriert Deaver erst im letzten Drittel von „Der Giftzeichner“, wenn sich die ach so überraschenden Wendungen förmlich überschlagen. Hier trägt Deaver dann doch etwas dick auf, wenn er die Handlung und Rhymes Schlussfolgerungen geradezu Purzelbäume schlagen lässt. Das ergibt wie gewohnt flüssig geschriebene, wendungsreiche Thriller-Unterhaltung, zählt aber mit den fast schon lieblos gezeichneten Figuren und dem arg konstruierten Finale sicher zu Deavers schwächeren Werken.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Giftzeichner"

Chris Carter – (Robert Hunter: 7) „Die stille Bestie“

Samstag, 10. Oktober 2015

(Ullstein, 445S., Tb.)
Sheriff Walton und sein Deputy Bobby Dale stillen wie jeden Mittwochmorgen in Noras Truck Stop Diner am Stadtrand von Wheatland im südöstlichen Wyoming ihren Hunger auf Süßes, als ein Pick-up auf das Diner zurast und dabei das Heck eines dunkelblauen Ford Taurus streift. Als sie das Unglück aus der Nähe betrachten, entdecken sie im aufgesprungenen Kofferraum des Fords die aus einer Kühlbox herausgekullerten Köpfe zweier Frauen.
Als Fahrzeugführer wird ein Liam Shaw ausgemacht, der wenig später vom FBI gefasst wird, aber nach seiner Festnahme kein einziges Wort von sich gibt. Schließlich verlangt er nach Robert Hunter, der nach seiner Dissertation mit dem Titel „Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltungsmuster“ massiv vom FBI umworben wurde, aber schließlich als einfacher Detective beim LAPD seinen Dienst angetreten hat.
Als Adrian Kennedy, Leiter des Nationalen Zentrums für die Analyse von Gewaltverbrechen (NCAVC), Hunter zu sich nach Quantico bestellt, erfährt er bei der Gegenüberstellung mit dem Gefangenen, dass es sich dabei um seinen alten Studienfreund Lucien Folter handelt, mit dem er sich in Stanford an der psychologischen Fakultät ein Zimmer teilte. Zusammen mit Special Agent Courtney Taylor verhört Hunter seinen alten Freund und muss feststellen, dass sich dieser zu einem psychopathischen Killer entwickelt hat, der die Geheimnisse seiner Taten nur im Gegenzug von persönlichen Bekenntnissen seines Gegenübers zu lüften bereit ist. Zwischen den früheren Freunden entwickelt sich ein psychologisches Duell, das Hunter allzu bittere Wahrheiten über sein eigenes Leben offenbart. Doch wenn er Gerechtigkeit für all die Opfer von Lucien Folter will, muss er das Quid-pro-quo-Spiel nach den zermürbenden Regeln des Killers spielen …
„Hunter hatte seinen alten Freund schweigend beobachtet, seit er und Taylor bei der Zelle angekommen waren. An diesem Morgen wirkte Lucien noch siegessicherer und selbstherrlicher als tags zuvor, allerdings war das kaum verwunderlich. Er wusste eben genau, dass er am längeren Hebel saß. Er wusste, dass alle bis auf weiteres nach seiner Pfeife tanzen mussten, und das schien ihm eine enorme Genugtuung zu bereiten. Aber das war noch nicht alles. Da war etwas Neues zu Luciens Persönlichkeit hinzugekommen – eine brennende Leidenschaft, ja sogar Stolz, als sei es sein aufrichtigster Wunsch, dass alle Welt die Wahrheit über seine Taten erfuhr.“ (S. 149) 
Zählt man die ePub-Veröffentlichung „One Dead“ mit, stellt „Die stille Bestie“ den bereits siebten Fall des genialen Profilers Robert Hunter dar, dessen Dissertation, die er im Alter von 23 Jahren verfasst hat, zum Standardwerk an der FBI-Akademie zählt. Zugleich steht er in „Die stille Bestie“ vor seiner bislang größten Herausforderung, nämlich seinem ehemals besten Freund nicht nur das Handwerk zu legen und die Grabstätten seiner Opfer zu finden, sondern auch die schmerzlichen Offenbarungen zu verarbeiten, die während des Verhörs zutage treten und Hunters Leben auf den Kopf zu stellen drohen.
Von der Dramaturgie her erinnert „Die stille Bestie“ ein wenig an Thomas Harris‘ Meisterwerk „Das Schweigen der Lämmer“. Auch hier sitzt ein hochgradig intelligenter Killer, der keine Emotionen nach außen sichtbar werden lässt, bereits im Gefängnis und versucht durch sein Täterwissen etwas für sich auszuhandeln. Gegen Lucien Folter wirkt Hannibal Lecter allerdings wie ein Waisenknabe.
Chris Carter inszeniert mit „Die stille Bestie“ ein extrem dramatisches Psycho-Duell der Extraklasse, das seine Spannung nicht nur aus der ganz persönlichen Beziehung zwischen den Kontrahenten bezieht, sondern vor allem aus der unvorstellbaren Bösartigkeit, mit der Folter seine Taten geplant und durchgeführt hat.
Leseprobe Chris Carter - "Die stille Bestie"

Jo Nesbø – (Blood On Snow: 1) "Der Auftrag“

Sonntag, 4. Oktober 2015

(Ullstein, 187 S., Pb.)
Für vier Arten von Jobs ist der in Oslo lebende Olav nicht zu gebrauchen, wie er selbstkritisch einräumt. Demnach kann er weder Fluchtwagen fahren, noch Raubüberfälle ausüben, mit Drogen arbeiten oder mit Prostitution zu tun haben. Dafür hat er sich als Auftragsmörder einen Namen gemacht, der für den Gangster Daniel Hoffmann unliebsame Leute aus dem Weg räumt. Als Olav nach der erfolgreichen „Expedierung“ eines Mannes bei den verlassenen Lagerhäusern am Kai gleich den nächsten Auftrag von Hoffmann erhält, kommt es zu schwerwiegenden Komplikationen – denn das nächste Opfer soll ausgerechnet Hoffmanns Frau Corina sein.
Olav legt sich einige Tage gegenüber von Hoffmanns Wohnung auf die Lauer und beobachtet das schöne Objekt seines Auftrags dabei, wie es regelmäßig Besuch von einem jungen Mann bekommt, der Corina erst brutal schlägt und anschließend vergewaltigt. Olav nimmt daraufhin eine eigenständige Planänderung vor, die ihn teuer zu stehen kommt …
„Warum also war sie – die junge Ehefrau des größten Lieferanten von Ekstase – bereit, alles für eine billige Affäre mit jemandem zu riskieren, der sie noch dazu schlug?
Erst am vierten Nachmittag verstand ich es, und ich fragte mich, wieso ich so lange gebraucht hatte, um darauf zu kommen. Ihr Lover hatte etwas gegen sie in der Hand.
Etwas, womit er zu Daniel Hoffmann gehen konnte, wenn sie nicht tat, was er wollte.
Als ich am fünften Tag aufwachte, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte auf Nebenstraßen ins Ungewisse fahren.“ (S. 36) 
Mit „Blood On Snow“ hat der norwegische Thriller-Bestseller-Autor Jo Nesbø eine neue Reihe ins Leben gerufen, die im Gegensatz zu den komplexen Fällen des Polizisten Harry Hole ebenso kurz wie prägnant und packend inszeniert sind. Im Auftakt der unzusammenhängenden Reihe um harte Männer, die folgenschwere Entscheidungen treffen müssen, erzählt Nesbø die Geschichte eines Auftragsmörders, dessen Gedanken immer wieder zu den Frauen in seinem Leben abschweifen, zu seiner Mutter, der taubstummen Maria und eben der geheimnisvollen Corina, der aber auch zusehen muss, wie er aus der kniffligen Lage, in die er sich durch seine Planänderung manövriert, heil herauskommt.
Nesbø hält sich in dem nicht mal 200 Seiten langen „Blood On Snow: Der Auftrag“ weder lang mit einer Einleitung noch mit ausführlichen Charakterisierungen auf. Das hat den Vorteil, die Handlung schnell vorantreiben und überraschende Wendungen einführen zu können, ohne auf die psychologische Stimmigkeit achtgeben zu müssen.
Leonardo DiCaprio hat sich bereits die Filmrechte an dem rasanten Stoff gesichert.
Leseprobe Jo Nesbø – „Blood On Snow: Der Auftrag“

James Carlos Blake – „Pistolero“

(Liebeskind, 431S., HC)
Als am 19. August 1895 im Acme Saloon in El Paso der Polizist John Selman die Waffe auf den Hinterkopf von John Wesley Hardin richtete und abdrückte, ist das Leben des wohl berüchtigsten Revolverhelden in Texas zu Ende gegangen. Darauf weist der einen Tag später im El Paso Daily Herald erschienene Artikel hin, der zur Einstimmung auf die Lebensgeschichte von Wes Hardin den Augenzeugenberichten vorangestellt ist, die chronologisch in einzelnen Episoden, die sie mit Hardin verbracht haben, die aufregende Geschichte eines Mannes erzählen, der seine Waffe gegen jeden zückte, der sein Leben bedroht hat – und nur dann!
Beginnend mit dem Bericht der Hebamme, die Hardin „in einem blutigen Sturzbach“ im Jahr 1853 zur Welt gebracht hat, erfährt der Leser zunächst, wie die Familie von Reverend Hardin ungefähr 1855 vom Red River nach Polk County gezogen ist, wo der Reverend nicht nur das Wort Gottes predigte, sondern auch in der Schule lehrte und als Anwalt praktizierte.
Gregor Holtzman, der die Familiengeschichte auf zwei Seiten zusammenfasst, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Hardins eine stolze Familie von guter Herkunft seien. Schon der Vater des Reverend, Benjamin Hardin, hat im Kongress von Texas gesessen und Augustine, ein Onkel des Reverends, hat die Unabhängigkeitserklärung mit unterschrieben.
In dieser geschichtsträchtigen Familie entwickelte auch Wes einen außerordentlichen Familien- und Gerechtigkeitssinn. Der wissbegierige Junge entwickelte früh ein Talent für die Arbeit der Cowboys, machte auch als Lehrer eine gute Figur und faszinierte die Frauen. Vor allem war er unglaublich schnell mit seinen Pistolen. Doch als er den Deputy Sheriff Morgan in DeWitt County tötet, wird aus dem geachteten Revolverhelden ein gesuchter Mann, der sich schließlich vor Gericht verantworten muss.
„Die Geschichte von Wes‘ Kampf mit der San-Antonio-Bande verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sie stand in allen Zeitungen. Manche Leitartikel nannten ihn einen Helden, weil er sich der verhassten State Police und den feigen Vigilanten, den Bürgerwehrlern, die das Recht selbst in die Hand nahmen, gestellt hatte – andere hielten ihn für einen blutigen Desperado, der wie ein räudiger Hund abgeknallt oder an der größten Eiche in Texas aufgehängt gehöre.“ (S. 207) 
Nachdem der Münchener Liebeskind Verlag bereits den mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnete Buch „Das Böse im Blut“ des in Mexiko geborenen und in Texas lebenden Autors James Carlos Blake erstmals der deutschen Leserschaft bekannt gemacht hatte, erscheint dort nun auch das 1995er Debüt „Pistolero“.
Obwohl diese fiktionale Biografie aus der Perspektive von gut fünfzig Zeitzeugen des berüchtigten Revolverhelden erzählt wird, wirkt die Collage aus Erinnerungen, Zeitungsberichten und autobiografischen Bemerkungen wie aus einem Guss. Blake lässt in den Ausführungen von Verwandten, Prostituierten, Lehrern, Richtern, Anwälten, Barkeepern, Freunden und Verwandten das lebendige Portrait eines Mannes entstehen, der seine außergewöhnlichen Begabungen vor allem zum Wohl seiner Mitmenschen einsetzte und jedem Streit möglichst ohne Einsatz von Waffen aus dem Wege ging. In diesen Beschreibungen wird aber nicht nur das abenteuerliche Leben des Protagonisten dargelegt, sondern auch das raue Leben im Texas des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den beschwerlichen Trecks, den Glücksspielen in den Hinterzimmern der Saloons und den Freuden, die Prostituierte den Männern bereiten konnten, facettenreich dokumentiert. Daran werden nicht nur Western-Fans ihre Freude haben.
Leseprobe James Carlos Blake - "Pistolero"

Richard Laymon – „Die Spur“

Freitag, 2. Oktober 2015

(Heyne, 464 S., Tb.)
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Rick den Urlaub mit seiner Freundin Bert(ha) im MGM Grand in Las Vegas oder im Hyatt in Maui auf Hawaii verbracht, auch eine Irland-Tour, eine Luxus-Kreuzfahrt nach Acapulco oder eine Dampferfahrt auf dem Mississippi standen zur Diskussion, doch Bert wollte unbedingt eine Wandertour in den Bergen der Sierra Nevada unternehmen. Als das junge Paar an einem Samstagmorgen aufbricht, weiß Bert noch nichts davon, dass Rick in seiner Kindheit miterleben musste, wie seine attraktive Stiefmutter Julie bei einem solchen Ausflug vergewaltigt und ermordet worden ist.
Und so beäugt Rick während des Wanderns jeden männlichen Fremden, denen sie unterwegs begegnen, mit übervorsichtigem Argwohn. Das ändert sich auch nicht, als neben den drei jungen Kerlen Jase, Luke und Wally, die sich Rick und Bert kurzzeitig anschließen, auch die beiden Mädchen Andrea und Bonnie ihre Wege kreuzen. Den Revolver, den Rick für den Notfall ohne Berts Wissen mitgenommen hat, sorgt schließlich für eine mehr als brenzlige Situation.
Währenddessen unternimmt die waghalsige Gillian O’Neill, selbst Eigentümerin einer zwanzig Wohneinheiten umfassenden Apartment-Anlage, einmal mehr eine Tour, die sie durch Häuser führt, deren Besitzer offensichtlich verreist sind. Nachdem sie das Objekt ihrer Begierde ausgekundschaftet hat, macht es ihr besonders viel Spaß, ein ausgiebiges Bad in dem verlassenen Haus zu nehmen und die persönlichen Dinge des Besitzers zu fotografieren.
Als sie das Haus von Frederick Holden in Beschlag nimmt, stellt sie sich seinem Nachbarn Jerry als Holdens Nichte vor und verbringt einen anregenden Nachmittag im Pool des attraktiven Nachbarn. Doch als Gillian beginnt, Holdens Videosammlung näher zu betrachten und schließlich ein mehr als verstörendes Fotoalbum findet, nimmt ihr Nervenkitzel eine bedrohliche Wendung …
„Entgegen ihrer besseren Einsicht ließ sie die Wanne mit Wasser volllaufen. Die Dampfwolken, die in ihr Gesicht stoben, ließen sie vor Erregung glucksen. Gillian wählte einen voluminösen Badeölspender, zog den Stöpsel und goss den Zusatz ins Badewasser. Fasziniert beobachtete sie, wie sich die amethystfarbene Flüssigkeit mit den blubbernden Strudeln vereinigte.
Zarter Fliederduft stieg in ihre Nasenflügel. Mmmm …
Als sie in das wohlriechende Wasser stieg, summte sie eine Melodie:
‚Keep young and beautiful …‘
Ja. Ganz klar. Das war die spektakulärste, faszinierendste, luxuriöseste, unvergesslichste, denkwürdigste Wanne gewesen, in der jemals ein Bad genommen hatte. Es war in jeglicher Hinsicht ihr bislang spektakulärstes, faszinierendstes und denkwürdigstes Eindringen gewesen.
Und das kürzeste, wie sich herausstellen sollte.“ (S. 126f.) 
Mit „Die Spur“ veröffentlicht Heyne Hardcore das letzte noch zu Lebzeiten des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon erschienene Werk „No Sanctuary“. Hier demonstriert der versierte Autor noch einmal seine Qualitäten als erstklassiger Spannungslieferant, dessen Werke sich mit ihren lebendigen Dialogen und attraktiven jungen Menschen wie Drehbücher zu Hollywood-Schockern lesen. Bei „Die Spur“ bekommt der Leser sogar zwei absolut parallel zueinander laufende Geschichten präsentiert, deren Handlungsstränge erst zum Finale zusammenlaufen. Bis dahin wechselt Laymon immer wieder geschickt von dem Wandertrip in den Bergen, den Rick und Bert unternehmen, zum Nervenkitzel, den Gillian im leeren Haus eines offensichtlichen Psychopathen erlebt.
Natürlich ist „Die Spur“ wie bei Laymon gewohnt mit einer Reihe erotischer Tagträumereien und tatsächlicher Handlungen ebenso gespickt wie mit brutaler Gewalt, doch nehmen sie nicht die exzessive Gestalt an, wie man es aus früheren Werken des produktiven Amerikaners kennt. Stattdessen beschränkt sich Laymon diesmal ganz auf die beiden Erzählstränge und den geschickten dramaturgischen Spannungsaufbau, was diesem Quasi-Testament gut zu Gesicht steht.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Spur"

Stephen King – (Bill Hodges: 2) „Finderlohn“

Sonntag, 27. September 2015

(Heyne, 542 S., HC)
New Hampshire im Jahre 1978. Sechs Monate vor seinem achtzigsten Geburtstag wird der einst erfolgreiche, seit Jahren aber zurückgezogen auf einer Farm lebende Schriftsteller John Rothstein von drei vermummten Männern in seinem Schlafzimmer überfallen und zur Öffnung seines Safes gezwungen. Dort lagern nicht nur über 20.000 Dollar an Bargeld, sondern - was zumindest Morris Bellamy, dem gebildeten Anführer des Trios, wichtiger zu sein scheint – auch etliche Notizbücher, in denen Rothstein neben Gedichten und Essays auch die Entwürfe zu zwei neuen Romanen um seinen Helden Jimmy Gold niedergeschrieben hat. Wie der alternde Autor vor seinem Tod noch erfahren darf, ist Bellamy ganz und gar nicht davon angetan, wie Rothstein seinen Helden Jimmy im abschließenden Band seiner Trilogie seine Ideale verraten und in die Werbebranche gehen ließ.
Bellamy entledigt sich nach dem Mord an Rothstein auch seiner beiden Komplizen und vergräbt seinen Schatz in einem Koffer in der Nähe eines Trampelpfads, der seine Wohnung in der Sycamore Street mit dem Jugendzentrum in der Birch Street verbindet. Doch bevor er sich später den Notizbüchern widmen kann, wandert Bellamy wegen eines anderen Verbrechens für 35 Jahre hinter Gittern.
2010 lebt der junge Pete Saubers mit seiner Familie in dem ehemaligen Bellamy-Haus und findet bei einem Spaziergang zufällig den Koffer. Mit dem Geld unterstützt er in monatlichen Raten seine nicht nur finanziell angeschlagene Familie. Die Notizbücher versucht er über den leicht anrüchigen Buchhändler Drew Halliday zu verkaufen, damit seine Schwester Tina aufs College gehen kann. Doch auch Halliday selbst wittert ein großes Geschäft.
„Die angekündigten sechs Notizbücher kamen ihm bereits wie ein magerer Appetithappen vor. Sämtliche Notizbücher – von denen einige einen vierten Roman über Jimmy Gold enthielten, wenn Drews psychopathischer Freund damals, vor so vielen Jahren, recht gehabt hatte – waren unter Umständen bis zu fünfzig Millionen Dollar wert, wenn man sie aufteilte und an verschiedene Sammler verkaufte.
Allein schon der vierte Jimmy Gold konnte zwanzig Millionen bringen. Und da Morrie Bellamy im Gefängnis schmorte, stand Drew nur ein junger Bursche im Weg, der nicht einmal einen anständigen Schnurrbart zustande brachte.“ (S. 248) 
Allerdings haben Halliday und Pete Saubers ihre Pläne ohne den vorzeitig aus dem Gefängnis auf Bewährung entlassenen Bellamy gemacht. Nachdem dieser nur einen leeren Koffer in seinem Versteck vorgefunden hat, braucht er nicht lange, um herauszufinden, wer die Notizbücher in seinem Besitz hat …
Auch wenn Stephen King als „King of Horror“ bekannt geworden ist und seinen Weltruhm gruseligen Frühwerken wie „Carrie“, „Christine“, „Feuerteufel“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ verdankt, sind viele seiner letzten Werken kaum noch dem Horrorgenre zuzuordnen. Das traf bereits auf „Mr. Mercedes“ zu und noch mehr auf das jetzt veröffentlichte „Finderlohn“, das sich fast wie eine Fortsetzung zu „Mr. Mercedes“ liest. Denn das familiäre Elend, das die Saubers erfasst, ist eben auf das Massaker zurückzuführen, das ein gewisser Brady Hartsfield 2009 mit einem gestohlenen Mercedes vor dem City Center veranstaltete, als er den Wagen mit voller Absicht in eine Masse von Arbeitssuchenden lenkte und dabei auch Pete Saubers Vater Tom erwischte.
Mit dem pensionierten Detective Kermit Bill Hodges, seinen Helfern Jerome und Holly sowie dem in einer psychiatrischen Anstalt verwahrten Attentäter Hartsfield tauchen auch einige Figuren aus „Mr. Mercedes“ in „Finderlohn“ in mehr oder wenigen wichtigen Nebenrollen auf, aber die eigentliche Handlung spielt sich zwischen dem ursprünglichen „Besitzer“ von Rothsteins Notizbüchern und ihrem späteren Entdecker ab.
Hier entwickelt Stephen King einen klassischen Krimi-Plot in bester John-D.-MacDonald-Tradition (dem King diesen Roman auch gewidmet hat) und schreibt dabei auch über das Schreiben an sich, über die Rolle des Autors und seinem Verhältnis zu seinem Werk, seinen Figuren und letztlich auch zu seiner Leserschaft.
Dieses Thema hat King bereits in Werken wie „Stark – The Dark Half“, „Das geheime Fenster“ und „Misery“ meisterhaft in Szene gesetzt, nur kommt er in „Finderlohn“ ganz ohne übernatürliche Elemente aus. Und bei dem faszinierenden Ende bleibt sogar die Hoffnung, einigen der interessanten Figuren in weiteren Büchern von Stephen King wiederzubegegnen.
Einmal mehr hat der produktive Erzähler einen Pageturner geschrieben, der vor Einfallsreichtum, sorgfältig gezeichneter Figuren und dramatischer Spannung nur so strotzt.
 Leseprobe Stephen King - "Finderlohn"

David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 4) „Verschwörung“

Sonntag, 20. September 2015

(Heyne, 605 S., HC)
Als mit Frans Balder einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz in seiner Wohnung erschossen wird, kreuzen sich nach langer Zeit wieder die Wege von „Millennium“-Redakteur Mikael Blomkvist und der brillanten Hackerin Lisbeth Salander, denn unabhängig voneinander haben sie vor Balders Tod mit ihm zu tun gehabt. Der promovierte Wissenschaftler hatte erst vor kurzem seine Anstellung im Silicon Valley gekündigt und war nach Schweden zurückgekehrt, um seinen autistischen Sohn August zu sich zu holen. Während Salander vor einiger Zeit eine Hackerattacke auf die Forschungsergebnisse von Balder und seinem Team untersucht hatte, trat Balder direkt vor seinem Tod an Blomkvist heran, um ihm zu erzählen, warum er sich in Gefahr befand.
Der einst gefeierte Star des investigativen Journalismus, dessen Kollegen und Konkurrenten schon seinen Niedergang kommentierten, hatte gerade noch überlegt, ob er noch eine Zukunft bei „Millennium“ hat, nachdem die Investoren Serner und Levin entgegen ihres früheren Bekenntnisses nun doch Veränderungen an der Ausrichtung des Magazins in Gang setzen wollen, da wird er von seinem Assistenten Andrei Zander auf die Informatikprofessorin Farah Sharif angesetzt.
Von Balders ehemaligen Studienkollegin erfährt Blomkvist, dass Balder an einer Artificial General Intelligence gearbeitet hat, an Maschinen, die die gleiche Intelligenz wie ein Mensch besitzen, woraus schließlich eine Artificial Superintelligence entstehen wird, die den Menschen letztlich überflüssig zu machen droht. Salander fand vor zwei Jahren heraus, dass einer von Balders Mitarbeitern, die sich aus Sharifs Studenten zusammensetzten, der Dieb gewesen ist, der Balders Forschungsergebnisse an Solifon verkauft hatte, wo der Konkurrenzanalyst Zigmund „Zeke“ Eckerwald die Fäden zog.
Doch auch die NSA hatte dabei ihre Finger im Spiel. Sobald der NSA-Sicherheitsexperte Ed Needham die Identität von Wasp gelüftet hat, haben es Mikael und Lisbeth nicht nur mit den schwedischen Behörden zu tun, sondern auch mit finsteren Typen, die zwar Frans Balder ausschalteten, aber das Leben seines autistischen Sohnes verschont haben. Als Lisbeth den Jungen unter ihre Fittiche nimmt, kommt sie mit seiner mathematischen Begabung den Zusammenhängen zwischen Balders Forschungen, der dunklen Vergangenheit ihrer russischen Familie und der NSA auf die Spur …
„Mikael wusste besser als jeder andere, dass man auf alle möglichen Zusammenhänge stieß, wenn man nur tief genug wühlte. Das Leben hielt immer und überall merkwürdige Korrespondenzen bereit. Die Sache war nur … Wenn es um Lisbeth Salander ging, glaubte er nicht an Zufälle. Wenn sei einem Chirurgen die Finger brach oder sich im Zusammenhang mit einem Diebstahl bahnbrechender KI-Technologie engagierte, hatte sie nicht nur genau darüber nachgedacht. Sie hatte auch einen Grund, ein Motiv. Lisbeth vergaß kein Unrecht und keine Kränkung. Sie übte Vergeltung und sorgte für Gerechtigkeit. Ob ihr Engagement in dieser Geschichte etwas mit ihrem eigenen Hintergrund zu tun hatte? Undenkbar war es nicht.“ (S. 385) 
Als der schwedische Journalist und Schriftsteller Stieg Larsson 2004 an einem Herzinfarkt starb, waren gerade erst drei Manuskripte seiner auf zehn Bände angelegten „Millennium“-Reihe fertiggestellt, die ab 2005 posthum veröffentlicht wurden und sich sofort als internationale Bestseller entwickelten. Nun ist seinem Kollegen David Lagercrantz von Stieg Larssons Verlag und Familie angetragen worden, die auch erfolgreich verfilmte Reihe fortzuführen.
Lagercrantz meistert diese schwere Herausforderung erstaunlich souverän. Seine immerhin 600 Seiten umfassende Fortsetzung der mit „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergeltung“ begonnenen Reihe erreicht zwar nicht ganz die epische Qualität von Larssons packenden Kriminalfällen, die gleichzeitig tief in die schwedische Geschichte hineinreichen, aber er versteht es, mit einer ähnlich schnörkellosen Sprache vor allem die ikonischen Figuren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander wieder als äußerst charismatische Kämpfer für die Wahrheit und Gerechtigkeit auftreten zu lassen. Dabei verbindet er geschickt einen Mordfall mit spannenden Themen wie der Meinungsfreiheit in den Medien, der Überwachungskultur und fadenscheinigen Sicherheit im Internet und Industriespionage.
Wie sich Blomkvist und Salander durch kryptische Daten, verhängnisvolle Beziehungen und Missbrauchsfällen in Familien wühlen, ist ebenso berührend wie packend geschrieben und lässt nach einem versöhnlichen Finale auf weitere Abenteuer der beiden ambivalent angelegten Protagonisten hoffen.
Leseprobe David Lagercrantz - "Verschwörung"

Steve Mosby – „Der Kreis des Todes“

Montag, 14. September 2015

(Droemer, 430 S., Pb.)
Seit sich seine depressive Frau Marie vor zweieinhalb Jahren von der Brücke stürzte, zieht Alex Connor rastlos von einem Ort zum anderen. Erst als er im Fernsehen in den Nachrichten sieht, dass seine Freundin Sarah Pepper seit fünf Tagen vermisst wird und sein Bruder James mit dem Vorfall in Verbindung gebracht wird, bricht er von Venedig aus wieder nach England auf. Obwohl James ein Geständnis abgelegt hat, seine Freundin im stark alkoholisierten Zustand getötet zu haben, kann ihre Leiche nicht gefunden werden.
Gleichzeitig sucht Detective Kearney nach der verschwundenen Rebecca Wingate. Zusammen mit seinem Partner Todd Dennis ist er seit vier Jahren an der Operation Butterfly beteiligt, die die Morde an drei Frauen und das Verschwinden zweier weiterer Opfer aufzuklären versucht.
Getrieben von Gewissensbissen, dass er nicht für Sarah da gewesen ist, als sie ihn brauchte, nachdem sie für ihn nach Maries Tod eine starke Stütze gewesen war, macht er sich in der Wohnung von Sarah und James auf die Spurensuche und stößt in Sarahs Sachen auf drastische Fotos von Leichen, darunter auch eines von Marie.
Schließlich gelangt Alex auf die Website doyouwanttosee.co.uk, auf der ein User namens Christopher Ellis ein mit dem Handy aufgenommenes Video von Maries Freitod eingestellt hat.
„Seit ich das Foto in James‘ Wohnung gefunden hatte, befand ich mich emotional im freien Fall. Jetzt musste ich herauskriegen, was passiert war und was ich tun konnte. Das Erstere war zum Teil offensichtlich. Während Sarah zu einem Artikel recherchiert hatte, war ihr dieses Video mit dem Tod meiner Frau, der Frau ihres Freundes, untergekommen und hatte zu den weiteren Nachforschungen geführt. Vielleicht so, wie ein Krebs geweckt und zu unaufhaltsamem Wachstum aktiviert wird. Als die Besessenheit von dem Thema sie immer mehr ergriff, zog sie sich von ihren Freunden und ihrer Arbeit zurück und vernachlässigte die Beziehung zu James. Es hatte sie total vereinnahmt.“
(S. 125) 
Währenddessen fasst die Polizei einen Mann namens Thomas Wells, in dessen Wagen sie drei Liter Blut in Flaschen und die Handtasche von Rebecca Wingate finden. Weitere Nachforschungen führen zu dem angesagten Künstler Timms, dessen Portraits teilweise mit dem Blut der Frauen gemalt worden sind, die Kearney als Opfer des Vampir-Killers identifizieren kann …
„Der Kreis des Todes“ ist der fünfte Roman des britischen, in Leeds lebenden Autors Steve Mosby und erschien zwei Jahre nach seinem Drittwerk „Der 50/50-Killer“, mit dem er 2007 seinen internationalen Durchbruch feiern durfte. Seither zählt Mosby zwar zu den bekanntesten Krimi-Schriftstellern Englands, doch sein Werk ist von durchwachsener Qualität. In dem Paperback „Der Kreis des Todes“, das jetzt als deutsche Erstveröffentlichung erschienen ist, entwickelt Mosby einen wirklich interessanten Plot und vor allem verschiedene Handlungsstränge, die sich einmal um Alex Connor und den Tod seiner Frau Marie und dann seiner besten Freundin Sarah, dann um die Ermittlungsarbeit von Kearney und Dennis im Fall des Vampir-Killers drehen. Allerdings gelingt es Mosby nicht so recht, echte Spannung zu erzeugen und die Motivation seiner Figuren transparent zu gestalten. Er springt so oft zwischen den Figuren, Schauplätzen und Zeiten hin und her, dass der Erzählfluss merklich ins Stocken gerät und die Dramaturgie immer wieder darunter leiden muss, dass sich der Autor in seinen zugegebenermaßen sehr bildhaften Schilderungen zu verlieren droht.
So bleibt „Der Kreis des Todes“ eine leidlich unterhaltsame Aneinanderreihung von wechselhaft spannenden Episoden, die nicht wirklich zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt werden.
Leseprobe Steve Mosby - "Der Kreis des Todes"

James Lee Burke – (Hackberry Holland: 3) „Glut und Asche“

Freitag, 11. September 2015

(Heyne, 699 S., Pb.)
Danny Boy Lorca hat schon einiges erlebt in seinem Leben. Dass er während seiner Haftzeit auf der Sugar Land Farm Peitschenschläge gegen seinen Kopf einstecken musste, ist seinem Hirn ebenso wenig bekommen wie seine Tätigkeit als sogenannte „Tomatendose“, wenn er gegen ortsansässige Boxer antrat und nach jedem Schlag, den er einstecken musste, blutete. Einige meinten auch, dass der Meskal seine Hirnzellen aufgeweicht hat. Als Danny Boy eines Mittwochabends im April zwei Dinosauriereier in der Wüste freilegt, beobachtet er, wie eine Gruppe von sechs Männern einen Mann foltern und in Stücke zerteilen, einen weiteren Gefangenen aber laufen lassen.
Als Danny Boy am nächsten Morgen Sheriff Hackberry Holland von dem Vorfall berichtet, hat der Sheriff bereits seinen alten Freund, FBI-Agent Ethan Riser, am Telefon, der auf der Suche nach einem Bundesbeamten ist, der möglicherweise von mexikanischen Drogenmulis verschleppt wurde. Offensichtlich geht es in diesem Fall um eine Frau namens Anton Ling, auch La Magdalena oder La China genannt. Wie Sheriff Holland, sein Deputy Sheriff Pam Tibbs und seine Mitarbeiter bald erfahren, ist nicht nur das FBI hinter dem Informanten Noie Barnum hinterher, sondern auch der russische Kriminelle Josef Sholokoff.
Zwielichtige Gestalten wie Senator Temple Dowling oder Reverend Cody Daniels mischen in diesem Szenario, in dem es um Informationen zu einer Predator-Drohne geht, die nicht in die Hände von Al-Qaida fallen sollen, ebenso mit wie Hollands alter Feind Preacher Jack Collins, den er bereits tot gewähnt hat …
„Das Erbe von Salem löst sich nicht einfach so in Luft auf. Der Vigilantismus nach dem Bürgerkrieg, der Ku-Klux-Klan, Senator McCarthy und seine Anhänger – ein roter Faden, der sich seit 1692 durch die Geschichte zieht, dachte er. Diese Erkenntnis änderte aber wenig an der Tatsache, dass Hackberry kläglich versagt hatte, sich des Problems Jack Collins anzunehmen. Er hatte es versäumt, einen Mann dingfest zu machen, der damals wie heute nach Lust und Laune Menschen ermordete und dabei nicht nur wie ein Geist durch Wände zu gehen schien, sondern – mal abgesehen von trichterförmigen Fußabdrücken – auch keinerlei Spuren hinterließ.“ (S. 265f.) 
Warum Barnum ausgerechnet mit Collins auf der Flucht ist, ist allen Beteiligten nicht zu recht klar, aber offensichtlich sind unter allen Beteiligten noch so einige offene Rechnungen zu begleichen.
Seit Sheriff Hackberry Holland in „Regengötter“ Jagd auf den Auftragskiller Jack Collins gemacht hat, der mit seinem Thompson-Maschinengewehr neun thailändische Mädchen niedergemäht hatte, die als Drogenkuriere und Prostituierte missbraucht worden waren, will Holland den gerissenen Psychopathen unter der Erde sehen. Doch bis es soweit ist, kreuzen sich ihre Wege auch in „Glut und Asche“ immer wieder auf eine verstörende Art, die James Lee Burke zu seiner ganz eigenen Kunstform erhoben hat. Selten sind seine Figuren in simple Schwarz- und Weiß-Kategorien einzuordnen. Stattdessen haben die Protagonisten auch in dem epischen Nachfolger zum Meisterwerk „Regengötter“ mit ihrem Gewissen und fürchterlichen Dämonen zu kämpfen, die ihnen das Leben zur Hölle machen. Zwar steht das antagonistische Verhältnis zwischen Holland und Preacher auch in „Glut und Asche“ im Mittelpunkt der Geschichte, doch die interessanten Nebenhandlungen wecken auch Interesse für die vielschichtigen Nebenfiguren.
Burke gelingt es, das schillernde Panoptikum seiner Figuren so lebendig zu zeichnen, als würde der Leser direkt unter ihnen weilen und Teil des komplexen Geschehens in der hitzeflimmernden Wüste nahe der mexikanischen Grenze sein. Der alternde Sheriff hat dabei nicht nur mit seinen Gefühlen für den viel jüngeren Deputy Sheriff Pam Tibbs zu kämpfen, die weit mehr als nur kollegiale Gefühle für ihren Chef hegt, sondern auch mit Anton Ling, die ihn an seine verstorbene Frau erinnert. Und auch das Verhältnis zu FBI-Agent Riser gestaltet sich wie immer schwierig, denn das FBI steht nicht unbedingt für kompromisslose Kooperation.
Mit „Glut und Asche“ ist Burke ein weiteres Meisterwerk gelungen, das durch einen packenden Plot ebenso fesselt wie durch zutiefst menschlich gezeichnete Figuren, die ihren jeweils eigenen und oft sehr steinigen Weg zur Erlösung finden müssen.

Joe R. Lansdale – „Ein feiner dunkler Riss“

Samstag, 5. September 2015

(Suhrkamp, 351 S., Tb.)
Als Stanley Mitchel es satt hat, sein Leben als Automechaniker im 300-Seelen-Kaff No Enterprise zu fristen, zieht er mit seiner Frau Gal und den beiden Kindern, dem 13-jährigen Stanley Junior und der 16-jährigen Callie, und dem Hund Nub 1958 nach Dewmont in East Texas, wo er fortan das Autokino Dew Drop Drive-in betreibt. Als der junge Stanley eines Samstagmorgens mit seinem Hund durch die Wälder streift, stößt er in der Nähe einer abgebrannten Ruine auf ein Kästchen mit alten Briefen. Vierzehn Jahre zuvor war hier die Villa der Stilwinds in Flammen aufgegangen und hat die Tochter Juwel Ellen in den Tod gerissen. In derselben Nacht wurde Jewel Ellens Freundin Margret Woods vergewaltigt und kopflos auf den Bahngleisen gefunden. Seitdem geht das Gerücht, dass Margrets Geist in der Ruine umgeht.
Zusammen mit dem schwarzen Filmvorführer Buster, der früher als Polizist gearbeitet hat und dessen Alkoholsucht seine Stimmungen und Arbeitsmoral stark schwanken lassen, versucht Stanley, den geheimnisvollen Inhalt der Briefe in dem Kästchen zu entschlüsseln und so den Tod der beiden Mädchen aufzuklären. Wie die beiden ungleichen Ermittler bald feststellen müssen, scheinen sich die Stilwinds, denen unter anderem das richtige Kino in Dewmont gehört, bislang von all ihren Fehltritten freigekauft zu haben, und auch als Stilwinds Junior sich an Callie vergreift, will Irving Stilwind die Angelegenheit mit einem Batzen Geld regeln.
Doch Stanley muss auch an anderen Fronten auf schmerzliche Weise erfahren, dass das Leben zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Zuckerschlecken ist. Die schwarze Küchenhilfe Rosy wird von ihrem Mann Bubba Joe dermaßen verprügelt, dass die Mitchels ihr eine Bleibe unter ihrem eigenen Dach anbieten. Und auch Stanleys Freund Richard wird regelmäßig von seinem Vater vertrimmt, bis dieser von zuhause ausreißt. Die bösen Geister, die die Jungen zu verfolgen scheinen, wirken eines Nachts lebensbedrohlich echt …
„In diesem einen Sommer war meiner Familie mehr widerfahren als zuvor in gesamten Leben meiner Eltern. Allerdings hatten sie das meiste davon gar nicht mitgekriegt. Mir drängte sich der Gedanke auf, ich hätte, indem ich diese Kiste gefunden und aufgebrochen hatte, irgendwelche dunklen Götter beleidigt, die jetzt über diesen feinen, dunklen Riss zwischen ihrer geheimnisvollen Finsternis und unserer Wirklichkeit krochen und krabbelten, wutschnaubend, bedrohlich und gefährlich.“ (S. 265f.) 
Lansdale erweist sich in dem 2003 erstmals veröffentlichten Roman „Ein feiner dunkler Riss“ erneut als eleganter Erzähler, der mit lakonischer Leichtigkeit einen faszinierenden Kriminalfall mit tiefgründiger Milieustudie und einem subtilen Coming-of-Age-Drama zu verbinden versteht. Atmosphärisch dicht beschreibt er das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt Ende der 1950er Jahre, als die Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg noch nicht die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft erschütterten.
Lansdale bevölkert seinen stimmungsvollen Roman mit ganz unterschiedlichen Figuren, unter denen die kecken Mädchen ihre Macht über die Männer zu entdecken beginnen und die Jungen die brutale Härte des Lebens zu spüren bekommen. Die reichen Weißen kaufen sich von allen Sünden frei, Schwarze werden auf der Suche nach Tätern einfach gelyncht. Dabei hat Lansdale mit den Mitchels eine in einfachen Verhältnissen lebende weiße Familie in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt, für die Nächstenliebe nicht an der Hautfarbe festgemacht wird.
Bei allen dramatischen Entwicklungen und brutalen Zwischenfällen verliert der versierte Autor aber nie den Humor und vor allem seinen sympathischen Ich-Erzähler aus den Augen, der als Erwachsener auf die tragischen Ereignisse in seiner Jugend zurückblickt. Und dem Leser bleibt „Ein feiner dunkler Riss“ als vielschichtiges Meisterwerk in Erinnerung, dessen Kriminalgeschichte nur der Ausgangspunkt für ein mitreißendes Coming-of-Age-Drama dient.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Ein feiner dunkler Riss"

Christopher Morley – „Eine Buchhandlung auf Reisen“

Donnerstag, 27. August 2015

(Atlantik, 191 S., HC)
Als Andrew McGill des Lebens als Geschäftsmann in New York müde wurde, zog er mit seiner zehn Jahre jüngeren Schwester Helen an den „Busen der Natur“, wo sie sich eine Farm kauften und das einfache Landleben genossen. Bis Andrew seine Liebe zur Literatur entdeckte und darunter die Bewirtschaftung der Farm vernachlässigte. Als er sogar seinen Traum wahrmachte und mit „Das wiedergewonnene Paradies“ sein eigenes Buch veröffentlichte, nutzte Andrew zunehmend die Freiheiten, die ihm das Leben als Schriftsteller gewährte, während Helen am heimischen Herd zu versauern drohte.
Doch gerade als ihr Bruder auf dem Weg in die Stadt ist, taucht der fahrende Buchhändler Roger Mifflin auf der McGill-Farm in Redfield, New England, auf und will dem Schriftsteller seinen „reisenden Parnassus“ verkaufen.
Die 39-jährige Helen versucht zunächst vergeblich, den kleinen Mann mit seinem Bücherwagen abzuwimmeln, doch als dieser beharrlich auf ihren Bruder wartet, sieht Helen auf einmal die Chance, selbst ein Abenteuer zu erleben. Sie schreibt Mifflin einen Scheck über 400 Dollar aus und begibt sich mit ihm auf die Reise, das Handwerk des Bücherhandels zu erlernen. Die bis dato eher unbelesene Helen erlebt in wenigen Tagen der Wanderschaft mehr Abenteuer als in ihrem bisherigen Leben und lässt sich schnell von Mifflins Begeisterung für die Welt der Bücher anstecken:
„,Herrgott!‘, sagte er. ‚Wenn Sie einem Menschen ein Buch verkaufen, dann verkaufen Sie ihm nicht nur so und so viel Papier, Druckerschwärze und Leim – nein, Sie verkaufen ihm ein ganzes, neues Leben. Liebe und Freundschaft und Humor und Schiffe bei Nacht auf hoher See – Himmel und Erde, ich finde, das alles steckt in einem Buch – in einem wirklichen Buch!‘“ (S. 44f.) 
Mit seinem 1919 geschriebenen und 2014 in Deutschland veröffentlichten Roman „Das Haus der vergessenen Bücher“ hat der amerikanische Autor Christopher Morley (1890-1957) eine allseits gefeierte „Liebeserklärung an die Literatur“ präsentiert, der jetzt mit „Eine Buchhandlung auf Reisen“ die dazugehörige Vorgeschichte folgt, die auf gewohnt souveräne, humorvolle und poetische Weise beschreibt, wie die fast schon zur alten Jungfer verdammte Helen McGill mutig ihrem heimischen Gefängnis aus Herd und Farm entflieht, ihren zunehmend freiheitsliebenden Bruder zurücklässt und sich auf abenteuerliche Weise in die Welt der großen Literatur und der Bücher begibt.
Auf knapp 200 Seiten bekommt der Leser nicht nur einen amüsanten Reisebericht durch das ländliche New England zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentiert, sondern auch eine romantische Liebesgeschichte und philosophische Diskurse über den Wert der Literatur.
Leseprobe Christopher Morley - „Eine Buchhandlung auf Reisen“

Kat Kaufmann – „Superposition“

(Hoffmann und Campe, 271 S., HC)
Fernab ihrer russischen Heimat findet sich die 26-jährige Jazzpianistin Izy Lewin in Berlin wieder, wo sie sich in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung mit Fernseher, Bett, Tisch, Klavier und vielleicht sechzig Büchern eingerichtet hat und ihr Leben zwischen erniedrigenden Gigs, Theaterengagements und nächtlichen Kneipenbesuchen mit zu viel Wodka verbringt.
Eine russische Wahrsagerin liest ihr aus dem Kaffeesatz, dass ihr großes Glück in der Liebe bevorsteht, was Izy nicht recht glauben mag. Seit Timur Hertz ihr vor fünfundzwanzig Monaten eine Freundschaftsanfrage geschickt hat, verbindet sie eine ebenso leidenschaftliche wie komplizierte Beziehung, die Izy als eine Freundschaft zwischen Hund und Wolf bezeichnet. Denn Timur liebt nicht nur Izy, sondern ist zunächst vor allem mit Astrid liiert.
Während sich Izy nach dem nächsten Treffen mit ihm sehnt, spielt Izy mit ihrer Band zum 20-järhigen Bestehen der Firma ExproDyn in der hintersten Ecke des großen Tagesraums, wo sie angehalten werden, nicht zu laut zu spielen, dann erwartet sie ein Engagement am Theater, wo Regisseur Marc aber von Izy mehr erhofft als eine reine Arbeitsbeziehung. Wie sich Izy so durchschlägt in der migrationserprobten Metropole, sich für ihre Babuschka Ella einen schönen Tod wünscht und sich zermürbende Gedanken macht über ihre Wurzeln und ihr Leben in Berlin, sehnt sie sich nur nach Timur.
„An jeder Haltestelle versuche ich so viel frische Luft wie möglich aus der sich öffnenden Tür hinter mir zu bekommen. Und egal ob verschwitzte Menschen an mir kleben oder Alkoholleichen – ich würde ganz Berlin für dich durchqueren, sei es auch nur für die verschissen kurze Zeit, die Länge eines Kaffees, den wir dann schweigend nebeneinander sitzend trinken, bevor unsere Realität zerplatzt und die Wirklichkeit alles verpestet. Mein Stück Heimat. Und ich deins. Wenn wir Russisch miteinander reden, wie eine Geheimsprache. Und die anderen fragen ‚Was?‘, und wir sagen ‚Nichts, nichts …‘“ (S. 68) 
Die 1981 in St. Petersburg geborene und in Berlin als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin lebende Kat Kaufmann beschreibt in ihrem Roman „Superposition“ eigentlich eine zeitlich sehr begrenzte Episode aus dem Leben ihrer fast gleichaltrigen Protagonistin. Ebenso interessant wie Izys turbulentes Künstler- und Liebesleben sind aber vor allem die Gedanken und Gefühle der jungen Frau, die sich noch sehr genau daran erinnert, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach Berlin gekommen ist und seither verzweifelt und taumelnd ihren Platz im Leben zu finden versucht.
Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit wird in sentimentalen Kindheitserinnerungen und poetischen Träumen zum Ausdruck gebracht, mit den lakonischen, manchmal harten Schilderungen aus dem Alltag und den romantischen Sehnsüchten nach einer festen Bindung, die wirklich so etwas wie eine Heimat bedeuten könnte.
Leseprobe -Kat Kaufmann – „Superposition“