Robert McCammon – (Matthew Corbett: 1-1) „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“ - Band I

Samstag, 22. November 2025

(Luzifer, 514 S., HC)
In den 1980er Jahren zählte Robert R. McCammon mit Romanen wie „Baal“, „Höllenritt“, „Wandernde Seelen“, „Nach dem Ende der Welt“ und „Botin des Schreckens“ noch zu den populäreren Vertretern des von Stephen King, Dean Koontz, Peter Straub, James Herbert, Clive Barker und Ramsey Campbell geprägten Horror-Genres, doch fühlte er sich zunehmend in seiner schriftstellerischen Freiheit eingeschränkt, weshalb er nach den beiden Thrillern „Durchgedreht“ und „Unschuld und Unheil“ eine langjährige Pause einlegte. Anfang der 2000er Jahre legte McCammon mit dem ersten Band um den jungen Gerichtsdiener und Hobby-Ermittler Matthew Corbett ein ebenso bemerkenswertes wie umfangreiches Comeback hin, denn die deutsche Ausgabe von „Speaks the Nightbird“ erschien im Luzifer Verlag in zwei Bänden: „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“.
Der fahrende Friedensrichter Isaac Woodward und sein zwanzigjähriger Gerichtsdiener Matthew Corbett, den er vor einigen Jahren in einem Waisenhaus aufgelesen hat, machen sich 1699 von Charles Town, Carolina, auf den beschwerlichen Weg nach Fount Royal, um einer mutmaßlichen Hexe den Prozess zu machen, nachdem der zuvor mit der Aufgabe betraute Richter Kingsbury sein Ziel nie erreicht hatte. Als sie unterwegs bei unwirtlichem Wetter eine Herberge finden, währt die Erleichterung nur kurz, denn der habgierige Wirt Shawcombe entwendet nicht nur Woodwards innig geliebte goldbestickte Weste, die sein einziges Andenken an seine in England verbliebene Ex-Frau Ann gewesen ist, sondern macht sich auch mit dem Rest der Habseligkeiten seiner Gäste aus dem Staub. Als Matthew im nahegelegenen Wald die Überreste eines menschlichen Skeletts entdeckt, ahnt er, dass sein Vormund und er selbst nur knapp einem ähnlichen Schicksal wie Richter Kingsbury entgangen sind. Als sie in endlich in Fount Royal ankommen, werden sie in ihrer verwahrlosten Erscheinung zunächst für Bettler gehalten, ehe sie beim wohlhabenden Gründer der Stadt, dem 47-jährigen Robert Bidwell, unterkommen. Er ist wie viele andere Bewohner der unglückseligen Stadt darauf erpicht, dass die inhaftierte Rachel Howarth möglichst schnell auf dem Scheiterhaufen verbrennt, bevor sie noch mehr Unheil in der Stadt anrichtet. Ihr wird nicht nur vorgeworfen, ihren Mann ermordet zu haben, sondern etliche Zeugen wollen auch beobachtet haben, wie die 26-jährige Schönheit mit portugiesischen Wurzeln Unzucht mit dem Teufel trieb. Der Richter wird jedoch bald von einem schrecklichen Fieber ergriffen, das Dr. Shields nicht so recht in den Griff bekommt, und Matthew wird des Hausfriedensbruchs angeklagt, nachdem er einen Jutesack in der Scheune des Schmieds untersuchen wollte. Die dreitägige Gefängnisstrafe nutzt er nicht nur, um die Aussagen der Zeugen für den angeschlagenen Richter zu protokollieren, sondern sich näher mit der intelligenten und selbstbewussten Mitgefangenen zu beschäftigen. Während der Richter ebenso wie die Bewohner von Fount Royal schon dazu neigt, Rachel Howarth zu verurteilen, stellen sich Matthew noch viele Fragen…

„Also, war sie eine Hexe oder nicht? Obwohl Matthew diverse gelehrte Werke gelesen hatte, in denen Hexerei mit Geistesgestörtheit, Dummheit oder ganz einfach boshaften Beschuldigungen erklärt wurde, konnte er es beim besten Willen nicht sagen. Und das machte ihm mehr Angst als alle Zeugenaussagen, die er gehört hatte. Aber sie ist so schön, dachte er. So schön und so allein. Wie konnte der Teufel eine solch schöne Frau durch Menschenhand sterben lassen, wenn sie ihm tatsächlich diente? Über Fount Royal grollte der Donner. Regen begann, an einem Dutzend mürber Stellen durch das Gefängnisdach zu tropfen. Matthew lag zusammengerollt in der Dunkelheit und kämpfte mit der zentralen Frage eines Geheimnisses, das von einem noch größeren Rätsel umgeben war.“ (S. 409)

So ganz hat Robert McCammon die Wurzeln seiner schriftstellerischen Karriere doch nicht verleugnen können, auch wenn der erste Band der Matthew-Corbett-Reihe eher als historischer Mystery-Krimi und Entwicklungsroman daherkommt. Der Autor nimmt sich viel Zeit, um das Leben in den britischen Kolonien anno 1699 zu beschreiben, das gesellschaftliche Gefüge ebenso wie die Gepflogenheiten, rassistischen Ressentiments und der besondere Umgang mit dem Glauben. Die Hexenprozesse von Salem finden hier ihren Niederschlag genauso wie heuchlerische Wanderprediger, die sich weniger um die Erlösung der Gefallenen scheren als um die eigene lasterhafte Bedürfnisbefriedigung. McCammon beschreibt dabei den in den Augen der Bewohner von Fount Royal verabscheuungswürdigen Verkehr der mutmaßlichen Hexe mit dem Teufel ebenso unverblümt wie sodomitische Praktiken. Die Spannung entwickelt sich dabei eher gemächlich, weil sich McCammon viel Zeit nimmt, die einzelnen Figuren sorgfältig einzuführen und die unterschiedlichen Auffassungen von Richter Woddward und seinem eigensinnigen Mündel darzulegen. Am Ende des ersten Bandes ist man zumindest überzeugt, dass Rachel Howarth unschuldig ist, aber noch muss Matthew Corbett beweisen, was die Zeugen, die auf die Bibel geschworen haben, zu ihren die junge Frau belastenden Aussagen bewogen hat. McCammon ist ein sprachlich sehr versierter literarischer Genre-Mix gelungen, der vor allem den titelgebenden Protagonisten nicht unverändert lässt. Man darf gespannt sein, wie der Autor die atmosphärisch dichte Geschichte fortführt und zum Ende kommen lässt.

Robert R. McCammon – „Stadt des Untergangs“

Montag, 17. November 2025

(Knaur, 544 S., Tb.)
Eigentlich ist Robert McCammon mit Romanen wie „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“, „Nach dem Ende der Welt“ und „Das Haus Usher“ bekannt geworden und zumindest in zweiter Reihe nach den Stars der Horror-Szene wie Stephen King, Clive Barker, Peter Straub und Dean Koontz auch hierzulande geschätzt worden. Und irgendwann kam ihm – wie King, Barker und Straub – auch die Idee, sich im komprimierten Format der Kurzgeschichte auszuprobieren. „Stadt des Untergangs“ wartet mit insgesamt dreizehn Geschichten auf, von der die eröffnende, in der Originalausgabe titelgebende Story „Blue World“ mit gut 240 Seiten schon einem Kurzroman nahekommt und fast die Hälfte des Buches einnimmt. 
Darin macht der dreiunddreißigjährige Pfarrer John Lancaster im Beichtstuhl die Bekanntschaft der Porno-Darstellerin Debra Rocks, die ihre Trauer über den Mord an ihrer Freundin und Kollegin Janey alias Easee Breeze zum Ausdruck bringt. Der Pfarrer ist ebenso erregt wie verstört über dieses Bekenntnis und versucht, mehr über diese attraktive Frau mit der sinnlichen Stimme zu erfahren, leiht sich einige Filme mit Debra Rocks aus und ist fortan wie besessen von der Idee, diese Frau näher kennenzulernen. Als er in einem Supermarkt mit ihr zusammenstößt, begleitet er sie nach Hause und stellt sich ihr als Lucky vor. Er hat ihr nicht nur zu einem Gewinn in dem Supermarkt verholfen, sondern soll sie nun auch als Glücksbringer nach Hollywood begleiten, wo sie als seriöse Schauspielerin Fuß fassen will. Doch Lucky/John ist nicht der Einzige, der einen Narren an Debra gefressen hat, auch Janeys Mörder hat die Witterung aufgenommen…
In der sehr kurzen Titelgeschichte der deutschen Ausgabe wacht Brad nach einem Albtraum am Samstagmorgen auf und findet erst im Bett seiner Frau ein Skelett, dann die Stadt verlassen vor. „Des Teufels Wunschzettel“ stellt eine klassische Pakt-mit-dem-Teufel-Story dar, mit „Maske“ taucht McCammon in die klassische Universal-Horror-Ära der 1930er Jahre ein, um dann mit „Nacht ruft grünen Falken“ einen alternden Fernsehstar neuen Mut fassen lässt, als er sein altes Superhelden-Kostüm überstreift, um einen Serienkiller zu stoppen. Mit „Schattenjäger“ werden die Albträume eines Kriegsveteranen real, in „Das rote Haus“ kämpft der Ich-Erzähler gegen die Durchschnittlichkeit eines gewöhnlichen Lebens an…

„Und in diesem Moment dachte ich an Zahnräder. Millionen und Abermillionen von Zahnrädern, die auf diesem Fließband entlangliefen, alle haargenau gleich. Ich dachte an die Betonmauern in der Fabrik. Ich dachte an die Maschinen und ihren unablässigen, pochenden, verdammenden Rhythmus. Ich dachte an den Käfig aus grauen Schalbrettern, betrachtete das verängstigte Gesicht meines Dads in dem orangefarbenen Licht und erkannte, dass er Angst vor dem hatte, was außerhalb der grauen Schalbretter lag – Möglichkeiten, Alternativen, Leben. Er hatte eine Todesangst, und in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht der Sohn meines Vaters sein konnte.“ (S. 468)

Mit der Geschichtensammlung „Stadt des Untergangs“ beweist Robert McCammon, dass er nicht nur fesselnde Horrorromane schreiben kann, sondern das Grauen auch in kürzeren Formaten einzufangen versteht, von der klassisch knackigen Short Story bis zur atmosphärisch dichten Novelle. Die Ideen in dieser Sammlung mögen nicht alle besonders originell sein, dafür hat McCammon die sprachliche Virtuosität, um auch vertrautere Stoffe unterhaltsam zu vermitteln. 

 

Simon Beckett – (David Hunter: 3) „Leichenblässe“

Samstag, 15. November 2025

(Wunderlich, 416 S., HC)
Als Simon Beckett 2006 mit „Die Chemie des Todes“ den ersten Fall um den forensischen Anthropologen David Hunter präsentierte, sorgte schon die schlichte Cover-Gestaltung für Aufsehen, aber ein wenig sorgfältig konstruierte Thriller-Spannung gehörte natürlich auch dazu, um einen regelrechten Hype um den Roman zu entfesseln. Nach „Kalte Asche“ (2007) folgte 2009 mit „Leichenblässe“ bereits der dritte Band, doch allmählich machten sich erste Abnutzungserscheinungen bemerkbar.
Der forensische Anthropologe David Hunter leidet noch unter den – durch eine Narbe auch sichtbaren - Nachwirkungen eines Angriffs durch eine Serienmörderin, so dass sein alter Mentor Tom Lieberman es für eine gute Idee hielt, Hunter nach Knoxville, Tennessee, einzuladen, um mit ihm in der schlicht als „Body Farm“ bekannten Anthropology Research Facility zu arbeiten. Kaum hat er seinen alten Freund begrüßt, wird er auch schon in einen aktuellen Fall einbezogen – sehr zum Ärger des leitenden Ermittlers Dan Gardner vom Tennessee Bureau of Investigation (TBI). In einer Ferienhütte in den Smoky Mountains entdecken die Agenten eine durch die künstliche Aufheizung stark verweste Leiche eines Mannes, der an einen Tisch gefesselt worden ist. Der als Berater hinzugezogene Psychologe Alex Irving stellt dazu die Theorie um einen sexuell motivierten Serientäter auf, doch für Gardners Mitarbeiterin Diane Jacobsen greift diese Erklärung zu kurz. Einen Hinweis zur Identifizierung des Täters könnte eine in der Hütte gefundene Filmdose mit einem klar erkennbaren Fingerabdruck liefern. Während das Opfer im Leichenschauhaus mit Hilfe von Kyle Webster, einem Assistenten des Rechtsmediziners Dr. Hicks, und Toms Studentin Summer untersucht wird, stellt sich heraus, dass die Fingerabdrücke von Willis Dexter stammen, der jedoch bereits vor sechs Monaten bei einem Autounfall starb. Bei der Exhumierung von Dexters Leiche auf dem Steeple Hill Cemetery verhält sich der Friedhofsbesitzer Eliot York so auffällig, dass er nach weiteren Morden in Verdacht gerät und dann spurlos verschwindet, ebenso wie Alex Irving. Schließlich geraten die am Fall arbeitenden Forensiker immer mehr ins Visier des gerissenen Täters…
Auch wenn man die beiden vorangegangenen Bände nicht gelesen hat, erleichtert Beckett seinem Publikum den Einstieg, indem er seinen Protagonisten David Hunter ausführlich Revue darüber passieren lässt, warum er die Reise von London nach Tennessee angetreten hat. 
Ebenso breit dargelegt werden die verschiedenen Prozesse, die bei der Verwesung eines Körpers in Gang gesetzt werden, und im Verlauf der Handlung darf der Ich-Erzähler immer wieder mit seinem profunden Wissen und aufmerksamer Beobachtungsgabe glänzen. Was den Plot reizvoll macht, sind die vom Täter interessant zur Schau gestellten Leichen und die verwirrenden Hinweise, die zu anderen Opfern führen als denen, mit denen Gardner, Lieberman, Jacobson und Hunter momentan zu tun haben. So hangeln sich die Beteiligten und die Leser an neuen Leichen und ihren Obduktionen entlang, immer mal wieder durchbrochen von den kursiv eingeschobenen Gedanken des Täters. 
Das lässt sich alles flüssig lesen, denn Beckett verwendet eine einfache Sprache, präzise Dialoge und leider auch simpel gestrickte Figuren, die nahezu alle Klischees abdecken, die im Thriller-Genre zu finden sind, den egozentrischen, zwischen Talk-Shows und unzähligen Flirts pendelnden Psychiater, den grimmigen Leiter der Ermittlungen und die leicht verunsicherte Assistentin, für die der gute Hunter allerdings etwas übrighat. Fans von James Patterson werden mit seinem britischen Pendant angenehm, aber nicht besonders originell unterhalten. Der Erfolg gibt Simon Beckett nun mal Recht…

Simon Beckett – (David Hunter: 7) „Knochenkälte“

Donnerstag, 6. November 2025

(Wunderlich, 464 S., HC)
Zwar ist der ehemalige Journalist Simon Beckett bereits seit seinem 1994 veröffentlichten Romandebüt „Fine Lines“ (dt. „Voyeur“) als Schriftsteller unterwegs, doch erst mit der 2006 gestarteten Thriller-Reihe um den britischen Forensiker David Hunter ist der in Sheffield lebende Beckett auch international bekannt geworden. Nach sechs Jahren Pause, in der mit „Die Verlorenen“ eine neue Reihe an den Start gegangen ist, erscheint nun mit „Knochenkälte“ der von Fans lang erwartete siebte Roman mit David Hunter, dessen Fälle mittlerweile auch als Serie verfilmt worden sind.
Eigentlich ist David Hunter in seiner Funktion als forensischer Berater von London gut dreihundert Meilen nach Carlisle unterwegs, um bei einer Vermisstensuche zu helfen, doch durch einen Unfall auf der Autobahn zu einem Umweg gezwungen, verfährt er sich in den Cumbrian Mountains, wo er auch keinen GPS-Empfang für sein Navi bekommt. Er landet schließlich in einer Kneipe in Edendale, wo man ihm nahelegt, die Nacht im nahegelegenen Hotel Hillside House zu verbringen. Das sogenannte Hotel entpuppt sich als heruntergekommene Bruchbude, in der Hunter der einzige Gast ist. Die nächste böse Überraschung erwartet den forensischen Anthropologen, als er am nächsten Tag seine Fahrt fortsetzen will, muss er feststellen, dass die einzige Zugangsstraße von einem Felsabgang zerstört und das winterliche Edendale von der Außenwelt abgeschnitten ist, da es so gut wie keinen Handyempfang gibt und Strom- und Telefonleitungen durch den Vorfall an der Straße ebenfalls außer Gefecht gesetzt worden sind. Zu allem Überfluss entdeckt Hunter bei einem Spaziergang zum alten Armeelager Foss Ghyll eine skelettierte Leiche. Bei der Entdeckung ist Hunter allerdings nicht allein, und schon bald macht die Neuigkeit die Runde im Dorf. Offensichtlich handelt es sich bei dem Toten um Wynn Beddoes‘ vor Jahren verschwundenen Sohn Jed, doch das ist erst der Anfang einer Reihe von erschreckenden Entdeckungen, bei denen Hunter all seine Fähigkeiten einsetzen muss, um zu erkennen, warum sich einige Familien im Dorf auf den Tod nicht ausstehen können…

„Bisher hatte alles darauf hingedeutet, dass dies nicht mehr als ein Cold Case war. Alle gingen davon aus, dass Owen Reese Jed Beddoes ermordet hatte, und sechsundzwanzig Jahre später war hier der Beweis. Nur dass Owen Reese mit dieser Aktion nichts zu tun haben konnte. Sie führte lediglich vor Augen, dass irgendwer im Dorf panisch genug war, um mitten in der Nacht eine Kettensäge auf den Berg zu schleppen, und verhindern wollte, dass die Wahrheit in einem jahrzehntealten Mordfall ans Licht kam.“ (S. 188f.)

Dass sich Simon Beckett nach „Die ewigen Toten“ etwas mehr Zeit für den nächsten David-Hunter-Thriller genommen hat, ist nur verständlich, zählte der sechste Band der Reihe um den eher zurückgezogen lebenden Forensiker zu den schwächeren Romanen des Briten. Nun galt es, vor allem die fast zuvor etwas hölzerne Charakterisierung seiner Figuren zu verfeinern und den schleppenden Spannungsaufbau zu straffen. Indem Beckett die Handlung an einem Ort stattfinden lässt, an dem durch die Verkettung unglücklicher Umstände Zufahrtswege, Strom und Telefon gekappt sind, inszeniert er ein fast schon kammerspielartiges Psychoduell zwischen den Einwohnern von Edendale auf der einen und den Dorfbewohnern und dem Eindringling Hunter auf der anderen Seite. Auch wenn Hunter viele Zufälle in die Hände spielen, gelingt es dem Autor, vor allem die Isolation in der unwirtlichen Umgebung atmosphärisch dicht einzufangen und die Spannung sukzessive zu steigern, indem Hunter erst nach und nach die Art der Beziehungen zwischen den Verdächtigen entschlüsselt. Das wirkt zum Ende hin genretypisch etwas konstruiert, aber doch glaubwürdig genug, dass „Knochenkälte“ wieder an die besseren Werke der Reihe anzuknüpfen vermag.

Thomas Pynchon – „Schattennummer“

Mittwoch, 5. November 2025

(Rowohlt, 400 S., HC))
Seit seinem 1963 erschienenen Debütroman „V.“ ist der 1937 in Glen Cove auf Long Island in New York geborene Thomas Pynchon zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der Postmoderne avanciert. Mit „Schattennummer“ präsentiert der in völliger öffentlicher Abgeschiedenheit lebende Amerikaner zwölf Jahre nach seinem letzten Roman „Bleeding Edge“ seinen wahrscheinlich letzten großen Roman und bleibt seinen Themen und vor allem seinem Stil treu.
Während Amerika 1932 von der Großen Depression erdrückt wird, aber erleichtert der Aufhebung der Prohibition entgegensieht, Al Capone seine Haftstrafe im Bundesgefängnis in Atlanta absitzt, lauscht Privatdetektiv Hicks McTaggart in Milwaukee den Gerüchten über Ehekrächen im Gangstermilieu und beschlagnahmten Spritlieferungen, die Grund für die kürzlich erfolgte Explosion in der Nähe gewesen sein könnten. Als Hicks bei Unalmagamated Ops von seinem Chef Boynt Crosstown den Auftrag bekommt, die Tochter des im Exil lebenden Multimillionärs Bruno Airmont zurückzuholen, hat er auch ein persönliches Interesse an der Sache, schließlich hatte Hicks mit der Tochter des „Al Capone des Käses“ eine sehr kurze Liaison. Nun soll die junge, in wohlhabenden Verhältnissen verlobte Frau mit dem Klarinettisten einer Swingband durchgebrannt sein. Doch ehe er sich versieht, wacht Hicks auf einem Ozeandampfer auf und landet schließlich in Ungarn, wo er nicht nur Probleme mit der Sprache hat, sondern schnell Bekanntschaft mit dubiosen Nazis, sowjetischen und britischen Spionen, aber auch Vampiren und schönen Frauen macht.

„Hicks könnte darauf hinweisen, dass stillzusitzen und sich eine Geschichte anzuhören nicht immer das Gleiche ist, wie darauf hereinzufallen, aber er sieht keinen Anlass, eine Auseinandersetzung anzufangen, denn sie ist ihm keineswegs fremd, die altehrwürdige Übung, die Männer seit Anbeginn der Welt durchzustehen haben: begehrenswerten Frauen zuzuhören, während sie sich endlos über die Geschichte ihres Liebeslebens auslassen, dies alles in der wenn auch geringen Hoffnung, hier und jetzt in der fröhlich klimpernden Währung ausgelassener Zweisamkeit dafür entschädigt zu werden.“

Während Thomas Pynchon schon von Beginn an vor allem seine sprachliche Virtuosität ins Spiel bringt, lässt er sein Publikum zunächst im Glauben, mit dem Protagonisten ein skurriles Abbild von lakonisch zynischen Privatdetektiven wie Philip Marlowe, Sam Spade oder Lew Archer vor sich zu haben, der in einem typischen Hardboiled-Plot eine von der Oberfläche verschwundene Frau aufspüren soll. Doch sobald Hicks im fernen Osteuropa aufschlägt, überschlagen sich die Ereignisse, in denen ein geheimnisvolles U-Boot ebenso eine Rolle spielt wie explodierender Käse, eine erschreckend hässliche Lampe und Hitler vergötternde Swing-Musiker. Es wird gejagt, gedroht und geschossen, vor allem aber auch viel getanzt und noch mehr gesprochen. Pynchon erweist sich einmal mehr als Meister der vieldeutigen Hinweise auch auf das aktuelle politische Geschehen, lässt den Plot fast im Hintergrund wie entfesselt seinen Gang nehmen, während er an vorderster Front ein schillerndes Sprach-Feuerwerk zündet. Er verwischt damit jegliche Eindeutigkeit, sowohl hinsichtlich der Geschichte samt ihrer unzähligen Nebenstränge als auch der wie hingestreuten und selten nicht aufgesammelten Figuren. Das macht „Schattennummer“ zu einem äußerst vitalen, vieldeutigen Lesevergnügen jenseits aller literarischen Konventionen.

Mick Herron – (Zoë Boehm: 1) „Down Cemetery Road“

Sonntag, 26. Oktober 2025

(Diogenes, 560 S., Pb.)
Mit seinen mittlerweile acht Bänden der „Slough House“-Reihe, die unter dem Titel „Slow Horses“ erfolgreich mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Apple+-Serie verfilmt worden ist, ist der Brite Mick Herron längst aus dem Schatten von Genre-Größen wie Ian Fleming, John le Carré oder Robert Ludlum herausgetreten. Doch bevor er im Jahr 2010 mit dieser ebenso spannenden wie humorvollen Thriller-Reihe um in Ungnade gefallene Agenten des britischen Geheimdienstes für Furore sorgte, sind vier Romane um die Ermittlerin Zoë Boehm erschienen, die nun ebenfalls von Apple+ als Serie adaptiert worden ist. Diogenes präsentiert nun den ersten, 2003 veröffentlichten Band „Down Cemetery Road“ als deutsche Erstausgabe.
Die arbeitslose und völlig mit ihrem Leben in Oxford unzufriedene Sarah Trafford ist alles andere als begeistert, als ihr in Finanzgeschäften tätige Mann Mark den ebenso finanzkräftigen wie unsympathischen Unternehmer Gerard Inchon mit seiner Vorzeigefrau zum Essen einlädt, damit dieser mit ihm ins Geschäft kommt. Um das Ganze etwas bekömmlicher zu gestalten, bittet Sarah ihre Freundin Wigwam und ihren Mann Rufus dazu. Gerard reizt Sarah gerade mit dem Begriff „BHS“ (Bored Housewife Syndrome), als das Nachbarhaus in die Luft fliegt. Wie sich herausstellt, ist bei dem Unglück nicht nur die Frau, sondern auch ihr zuvor vom Militär bereits als verstorben gemeldeter Mann Tom Singleton ums Leben gekommen. Nur ihre Tochter Dinah, die Sarah einmal auf dem Spielplatz gesehen hat, scheint mit dem Leben davongekommen zu sein, wird aber nach einem Krankenhausaufenthalt vermisst. Sarah fühlt sich auf unerklärliche Weise für das Schicksal des Mädchens verantwortlich und engagiert den Privatdetektiv Joe Silverman. Als Sarah ihn eines Tages mit durchgeschnittener Kehle in seinem Büro auffindet, ist sie sich sicher, dass hinter Dinahs Verschwinden und dem erneuten Tod ihres Vaters mehr steckt als zunächst angenommen. Sie ahnt nicht, dass sich längst eine Geheimorganisation mit zwei außer Rand und Band geratenen Killern alle aus dem Weg räumt, die ihre Mission gefährden, sie weiß aber, dass Gerard mit diesem Schlamassel zu tun hat.

„In allen Filmen, allen Büchern waren es die Kleinigkeiten, die einen verrieten – die Schreibmaschine mit dem erhöhten T, der Ersatzschlüssel, der immer noch auf der Leiste über der Tür lag. Bei ihr war es dieser verdammte kleine Computer. Sinnlos einen Knopf gedrückt, und Gerard wusste, dass sie herumschnüffelte, dass sie wusste, was er getan hatte. Und jetzt saß sie an einer belebten Straße, auf der die Leute in alle Richtungen drängten, und war allein und verängstigt, weil Gerard Bescheid wusste und bereits zwei Menschen getötet und einen dritten hatte verschwinden lassen. Vielleicht auch mehr, denn wer eine Bombe legt, ist kein Amateur: Amateure benutzen Küchenmesser.“ (S. 166)

Zunächst einmal: Zoë Boehm, die im Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe erwähnte Ermittlerin, nimmt als Ehefrau und Partnerin des ermordeten Privatdetektivs Joe Silverman nur eine Nebenrolle ein, die erst im letzten Drittel etwas mehr Präsenz zeigt. Bis dahin besticht Mick Herron in seinem Debütroman mit seiner schwungvollen, literarischen und pointierten Sprache, die später auch die berühmte „Slough House“-Reihe prägen werden. Davon abgesehen versteht es der Autor, einen faszinierenden Plot zu inszenieren, bei dem Samariter auf eigentlich tote Soldaten und psychopathische Killer treffen. Dabei wird die Leserschaft immer wieder von neuen Wendungen überrascht, wenn die Figuren in diesem perfiden Spiel um Menschenleben nicht das sind, was sie zuvor zu sein schienen. Das sorgt bis zum packenden Finale für anhaltende Spannung. Man kann gut verstehen, warum die prominente Schauspielerin Emma Thompson („Was vom Tage übrig blieb“, „Saving Mr. Banks“) so begeistert davon war, die Rolle der Zoë Boehm in der Apple+-Verfilmung zu übernehmen, wie sie in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt. 

Jussi Adler-Olsen, Line Holm & Stine Bolther – (Carl Mørck: 11) „Tote Seelen singen nicht“

Dienstag, 21. Oktober 2025

(Penguin, 558 S., HC)
Seit Jussi Adler-Olsen mit seinem vierten Roman „Erbarmen“ (2009) den in Kopenhagen agierenden Ermittler Carl Mørck und das von ihm geleitete Sonderdezernat Q eingeführt hat, ist er zum erfolgreichsten dänischen Krimiautor avanciert und darf sich neben etlichen Literaturpreisen auch über einige Verfilmungen – zuletzt die Netflix-Serie „Dept. Q“ – freuen. Mit den Bänden 10 („Natrium Chlorid“) und 11 („Verraten“) schien das Ende der international gefeierten Krimi-Reihe allerdings besiegelt, schließlich wurde der – unschuldige - Mørck zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung quittierte er den Dienst, verarbeitete seine Erfahrungen bei der Kopenhagener Polizei in seinem Buch „Erbarmen“ und steht nun vor der Veröffentlichung seines zweiten Buches. Für die nun vorliegende Fortsetzung der Arbeit im Sonderdezernat Q hat sich Adler-Olsen, der Anfang Februar 2025 bekanntgab, unheilbar an Knochenmarkkrebs erkrankt zu sein, prominente Unterstützung besorgt, das Autorinnen-Duo Line Holm und Stine Bolther, das bislang hierzulande die drei Krimis „Eiskalte Schuld“, „Brennender Zorn“ und „Gefrorenes Herz“ veröffentlicht haben. Der elfte Band „Tote Seelen singen nicht“ präsentiert nicht nur eine Fortsetzung der Arbeit des Sonderdezernats Q und ein Wiedersehen mit Carl Mørck, sondern auch eine neue Mitarbeiterin.
Seit Carl Mørck den Dienst quittiert hat, steht das Sonderdezernat Q wegen der geringen Aufklärungsquote unter Druck. Assad und Rose mussten dazu den Weggang ihres Kollegen Gordon verschmerzen. Nun bekommen sie in Gestalt der 44-jährigen Französin Helena Henry Verstärkung, die in Kopenhagen versucht, bei der Einheit Organisiertes Verbrechen unterzukommen versucht, aber zunächst mit dem Dienst im Sonderdezernat Q vorliebnehmen muss. Das bekommt alle Hände voll zu tun, als Mørck am Rande einer Lesung Informationen über den vermeintlichen erweiterten Suizid von Ole Horsten erfährt, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer in die Schlagzeilen geratene Privatklinik, und seiner dementen Frau Jette, die allerdings von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes gerettet werden konnte. Eine nicht abgehörte Notrufaufnahme eines zuvor eingestellten Programms für Demenzkranke lässt vermuten, dass eine dritte Person an Ole Horstens Tod und dem Schicksal seiner Frau beteiligt gewesen ist. Mørck informiert Rose und Assad gerade über die Aufnahme, als im Polizeifunk eine Meldung über eine erschossene Frau in einer Bäckerei eingeht, die – wie weitere Ermittlungen ergeben – offensichtlich an Geldwäschereigeschäften beteiligt gewesen ist. Und dann fliegt auch noch ein Trailer von Mads-Peter Vang bei der Fahrt aus dem Hafen in die Luft, wobei der Geliebte des Schiffseigners ums Leben gekommen ist. Als sich weitere merkwürdige Todesfälle ereignen, führen die Spuren zu einem berühmten Knabenchor, der einst von Ole Horsten geleitet wurde und bei dem sich einige Mitglieder einen folgenschweren Scherz mit einem ihrer Mitstreiter in dem Internat erlaubt haben. Die Ermittlungen des neu zusammengewürfelten Teams leiden allerdings unter der Skepsis, die Rose der neuen französischen Kollegin entgegenbringt…

„Also, was hatte Helena dazu gebracht, das alles hinter sich zu lassen? Da konnte man ja durchaus mal spekulieren, ob sie nicht vielleicht vor etwas geflüchtet war? Vielleicht hatte sie keine andere Möglichkeit gehabt, als nach Dänemark zu gehen. Es war doch denkbar, dass sie einen fatalen Fehler bei der Polizeiarbeit gemacht hatte, einen idiotischen Fehler wie den, mit dem sie Assad eine Woche zuvor fast umgebracht hatte, vielleicht … Rose rieb sich das Kinn … Vielleicht hatte eine unüberlegte Aktion eines Kollegen das Leben gekostet und Helena zur Persona non grata in Lyon gemacht?“ (S. 276)

Mehr noch als die spektakulären alten Fälle, die Carl Mørck mit dem Sonderdezernat Q zu bearbeiten hatte, waren Adler-Olsens Thriller in dieser Reihe vor allem wegen der unterschiedlichen Charaktere so interessant zu lesen. Mit hin und wieder wechselnden Mitgliedern im Team wurde die Dynamik zwar ansatzweise verändert, aber im Kern blieben der Chef, Assad und Rose die tragenden Säulen der faszinierenden Plots. Nicht nur durch Carl Mørcks Ausscheiden aus dem Polizeidienst hat sich die Struktur der Plots verändert, auch die beiden neuen Autorinnen, die der schwerkranke Adler-Olsen nun mit an Bord geholt hat, sorgen für einen anderen Schwung in der Thriller-Reihe. Dabei macht es das Trio seinem Publikum nicht leicht, sich mit der veränderten Situation anzufreunden. Durch die ständig wechselnden Erzählperspektiven sowohl der Ermittler auch der Beteiligten an den Morden, die Rückblicke zu den Geschehnissen in den 1980er Jahren, die die jetzigen Ereignisse in Gang gesetzt haben, sowie die Vielzahl der unterschiedlichsten Fälle, mit denen das Sonderdezernat Q und andere Einheiten beschäftigt sind, verhindern einen stringenten Aufbau des Plots und hemmen die Spannungsentwicklung, zumal der Täter recht früh offenbart wird. 
Zum Glück lassen die Autor:innen die Inneneinsichten der Ermittler:innen nicht zu weit außen vor, sodass die Neugier vor allem auf die neue Kollegin wachgehalten wird, die tatsächlich ein gut gehütetes Geheimnis mit sich herumträgt. Aber auch Assad und Rose bleiben mit ihren jeweiligen Hintergründen und Macken angenehm lebendig. Am Ende haben sich Adler-Olsen, Holm und Bolther allerdings bei der – nicht immer glaubwürdigen – Inszenierung des Rachefeldzugs und anderer Vorfälle und der vielen Personen etwas verhoben, um an die Klasse der ersten Sonderdezernat-Q-Fälle heranzureichen.

 

Hanns-Josef Ortheil – „Schwebebahnen“

Freitag, 10. Oktober 2025

(Luchterhand, 320 S., HC)
Hanns-Josef Ortheil zählt zu den produktivsten und profiliertesten Autoren in Deutschland. In seiner Werksbiografie finden sich Erzählungen, historische und zeitgenössische Romane, Essays, Drehbücher für Fernsehfilme und Sachliteratur vor allem zum Kreativen Schreiben, das er an der Universität Hildesheim lehrt. Nachdem er im Oktober 2021 mit „Ombra – Roman einer Wiedergeburt“ seine Erlebnisse rund um seine 2019 diagnostizierte Herzinsuffizienz samt komplikationsreicher Herz-OP und Reha aufbereitet hatte, führt es ihn mit seinem neuen Roman „Schwebebahnen“ in seine Kindheit in Wuppertal zurück, wo er zwischen 1957 und Anfang der 1960er Jahre gelebt hatte.
Der sechsjährige Josef ist der Sohn eines Streckenvermessers bei der Eisenbahn und erlebt Ende der 1950er Jahre den Familienumzug von Köln nach Wuppertal, in ein Haus und eine Nachbarschaft voller Eisenbahner. Da er in Köln in der Schule schnell als Außenseiter abgestempelt war und sie abbrechen musste, soll der Umzug dem Jungen die Chance auf einen Neuanfang bieten. Tatsächlich lässt es sich gut an. Der ebenso talentierte wie introvertierte Klavierspieler muss sein Üben von vier Stunden täglich zwar wegen der Nachbarn stark reduzieren, dafür entwickelt Josef vielfältige Talente, vom Langlauf bis zum Singen gregorianischer Choräle. Er bekommt mit Herrn Vondemberg einen Klavierlehrer, der ihn zum Improvisieren und Komponieren anleitet, wird von der Schulleiterin Frau Fischer zu anregenden Gesprächen über seine „Besonderheiten“ gebeten, vor allem freundet er sich aber mit Mücke an, der in die zweite Klasse gehenden Tochter des Gemüsehändlers von gegenüber. Sie hilft ihm dabei, sich anderen Menschen zu öffnen und sich selbst besser zu verstehen, ebenso wie der engagierte Pater de Kok und sein Lehrer Herr Dr. Sondermann mit seinen Exkursionen und Gedichten.

„Er möchte ein normaler Junge sein und bleiben und nichts, aber auch gar nichts Besonderes. Bleibt man normal, gehört man dazu und wird nicht beschimpft. Sticht man heraus, kann man Lorbeeren und Kränze erhalten, wird aber im schlimmsten Fall verprügelt oder von Banden mit Pfeilen beschossen oder mit Steinen beworfen.“ (S. 209)

Es fällt nicht schwer, in „Schwebebahnen“ Ortheils eigene Kindheit in fiktionaler Form wiederzuentdecken, ist der Autor doch tatsächlich Sohn einer Bibliothekarin, die ihm anfangs auch das Klavierspielen beigebracht hat, und des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef Ortheil. Der Roman ist zwar in der dritten Person geschrieben, allerdings in einer fast kindgerechten Sprache, die die Perspektive des jungen Protagonisten deutlicher herausstehen lässt. Wir erleben mit dem sechsjährigen Jungen, wie er in seiner neuen Umgebung in Wuppertal prägende Bekanntschaften macht, die den sonst stillen Jungen zum Langläufer, Komponisten, Sänger und Dichter werden lassen, doch Ortheil erzählt nicht nur von den vielfältigen Erfahrungen und vor allem Lernprozessen einer ungewöhnlichen Kindheit, sondern er fängt auch die Atmosphäre der Angst einer individualisierten Gesellschaft vor einem neuen Krieg ein, die die Menschen ebenso voneinander entfremdet, aber auch einander näherbringt, wie in Josefs Bekanntschaften mit seiner ledigen Schulleiterin, dem versierten Klavierlehrer und mit der fast gleichaltrigen Mücke deutlich wird. Die berühmte Wuppertaler Schwebebahn dient dabei als Metapher sowohl für die Ängste vor dem Neuen als auch für die Möglichkeiten, die das Ausleben der Fantasie eines begabten Jungen bietet.
Mit seiner einfühlsamen, wunderbar beschreibenden Sprache zieht Ortheil sein Publikum sofort in den Bann und lässt es nicht mehr los, denn Josefs Geschichte verzaubert, macht Mut und stimmt nachdenklich.

T.C. Boyle – „No Way Home“

Mittwoch, 8. Oktober 2025

(Hanser, 384 S., HC)
Seit den frühen 1980er Jahren ist Tom Coraghessan Boyle mit Romanen wie „Grün ist die Hoffnung“, „Der Samurai von Savannah“, „América“, „Drop City“ und „Wenn das Schlachten vorbei ist“ zu einem genauen Beobachter und Analyst der amerikanischen Psyche avanciert. Mit seinem neuen Roman „No Way Home“ bewegt er sich allerdings auf bereits sehr ausgetretenen Pfaden.
Als der junge Assistenzarzt Terrence telefonisch benachrichtigt wird, dass seine Mutter gestorben ist, macht er sich auf den Weg von Los Angeles nach Boulder, Nevada, um die letzten Angelegenheiten seiner Mutter zu regeln. Dazu gehört auch das nun ihm gehörende Haus und die Hündin Daisy. In einer Bar lernt der 31-Jährige die attraktive Krankenhaus-Rezeptionistin Bethany kennen und landet mit ihr gleich im Bett. Was für Terrence eher unverbindlich begonnen hat, entwickelt sich schnell zu einer komplizierten Geschichte. Da Bethany von ihrem Ex Jessie auf die Straße gesetzt worden ist, hat sie ihre Sachen seit ein paar Wochen in einem Container gelagert, bis sie genug Geld für Miete und Kaution für eine neue Wohnung gespart hat. Da passt es ihr gut in den Kram, sich bei Terry ungefragt einzunisten und sich während seiner Abwesenheit auch noch ihre Freundin Lutie ins Haus zu holen. Als Jessie, Highschool-Lehrer, Romanautor und Biker mit hohem Gewaltpotenzial, hinter die Affäre seiner Ex kommt, fängt er an, durchzudrehen, und macht Terry und Bethany das Leben zur Hölle. Auf der anderen Seite kann sich Bethany noch immer nicht von Jessie lösen, was Terry vor eine schwierige Entscheidung stellt…

„Basketballringe über Garagentoren, mittelalte Wagen in den Einfahrten, die Mülltonnen ordentlich aufgereiht am Bordstein, kein Schmutz, keine Penner – eine Modellstadt, entstanden aus dem Lager für die Arbeiter, die den Damm, das achte Weltwunder, gebaut hatten. Es war ein ruhiger Ort. Durchschnittlich. Es gab einen See. Boote. Touristen. Mehr als dreihundert Sonnentage pro Jahr. Würde er hier leben wollen? Die Frage zu stellen, hieß, sie zu beantworten, ganz gleich, was Bethany sich erhoffte.“

Mit seinem neuen Roman präsentiert Boyle eine nahezu klassische Dreiecksgeschichte, wie sie in durchschnittlichen Netflix-Produktionen thematisiert werden, wobei weder die drei Schlüsselcharaktere noch die Story besonders interessant sind. Die „Spannung“ ergibt sich ohnehin vor allem dadurch, dass Terry immer wieder gezwungen ist, nach Los Angeles zur Arbeit zurückzukehren und so seinem Konkurrenten Jessie den Raum lässt, während Terrys Abwesenheit sich an Bethany ranzumachen. Das ist recht humorfrei und nicht mal besonders erotisch inszeniert, und Jessies Charakter als Mischung aus coolem Highschool-Lehrer, draufgängerischem Biker und Autor von historischen Romanen wirkt nicht besonders glaubhaft. Was „No Way Home“ am Ende etwas rettet, ist Boyles Kniff, die Geschichte aus den wechselnden Perspektiven von Terry, Bethany und Jessie zu erzählen, so dass man nie die ganze Wahrheit präsentiert bekommt, aber auch die Protagonisten wissen nie so recht, was sie eigentlich glauben sollen, vor allem als es zu körperlich beeinträchtigenden, schmerzhaften Konfrontationen kommt. Boyles leicht verständliche Sprache und die schlichten Dialoge erfordern keine große Aufmerksamkeit, so dass sich „No Way Home“ ähnlich wie ein Netflix-Liebesdrama einfach und schnell konsumieren lässt – um danach aber ebenso schnell wieder vergessen zu werden.

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 9) „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“

Sonntag, 5. Oktober 2025

(btb, S. 352, HC)
Auch wenn Håkan Nesser fraglos zu den führenden Vertretern skandinavischer Kriminalliteratur zählt, hat er doch längst sein Alleinstellungsmerkmal durch die gelungene Einbettung der Kriminalgeschichte in den gesellschaftlichen, vor allem aber den persönlichen Kontext der Figuren etabliert. Das trifft insbesondere auch auf den mittlerweile neunten Band um den mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Kommissar Gunnar Barbarotti zu, wobei bereist der Titel - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“ – andeutet, dass der Nessers neuer Roman weit mehr als ein klassischer Krimi ist.
Es ist Frühsommer in der fiktiven Kleinstadt Kymlinge. Der wegen seiner unangemessenen Strenge weithin unbeliebte Sport- und Mathematiklehrer Allan Fremling beschließt, seiner Wertschätzung für gesunde Ernährung zum Trotz sich eine Pizza mit Cola liefern zu lassen. Doch als es an der Tür klingelt, wartet nicht der Pizzabote auf den ehemaligen Mehrkämpfer, sondern eine Pistole, die ihn mit zwei Schüssen in die Brust und einer in den Kopf tötet. Da der Mord in seiner Nachbarschaft in Kvarnbo stattgefunden hat, wird der melancholische Inspektor Lars Borgsen mit der Ermittlung beauftragt, doch fühlt sich der 52-Jährige nach den Spätwirkungen einer COVID-Erkrankung nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen wie körperlichen Kräfte. Die Befragungen von Fremlings Kolleg:innen an der Schule bringen zwar zutage, dass das Opfer wenig geschätzt worden ist, doch ein Motiv für die Tat will sich nicht offenbaren. Schließlich wird direkt unter Fremlings Balkon ein weiterer Mord verübt, diesmal an dem Personal Trainer Birger Svensson, der sowohl eine Affäre mit der Sozialarbeiterin Emma Burman als auch mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Ester unterhielt. Nun übernehmen Gunnar Barbarotti und seine (Lebens-)Partnerin Eva Backman die Ermittlungen, doch auch sie kommen in den vermeintlich unzusammenhängenden Morden keinen Schritt weiter. Dann verschwindet auch noch ein fünfzehnjähriger Junge…

„Ihm kam Van Veeteren in den Sinn, der über diese Komplikation gesprochen hatte, über unser Bestreben, Muster auch dort zu finden, wo es keine Muster gab. Unsere Angst vor dem Chaos, oder vor … wie hieß das? Horror vacui? Vor der Leere. Aber Van Veeteren war nicht gläubig gewesen, das war ein Unterschied. Er hatte keinen festen Punkt im Jenseits gehabt, was möglicherweise ein Handicap war. Barbarotti konnte ihm insofern zustimmen, dass die Jagd nach Mustern und Zusammenhängen häufig vergeblich blieb, aber gab es einen anderen vernünftigen Weg, als Mordermittler zu arbeiten?“ (S. 288f.)

Zwei Morde in einem weniger attraktiven Viertel halten Barbarotti, Backman, Borgsen und weitere Kolleg:innen zwar ordentlich auf Trab, doch die Suche nach Motiven für die Morde bleibt fruchtlos. Dass die Aufklärung der Morde nur eine Facette des neuen Barbarotti-Romans darstellt, wird spätestens ab Seite 63 deutlich, wenn der Täter Gelegenheit bekommt, seine Sichtweise auf die Ereignisse zu schildern. Håkan Nesser geht es nicht darum, einen relativ unspektakulär wirkenden Fall aufzuklären und die Ermittler bei der Suche nach Indizien, Beweisen, erhellenden Aussagen und Motiven zu begleiten, auch wenn diese weiterhin einen wesentlichen Bestandteil seiner Geschichten darstellt. Interessanter sind aber die Verweise auf das gesellschaftliche Umfeld. So verwendet der Autor viel Zeit darauf, die gesundheitlichen Probleme von Barbarottis Kollegen Borgsen zu beschreiben, der nach einer COVID-Erkrankung einfach nur noch erschöpft ist und kaum konzentriert seine Aufgaben wahrnehmen kann. Dennoch trägt er am Ende auf eigene Faust wesentlich dazu bei, die Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken. Nesser lässt es sich aber auch nicht nehmen, immer wieder auf den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine und Autokraten wie Putin, Erdogan, Trump und Bolsonaro hinzuweisen, die die Welt ins Chaos stürzen würden. Das wirkt in der fast schon mantrischen, aber nicht weiter ausgeführten Wiederholung etwas arg aufgesetzt. Am eindringlichsten ist Nesser noch die in den Kriminalfall eingebettete Coming-of-Age-Geschichte des von Emma Burmans Sohn gelungen. Hier erweist sich der Autor als der einfühlsame Erzähler, als der er weithin geschätzt wird.
Leseprobe Håkan Nesser - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“

Ian McEwan – „Was wir wissen können“

Dienstag, 30. September 2025

(Diogenes, 480 S., HC)
Der britische, bereits mit (fast) allen bedeutenden literarischen Würden ausgezeichnete Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Zementgarten“, „Kindeswohl“, „Maschinen wie ich“, „Lektionen“) hat seit jeher grandios verstanden, universelle Themen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu verorten und so seinem Publikum einen vielsagenden Ausblick aus unterschiedlichsten Perspektiven auf das zu gewähren, was uns alle mehr oder weniger bewegt. In seinem neuen Roman „Was wir wissen können“ gelingt McEwan das Kunststück, ein mysteriöses Gedicht in den Fokus einer Geschichte über Literatur, Liebe, Mord und vor allem wilde Spekulationen zu stellen, die in der Zukunft anfängt, tief in die Vergangenheit reicht und schließlich in der Gegenwart mündet.
Der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe ist im Jahr 2119 damit beschäftigt, ein berühmtes, aber verschollenes Gedicht des berühmten Dichters Francis Blundy namens „Ein Sonettenkranz für Vivien“ ausfindig zu machen, das nur einmal bei einer Veranstaltung im Jahr 2014 vorgetragen worden, aber nie veröffentlicht worden ist. Dabei sollen ihm vor allem die Tagebücher seiner Frau Vivien weiterhelfen, die in der Bodleian-Snowdonia-Bibliothek aufbewahrt werden. Doch schon das Reisen innerhalb Englands wird zum Abenteuer. KI war nicht ganz unschuldig daran, dass in der Vergangenheit mehrere Atomkriege, die daraus entstehenden Tsunamis im Zusammenspiel mit dem Klimawandel dafür gesorgt haben, dass große Teile der Erde unter Wasser gesetzt wurden, Städte wie London und Hamburg gänzlich verschwanden, in den USA Warlords und marodierende Banden die Herrschaft übernommen haben und England selbst nur noch ein Archipel aus mehreren kleinen Inseln darstellt. Metcalfe, dessen Spezialgebiet die Literatur der Jahre 1990 bis 2030 ist, hat bereits alle verfügbaren Nachrichten, Aufzeichnungen und Dokumente zu diesem ominösen Gedicht gesichtet, das vielerlei Deutungen erfahren hat. Um seine wahre Bedeutung zu verstehen, sieht Metcalfe keine andere Möglichkeit, das Gedicht aufzufinden.

„Vivien hatte Lyrik zu sehr geliebt, sie hätte dieses Gedicht nie dem Vergessen überlassen. Es war irgendwo, und ich würde es finden. Der Sonettenkranz lag bestimmt in einer Schachtel auf den Regalen einer kleinen Bibliothek fünfhundert Meter hoch im Nordwesten Schottlands. Allein meine Feigheit stand mir im Weg.“ (S. 158)

Im ersten Teil seines – hoffentlich nicht allzu prophetischen – Romans beschreibt McEwan aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe nicht nur die verschiedenen Deutungen des verschollenen Gedichts, sondern auch die verstörenden Entwicklungen, die vom 21. bis ins 22. Jahrhundert für ein ganz anderes Weltbild gesorgt haben. Dazu gehören die nachhaltig zerstörerischen Naturkatastrophen ebenso wie die Annexion der noch aus dem Wasser ragenden Rest Europas durch Russland und Nigerias Vormachtstellung auf technologischem Gebiet. 
Virtuos verbindet McEwan beängstigende, aber nicht allzu weltfremde Entwicklungen auf der Erde während der kommenden hundert Jahre mit einer detektivischen Suche nach einem Gedicht, das gleichermaßen als Naturverehrung, Liebeserklärung und einen verklausulierten Mord angesehen worden ist. Dabei unterläuft er gekonnt die Illusion, dass eine noch so intensive und gewissenhafte Recherche zu einem (geschichtlichen) Thema irgendeine gesicherte Erkenntnis hervorbringen könnte. 
Das manifestiert sich vor allem im zweiten Teil des Romans, wenn Vivien in der Gegenwart berichtet, wie sich ihre Beziehungen zu Percy, Harry und Francis entwickelt haben und welche Rolle dabei das einmal vorgetragene Gedicht gespielt hat. So lässt sich der vielsagende Titel „Was wir wissen können“ natürlich auch auf unsere durch Social Media, Fake News und Kanäle wie Truth Social und Telegram geprägte Wahrnehmung und Deutung der „Wirklichkeit“ übertragen.  
McEwan hat diese Auseinandersetzung mit der Zeit und überlieferten Schriften – und sei es nur als SMS oder E-Mail – in eine kühne Mischung aus detektivischem Abenteuerroman, beunruhigender Science-Fiction und vielschichtigem Liebesroman gegossen und einen spannenden, nachdenklich stimmenden Pageturner geschaffen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 24) „Clete“

Montag, 22. September 2025

(Pendragon, 346 S., Pb.)
Mit seiner Reihe um den ehemaligen Detective des NOPD, Dave Robicheaux, hat der ebenfalls aus dem amerikanischen Süden stammende Schriftsteller James Lee Burke eine charismatische Kultfigur geschaffen, die seit Ende der 1980er Jahre mittlerweile in über zwanzig Bänden gegen von Rassismus und Habgier getriebenen Verbrechen ermittelt, in der Regel an der Seite seines ehemaligen Partners beim NOPD, Clete Purcel, der mittlerweile als Privatdetektive tätig ist und daher sich nicht so sehr eng an die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Strafverfolgung halten muss wie seine andere Hälfte der „Bobbsey Twins von der Mordkommission“. Für den mittlerweile 24. Band hat sich Burke einen interessanten Perspektivwechsel zunutze gemacht, um den Fall, an dem Robicheaux und Purcel arbeiten, von Clete Purcel als Ich-Erzähler schildern zu lassen.
Ende der 1990er Jahre, also vor dem Wüten von Hurrikan Katrina und den Terroranschlägen von 9/11, die für immer die Seele des Landes verändern sollten, teilten Clete Purcel und sein Freund Dave Robicheaux ihre Zeit zwischen New Orleans und New Iberia auf. Purcel hatte gerade einen lavendelfarbenen 1959er Eldorado mit löchrigem weißem Verdeck erstanden, den er liebevoll restauriert, lackiert und mit einer Stereoanlage ausstattete, bevor er ihn in Algiers zu Eddy Durbin in die Waschanlage auf der anderen Seite des Flusses gab. Doch kaum hat er den Wagen wieder abgeholt, wird Clete Zeuge, wie ein am ganzen Körper mit Tattoos übersäter Mann mit seinen Leuten seinen Caddy ausschlachtet und Clete schließlich mit einem Brecheisen niederschlägt. Doch bevor sich Clete damit auseinandersetzen kann, was die Typen in seinem Wagen offensichtlich vergeblich gesucht haben, muss er für den Kautionsvermittler eine Tänzerin namens Gracie Lamar auf der Bourbon Street aufspüren. Sie hatte ihrem Boss Winston „Sperm-O“ Sellers, der ihre Kaution stellte, einen Tritt ins Gesicht verpasst, war dann nicht zum vereinbarten Gerichtstermin erschienen. Aus Sellers‘ „Obhut“ befreien Dave und Clete auch die junge Asiatin Chen. Als hätte Clete mit der Fürsorge für Grace Lamar und dem Entzug für Chen nicht schon genug zu tun, taucht mit der attraktiven Schauspielerin Clara Bow eine Klientin auf, von der er sich besser ferngehalten hätte. Sie und ihr Noch-Ehemann sorgen für einige Unruhe in der Gegend. Dabei geht es nicht nur um gewöhnliche Drogen, sondern eine tödliche Chemikalie, die auf das FBI auf den Plan ruft…

„Uns gingen bald die Möglichkeiten aus, und die Leute, die uns töten würden, würden immer weiter töten und töten und töten. Klingt das nach Wahnsinn? Gut möglich. Aber seht euch um. Wieviel Wahnsinn seht ihr auf den Straßen Amerikas? Vielleicht sehr ihr ihn nicht oder vielleicht nur in seinem Anfangsstadium. Ich sehe ihn überall. Es könnte sein, dass das Problem bei mir liegt.“ (S. 238)

So hervorragend eine Krimi-Serie auch sein mag, früher oder später stellen sich zwangsläufig Abnutzungserscheinungen ein. Das ist bei langjährigen Romanreihen wie Lee Childs Geschichten um den Ex-Militärpolizisten Reacher ebenso zu beobachten wie bei James Pattersons Alex-Cross-Romanen. James Lee Burke versucht diese Falle zu umgehen, indem er in „Clete“ die Geschichte von Dave Robicheaux‘ Freund und Partner Clete Purcel erzählen lässt, doch fällt es anfangs schwer, den Ich-Erzähler mit dem Bild in Einklang zu bringen, das sich das Publikum über all die Jahre von Clete Purcel gemacht hat, wie es Robicheaux vermittelte. Doch nicht nur die veränderte Perspektive macht die Lektüre des bislang kürzesten Romans der Reihe problematisch, auch die Story fesselt nicht mehr so stark, weil die altbekannte Sorte von Gangstern ihr Unwesen treibt und die Bobbsey Twins zu drastischen Maßnahmen greifen lässt. Die Vielzahl der Figuren und der etwas wirr konstruierte Plot trüben dabei das übliche Lesevergnügen ebenso wie Cletes mystische Wahrnehmung von Jeanne d’Arc, die er immer wieder in entscheidenden Momenten sieht. Dafür ist James Lee Burke einmal mehr die Beschreibung der wilden Landschaft und der verdorbenen Atmosphäre hervorragend gelungen, in der immer wieder unschuldigen Menschen großes Leid zugefügt wird. Das wird nicht nur durch die konkreten Bezüge zu den Verbrechen der Nazis an den Juden deutlich, sondern das gesellschaftspolitische Klima lässt sich problemlos auf die heutige Zeit übertragen. 
Am Ende sind es James Lee Burkes eleganter Schreibstil, die knackigen Dialoge und die stimmige Beschreibung von Landschaft und Leuten, die „Clete“ doch noch lesenswert machen, auch wenn der Roman hinter die früheren Robicheaux-Werke abfällt.

 

Stephen King – „Dolores“

Sonntag, 14. September 2025

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Seit Stephen King 1987 mit „Sie“ sein bevorzugtes Terrain – übernatürlichen Horror in das Leben von ganz gewöhnlichen Menschen einziehen zu lassen – verlassen hat und mit Annie Wilkes eine psychopathische Krankenschwester ihren Lieblingsschriftsteller drangsalieren ließ, hat der „King of Horror“ immer wieder mal auf klassische Gruselelemente und Topoi der fantastischen Literatur verzichtet, um einfach das Grauen in den Fokus seiner Erzählungen zu rücken, den Menschen anderen Menschen antun, so auch in Kings 1992 veröffentlichten Roman „Dolores“, der zwei Jahre später mit „Misery“-Hauptdarstellerin Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh erfolgreich verfilmt worden ist.
Die fünfundsechzigjährige Haushälterin Dolores Claiborne hat ihr ganzes Leben auf der Insel Little Tall vor der Küste Maines im Norden von Neuengland verbracht. Als ihre Arbeitgeberin Vera Donovan bei einem Sturz von der Treppe ums Leben kommt, wird Dolores verdächtigt, sie getötet zu haben. Schließlich wurde an der Treppe nicht nur Dolores‘ Unterrock, sondern auch ein Nudelholz gefunden. Außerdem konnte Dolores nie den Verdacht ausräumen, dass sie bereits ihren Mann Joe St. George umgebracht haben soll, von dem bekannt war, dass er seine Familie drangsalierte. Als Dolores zum Verhör bei Andy Bissette und Frank Proulx ins Polizeirevier geladen wird, überrascht sie die Cops mit dem Geständnis, ihre Arbeitgeberin nicht getötet zu haben, wohl aber ihren Ehemann. Wie es zu beiden Todesfällen gekommen ist, erzählt Dolores in einem langen Monolog. Sie beginnt damit, dass Joe und sie drei Kinder in die Welt gesetzt haben. Als Joe 1963 starb, war Selena fünfzehn, Joe Junior dreizehn und Little Pete neun Jahre alt. Dolores betrachtete Joe nie als Mann, sondern eher als Mühlstein. Er war ein Taugenichts, ständig betrunken und verspielte ein Großteil des Geldes, das Dolores seit 1950 bei den Donovans verdiente, beim Pokern. Das weitaus Schlimmste war jedoch, dass er Dolores körperlich wie psychisch misshandelte, bis sie dem ein Riegel vorschob, was aber nur dazu führte, dass sich Joe an Selena zu vergreifen begann. Als Dolores von dieser Ungeheuerlichkeit erfuhr, reifte der Plan, ihn für immer aus dem Verkehr zu ziehen, und der Plan reifte nach einem Gespräch mit Vera und den Feierlichkeiten zu der bevorstehenden Sonnenfinsternis.

„Wenn du es hier und jetzt tun würdest, dann würdest du es nicht für Selena tun. Du würdest es auch nicht für die Jungen tun. Du würdest es tun, weil all dieses Betatzen und Begrapschen drei Monate lang oder noch länger vor deiner Nase passiert ist und du zu blöd warst, es zu bemerken. Wenn du ihn umbringst und dafür ins Gefängnis gehst und deine Kinder nur an den Sonntagnachmittagen siehst, dann solltest du auch wissen, weshalb du es tust: nicht, weil er sich an Selena vergriffen, sondern weil er dich zum Narren gehalten hat.“ (S. 132)

Stephen King ist nicht nur ein Meister der Kurzgeschichte (wie er in vielen Sammlungen wie „Blut“, „Im Kabinett des Todes“, „Nachtschicht“ und „Alpträume“ bewiesen hat) und der Kurzromane („Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, „Langoliers“, „Nachts“), sondern hat auch für seine Romane immer wieder neue Erzählformen gefunden. So hat er „Dolores“ als 350-seitigen Monolog der titelgebenden Protagonistin angelegt, die ohne Pause – also ohne die übliche Einteilung in Kapitel – von ihrem Leben mit ihrer Familie und bei Vera Donovan erzählt – und natürlich davon, wie es aus ihrer Sicht zu den beiden Todesfällen gekommen ist. Indem wir nur die Sichtweise von Dolores geschildert bekommen, darf man sich nicht allzu sicher sein, ob wir auch die Wahrheit erfahren, aber Stephen King hat seine Protagonistin so sympathisch gezeichnet, dass es einem schwerfällt, ihren Worten nicht zu glauben. 
Wie später auch in „Das Bild – Rose Madder“ präsentiert „Dolores“ das Portrait einer Frau, die ihr Leben lang unter der Gewalt ihres Mannes zu leiden hatte und sich dennoch nicht davon unterkriegen ließ, stattdessen eine Entscheidung traf, die den schädlichen Einfluss auf ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder für immer außer Gefecht setzen sollte. 
Dolores ist sich allerdings schmerzlich bewusst, dass ihr Verhalten nicht nur ihr Ansehen auf der Insel, sondern auch die Einstellung ihrer Kinder zu ihr verändert hat. Auch wenn die Rahmenhandlung nur auf dem Polizeirevier stattfindet, wird die Leserschaft durch die lebhafte Darstellung der Erzählerin auch zu den Schauplätzen auf der Insel, vornehmlich Dolores‘ Zuhause und Vera Donovans Anwesen, gelenkt, und die erinnerten Gespräche, die Dolores mit ihrem Mann, ihrer Tochter und Vera geführt hat, sorgen zusätzlich für ein vielschichtiges, lebendiges und vor allem fesselndes Bild des Lebens in den 1960er Jahren, als Frauen noch nicht das Standing hatten wie heutzutage. 

James Lee Burke – „Im Süden“

Dienstag, 9. September 2025

(btb, 352 S., Tb.)
Der 1936 im texanischen Houston geborene James Lee Burke gilt bereits seit den 1960er Jahren als neue, prägende Stimme des amerikanischen Südens und hat hierzulande vor allem durch seine epische, 24 Bände umfassende Reihe um den Detective Dave Robicheaux Furore gemacht. Mit seinem neuen Roman „Im Süden“ hält sich Burke ungewöhnlich kurz, präsentiert die vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs spielende Geschichte aber aus der Perspektive mehrerer Personen, deren Schicksal auf tragische Weise miteinander verknüpft ist.
Einst hat Wade Lufkin als Sanitäter im Krieg gedient, trägt noch immer eine Minié-Kugel in seinem Bein und lebt nun auf der Plantage seines Onkels Charles, malt Vögel und hegt eine besondere Vorliebe für die junge Kreolin Hannah Laveau, die sein Onkel vor einem Jahr auf dem Sklavenmarkt in New Orleans gekauft hatte. Sie war zuvor als Köchin bei den Südstaatensoldaten in Shiloh Church tätig gewesen und hat dort ihren Sohn Samuel verloren, den sie schrecklich vermisst. Als der brutale Minos Suarez, an den Hannah von Lufkins Onkel eine Zeitlang vermietet worden war, ermordet und zerstückelt am Spanish Lake aufgefunden wird, zählt Hannah zu den Hauptverdächtigten und wird von Constable Pierre Cauchon gesucht, der in gleich drei Gemeinden für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat. Hannah gelingt mit Hilfe der abolitionistischen, sterbenskranken Lehrerin Florence Milton die Flucht, doch weder Cauchon noch die Sklavenfänger, die in den Bayous ihr Unwesen treiben, lassen die beiden Frauen zur Ruhe kommen. Und dann ist da noch der brutale Colonel Carleton Hayes, der sich nur der Fahne Schottlands verpflichtet sieht und seine eigene Freischärler-Armee zusammengestellt hat. Als sich diese Menschen immer wieder auf die eine oder andere Weise über den Weg laufen, haben romantische Gefühle kaum eine Chance, dafür umso mehr Hass und Gewalt…

„Darf ich Ihnen etwas verraten? Ich glaube, wir erleben gerade das Vorspiel zum endgültigen Niedergang unserer Nation. Die Zivilisation folgt dem Lauf der Sonne. Wir haben uns den Weg zum anderen Ende des Kontinents verbrannt. Egal wie viel wir geraubt haben, egal wie viele Lebewesen wir getötet haben, es war nie genug. Das Versinken der geschmolzenen Kugel im Pazifik hat eine Dimension, die mich erschaudern lässt.“ (S. 330)

James Lee Burke hat sich bereits mit seiner fast unzähligen, aber allesamt im Süden der USA abspielenden Romanen als ausgewiesener Kenner der Geschichte und vor allem der soziokulturellen Atmosphäre dort präsentiert, doch lässt er mit „Im Süden“ erstmals einen Roman zur für die amerikanische Nation besonders prägenden Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielen. Indem er verschiedene Protagonist:innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten aus ihrer jeweils eigenen Perspektive die Geschichte erzählen lässt, entsteht zumindest ein sehr vielschichtiges Bild der Motivationen und Einstellungen, mit denen die Figuren den Krieg aus der Sicht des Südens erleben. 
So gelungen die einzelnen Erzählstränge auch sind, weil Burke sich einmal mehr als Meister der Sprache, des Stils und der Atmosphäre erweist, wird die Dramaturgie der Geschichte durch die oft wechselnden Perspektiven zu oft aufgebrochen, um echte Spannung zu erzeugen. Dafür wird besonders deutlich, welche Opfer jede(r) Einzelne auf sich nimmt, um möglichst unbeschadet aus den kriegerischen Auseinandersetzungen hervorzugehen. Während die ehemalige Sklavin Hannah nur darauf bedacht ist, wieder mit ihrem verlorenen Sohn vereint zu sein, geht es Anderen um die Wahrung ihres Besitzes, der Gerechtigkeit (was immer man darunter auch verstehen mag) oder schlichten Ruhm. Bei so vielen gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Figuren und relativ wenig Seiten fällt es schwer, Identifikationspotenziale mit den Figuren auszumachen. 
So ist „Im Süden“ zwar nicht der beste Roman des Autors, auch wenn er selbst ihn dafür hält, aber natürlich ist das immer noch ein starkes Stück amerikanischer Literatur, deren historischer Sprengstoff bis heute nachhallt. 

 

Hark Bohm mit Philipp Winkler – „Amrum“

Donnerstag, 4. September 2025

(Ullstein, 304 S., HC)
Als Schauspieler war Hark Bohm vor allem in den 1970er Jahren in unzähligen Filmen von Rainer Werner Fassbinder („Händler der vier Jahreszeiten“, „Angst essen Seele auf“, „Fontane Effi Briest“, „Die Ehe der Maria Braun“) zu sehen, präsentierte 1972 mit „Tschetan, der Indianerjunge“ sein Drehbuch- und Regiedebüt und arbeitete zuletzt viel mit Regisseur Fatih Akin zusammen, für dessen Filme „Tschick“ und „Aus dem Nichts“ er die Drehbücher schrieb und in dessen Verfilmung von Heinz Strunks Roman „Der Goldene Handschuh“ eine Nebenrolle verkörperte. Nun legt Bohm zusammen mit Philipp Winkler sein Romandebüt „Amrum“ vor, das ebenfalls von Akin verfilmt worden ist und auf Bohms Kindheitserinnerungen beruht.
Der zehnjährige Nanning Hagener lebt mit seiner hochschwangeren Mutter Hille Jessen und seinen beiden jüngeren Geschwistern auf der Nordseeinsel Amrum. Der Zweite Weltkrieg nähert sich 1945 seinem Ende zu, die Russen stehen schon fünfzig Kilometer vor Berlin. Während Nannings Vater im Krieg ist, muss sich der Junge als „Mann im Haus“ um die Ernährung der Familie kümmern. Er arbeitet bei der Bäuerin Tessa und geht mit seinem besten Freund Hermann auf Nahrungssuche, fängt Schollen, die als Amrum-Währung gelten, und sammelt Eier aus den Nestern der Enten, Honig aus einem Bienennest im Baum, was mit schmerzhaften Stichen und einem Bad im Moor endet. Zum Glück trägt auch Tante Ena dazu bei, die Familie zu ernähren, auch wenn sie als überzeugte Regime-Gegnerin immer wieder mit ihrer Schwester aneinandergerät, die als überzeugte Nationalsozialistin nicht wahrhaben will, dass die alliierten Bomber über der Insel und die Schar der Flüchtlinge aus dem Osten keinen Zweifel mehr daran lassen, dass das Ende ihrer Partei und des Führers unabwendbar ist.
Nach der Geburt ihres Kindes und Hitlers Tod verfällt Nannings Mutter in eine tiefe Depression, und Nanning ist auch nach der Rückkehr des Vaters zunehmend verwirrt, was um ihn herum geschieht.

„Er musste daran denken, dass sein Vater der Mutter aus dem britischen Wagen zugerufen hatte, sie solle ihn, Nanning, unbedingt aufs Gymnasium schicken. Was aber, wenn die Mutter sich täuschte und sein Vater tatsächlich ein Verbrecher war? Musste man dann darauf hören, auch wenn es der Vater war? Nein, dachte er, er wollte kein Akademiker sein. Er wollte Tessa auf dem Acker helfen und Butter und Milch für die Familie verdienen. Er wollte mit Hermann Kaninchen fangen und Schollen petten gehen. Mit dem Kumpel durch die Salzwiesen stapfen und Kiebitze aufschrecken, Wattwürmer aus dem Watt ziehen und am Flutsaum des Kniep nach Treibholz gucken.“

Hark Bohm blickt mit „Amrum“ auf die prägenden Jahre seiner Kindheit zurück, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfallen. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur die Freundschaft zu Hermann, sondern vor allem die innerfamiliären Konflikte angesichts der konträren politischen Einstellungen. Während Nannings Vater als SS-Obersturmführer ebenso fest auf NSDAP-Linie ist wie seine Frau Hille, wollen Hilles Schwester Ena und Hermanns Großvater Arjan mit den Nazis nichts am Hut haben. Nannings Onkel Theo ist schon vor Jahren nach Amerika ausgewandert, wo mehr Amrumer leben als auf der Insel. In diesem politischen wie persönlichen Spannungsfeld erzählt der bereits schwerkranke Bohm mit Unterstützung von Philipp Winkler eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem von den atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen lebt, die das vom harten Überlebenskampf geprägte Leben auf der Insel passend illustrieren. Wie beschwerlich das Leben auf der Insel gewesen sein muss, davon zeugen die ausführlichen Beschreibungen beispielsweise von einer Schlachtung eines wilden Kaninchens, die hart umkämpften Tauschgeschäfte und die verzweifelten Bemühungen, Butter, Honig und Brot für die ausgemergelte Mutter zu finden. „Amrum“ stellt weit mehr dar als nur eine gewöhnliche Kindheitsgeschichte zu Kriegszeiten, es ist vor allem eine interessante Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus Kinder-Perspektive und eine eindringliche, wehmütige Hommage an Amrum.

Moritz Netenjakob – „Der beste Papa der Welt“

Montag, 1. September 2025

(Kiepenheuer & Witsch, 368 S., Pb.)
Als Gagschreiber und Drehbuchautor für Fernsehformate wie „Hurra Deutschland“, „Die Wochenshow“, „Ladykracher“, Anke“,Stromberg“ und „Switch“ hat der Kölner Moritz Netenjakob hinlänglich sein komödiantisches Talent unter Beweis gestellt. Seit 2009 versucht er sich auch erfolgreich als Romanautor. Nach „Macho Man“ und „Der Boss“ setzt Netenjakob die Geschichte seines Protagonisten Daniel Hagenberger nun mit „Der beste Papa der Welt“ fort.
Der Autor Daniel Hagenberger erhält von der Cheflektorin des Grabosch Verlags das einmalige Angebot, als Ghostwriter die Biografie des ehemaligen Bond-Bösewichts und Frauenschwarms Rudolf Prinz zu schreiben. Allerdings bleibt ihm nicht viel Zeit, denn das Buch soll bereits in einem halben Jahr zu Prinz‘ siebzigsten Geburtstag erscheinen. Während Daniel ganz aus dem Häuschen ist, an der Biografie seines Jugendidols mitzuwirken, ist seine türkische Frau Aylin alles andere als begeistert, hält sie Prinz doch für einen unsympathischen Macho. Das Projekt birgt aber auch in vielerlei Hinsicht weitere Probleme. So hat Prinz‘ ebenfalls türkische Ehefrau als seine Agentin alle Hände voll zu tun zu verhindern, dass ihr Mann von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt, was vor allem seine frauenfeindlichen Witze betreffen, und darüber hinaus herunterzuspielen, dass Rudolfs Enkelin Helena mittlerweile mehr verdient als er selbst. Die Arbeit an dem Buch verläuft dagegen eher schleppend. Und nach Prinz‘ beherzter Zusage zur Markus-Lanz-Show bricht auch schon der nächste Shitstorm über die Testosteronschleuder hinein, und Daniel weicht als vorgeblicher Fitnesstrainer/Finanzberater nicht mehr von Prinz‘ Seite. Und als wäre die Aufregung um die Prinz-Biografie nicht schon genug, muss sich Daniel auch noch der Ehre gewachsen zeigen, für seine sechsjährige Tochter Lara „der beste Papa der Welt“ zu sein, wie das Motto der Kaffeetasse verlauten lässt, die sie ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hat – denn es fällt ihm unendlich schwer, seiner Tochter etwas abzuschlagen, und bei jedem Rückschlag, den sie erleidet, fährt er mit ihr ins Phantasialand. Darunter leidet auch Daniels Beziehung mit Aylin…

„Ich bin verwirrt. Bin ich Aylin nicht mehr männlich genug? Ich war sicher, diese Frage für alle Zeiten geklärt zu haben: Aylin verabscheut Machismo in jedweder Form, und ihre erotischen Fantasien haben mit Schriftstellern, Zen-Mönchen und Osteopathen zu tun – und nicht mit Bauarbeitern, Wrestlern oder Markus Söder. Aber Gefühle verändern sich. Vor drei Jahren empfand ich es noch als Verrat an der Literaturgeschichte, Phantasie mit F zu schreiben. Und jetzt fühlt sich Ph falsch an…“

„Der beste Papa der Welt“ ist zwar ein schöner, wie der Autor selbst sagt, von Christoph Maria Herbst auch live erprobter Buchtitel, hat aber recht wenig mit dem Plot zu tun. Bereits das erste Kapitel mit dem Gespräch zwischen der Cheflektorin und dem als Ich-Erzähler auftretenden Protagonisten weist den Weg zu einer Geschichte, die mehr mit dem Verständnis des Rollenbildes von Mann und Frau zu tun hat als mit dem Selbstbild als Vater. Rudolf Prinz ist der eigentliche (Anti-)Held in diesem Buch, vereint er doch all die Klischees des alten weißen Mannes, des berühmten Frauenschwarms, der sich gar keine große Mühe gibt, seine Vorstellung von der Rolle der Frauen in seinem Leben zu revidieren. Das sorgt für ebensolche Schmunzler wie die Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen, insbesondere der deutschen und der türkischen, aber Netenjakob macht auch deutlich, dass auch die Türken Ressentiments gegen Ausländer haben – vor allem gegen die Griechen.
Der Autor bemüht hier viele Themen, die er auf leichtfüßige und selbstironische Weise miteinander verbindet. Das zündet nicht immer und wartet mit einer Menge – leicht bemühter – Klischees auf, auf der anderen Seite wirken die Figuren und manche Situationen durchaus authentisch.
„Der beste Papa der Welt“ macht dabei vor allem auf humorvolle Weise deutlich, wie sehr sich das Frauenbild bzw. das Selbstverständnis der Frauen in den letzten dreißig Jahren geändert hat, wie auch die Männer mit wachsender Verantwortung in der Erziehung ihrer Kinder zu kämpfen haben und wie im Zuge dieser Entwicklungen sich auch die Fernsehformate und Medienberichterstattung verändert haben. Doch vor allem bietet Netenjakobs neuer Roman leichte, nie langweilige Unterhaltung mit einigen sehr treffenden Beobachtungen zum heutigen, durchaus auch verstörenden Zeitgeist.