Die 1976 von Peter Hook, Bernard Sumner und Terry Mason gegründete und dann von Sänger Ian Curtis vervollständigte Band Joy Division nahm bis zu Ian Curtis‘ tragischen Selbstmord am 18. Mai 1980 zwar nur zwei Alben auf, doch avancierte sie nicht zuletzt durch die energiegeladenen Konzerte zum Aushängeschild eines Genres, das die Attitüde und Wildheit des Punk Rock zu den melodischeren Gefilden des Dark Wave und Gothic Rock überführte. Bekanntermaßen führten Bernard Sumner, der Ian Curtis als Sänger ersetzte, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarder Gillian Gilbert als New Order erfolgreich das Erbe von Joy Division fort, doch war die Geschichte von Joy Division seither immer wieder Thema für ausführliche Artikel, ganze Bücher und sogar Filme.
So sind nicht nur die Songtexte und Notizen von Ian Curtis („So This Is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks“) und Erinnerungen seiner Frau Deborah Curtis („Touching From a Distance – Ian Curtis & Joy Division“), sondern auch verschiedene Bücher der Band-Mitglieder und -Involvierten Peter Hook („Unknown Pleasures: Inside Joy Division“), Paul Morley (Joy Division: Piece by Piece“) und Bernard Sumner („Chapter and Verse: New Order, Joy Division and Me“) veröffentlicht worden. Der bekannte britische Publizist Jon Savage, der bereits Bücher über The Kinks, die Sex Pistols und den Punk Rock geschrieben hat und zuletzt „Teenage: The Creation of Youth Culture“ (2007) veröffentlichte, wählte für sein neues Buch über Joy Division einen besonders interessanten Ansatz und lässt in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ vor allem Zeitzeugen die Geschichte von Joy Division in chronologisch strukturierten Zitaten erzählen.
Als Grundlage dienten dem Autor vor allem die Interviews, die Grant Gee und er selbst für den 2016 entstandenen Dokumentarfilm „Joy Division“ führten, ergänzt durch Gespräche, die u.a. für einen Artikel im „Mojo“ (1994) und zu Savages Buch „England’s Dreaming“ aufgenommen wurden. Dabei beschreiben die Protagonisten und Zeitzeugen zunächst das besondere Lebensgefühl im Manchester Mitte der 1970er Jahre, wo der soziale Wohnungsbau seinen Anfang nahm, wo dank der Hafenanlagen unterschiedlichste Einflüsse und Stile die Stadt überschwemmten und die Manchester Free Trade Hall zu einem Epizentrum der psychogeografischen Energie wurde, in dem Gewerkschaftsveranstaltungen ebenso abgehalten wurden wie Konzerte von Louis Armstrong, Bob Dylan und die Sex Pistols stattfanden. Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich prägte die zunehmend von Zerfall geprägte Industrielandschaft, die Sehnsucht nach dem Schönen hinter all der Hässlichkeit. Diese postindustrielle Atmosphäre voller leerstehender Lagerhallen- und Fabrikruinen, in denen sich neue Slums bildeten, war der ideale Nährboden für eine bunt schillernde Club-Szene in den 1960er Jahren, als sich Terry Mason, Bernard Sumner und Peter Hook kennenlernten und sich alles Mögliche an Konzerten ansahen, AC/DC, Dr. Feelgood, Iggy Pop, David Bowie und schließlich die Sex Pistols.
In den nachfolgend aneinandergereihten sehr persönlicher Erinnerungen wird anschaulich geschildert, wie Joy Division ihre ersten Songs einspielten, Martin Hannett als Produzenten gewannen und schließlich mit Tony Wilson zusammentrafen, der eine eigene Musiksendung bei Granada TV hatte und schließlich mit Pete Saville das legendäre Factory Label gründete, auf dem Joy Division zunächst die beiden Songs „Digital“ und „Glass“ auf der Doppel-EP „A Factory Sample“ veröffentlichten, dann die beiden Alben „Unknown Pleasures“ (1979) und „Closer“ (1980).
Je mehr Live-Auftritte Joy Division allerdings absolvierten, je mehr Ian Curtis hin- und hergerissen war zwischen seiner Frau Deborah, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, und der gut situierten und gebildeten Belgierin Annik Honoré, desto stärker machten sich seine epileptischen Anfälle und die durch die starken Medikamente verursachten Stimmungsschwankungen bemerkbar. Bei all diesen Schilderungen wird deutlich, wie unsicher und unreif die damals noch Anfang Zwanzigjährigen mit der Situation umgegangen sind, wie sehr sie sich auf Ians Beteuerungen verließen, dass alles gut sei. Jon Savage gelingt es, in der abwechslungsreichen wie intimen Zusammenstellung der Eindrücke und Erinnerungen ein sehr authentisch wirkendes Portrait der Zeit und der besonderen Umstände zu zeichnen, in der Joy Division gewirkt haben. Die „No City Fun“-Autorin Liz Naylor fasst schließlich zusammen:
„Joy Division kamen aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort, und sobald man sie dort herausnimmt, verändert sich ihre Bedeutung. Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert. Sie waren so, wie Manchester war. Folglich wurde diese Aura auch Ian als Einzelperson zugeschrieben, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Als Band waren sie sehr viel wichtiger denn als Individuen oder als seine Vision, weil ich nämlich nicht glaube, dass es seine Vision war. Ich glaube, es war die Atmosphäre von Manchester.“ (S. 202)Angereichert mit einigen schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Plakaten, Logos und Fotos bietet „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ einen faszinierenden Einblick in das Entstehen und Wirken einer ungewöhnlichen wie einflussreichen Band, die aus dem Geist des Post-Punk in intellektueller Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung darstellte und musikalisch gerade von deutschen Acts wie Kraftwerk, Neu! und Can zu ihrem einzigartigen Sound inspiriert wurde. Die Vielfalt der eingefangenen Stimmen machen das Portrait von Joy Division ebenso persönlich wie vielschichtig.
Leseprobe Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere"