James Lee Burke – „Im Süden“

Dienstag, 9. September 2025

(btb, 352 S., Tb.)
Der 1936 im texanischen Houston geborene James Lee Burke gilt bereits seit den 1960er Jahren als neue, prägende Stimme des amerikanischen Südens und hat hierzulande vor allem durch seine epische, 24 Bände umfassende Reihe um den Detective Dave Robicheaux Furore gemacht. Mit seinem neuen Roman „Im Süden“ hält sich Burke ungewöhnlich kurz, präsentiert die vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs spielende Geschichte aber aus der Perspektive mehrerer Personen, deren Schicksal auf tragische Weise miteinander verknüpft ist.
Einst hat Wade Lufkin als Sanitäter im Krieg gedient, trägt noch immer eine Minié-Kugel in seinem Bein und lebt nun auf der Plantage seines Onkels Charles, malt Vögel und hegt eine besondere Vorliebe für die junge Kreolin Hannah Laveau, die sein Onkel vor einem Jahr auf dem Sklavenmarkt in New Orleans gekauft hatte. Sie war zuvor als Köchin bei den Südstaatensoldaten in Shiloh Church tätig gewesen und hat dort ihren Sohn Samuel verloren, den sie schrecklich vermisst. Als der brutale Minos Suarez, an den Hannah von Lufkins Onkel eine Zeitlang vermietet worden war, ermordet und zerstückelt am Spanish Lake aufgefunden wird, zählt Hannah zu den Hauptverdächtigten und wird von Constable Pierre Cauchon gesucht, der in gleich drei Gemeinden für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat. Hannah gelingt mit Hilfe der abolitionistischen, sterbenskranken Lehrerin Florence Milton die Flucht, doch weder Cauchon noch die Sklavenfänger, die in den Bayous ihr Unwesen treiben, lassen die beiden Frauen zur Ruhe kommen. Und dann ist da noch der brutale Colonel Carleton Hayes, der sich nur der Fahne Schottlands verpflichtet sieht und seine eigene Freischärler-Armee zusammengestellt hat. Als sich diese Menschen immer wieder auf die eine oder andere Weise über den Weg laufen, haben romantische Gefühle kaum eine Chance, dafür umso mehr Hass und Gewalt…

„Darf ich Ihnen etwas verraten? Ich glaube, wir erleben gerade das Vorspiel zum endgültigen Niedergang unserer Nation. Die Zivilisation folgt dem Lauf der Sonne. Wir haben uns den Weg zum anderen Ende des Kontinents verbrannt. Egal wie viel wir geraubt haben, egal wie viele Lebewesen wir getötet haben, es war nie genug. Das Versinken der geschmolzenen Kugel im Pazifik hat eine Dimension, die mich erschaudern lässt.“ (S. 330)

James Lee Burke hat sich bereits mit seiner fast unzähligen, aber allesamt im Süden der USA abspielenden Romanen als ausgewiesener Kenner der Geschichte und vor allem der soziokulturellen Atmosphäre dort präsentiert, doch lässt er mit „Im Süden“ erstmals einen Roman zur für die amerikanische Nation besonders prägenden Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielen. Indem er verschiedene Protagonist:innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten aus ihrer jeweils eigenen Perspektive die Geschichte erzählen lässt, entsteht zumindest ein sehr vielschichtiges Bild der Motivationen und Einstellungen, mit denen die Figuren den Krieg aus der Sicht des Südens erleben. 
So gelungen die einzelnen Erzählstränge auch sind, weil Burke sich einmal mehr als Meister der Sprache, des Stils und der Atmosphäre erweist, wird die Dramaturgie der Geschichte durch die oft wechselnden Perspektiven zu oft aufgebrochen, um echte Spannung zu erzeugen. Dafür wird besonders deutlich, welche Opfer jede(r) Einzelne auf sich nimmt, um möglichst unbeschadet aus den kriegerischen Auseinandersetzungen hervorzugehen. Während die ehemalige Sklavin Hannah nur darauf bedacht ist, wieder mit ihrem verlorenen Sohn vereint zu sein, geht es Anderen um die Wahrung ihres Besitzes, der Gerechtigkeit (was immer man darunter auch verstehen mag) oder schlichten Ruhm. Bei so vielen gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Figuren und relativ wenig Seiten fällt es schwer, Identifikationspotenziale mit den Figuren auszumachen. 
So ist „Im Süden“ zwar nicht der beste Roman des Autors, auch wenn er selbst ihn dafür hält, aber natürlich ist das immer noch ein starkes Stück amerikanischer Literatur, deren historischer Sprengstoff bis heute nachhallt. 

 

Hark Bohm mit Philipp Winkler – „Amrum“

Donnerstag, 4. September 2025

(Ullstein, 304 S., HC)
Als Schauspieler war Hark Bohm vor allem in den 1970er Jahren in unzähligen Filmen von Rainer Werner Fassbinder („Händler der vier Jahreszeiten“, „Angst essen Seele auf“, „Fontane Effi Briest“, „Die Ehe der Maria Braun“) zu sehen, präsentierte 1972 mit „Tschetan, der Indianerjunge“ sein Drehbuch- und Regiedebüt und arbeitete zuletzt viel mit Regisseur Fatih Akin zusammen, für dessen Filme „Tschick“ und „Aus dem Nichts“ er die Drehbücher schrieb und in dessen Verfilmung von Heinz Strunks Roman „Der Goldene Handschuh“ eine Nebenrolle verkörperte. Nun legt Bohm zusammen mit Philipp Winkler sein Romandebüt „Amrum“ vor, das ebenfalls von Akin verfilmt worden ist und auf Bohms Kindheitserinnerungen beruht.
Der zehnjährige Nanning Hagener lebt mit seiner hochschwangeren Mutter Hille Jessen und seinen beiden jüngeren Geschwistern auf der Nordseeinsel Amrum. Der Zweite Weltkrieg nähert sich 1945 seinem Ende zu, die Russen stehen schon fünfzig Kilometer vor Berlin. Während Nannings Vater im Krieg ist, muss sich der Junge als „Mann im Haus“ um die Ernährung der Familie kümmern. Er arbeitet bei der Bäuerin Tessa und geht mit seinem besten Freund Hermann auf Nahrungssuche, fängt Schollen, die als Amrum-Währung gelten, und sammelt Eier aus den Nestern der Enten, Honig aus einem Bienennest im Baum, was mit schmerzhaften Stichen und einem Bad im Moor endet. Zum Glück trägt auch Tante Ena dazu bei, die Familie zu ernähren, auch wenn sie als überzeugte Regime-Gegnerin immer wieder mit ihrer Schwester aneinandergerät, die als überzeugte Nationalsozialistin nicht wahrhaben will, dass die alliierten Bomber über der Insel und die Schar der Flüchtlinge aus dem Osten keinen Zweifel mehr daran lassen, dass das Ende ihrer Partei und des Führers unabwendbar ist.
Nach der Geburt ihres Kindes und Hitlers Tod verfällt Nannings Mutter in eine tiefe Depression, und Nanning ist auch nach der Rückkehr des Vaters zunehmend verwirrt, was um ihn herum geschieht.

„Er musste daran denken, dass sein Vater der Mutter aus dem britischen Wagen zugerufen hatte, sie solle ihn, Nanning, unbedingt aufs Gymnasium schicken. Was aber, wenn die Mutter sich täuschte und sein Vater tatsächlich ein Verbrecher war? Musste man dann darauf hören, auch wenn es der Vater war? Nein, dachte er, er wollte kein Akademiker sein. Er wollte Tessa auf dem Acker helfen und Butter und Milch für die Familie verdienen. Er wollte mit Hermann Kaninchen fangen und Schollen petten gehen. Mit dem Kumpel durch die Salzwiesen stapfen und Kiebitze aufschrecken, Wattwürmer aus dem Watt ziehen und am Flutsaum des Kniep nach Treibholz gucken.“

Hark Bohm blickt mit „Amrum“ auf die prägenden Jahre seiner Kindheit zurück, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfallen. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur die Freundschaft zu Hermann, sondern vor allem die innerfamiliären Konflikte angesichts der konträren politischen Einstellungen. Während Nannings Vater als SS-Obersturmführer ebenso fest auf NSDAP-Linie ist wie seine Frau Hille, wollen Hilles Schwester Ena und Hermanns Großvater Arjan mit den Nazis nichts am Hut haben. Nannings Onkel Theo ist schon vor Jahren nach Amerika ausgewandert, wo mehr Amrumer leben als auf der Insel. In diesem politischen wie persönlichen Spannungsfeld erzählt der bereits schwerkranke Bohm mit Unterstützung von Philipp Winkler eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem von den atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen lebt, die das vom harten Überlebenskampf geprägte Leben auf der Insel passend illustrieren. Wie beschwerlich das Leben auf der Insel gewesen sein muss, davon zeugen die ausführlichen Beschreibungen beispielsweise von einer Schlachtung eines wilden Kaninchens, die hart umkämpften Tauschgeschäfte und die verzweifelten Bemühungen, Butter, Honig und Brot für die ausgemergelte Mutter zu finden. „Amrum“ stellt weit mehr dar als nur eine gewöhnliche Kindheitsgeschichte zu Kriegszeiten, es ist vor allem eine interessante Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus Kinder-Perspektive und eine eindringliche, wehmütige Hommage an Amrum.

Moritz Netenjakob – „Der beste Papa der Welt“

Montag, 1. September 2025

(Kiepenheuer & Witsch, 368 S., Pb.)
Als Gagschreiber und Drehbuchautor für Fernsehformate wie „Hurra Deutschland“, „Die Wochenshow“, „Ladykracher“, Anke“,Stromberg“ und „Switch“ hat der Kölner Moritz Netenjakob hinlänglich sein komödiantisches Talent unter Beweis gestellt. Seit 2009 versucht er sich auch erfolgreich als Romanautor. Nach „Macho Man“ und „Der Boss“ setzt Netenjakob die Geschichte seines Protagonisten Daniel Hagenberger nun mit „Der beste Papa der Welt“ fort.
Der Autor Daniel Hagenberger erhält von der Cheflektorin des Grabosch Verlags das einmalige Angebot, als Ghostwriter die Biografie des ehemaligen Bond-Bösewichts und Frauenschwarms Rudolf Prinz zu schreiben. Allerdings bleibt ihm nicht viel Zeit, denn das Buch soll bereits in einem halben Jahr zu Prinz‘ siebzigsten Geburtstag erscheinen. Während Daniel ganz aus dem Häuschen ist, an der Biografie seines Jugendidols mitzuwirken, ist seine türkische Frau Aylin alles andere als begeistert, hält sie Prinz doch für einen unsympathischen Macho. Das Projekt birgt aber auch in vielerlei Hinsicht weitere Probleme. So hat Prinz‘ ebenfalls türkische Ehefrau als seine Agentin alle Hände voll zu tun zu verhindern, dass ihr Mann von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt, was vor allem seine frauenfeindlichen Witze betreffen, und darüber hinaus herunterzuspielen, dass Rudolfs Enkelin Helena mittlerweile mehr verdient als er selbst. Die Arbeit an dem Buch verläuft dagegen eher schleppend. Und nach Prinz‘ beherzter Zusage zur Markus-Lanz-Show bricht auch schon der nächste Shitstorm über die Testosteronschleuder hinein, und Daniel weicht als vorgeblicher Fitnesstrainer/Finanzberater nicht mehr von Prinz‘ Seite. Und als wäre die Aufregung um die Prinz-Biografie nicht schon genug, muss sich Daniel auch noch der Ehre gewachsen zeigen, für seine sechsjährige Tochter Lara „der beste Papa der Welt“ zu sein, wie das Motto der Kaffeetasse verlauten lässt, die sie ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hat – denn es fällt ihm unendlich schwer, seiner Tochter etwas abzuschlagen, und bei jedem Rückschlag, den sie erleidet, fährt er mit ihr ins Phantasialand. Darunter leidet auch Daniels Beziehung mit Aylin…

„Ich bin verwirrt. Bin ich Aylin nicht mehr männlich genug? Ich war sicher, diese Frage für alle Zeiten geklärt zu haben: Aylin verabscheut Machismo in jedweder Form, und ihre erotischen Fantasien haben mit Schriftstellern, Zen-Mönchen und Osteopathen zu tun – und nicht mit Bauarbeitern, Wrestlern oder Markus Söder. Aber Gefühle verändern sich. Vor drei Jahren empfand ich es noch als Verrat an der Literaturgeschichte, Phantasie mit F zu schreiben. Und jetzt fühlt sich Ph falsch an…“

„Der beste Papa der Welt“ ist zwar ein schöner, wie der Autor selbst sagt, von Christoph Maria Herbst auch live erprobter Buchtitel, hat aber recht wenig mit dem Plot zu tun. Bereits das erste Kapitel mit dem Gespräch zwischen der Cheflektorin und dem als Ich-Erzähler auftretenden Protagonisten weist den Weg zu einer Geschichte, die mehr mit dem Verständnis des Rollenbildes von Mann und Frau zu tun hat als mit dem Selbstbild als Vater. Rudolf Prinz ist der eigentliche (Anti-)Held in diesem Buch, vereint er doch all die Klischees des alten weißen Mannes, des berühmten Frauenschwarms, der sich gar keine große Mühe gibt, seine Vorstellung von der Rolle der Frauen in seinem Leben zu revidieren. Das sorgt für ebensolche Schmunzler wie die Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen, insbesondere der deutschen und der türkischen, aber Netenjakob macht auch deutlich, dass auch die Türken Ressentiments gegen Ausländer haben – vor allem gegen die Griechen.
Der Autor bemüht hier viele Themen, die er auf leichtfüßige und selbstironische Weise miteinander verbindet. Das zündet nicht immer und wartet mit einer Menge – leicht bemühter – Klischees auf, auf der anderen Seite wirken die Figuren und manche Situationen durchaus authentisch.
„Der beste Papa der Welt“ macht dabei vor allem auf humorvolle Weise deutlich, wie sehr sich das Frauenbild bzw. das Selbstverständnis der Frauen in den letzten dreißig Jahren geändert hat, wie auch die Männer mit wachsender Verantwortung in der Erziehung ihrer Kinder zu kämpfen haben und wie im Zuge dieser Entwicklungen sich auch die Fernsehformate und Medienberichterstattung verändert haben. Doch vor allem bietet Netenjakobs neuer Roman leichte, nie langweilige Unterhaltung mit einigen sehr treffenden Beobachtungen zum heutigen, durchaus auch verstörenden Zeitgeist.

Ray Bradbury – „Die Mechanismen der Freude“

Montag, 25. August 2025

(Diogenes, 318 S., Tb.)
Ray Bradbury zählt neben Richard Matheson und Robert Bloch zu den großen Fantasy- und Horror-Erzählern vor allem der 1960er Jahre und lieferte die (teilweise berühmten) literarischen Vorlagen zu François Truffauts „Fahrenheit 451“ (1966), Jack Smights „Die Mars-Chroniken“ (1980) und Jack Claytons „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ (1983). Unter Kennern ist Bradbury allerdings für seine Vielzahl an thematisch breit angelegten Kurzgeschichten bekannt, die in unzähligen Sammelbänden erschienen sind, nachdem sie erstmals in Magazinen wie „Playboy“, „Saturday Evening Post“ und vor allem dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ veröffentlicht wurden. Eine Zusammenstellung von 21 Geschichten, die Bradbury zwischen 1949 und 1964 für ebendiese Magazine geliefert hat, bietet „Die Mechanismen der Freude“.
In der eröffnenden Titelgeschichte erfahren die beiden irischen Priester Brian und Kelly von ihrem italienischen Kollegen Vittorini, dass Papst Pius XII. sich vor den Delegierten des Internationalen Astronautischen Kongresses wohlwollend zur Eroberung des Weltraums durch den Menschen geäußert habe, damit dieser eine neue Beziehung zu Gott und seinem Universum finden könne, und darüber hinaus auch noch eine Enzyklika über due Raumfahrt verfasst habe. Gemeinsam beobachten sie den Start einer bemannten Rakete von Cape Canaveral – mit durchaus gemischten Gefühlen…
„Ich warte“ thematisiert die Landung einer Raumfahrtmission auf dem Mars, wobei die Astronauten auf einen Brunnen stoßen, der als Seelenbrunnen bezeichnet wird und in dem ehemals Wesen aus Fleisch und Blut warten und warten…
„Tyrannus Rex“ erzählt die Geschichte einer Filmproduktion mit ungewöhnlichen Miniaturen, die John Terwilliger für einen Stop-Motion-Film mit Dinosauriern kreiert hat.
„Der Trommlerjunge von Shiloh“ beleuchtet eine ungewöhnliche Episode aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, während „Jungens! Züchtet Riesenpilze in eurem Keller!“ eine Variante außerirdischer Invasion präsentiert. „Die illustrierte Frau“ und „Die Beste aller möglichen Welten“ beschreiben auf unterschiedliche Weise die Faszination, die Frauen auf das männliche Geschlecht ausüben, „Vielleicht gehen wir fort“ beleuchtet die Perspektive der Indianer bei der Ankunft der europäischen Eroberer.
„Ein Wunder von seltener Kunst“ erzählt die Geschichte zweier Abenteurer, deren Glück stets von einem Dritten getrübt wird, der nur darauf aus ist, ihnen den Ertrag ihrer Entdeckung abzuluchsen.
Zu den schönsten Geschichten zählt „Der Bettler auf der O’Connell-Brücke“ über ein Paar, das in einem Dubliner Hotel residiert und unterschiedliche Erfahrungen mit Bettlern in der Stadt macht:

„Wer macht sich schon die Mühe, sich über die Bettler von Dublin den Kopf zu zerbrechen, zu schauen, zu sehen, zu wissen, zu verstehen? Doch die äußere Schale des Auges sieht, und die innere Schale des Gehirns registriert, und man selbst, gefangen zwischen diesen beiden, ignoriert den kostbaren Dienst, den diese beiden Hälften eines klaren Verstandes dir anbieten. So kümmerte ich mich und kümmerte ich mich nicht um Bettler. Abwechselnd wich ich ihnen aus oder ging ihnen entgegen.“ (S. 226)

Ray Bradbury beweist mit den hier versammelten Geschichten einmal mehr nicht nur seine grenzenlos anmutende Vorstellungskraft, die bis in den Weltraum, ferne Vergangenheit und geträumte Zukunft reicht, sondern vor allem sein vor poetischer Eindringlichkeit strotzendes Sprachvermögen, mit dem er jede Figur und jede Geschichte zu etwas Besonderem macht.  

 

Stephen King – „Das Spiel“

Sonntag, 24. August 2025

(Heyne, 346 S., Jumbo)
Es muss kein mörderischer Clown in der Kanalisation von Derry („Es“), ein verwunschener „Friedhof der Kuscheltiere“ oder ein mit durchaus menschlichen Gefühlen versehenes Auto („Christine“) sein, das bei dem „King of Horror“ für gruselige Stimmung sorgt. Bereits mit „Sie“ hat Stephen King eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Horror auch ohne übernatürliche Elemente funktionieren kann. Mit dem 1992 veröffentlichten Roman „Das Spiel“ treibt der US-amerikanische Bestseller-Autor seine Kunst auf die Spitze.
Nach siebzehn Ehejahren ist bei Gerald und Jessie Burlingame die Lauft aus dem Liebesleben raus. Doch der erfolgreiche Anwalt Gerald hat sich etwas einfallen lassen, dass wieder für etwas Pepp beim Sex sorgt. Sie verbringen ein Wochenende in ihrem abgeschiedenen Sommerhaus am Lake Kashwakamak im Westen Maines, wo Gerald nach ersten Versuchen mit Schals mittlerweile dazu übergegangen ist, die Hände seiner Frau mit Handschellen ans Bett zu fesseln, bevor er so richtig in Fahrt kommt. Doch Jessie hat längst die Lust an diesen für sie öden und erniedrigenden Spielen verloren, doch will Gerald natürlich nichts davon hören. Selbst als sie diesmal ihrem Abscheu lautstark Ausdruck verleiht, will Gerald nicht von ihr ablassen, bis sie ihm mit ihren Füßen einen kräftigen Tritt in die Eier verpasst. Doch ihr Mann klappt nicht nur mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, sondern erleidet auch einen tödlichen Herzinfarkt. Da hängt sie nun, nahezu nackt, mit nur einem hauchdünnen Höschen bekleidet, ans massive Holzbett gefesselt, ohne Chance, sich selbst daraus zu befreien, mitten im Nirgendwo. Ein streunender Hund macht sich an Gerald zu schaffen, der Durst und die Krämpfe machen Jessie zu schaffen. Verzweifelt versucht sie, an das Glas Wasser am Kopfende des Bettes zu gelangen, und während sie immer wieder in die Bewusstlosigkeit abdriftet, denkt sie an die Sonnenfinsternis in ihrer Kindheit zurück, die sie mit ihrem Vater beobachtete, und während sie auf seinem Schoß saß, ergoss er seinen Samen auf ihr Unterhöschen. Doch mehr noch als diese schmerzlichen Erinnerungen an den Missbrauch macht ihr der Besuch eines nächtlichen Eindringlings zu schaffen…

„Sie konnte den Wind wehen und den Hund bellen hören, war wach, aber nicht wissend, hörte, aber verstand nicht, verlor alles im Grauen des halb erblickten Schemens, des grässlichen Besuchers, des ungebetenen Gasts. Sie konnte nicht aufhören, über den schmalen, missgestalteten Kopf nachzudenken, die weißen Wangen, die hängenden Schultern … aber ihre Augen wurden immer häufiger zu den Händen der Kreatur gezogen: den baumelnden, langfingrigen Händen, die weiter an den Beinen hinabreichten als es normale Hände eigentlich dürften.“ (S. 140)

Mit „Das Spiel“ hat es Stephen King tatsächlich geschafft, ein Ein-Personen-Stück mit wenigen weiteren Nebenfiguren zu einem Schreckensszenario der besonders intensiven Art zu inszenieren, das 2017 sogar als Netflix-Film adaptiert worden ist. Die Qualen, die die tapfere, bereits in ihrer Kindheit missbrauchte Jessie in der Einsamkeit eines idyllisch gelegenen Landhauses erleben muss, beschreibt Stephen King so intensiv, als erlebe man selbst diese Schmerzen, den quälenden Durst, die Muskelkrämpfe, die Erinnerungen und Halluzinationen (?) und die verzweifelten Befreiungsversuche und ungehörten Hilfeschreie. Der Roman zeigt mit viel Empathie für die weibliche Protagonistin auf, wie die Macht und Gewalt, die Männer gegenüber Frauen ohne Rücksicht auf deren Gefühle ausüben, zu langanhaltenden Traumata führt, die die Opfer nur schwer verarbeiten.
Vor allem in den Selbstgesprächen mit ihren „Freundinnen“, aber auch mit den einfühlsam geschilderten Erinnerungen an den Missbrauch durch Jessies Vater bringt uns King die Figur näher, macht sie zu einem Menschen, mit dem wir mitfühlen und dem wir wünschen, sich aus der tödlichen Notlage befreien zu können. Allerdings kommt „Das Spiel“ nicht ganz ohne Längen aus und verliert zum Ende hin an Überzeugungskraft. Doch der psychische Horror, den King so eindringlich beschreibt, hallt lange nach.

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 11) „Der Feind im Schatten“

Sonntag, 17. August 2025

(Zsolnay, 592 S., HC)
Mit der kulturpessimistischen Figur des schwedischen Kommissars Kurt Wallander hat Henning Mankell maßgeblich dazu zur weltweiten Popularität der skandinavischen Kriminalliteratur beigetragen. Nach dem ersten Auftritt in „Mörder ohne Gesicht“ Anfang der 1990er Jahre war die Reihe 1998 mit dem achten Fall „Die Brandmauer“ eigentlich schon abgeschlossen, doch dann erschien mit „Wallanders erster Fall“ noch ein Band mit zusammengefassten Erzählungen die Vorgeschichte sowie 2002 mit „Vor dem Frost“ der erste (und einzige) Band um Wallanders Tochter Linda, in dem er selbst nur als Nebenrolle auftaucht. Umso überraschender war 2009 die Veröffentlichung von „Der Feind im Schatten“, dem letzten großen Fall des mittlerweile sechzigjährigen Kommissars.
Nachdem Kurt Wallander vor fünf Jahren seine Wohnung in Ystad aufgegeben hat und in ein Haus auf dem Land bei Löderup gezogen ist, hat sich einiges getan im Leben des alternden Kommissars. Mit Jussi legte er sich einen schwarzen Labradorwelpen zu und nimmt freudig die Nachricht entgegen, dass seine Tochter Linda, die als Polizistin in Ystad arbeitet und in einer Neubausiedlung bei Malmö wohnt, ein Kind erwartet. Sie zieht mit dem fünfunddreißigjährigen Finanzmakler Hans von Enke zusammen und bringt am 30. August 2007 im Krankenhaus von Ystad mit Klara eine Tochter zur Welt.
Wallander wird zum 75. Geburtstag von Hans von Enkes Vater nach Stockholm eingeladen. Der Korvettenkapitän a. D. Håkan von Enke erzählt ihm in einer vertraulichen Situation, dass mehrere Male fremde U-Boote in schwedischen Gewässern entdeckt wurden, doch der Abwurf einer Unterwasserbombe, die das mutmaßlich sowjetische U-Boot zum Auftauchen zwingen sollte, wurde von der schwedischen Marineführung im letzten Moment verhindert. Es gab noch weitere Vorfälle dieser Art. Wallander kann sich keinen Reim auf die Erzählung des Mannes machen, doch dann kehrt Håkan von Enke von seinem täglichen Spaziergang nicht zurück, und seine Ehefrau Louise meldet ihn als vermisst. Während Kommissar Ytterberg in Stockholm die Ermittlungen leitet, unterstützt ihn Kurt Wallander während seines Urlaubs und macht zwei langjährige Freunde des Vermissten ausfindig, zum einen den Maschineningenieur Sten Nordlander, der mit Håkan von Enke bei der Marine war, zum anderen den pensionierten US-amerikanischen U-Boot-Kapitän Steven Atkins, den von Enke 1961 in Berlin kennengelernt und den er häufig in den USA besucht hat. Kurz darauf wird auch Louise von Enke vermisst. Die frühere Wasserspringerlehrerin soll die sagenumwobene schwedische Spionin gewesen sein, von der seit Jahrzehnten in Geheimdienstkreisen gemunkelt worden ist. Als Louise unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden wird, ist Wallander ratlos, was er von den Enkes halten soll…

„Lindas feste Überzeugung, dass Louise keine Spionin war, machte ihn nachdenklich. Es handelte sich nicht um einen Beweis, sondern um eine Überzeugung: Es konnte nicht sein. Aber wenn es so ist, dachte Wallander, was ist dann die Erklärung? Konnten Louise und Håkan trotz allem irgendwie zusammengearbeitet haben? Oder war Håkan von Enke so kaltblütig verlogen, dass er von seiner großen Liebe zu Louise sprach, damit niemand auch nur auf den Gedanken kam, er könne sie nicht geliebt haben? Steckte er hinter ihrem Tod und versuchte, alle Nachforschungen in eine falsche Richtung zu lenken?“ (S. 487)

Doch Wallander hat neben diesem undurchsichtigen Fall vor allem mit persönlichen Problemen zu kämpfen. Nach einem weinseligen Abend in einem Restaurant hat er dort seine Waffe liegengelassen, was ihm eine disziplinarische Strafe einbringt, dann macht seine Ex-Frau Mona, Lindas Mutter, einen Alkoholentzug in einer Klinik. Am schwersten trifft Wallander aber der Besuch seiner großen Liebe Baiba aus Riga, die unheilbar an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat. Und dann sind da diese Gedächtnislücken, die Wallander sich nicht erklären kann und die immer häufiger auftreten…
Der 2015 verstorbene Henning Mankell bereitete seiner Lieblingsfigur in „Der Feind im Schatten“ einen großartigen Abgang. Der Fall um die vermissten Eheleute Håkan und Louise von Enke macht vor allem deutlich, wie unsicher sich die Schweden im Spannungsfeld des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion auf der einen und den USA auf der anderen Seite fühlten. Wer wie für wen spioniert haben könnte, wird allerdings nebensächlich bei den privaten Problemen, mit denen sich Wallander herumschlagen muss, vor allem die Sorge um die drei wichtigsten Frauen in seinem Leben – Mona, Baiba und Linda – sowie die eigene, vor allem geistige Gesundheit. Zwischendurch kommt natürlich immer wieder der obligatorische Kulturpessimismus durch, wenn Mankell seinen Protagonisten über die maroden Polizeistrukturen, rassistische Tendenzen und überteuerte Preise schwadronieren lässt. Das ist nicht unbedingt spannende Kriminalliteratur, aber auf jeden Fall emotional berührender Stoff, der Mankell- und Wallander-Fans im Besonderen versöhnlich stimmt.

 

Richard Matheson – „Die besten Erzählungen“

Sonntag, 10. August 2025

(Festa, 2 Bd., 874 S., HC im Schuber)
Heutzutage gerade im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt, zählte der US-amerikanische Schriftsteller Richard Matheson in den 1950er Jahren zu den populärsten Science-Fiction-Autoren seiner Zeit, wurden doch schon seine ersten Romane „I Am Legend“ (1954) und „The Shrinking Man“ (1956) später verfilmt. Neben diesen beiden international bekannten Romanen ist hierzulande aber wenig von Matheson erschienen, der von seinem Zeitgenossen Ray Bradbury als einer „der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde. Dieses Manko versucht nun der Festa-Verlag zu beheben, indem er zu Beginn eine luxuriöse, auf 1250 limitierte Ausgabe von Mathesons besten Erzählungen veröffentlicht, darunter die Vorlage zu Steven Spielbergs Frühwerk „Duell“.
Nach einem Vorwort von Horror-Autor F. Paul Wilson beginnt der erste, „Albtraum über den Wolken“ betitelte Band mit Richard Mathesons berühmter Geschichte „Von Mann und Frau geboren“, die der Autor im zarten Alter von 23 Jahren geschrieben hatte und 1950 im „Magazine of Fantasy & Science Fiction“ veröffentlichen konnte und die von seinen Eltern im Keller eingesperrten Kind handelt, das sie als „Monstrum“ betrachten. Die ebenfalls berühmte Geschichte „Der Dritte von der Sonne“ erzählt von einem Astronauten, der einen vermeintlichen Testflug dazu nutzen will, um mit seiner Familie zu einem neuen Planeten zu fliehen, „Sohn des Blutes“ von einem Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Vampir zu sein.
In „Hexenkrieg“ werden sieben junge Mädchen dazu eingesetzt, mit ihren paranormalen Kräften in Kriegshandlungen einzugreifen, in „Die Rückkehr“ reist Professor Robert Wade weiter in die Zeit voraus als jemals zuvor, ins 25. Jahrhundert – mit ungeahnten Folgen.
„Im Slaughter-Haus“ versuchen zwei Brüder, ein seit ihrer Kindheit zum Verkauf stehendes Haus für ihre künstlerischen Ambitionen zu nutzen, und obwohl sie nicht abergläubisch sind, werden sie kurz nach ihrem Einzug mit Hinweisen auf weitere Hausbewohner konfrontiert…
In „Das Ferngespräch“ wird die alte Miss Keene von einem Anrufer belästigt, der sich erst gar nicht meldet und dann auf das „Hallo“ der alten Dame mit einem „H-a-l-l-o“ antwortet. Ihre Beschwerden bei der Telefonistin fruchten nicht, aber deren Nachforschungen ergeben, dass die Anrufe vom Friedhof kommen würden, was eigentlich nicht möglich sei…
„Steel“ erzählt die Geschichte der beiden abgebrannten Freunde Kelly und Pole, die mit ihrem in die Jahre gekommenen B-Zwei-Boxer namens Battling Maxo einen Wettkampf gegen einen viel moderneren B-Sieben bestreiten wollen. Allerdings fehlen noch einige Ersatzteile, was Kelly zu einer drastischen Maßnahme greifen lässt.
Für Mr. Ketchum endet in „Noahs Kinder“ die Heimfahrt nach einem miesen Urlaub in Neuengland mit einer Polizeikontrolle in dem 67-Seelen-Kaff Zachry. Sein erzwungener Aufenthalt dort entwickelt sich zu einem drastischen Albtraum.
In „Die Grillen“ machen Hal und Jean Galloway am Ende ihres Urlaubs in ihrem Hotel die Bekanntschaft von Mr. Morgan, der in dem Zirpen der Grillen dort draußen einen Code zu entdecken glaubte, der die Namen von Toten chiffriert, die der Mann in seinem Codebuch festgehalten hat. In der Nacht macht das Ehepaar eine schreckliche Entdeckung…
Zu den bekanntesten Erzählungen im zweiten Band zählen die von Steven Spielberg verfilmte Geschichte „Duell“ um einen Mann, der von einem mysteriösen Fahrer in einem mörderischen Lastwagen verfolgt wird, und die für Rod Serlings Fernsehserie „Twilight Zone“ adaptierte Geschichte „Albtraum über den Wolken“, in der ein Passagier auf dem Flügel des Flugzeugs ein unheimliches Wesen entdeckt, das allerdings niemand außer ihm selbst zu bemerken scheint.

„Wie konnten die Augen so etwas wahrnehmen, wenn es nicht existierte? Wie konnte das, was in seinem Kopf passierte, den physischen Akt des Sehens so vollständig für seine Zwecke einspannen? Er war nicht erschöpft gewesen, nicht benommen – un es war auch keine formlose, flüchtige Vision gewesen. Sie war scharf und dreidimensional gewesen, voll und ganz der Dinge, die er sah und von denen er wusste, dass sie real waren. Das war das Beängstigende daran. Es war nicht im Geringsten wie in einem Traum gewesen.“ (Bd. 2, S. 81)

Der zweite Band wird zudem mit fast 250 Seiten reich illustriertem Bonus-Material abgerundet, das dem Lesepublikum den Autor und Menschen Richard Matheson näherbringt. Interessant sind vor allem Mathesons eigene Anmerkungen zu den einzelnen Geschichten, aber auch die Einblicke, die beispielsweise sein langjähriger Freund und Verleger Barry Hoffman und Dirk Berger, Herausgeber und Illustrator der vorliegenden Anthologie, in seinem Essay „Er ist Legende“ über den Schriftsteller gewährt, der zusammen mit Ray Bradbury, Charles Beaumont, William F. Nolan und anderen der informellen The Southern California Group of Writers angehörte und weit über das Science-Fiction- und Terror-Genre hinaus gewirkt hatte.
Die hier versammelten Geschichten fesseln nicht nur durch den Einfallsreichtum der minimalistisch inszenierten Plots, sondern vor allem durch die wunderbare Sprache, mit der Matheson sein Publikum aus ganz gewöhnlichen Alltagssituationen in die „Twilight Zone“ entführt. Dass der zurückgezogen lebende Schriftsteller nie die Popularität von modernen Meistern wie Stephen King, Dean Koontz oder Clive Barker erreichte, ist vor allem für die deutschsprachigen Fans ein großes Manko, ist hier doch nur ein Bruchteil seines Werkes übersetzt worden. 
Der Festa Verlag wird hier hoffentlich etwas Abhilfe schaffen, hat er doch bereits eine Neuausgabe des Klassikers „Ich bin Legende“ für dieses Jahr angekündigt. Weitere Werke sollen folgen. Die Ausstattung der limitierten Luxus-Ausgabe ist übrigens vorbildlich und qualitativ hochwertig. Dafür sorgen neben der Auswahl der Geschichten und des umfangreichen Bonus-Materials auch die atmosphärisch stimmigen Illustrationen von Dirk Berger zu fast jeder Geschichte sowie all die Filmposter sowie Cover-Abbildungen der deutschen und amerikanischen Ausgaben von Geschichtensammlungen und Romanen des 2013 verstorbenen Schriftstellers und Drehbuchautors.

Bentley Little – „Der Berater“

(Buchheim, 440 S., HC)
Seit seinem 1990 veröffentlichten, gleich mit dem Bram Stoker Award ausgezeichneten Debütroman „The Revelation“ hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Bentley Little einen Namen im Horror-Genre machen können, allerdings ist nur ein Bruchteil der seither erschienenen Werke des produktiven Autors auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Nachdem einige Romane wie „Böse“, „Verderben“, „Schemen“, „Furcht“, „Fieber“ und „Unheil“ bei Bastei Lübbe erschienen sind, hat sich in den letzten Jahren der Buchheim Verlag Littles jüngeren Schaffen gewidmet. Neben dem Frühwerk „Die Universität“ ist dort 2019 auch der Roman „Der Berater“ erschienen, der 2023 unter dem Originaltitel „The Consultant“ mit Christopher Waltz in der Hauptrolle als achtteilige Fernsehserie verfilmt werden sollte.
Craig Horne ist Abteilungsleiter für die Softwareentwicklung bei dem kriselnden Unternehmen CompWare und ist nicht wenig überrascht, dass an diesem Morgen bereits vor dem üblichen Arbeitsbeginn um 8 Uhr ein Manager-Meeting von CEO Matthews einberufen worden ist. Wahrscheinlich würde es um das neue Business-Paket OfficeManager gehen, dessen Verkaufszahlen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Matthews unterrichtet die Manager darüber, dass aus der geplanten Fusion mit Automated Interface nichts würde und eine externe Unternehmungsberatung damit beauftragt worden sei, die innere Ordnung bei CompWare wiederherzustellen. Doch die BFG mit ihrem omnipräsenten Geschäftsführer Regus Patoff ist mehr als nur daran interessiert, die Arbeitsabläufe zu optimieren und den Personalbestand zu konsolidieren. Obwohl die BFG Associates beste Referenzen aufweist, stellen sich ihre Methoden sehr schnell als überaus fragwürdig heraus. Patoff erwartet nicht nur, dass Mails rund um die Uhr abgerufen werden, sondern stattet sowohl Matthews als auch Craigs Familie unangenehme Hausbesuche ab. Spätestens als die ersten Kandidaten, die auf Patoffs Abschussliste stehen, bei mysteriösen Unfällen ums Leben kommen bzw. sich selbst töten, sind Craig und seine Frau Angie in höchstem Maße beunruhigt – zumal auch die Notfallambulanz, in der Angie arbeitet, von der BFG unter die Lupe genommen wird…
Bei der CompWare entwickelt sich eine ungesunde Atmosphäre der Paranoia…

„Die Kollegen verdächtigten sich gegenseitig und keiner wusste so recht, wer sich wem gegenüber verpflichtet fühlte und ob nicht vielleicht der eine oder andere den Maulwurf für die BFG spielte. Craig hatte keine Ahnung, ob dieses Gefühl des gegenseitigen Misstrauens absichtlich herbeigeführt worden war, aber es fühlte sich an, als wäre man in der Hitlerjugend gelandet. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, war so groß, dass die meisten Mitarbeiter es bevorzugten, ihre Zeit allein in ihren Büros zu verbringen und zu arbeiten. Vielleicht war das der Zweck des Ganzen.“ 

Bentley Little ist dafür bekannt geworden, dass er seine Horror-Werke stets mit einer gesunden Prise Gesellschaftskritik würzt, und es fällt nicht schwer, die Geschäftspraktiken gewinnorientierter, börsennotierter Unternehmen im Zentrum seines Romans „Der Berater“ als übergeordnetes Thema zu identifizieren, das allerdings so grausam auf die Spitze getrieben wird, dass es ins Horror-Genre fällt. Dafür sorgen nicht nur das unmenschliche, nahezu diabolische Auftreten von Regus Patoff, sondern auch die unerklärlichen Veränderungen in dem mehrstöckigen Unternehmensgebäude und das grausame, oft sexistische Gebaren der Angestellten im Verlauf der vermeintlichen Optimierungsmaßnahmen. Leider schafft es der Autor dabei nicht, die übernatürlichen Elemente glaubwürdig darzustellen. Dazu fehlen ihm im Gegensatz zu Stephen King, Clive Barker oder Peter Straub auch einfach die sprachlichen Mittel. Wenigstens ist ihm die Charakterisierung der Mittelstandsfamilie Horne mit ihren Sorgen um Hypothekenzahlungen und Versicherungen so gut gelungen, dass sie ein gewisses Identifikationspotenzial besitzen. Doch das reicht nicht, um „Der Berater“ zu einem guten Genre-Roman zu machen.

Bentley Little – „Die Universität“

Dienstag, 22. Juli 2025

(Buchheim, 488 S., E-Book)
Bereits mit seinem 1990 veröffentlichten Erstling „The Revelation“, der zuvor seine Abschlussarbeit für den MA in Vergleichende Literaturwissenschaft an der California State University Fullerton gewesen war, erhielt Bentley Little den Bram Stoker Award für den besten Debütroman. Seither hat der publikumsscheue Amerikaner dreißig Romane und etliche Kurzgeschichten veröffentlicht, doch nie auch nur annähernd den Status seiner berühmten Kollegen Stephen King, Peter Straub, Dan Simmons oder Dean Koontz erreichen können. Warum das so ist, dokumentiert das 1994 veröffentlichte Frühwerk „The Night School“ aka „University“, das erst 2019 im Buchheim Verlag in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Universität“ erschienen ist.
Als Chefredakteur der Universitätszeitung „Daily Sentinel“ der Brea Universität in Kalifornien stehen Jim Parker alle Möglichkeiten nach seinem Studium der Journalistik für die Zukunft offen. Dennoch verspürt er ein diffuses Unbehagen, nach dem Sommer wieder an die Brea zurückzukehren, doch nach einem Gespräch mit seiner Mutter lässt er seine Zweifel sausen. Die Entscheidung, wie geplant seinen Abschluss zu machen, wird durch die Bekanntschaft seiner Kommilitonin Faith Pullen versüßt, die es gar nicht erwarten konnte, aus dem Haus, das sie mit ihrer sexhungrigen Mutter und ihrem jüngeren Bruder Keith bewohnt hat, zu verlassen und ihr vierjähriges Studium an der Brea zu beginnen, wo sie einen Job in der Bibliothek ergattern konnte, um ihr Studium zu finanzieren.
Dr. Ian Emerson doziert in diesem Semester über Schauerliteratur und wird zu Beginn des Semesters von einem Mann namens Gifford darauf angesprochen, dass die Universität „getötet“ werden müsse, bevor das Böse zu übermächtig werde. Tatsächlich häufen sich die Gewalttaten an der Universität. Frauen werden vergewaltigt, Kleinwüchsige und Angehöriger anderer Rassen diskriminiert. Menschen verschwinden spurlos oder stürzen sich verzweifelt in den Tod. Während die Universitätspräsidentin und die Verwaltung alles daransetzen, um die Entwicklung kleinzureden und auf äußere Einflüsse zurückzuführen, ist auch Emerson mit der Zeit davon überzeugt, den Ratschlag von Gifford zu überdenken und eine Gruppe von Leuten um sich zu scharen, die den unheimlichen Ereignissen auf dem Campus entgegenzuwirken. Denn die Brutalität, mit der die Studenten mittlerweile agieren, lässt nichts Gutes ahnen…

„Mit dem Bösen ließ sich viel leichter umgehen, wenn es zufällig und ohne Plan auftrat. Wieder dieses Wort. Das Böse. Es war selbst in zeitgenössischer Horrorliteratur außer Mode geraten, wahrscheinlich weil es in Post-Clive-Barker-Zeiten als zu kulturrelativistisch erachtet wurde, aber es passte einfach. Dabei gab er nichts auf die jüdisch-christliche Vorstellung des Bösen, diesen belanglosen und eigentümlich personalisierten Glauben, der banale Schwächen wie Völlerei und Stolz als Todsünden betrachtete. Aber das mutwillige Herbeiführen von Leiden und Tod gehörte für ihn definitiv in diese Kategorie. Und genau das machte die Universität. Sie führte Tod und Leiden herbei, zu ihrem eigenen Vergnügen, wie Gifford Stevens behauptete.“ (S. 327)

Warum Bentley Little nicht in einer Liga beispielsweise mit dem „King of Horror“ spielt, wird bereits nach wenigen Seiten deutlich. Zwar gibt sich der Autor anfangs noch etwas Mühe, wenigstens zwei der Protagonisten, Jim und seine spätere Freundin Faith, mit einem persönlichen Hintergrund zu versehen, doch das im Buch thematisierte Böse der Universität wird schon zu Anfang nur unzureichend ebenso plump wie diffus beschrieben. Statt das Grauen langsam in den Alltag ganz normaler Menschen schleichen zu lassen, wie es Stephen King meisterhaft beherrscht, bedient sich Little der Holzhammer-Methode, vernachlässigt die Atmosphäre des klassischen Spukhaus-Horrors zugunsten voyeuristischer Schilderungen von hartem Sex, brutalen Vergewaltigungen und Splatter-Effekten, die bei Littles Kollegen Richard Laymon weitaus stimmiger zum Ausdruck kommen.
Die Beschreibung der zunehmend verstörenden Ereignisse an der Brea wirkt eher schlagwortartig und geht leider einher mit der plakativen Zeichnung der vielen Figuren, die den Plot unnötig in die Länge ziehen, worunter sowohl die Spannung als auch die Atmosphäre, vor allem aber die Glaubwürdigkeit leiden. Denn die Natur des Bösen erfährt bis zum Ende keine überzeugende Erklärung, so dass „Die Universität“ wie eine verunglückte Verkleidung für einen unoriginellen Torture-Porn-Plot im Gewand eines Horror-House-Schockers wirkt. Das kann Bentley Little definitiv besser.

David Baldacci – „Der Präsident“

(beTHRILLED, 577 S., E-book)
Seit David Baldacci Mitt der 2000er Jahre mit den Serien um die beiden Ex-Secret-Service-Agenten Sean King und Michelle Maxwell und den Camel Club Gefallen an – wenn zumeist auch nur kurzen - Romanreihen, an denen Erfolgsautoren wie James Patterson, Michael Connelly und Lee Child seit jeher arbeiten, gefunden hat, sind nur noch wenige alleinstehende Romane des ehemaligen Strafverteidigers und Wirtschaftsjuristen erschienen. Sein wichtigster Roman aus der überschaubaren Anzahl in dieser Hinsicht ist auch sein erster, wenn auch nicht bester gewesen, der unmittelbar nach Veröffentlichung von und mit Clint Eastwood verfilmte Thriller „Absolute Power“, der hierzulande von Bastei Lübbe unter dem Titel „Der Präsident“ verlegt und nun (zusammen mit den anderen Baldacci-Frühwerken) in dem Lübbe-E-book-Imprint beTHRILLED neu aufgelegt worden ist.
Der 66-jährige Luther Whitney hat seinen Lebensunterhalt als Einbrecher verdient und durch die vielen Jahren im Gefängnis die Beziehung zu seiner Tochter Kate zerrüttet, die als Protest gegen den Lebenswandel ihres Vaters Staatsanwältin geworden ist. Nun will Luther einen letzten großen Coup landen und dringt in das zuvor sorgfältig ausgekundschaftete und derzeit verlassene Anwesen des Milliardärs Walter Sullivan in Middleton, Virginia, ein. Er schaltet die Alarmanlage aus und ist gerade dabei, den Safe im Tresorraum am Schlafzimmer auszuräumen, als er bemerkt, dass er unerwünschten „Besuch“ bekommt. Luther versteckt sich im Tresorraum und beobachtet durch den Einwegfenster, wie ausgerechnet der verheiratete, stark angetrunkene und von Sullivan seit Jahren unterstützte US-Präsident Alan J. Richmond dessen junge Frau Christy zu brutalem Sex animieren will. Als sie sich lautstark mit einem Brieföffner in der Hand zu wehren versucht, stürmen die beiden Secret-Service-Agenten Bill Burton und Tim Collin den Raum und erschießen die Frau. Die ebenfalls im Haus anwesende Stabschefin Gloria Russell lässt die Situation von den beiden Männern bereinigen, doch stellen die Agenten dabei fest, dass es einen Zeugen gegeben haben muss, der nicht nur durch das Fenster getürmt ist, sondern auch den verräterischen Brieföffner hat mitgehen lassen. Luther türmt zunächst ins Ausland, doch als er die geheuchelte Ansprache des Präsidenten zu dem Mord an der Frau seines Freundes Walter Sullivan hört, beschließt er, den Präsidenten mit seinem Vergehen nicht davonkommen zu lassen. Dabei erhofft er sich Hilfe von Jack Graham, dem ehemaligen Lebensgefährten seiner Tochter, der nun als Anwalt in einer renommierten Kanzlei Karriere macht und der Kate nach wie vor liebt. Und auch der ermittelnde Detective Seth Frank zweifelt an den bisherigen Indizien und Beweisen in dem Fall. Der Präsident und seine ehrgeizige Stabschefin setzen allerdings alles daran, jedwede Zeugen und Beweise für immer verschwinden zu lassen. Doch die Rechnung haben sie ohne Luther gemacht…

„Luther holte den Brief aus der Tasche. Er wollte dafür sorgen, dass die Stabschefin ihn just zu dem Zeitpunkt erhielt, wo sie die letzten Anweisungen erwartete. Die Abrechnung. Sie alle würden bekommen, was ihnen zustand. Es war die Mühe wert, Russell Blut schwitzen zu lassen, und das tat sie, ganz bestimmt sogar. So sehr sich Luther auch bemühte, er konnte nicht vergessen, wie die Frau lustvoll den Präsidenten bestiegen hatte, neben einer noch warmen Leiche, als wäre die tote Frau ein Haufen Dreck, den man einfach links liegen ließ. Und dann Richmond. Dieser versoffene, schleimige Bastard!“ (S. 346)

Baldaccis Erstlingswerk ist auf einer spannenden Prämisse aufgebaut, nämlich den Verfehlungen eines selbstgefälligen, machthungrigen US-Präsidenten, dem sein von einem unfreiwilligen Zeugen beobachtete Fehltritt mit Todesfolge zum Verhängnis werden könnte. Der Autor spinnt allerdings ein allzu unglaubwürdiges Geflecht von Beziehungen und Intrigen, die der anfangs geschickt aufgebauten Spannung bald den Boden abgraben. Den Zufall, dass ein gewiefter Einbrecher (ausgerechnet) in einem mit einem Einwegfenster versehenen Tresorraum beobachtet, wie (ausgerechnet) der amerikanische Präsident Sex mit der Frau eines vermeintlichen Freundes hat, mag man noch mittragen, doch aus dem Katz- und Maus-Spiel zwischen den engsten Vertrauten des Präsidenten auf der einen und Luther und seinen Verbündeten auf der anderen Seite entwickelt sich ein allzu komplex konstruiertes und zunehmend unglaubwürdiges Intrigen-Puzzle. Dazu zählt leider auch die oberflächliche Psychologisierung der Figuren wie die klischeehafte Beziehung zwischen Jack Graham und der vom alten Geldadel abstammenden Jennifer Baldwin, die Graham zu lösen versucht, um wieder mit Kate zusammenzukommen, mit der er gemeinsam Kates Vater aus dem Dilemma zu befreien versucht. Ebenso unglaubwürdig wirkt das Gebaren der Stabschefin, die tatsächlich den stark alkoholisierten Zustand des von ihr verehren Präsidenten ausnutzt, um ihn noch am Tatort zu besteigen. Der dramaturgisch uneinheitlich aufgebaute Plot, die unzureichenden, stark klischeehaften Charakterisierungen und Motive der Figuren und die vielen unglaubwürdigen Zufälle und Entwicklungen überdecken dabei das fraglos vorhandene Talent eines Bestseller-Autors, der erst noch seinen Stil finden muss.

Austin Taylor – „Das Gefühl von Unendlichkeit“

Mittwoch, 2. Juli 2025

(Heyne, 398 S., HC)
Mit gerade mal 26 Jahren legt die in Maine geborene und lebende Austin Taylor ihr Romandebüt vor. Sie hat in Harvard Chemie und Englisch studiert und ihre dort gemachten Erfahrungen in ihren Erstling einfließen lassen, was dem Roman „Das Gefühl von Unendlichkeit“ von Beginn an einen authentischen Charakter verleiht.
Als Tochter eines renommierten MIT-Physikers ist Zoe Kyriakidis seit Kindertagen mit Studierenden aufgewachsen, die ihr Vater regelmäßig zum Abendessen mit nach Hause brachte und zwischen denen sie eingequetscht mühelos den anregenden Diskussionen folgte. Doch als sie im Alter von elf oder zwölf Jahren verstand, woran er forschte (Quantenfeldtheorie), erlahmte ihr Interesse, bis es einer Art von Rebellion wich. Der Wissenschaft blieb sie allerdings treu. Mit Bestnoten wurde sie in Harvard angenommen, studiert dort nun Chemie. Als sie während der Vorlesungen den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Jack Leah kennenlernt, bekommt sie durch ihn eine der begehrten Assistenzstellen bei Professor David Li und arbeitet mit Jack zusammen an einer Gentherapie im Anti-Aging-Bereich. Während Jack fleißig im Labor experimentiert, arbeitet Zoe vor allem an der Theorie, die sie gemeinsam bei dem legendären Professor Brenna weiterverfolgen. Schon bald zeigen sich Investoren interessiert, was auch die Beziehungen zwischen Zoe, Jack und dessen Mitbewohner Carter verändert, der in das Start-up einsteigt. Zwar schafft es Zoe trotz des immensen Interesses der Medien und der Welt der Wissenschaft noch immer nicht, sich aus dem Schatten ihres größeren Bruders Alex zu lösen und die verdiente Anerkennung ihres Vaters zu erhalten, doch das Anti-Aging-Konzept macht so viele Schlagzeilen, dass Zoe mittlerweile viel Zeit damit verbringt, die Theorie zu vermarkten, Interviews zu geben und Reden zu halten – und sich in eine Beziehung mit Jack zu stürzen…

„Vermutlich würde der Professor sagen, dass es ihr um Ruhm ginge. Aber es hatte mehr mit Respekt zu tun. Oder damit, ernst genommen zu werden. Vielleicht auch mit Macht. Bei Jack war es wahrscheinlich das Geld. In gewisser Weise vielleicht auch Macht. Bestimmt nicht Ruhm – selbst wenn Journalisten ihn um ein Interview anflehten – alle waren von seinem verschlossenen Wesen fasziniert -, ließ er sie abblitzen. Zu viel Arbeit im Labor, sagte er. Bevor sie ein Paar wurden, hätte Zoe bei keinem der Götzenbilder an Lust gedacht, aber jetzt schon.“ (S. 234)

Doch wo Milliarden Dollar Umsatz gemacht werden, sind die Neider nicht weit und beginnen, in den Medien die Arbeit im Start-up schlechtzureden. Dass da weit mehr als nur ein Körnchen Wahrheit dran ist, entdeckt Zoe viel zu spät…
Will man Austin Taylors Debütroman „Das Gefühl von Unendlichkeit“ in wenigen Worten beschreiben, dürfte dabei eine Mischung aus Wissenschafts- und Liebesroman herauskommen, eine etwas vereinfachte Variante vielleicht von Sylvia Nasars Biografie über den genialen Mathematiker John F. Nash, die Ron Howard mit Russell Crowe und Jennifer Connelly in den Hauptrollen unter dem Titel „A Beautiful Mind“ erfolgreich verfilmt hat. Taylor nimmt sich die nötige, aber nicht übermäßige Zeit, Zoe Kyriakidis‘ Kindheit und Jugend im wissenschaftlichen Umfeld ihres Vaters zu beschreiben, untermauert ihr eigenes Wissen aus dem Chemie-Studium mit einer Vielzahl von Fachbegriffen, die die Idee von der Regeneration der Zellen bis zur Unsterblichkeit mehr oder weniger verständlich vor Augen führt. Das verleiht dem Thema einen hohen Grad an Authentizität, ist allerdings auch mit der Gefahr verbunden, hier bereits einen Teil der Leserschaft zu vergraulen. Dieses Risiko wird dadurch erhöht, dass wir Zoe noch nicht wirklich ins Herz geschlossen haben, weil wir noch zu wenig von ihr wissen. Es folgt die vertraute Geschichte vom Aufstieg und Fall eines vielversprechenden Start-up-Unternehmens, wobei wir mitverfolgen, wie Zoe eine Art Ménage à trois mit Jack und Carter führt, ohne dass die Motivationen der Beteiligten auch nur ansatzweise herausgearbeitet werden. Jacks Geschichte wird sogar erst im letzten Viertel aufgearbeitet.
Am Ende hat die Autorin versucht, recht viele Themen auf den 400 Seiten unterzubringen, wobei die wissenschaftliche Seite gefühlt am meisten Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Liebesbeziehung zwischen Zoe und Jack sorgt für das emotionale Auf und Ab, das untrennbar mit der Geschichte des Start-ups verbunden ist. Das ist trotz der vielen Fachbegriffe angenehm flüssig zu lesen, voller Dramatik, die allerdings subtiler aufgebaut hätte werden können, ebenso die Charakterisierungen der Figuren, die abgesehen von Zoe und Jack nahezu nur als Statisten fungieren.

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 16) „Die Rache des Uhrmachers“

Samstag, 28. Juni 2025

(Blanvalet, 480 S., HC)
Zwar hat der ehemalige Zeitungsautor und Rechtsanwalt Jeffery Deaver bereits Ende der 1980er Jahre das Schreiben zu seiner Hauptbeschäftigung gemacht, doch erst mit dem ersten, 1997 veröffentlichten und später von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie erfolgreich verfilmten Thriller „Der Knochenjäger“ dem US-Amerikaner der internationale Durchbruch. Auch wenn Deaver zwischendurch immer wieder für sich stehende Thriller und weitere Romanreihen veröffentlichte, stehen nach wie vor die Thriller um den seit einem tragischen Arbeitsunfall querschnittsgelähmten forensischen Ermittler Lincoln Rhyme und seiner Assistentin/Frau Amelia Sachs im besonderen Fokus. In dem mittlerweile 16. Fall für das ungewöhnliche Ermittler-Duo haben es Rhyme und Sachs erneut mit dem Uhrmacher zu tun, der ihnen seit „Der gehetzte Uhrmacher“ immer mal wieder das Leben schwer gemacht hat.
Vor vier Monaten ist ein Unbekannter in das New Yorker Bauamt eingebrochen und hat eine Vielzahl von digitalen Dokumenten zur Infrastruktur heruntergeladen – Baupläne, Grundriss und technische Zeichnungen – sowie einige Ausdrucke der Dateien mitgenommen. Bislang haben sich die Befürchtungen von NYPD und Homeland Security aber nicht bewahrheitet, dass hinter dem Diebstahl ein geplanter Terrorakt stehen könnte. Doch dann kippt aus zunächst unerklärlichen Gründen ein Kran auf einer Großbaustelle an Manhattans Upper East Side um, tötet einen Menschen und verletzt sechs weitere. Wenig später erhält der Bürgermeister eine E-Mail mit der Forderung an die Stadt, ein gemeinnütziges Unternehmen zu gründen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Solange die in der Mail erwähnten Liegenschaften nicht übertragen worden sind, wird New York City alle 24 Stunden einen verheerenden Unfall erleben. Vom Kommunalka-Projekt, dem Verfasser der Mail, hat noch niemand etwas gehört. Während die Polizei alle weiteren Großbaustellen in der Stadt und vor allem die installierten Baukräne unter strenger Beobachtung hält, gehen Rhyme und Sachs mit Hilfe des ambitionierten Nachwuchs-Forensikers Ron Pulaski u.a. der These nach, ob der oder die Täter die Grundstückspreise nach unten drücken wollen, um günstig an die interessanteren Projekte zu gelangen. Der Täter hat den Kran mit der äußerst aggressiven Flusssäure präpariert, die sich auch durch Beton frisst. Während der weiteren Ermittlungen gerät vor allem der Abgeordnete Stephen Cody in den Fokus, da dessen Text aus einem Positionspapier auf seiner Internetseite von den Erpressern zitiert worden ist. Für echte Beunruhigung sorgt allerdings die Tatsache, dass Charles Vespasian Hale alias der Uhrmacher in der Stadt ist und einmal mehr Lincoln Rhyme nach dem Leben trachtet…

„Läufer und Türme und Bauern … Ich sehe die Züge unserer Schachpartie, Charles. Sie erfolgen – wie stets bei dir – mit der Präzision eines Uhrwerks, ökonomisch und ohne zu zögern. Auf schwarze Felder und auf weiße Felder. Läufer und Türme und Bauern … Ein Feld, zwei, zehn … Doch was ich nicht verstehe, Charles, ist deine Strategie. Wie soll ich auf diesen oder jenen Zug reagieren, ohne im Mindesten zu wissen, wie du meinen König angreifen willst?“ (S. 232)

Jeffery Deaver erweist sich auch in seinem 16. Abenteuer mit Lincoln Rhyme und Amelia Sachs als routinierter Thriller-Autor, der mit einem sauber recherchierten, extrem durchstrukturiert, zum Ende hin aber auch übermäßig konstruiert wirkenden Plot überzeugt. Die ungewöhnliche Ausgangssituation mit den sabotierten Baukränen in New York City, die faszinierende Sammlung und Auswertung der Spuren und Beweise sowie die geschilderten technologischen Möglichkeiten, mit ausgefeilten Überwachungssystemen gefühlt jede Bewegung einer verdächtigen Person nachvollziehen zu können, sowie die wechselnden Perspektiven der Ermittler auf der einen und der Täter auf der anderen Seite sorgen für fesselnde Unterhaltung, bei der einzig die emotionalen Momente zu kurz kommen. In dieser Hinsicht geraten Rhyme und Sachs tatsächlich zu Nebenfiguren, denn ihre persönliche Beziehung wird überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen rückt Ron Pulaski in den Vordergrund, der sich nach einem von ihm verschuldeten Unfall der Innenrevision stellen muss und um seine berufliche Zukunft als möglicher Nachfolger von Lincoln Rhyme bangt. Dafür überzeugt die wendungsreiche Handlung, bei der der Uhrmacher erneut zu großer Form aufläuft.

Don Winslow – (Boone Daniels: 1) „Pacific Private“

Dienstag, 24. Juni 2025

(Suhrkamp, 396 S., Tb.)
Bevor Don Winslow seit Mitte der 2000er Jahre zunächst mit der Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“), der Danny-Ryan-Reihe („City on Fire“, „City of Dreams“ und „City in Ruins“) und Romanen wie „Zeit des Zorns“ und „Kings of Cool“ zu einem der prominentesten Thriller-Autoren avancierte, bewies er bereits mit der Reihe um Neal Carey und anderen Werken, dass er thematisch und stilistisch breit aufgestellt ist. Das demonstrierte vor allem auch die 2008 veröffentlichte Roman „Dawn Patrol“, der eine packende Krimi-Handlung in der Surferszene von Kalifornien einbettete.
Pacific Beach, Kalifornien. Hier warten die Mitglieder der sogenannten „Dawn Patrol“ – Boone Daniels, Hang Twelve, Dave the Love God, Johnny Banzai, High Tide und Sunny Day – auf die große Wellenfront, eine Brandung, wie sie nur alle zwanzig Jahre vorkommt. Doch der Ex-Cop Boone Daniels, der zwar für sein Leben gern surft, aber auch als Privatdetektiv seinen Lebensunterhalt zu verdienen versucht, muss seine Lieblingsbeschäftigung stark einschränken, als er von der attraktiven Anwältin Petra Hall, deren Kanzlei den Stripclub-Besitzer Dan Silver vertritt, der außerdem noch eine Reihe von Lagerhäusern besitzt, von denen eins kürzlich abgebrannt ist. Das Versicherungsunternehmen will nicht zahlen, weil es von Brandstiftung ausgeht, denn Tammy Roddick, eine von Silvers Tänzerinnen, mit denen er ein Verhältnis unterhielt, will gesehen haben, wie Silver selbst das Lagerhaus abgefackelt hat. Doch bevor Tammy vor Gericht aussagen kann, wird ihre Leiche an einem Hotel-Swimming-Pool aufgefunden, nachdem sie aus unerklärlichen Gründen vom Balkon gestürzt war. Die Tote wird allerdings nicht als Tammy identifiziert, sondern als ihre Freundin Angela Hart. Als Boone zusammen mit der Anwältin die Umstände von Angelas Tod und dem Verbleib von Tammy auf den Grund geht, stößt er auf einen Ring von Mädchenhändlern…

„Was ich gesehen habe, denkt Boone. Ich habe die Welt von einer Welle heraus gesehen, das Universum in einem einzigen Wassertropfen. Sie haben keine Ahnung von der Welt da draußen. Bald wird die Sonne aufgehen, die Dawn Patrol wird rauspaddeln, die großen Wellen angehen, Sunny wird ihre Chance nutzen. Er wäre gern mit ihnen da draußen, wäre gern für immer und ewig dort draußen. Aber es gibt Sonnenaufgänge, die man alleine beobachten muss.“ (S. 354)

„Pacific Private“ – so der etwas unglückliche deutsche Titel von „Dawn Patrol“ – ist alles andere als ein klassischer Kriminalroman. Don Winslow nimmt sich nicht nur viel Zeit, um die Hintergründe der Dawn-Patrol-Mitglieder, die Beziehung zwischen Boone und Sunny und natürlich die Untersuchung zum Mord an Angela Hart und das Auffinden der verschwundenen Zeugin Tammy Roddick zu beschreiben, sondern er rekapituliert auch minutiös, wie die kalifornische Küste zum Surferparadies avancierte, woran nicht nur gewiefte Immobilienspekulanten, sondern auch Brian Wilson und die Beach Boys großen Anteil hatten. Wer also nur eine spannende Krimihandlung erwartet, könnte angesichts der unterhaltsam aufbereiteten Hintergrundgeschichte gelangweilt sein. Aber wer Don Winslow als stilistisch großartigen Erzähler schätzt, wird an der authentisch vermittelten Atmosphäre ebenso seinen Spaß haben wie an der bedrückenden Krimihandlung. Ein Jahr später folgte mit „Pacific Paradise“ sogar noch eine Fortsetzung. 


Stephen King – „Kein Zurück“

Montag, 23. Juni 2025

(Heyne, 640 S., HC)
Über die Jahre hat sich Stephen King offensichtlich etwas in seine Figur Holly Gibney verliebt. Als Privatermittlerin in der von Bill Hodges geleiteten Agentur Finders Keepers spielte sie zunächst in der Bill-Hodges-Trilogie (bestehend aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“) zunächst eine sympathische Nebenrolle, ehe sie eine prominentere Rolle in „Der Outsider“ und in der Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung „Blutige Nachrichten“ einnehmen durfte. 2023 nahm die hochbegabte Ermittlerin in „Holly“ die ungeteilte Hauptrolle ein. Nun hat Holly Gibney in Stephen Kings neuen Roman „Kein Zurück“ die nicht leichte Aufgabe, als Bodyguard für eine feministische Rampensau zu fungieren, während ein Serienkiller ihre Freundin Izzy auf Trab hält.
Als Detective Isabelle „Izzy“ James zu ihrem Vorgesetzten gebeten wird, überreicht dieser ihr einen Brief, in dem ein gewisser Bill Wilson ankündigt, für den Tod eines unschuldig Verurteilten 13 Unschuldige und einen Schuldigen zu töten. Offenbar ist mit dem Unschuldigen Alan Duffrey gemeint, den zwölf Geschworene der Kinderpornographie für schuldig befanden, worauf Duffrey im Knast niedergestochen wurde. Später gestand sein an Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium leidender Arbeitskollege, Duffrey die belastenden Pornomagazine untergeschoben zu haben, um sich dafür zu rächen, dass Duffrey statt seiner befördert worden war. Dass der Briefeschreiber keinen Scherz gemacht hat, beweist er mit dem Mord an einer unbescholtenen Frau - in ihrer Hand fand die Polizei einen Zettel mit dem Namen einer Geschworenen, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war. Izzy zieht ihre Freundin Holly Gibney zurate, die den Fall höchst interessant findet, aber selbst alle Hände voll zu tun hat. Die Feministin Kate McKay, die von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht, um in großen Hallen gegen Abtreibungsgegner zu wettern, ist zur Zielscheibe radikaler Kirchengruppierungen geworden, und nachdem ihre Assistentin Corrie Anderson bereits Opfer zweier Attacken geworden ist, nimmt Holly die Stelle als Bodyguard für den egozentrischen Medienstar an. Als McKay in der Halle auftreten soll, in der auch die Soulsängerin Sista Bessie ihr Comeback feiert, bahnt sich eine Katastrophe an…

„Sie muss daran denken, wie ein Irrer namens Brady Hartsfield versucht hat, genau diesen Saal in die Luft zu sprengen. Dem alten Spruch, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt, traut sie absolut nicht, aber was kann sie machen? Nicht zum ersten Mal hat sie den Eindruck, von den Ereignissen einfach mitgerissen zu werden.“ (S. 424)

Obwohl er vor allem als Meister des übernatürlichen Horrors gilt, was er Werken wie „Carrie“, „The Stand“, „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Brennen muss Salem“ zu verdanken hat, wird Stephen King längst einfach als glänzender Erzähler geschätzt, der gerade in den Romanen mit Holly Gibney auch auf klassische Horrorelemente verzichtet. Schließlich bietet der Alltag in dieser Zeit so viel Grauen, dass ein Autor wie Stephen King, der stets das Zeitgeschehen im Blick hat und dieses mit seinen Romanen auch reflektiert, keine übernatürlichen Gruselszenarien beschwören muss, um seine Leserschaft zu fesseln. „Kein Zurück“ präsentiert sich als klassische Kriminalgeschichte mit zwei zunächst parallellaufenden Plots und zwei weiteren Nebenschauplätzen. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten „Stellvertretermorde“ eines Mannes, der durch die harte Erziehung seines Vaters auf Abwege geraten ist, und die religiös motivierten Taten eines Mannes, der den Verlust seiner Schwester auf ganz eigene Art zu verarbeiten versucht. Unnötig aufgebläht wird das Ganze durch einen Sportwettkampf zwischen der Feuerwehr und der Polizei und dem Auftritt von Sista Bessie, was „Kein Zurück“ auf stolze 640 Seiten anschwellen lässt. Es braucht nicht viel, um „Kein Zurück“ als Kommentar auf sowohl religiöse Fanatiker als auch engstirnige Populisten zu verstehen, die momentan auf der ganzen Welt für politischen und gesellschaftlichen Zündstoff und blutige Kriege sorgen. Das ist durchaus spannend zu verfolgen, bleibt aber zu sehr an der Oberfläche, um nachhaltig überzeugen zu können. Die Charakterisierungen sind - für King ungewöhnlich – nämlich recht klischeehaft ausgefallen. King selbst führt seine Hüftoperation im September 2023 an, dass er den Roman mehrmals umschreiben musste.

Benjamin Myers – „Strandgut“

Dienstag, 17. Juni 2025

(DuMont, 288 S., HC)
Mit seinen allesamt bei DuMont veröffentlichten Romanen „Offene See“, „Der perfekte Kreis“, „Der längste, strahlendste Tag“ und „Cuddy – Echo der Zeit“ hat der nordenglische Schriftsteller und Journalist Benjamin Myers bereits eine Vielzahl von deutschen Lesern begeistert und mittlerweile auch die SPIEGEL-Bestsellerlist erobert. Nun erscheint mit „Strandgut“ ein neuer Roman des Briten, der sich einmal mehr sehr überzeugend in das Innenleben seiner Figuren einzufühlen versteht.
Earlon „Bucky“ Bronco hat mit seinen siebzig Jahren eigentlich nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt. In seinen Jugendjahren hatte er als Soulsänger zwei Singles – „Until the Wheels Fall Off“ und „All the Way Through tot he Morning“ - aufgenommen, dann seine große Liebe Maybell kennengelernt, doch dass sein vielversprechender Bruder Cecil ungerechterweise eine lange Haftstrafe abbüßen musste und seine geliebte Maybell im vergangenen Jahr aus dem Leben schied, brach Buckys Lebenswillen. Nun verbringt er seine schmerzerfüllten Tage – sehnsüchtig erwartet er nur „die goldene Stunde“, die ihm durch die Opioide gegen seine unerträglichen Hüftschmerzen geschenkt wird – zwischen Bett und Walmart-Apotheke. 
Doch während er in Chicago auf das Ende seines Leidens wartet, erreicht ihn die Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Im Gegensatz zu seiner Heimat, wo Buckys vier aufgenommenen Songs längst vergessen sind – die zweite Single hat es nicht mal über das Stadium einer Testpressung hinaus geschafft -, sind die seltenen Singles hochgehandelte Sammlerstücke, Bucky selbst eine Legende, die den Höhepunkt des Weekenders an der britischen Küste bildet. Nach seiner Ankunft auf dem Flughafen in englischen Yorkshire wird der „King of Soul“ von der Mittfünfzigerin Dinah empfangen, die ihn über das Wochenende in Scarborough begleitet. 
Die melancholische, aber auch begeisterungsfähige Frau hat selbst ihr Päckchen zu tragen, einen ebenso nutzlosen Mann wie Sohn, und erfreut sich regelmäßiger Fluchten in das kalte Wasser der Nordsee. Zwar kann auch sie nicht für neue Opioide sorgen, die er im Flugzeug hat liegenlassen, aber mit ihrer lebensklugen Art hilft sie Bucky über einige emotionale Klippen hinweg. Und dann ist da auch noch die aus Afghanistan stammende Hotelangestellte Shabana, die ihm den Aufenthalt im Hotel etwas versüßt. Vor dem Auftritt leidet Bucky nicht nur unter heftigen Entzugserscheinungen, sondern auch unter großer Nervosität, vor so vielen Leuten aufzutreten. Doch die Zeit, die er vor allem mit Dinah hier in England bislang verbracht hat, verleiht ihm auch einen neuen Lebenswillen, eine andere Einstellung zu den Dingen, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.

„Und so tat Bucky das hier heute nicht nur für seine geliebte Maybell, sondern auch für Cecil Bronco, der für immer der junge Mann an der Schwelle zu etwas ganz Großem geblieben war. So musste es sein. Das hier war das letzte Geleit, das Bucky seinem Bruder nie hatte geben können. Die Elegie, die er nie hatte lesen, das Klagelied, das er nie hatte singen können. Er tat es für die Zukunft, die sein Bruder nie hatte erleben dürfen.“

Benjamin Myers ist mit „Strandgut“ ein bei aller Kürze einfühlsames Buch über die Schicksale zweier Menschen gelungen, die zunächst nur durch die Musik verbunden zu sein scheinen, auf dem Festival in England, wo sich der Sänger und die ihn betreuende Dinah kennenlernen, aber entdecken, wie viel Kraft, Verständnis und Lebensmut sie einander geben. So stellt „Strandgut“ eine Art Entwicklungsroman zweier Menschen dar, die mit ihrem Schicksal eigentlich abgeschlossen hatten, bevor sie sich begegneten, um dann durch die jeweils andere Perspektive einen neuen Blick auf ihr Leben gewinnen. 
Das ist ebenso berührend wie humorvoll erzählt, wobei der Autor auch die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und England auf witzige Weise thematisiert. Dass Myers große Sympathien für seine Figuren empfindet, vergrößert das Lesevergnügen, denn sowohl Bucky als auch Dinah verfügen über ein markantes Identifikationspotenzial, wachsen dem Publikum schnell ans Herz. Mit einer einfachen, aber bildhaften Sprache und feinem Gespür für die Empfindungen seiner Figuren ist „Strandgut“ ein wunderbarer Feel-good-Roman nicht nur für die ältere Generation.