Stephen King – „Doctor Sleep“

Mittwoch, 11. Dezember 2013

(Heyne, 704 S., HC.)
“Shining” ist nicht nur eines der ältesten (1977 erstmals von Doubleday veröffentlicht) Werke des Horror-Schriftstellers Stephen King, sondern wurde auch 1980 kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Nach über 35 Jahren legt King mit „Doctor Sleep“ nun eine packende Fortsetzung vor, in der das Schicksal von Daniel Torrance im Mittelpunkt des Geschehens steht.
Er muss ein noch stärker mit dem „Shining“ gesegneten Mädchen vor einer besonderen Art von Vampiren retten. Nachdem das Overlook-Hotel wegen eines defekten Heizkessels – so das Fazit des Brandinspektors von Jicarilla County - bis auf die Grundmauern abgebrannt war und unter anderem der für den Winter eingestellte Hausmeister John Torrance dabei ums Leben kam, lebten seine Frau Wendy und ihr gemeinsamer Sohn Daniel von der Abfindung, die ihnen die Besitzerfirma des Hotels zahlten, im mittleren Süden und dann im sonnigen Tampa.
Mittlerweile ist Dan erwachsen und wie sein Vater dem Alkohol verfallen. Er reist durch die Staaten und nimmt Gelegenheitsjobs als Hausmeister und Krankenpfleger an, bis er in Frazier landet und die Bekanntschaft mit Billy Freeman macht, der ihm einen Job in der Freizeitanlage Teenytown vermittelt. Deren Boss erkennt sofort, dass Dan ein Alkoholiker ist und legt ihm ein strenges Programm auf. Doch kaum hat sich Dan eingelebt, erhält er Botschaften von einem Mädchen namens Abra, das schon als Baby starke „Shining“-Kräfte zum Ausdruck gebracht hat. Während die beiden miteinander kommunizieren, kommen sie einer Vampir-ähnlichen Sekte auf die Spur, die sich der Wahre Knoten nennt und seit Jahrhunderten unauffällig in Wohnmobilen durch die Lande zieht und sich von dem sogenannten Steam ernährt, dem letzten Odem von Menschen, die das „Shining“ besitzen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wahre Knoten hat längst die Spur von Abra aufgenommen …
„Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen. Und dafür bin ich genau die Richtige.“ (S. 294f.) 
Ebenso wie sich viele Leser gefragt haben, was mit dem kleinen Danny passiert ist, nachdem er mit seiner Mutter Wendy und dem Koch Dick Hallorann in den nächstgelegenen Ort Sidewinder geflüchtet ist, ließ auch den Autor die Frage nie los. 35 Jahre nach "Shining" legt Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine Fortsetzung vor, die wie in Kings epochalen Meisterwerken „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Der dunkle Turm“ nicht weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse in epischen Dimensionen thematisiert.
Die 700 Seiten werden dabei vor allem von der innigen – durch das „Shining“ geprägte - Beziehung zwischen der jungen Abra und dem Alkoholiker Danny geprägt, von Danny schwerem Weg, die Alkoholsucht zu besiegen und ein neues Leben zu beginnen, von seiner Fähigkeit, als „Doctor Sleep“ im Pflegeheim die Sterbenden zur letzten Ruhe zu begleiten, aber auch von Abras Unsicherheit im Umgang mit ihren außergewöhnlichen mentalen Kräften und natürlich der Konfrontation zwischen dem Wahren Knoten und Abra mit ihren Freunden und Angehörigen.
Der Roman überzeugt dabei durch seine sorgfältig gezeichneten Figuren und den dramaturgisch geschickt inszenierten Spannungsaufbau, der sich in einem furiosen Finale entlädt.
Leseprobe: Stephen King – “Doctor Sleep”

Ian McEwan – „Honig“

Sonntag, 17. November 2013

(Diogenes, 463 S., HC.)
Eigentlich wollte die hübsche wie kluge Bischofstochter Serena Frome bei ihrer Vorliebe für das Lesen von Romanen ein gemächliches Englischstudium an irgendeiner Provinzuniversität absolvieren, doch ihr ausgeprägtes Talent für die Mathematik ließ sie nach Cambridge aufs Newnham College gehen, wo sie nur noch ein kleines Licht auf diesem Gebiet war. Während ihrer wenig aufregenden Studienzeit, in der sie immerhin ihre Unschuld verlor und eine Reihe von Liebhabern hatte, las sie weiterhin Bücher und begann für die Wochenzeitschrift „?Quis?“, die ihre Freundin Rona Kemp ins Leben rief, regelmäßige Kolumnen zu schreiben, zunächst Zusammenfassungen der von ihr verschlungenen Romane mit selbstparodierenden Urteilen, dann – als sie mit einem russischen Schriftsteller liiert war – zunehmend ernsthafte antikommunistische Artikel.
Mit Tony Canning tritt schließlich 1972 der Geschichtstutor ihres aktuellen Freundes Jeremy auf den Plan und rekrutiert Serena für den MI5, wo sie allerdings langweiligen Dienst als Büroangestellte der untersten Dienststufe leistet. Doch dann initiiert der MI5 analog zur CIA, die jahrelang kulturelle Projekte in Europa förderte, das Unternehmen „Honig“. Unter dem Tarnnamen und über den Umweg verschiedener vom britischen Geheimdienst finanzierten Stiftungen sollen junge Schriftsteller und Journalisten gefördert werden, die sich öffentlich für die freie Welt engagieren. Serena bekommt den Auftrag, für dieses Projekt Thomas Haley zu begutachten und schließlich zu rekrutieren.
„Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.“ (S. 207) 
Der Coup gelingt, doch indem sie eine leidenschaftliche Affäre mit dem vielversprechenden Autor beginnt, setzt sie einiges aufs Spiel …
Ian McEwan („Abbitte“) hat die interessante Zeit des Kalten Krieges, in der sowohl der demokratische Westen als auch der kommunistische Osten nichts unversucht ließen, die Überlegenheit ihrer Ideologien zu propagieren, als Szenario für eine außergewöhnliche Love- und Agentenstory gewählt und dabei weniger das Spionieren an sich als vielmehr die emotionalen Verquickungen ins Zentrum seines Romans „Honig“ gestellt. Fachkundig bekommt der Leser zwar einen wunderbar unterhaltsam geschilderten Einblick in die politischen Machenschaften und undurchsichtigen Geheimdienst-Praktiken der damaligen Zeit, aber dem britischen Meistererzähler geht es wie immer vor allem darum, wie sich seine Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld bewegen und was sie zu ihrem Tun antreibt. Mit Serena Frome beschreibt er eine durchweg sympathische Heldin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie durchaus gewinnbringend einzusetzen versteht.
Was „Honig“ dabei auszeichnet, ist nicht nur die sprachliche Geschliffenheit, mit der McEwan minutiös Geschehen und Befindlichkeiten beschreibt, sondern die elegante Verquickung von Realität und Fiktion, wie sie vor allem in den Zusammenfassungen von Haleys Erzählungen und Serenas Interpretationen und Übertragungen auf den Autor zum Ausdruck kommen. Aber auch die fein gesponnene Symbiose aus Spionage-Roman und Liebes-Drama, der immer wieder durchblitzende feine Humor und die überraschenden Wendungen machen „Honig“ zu einem kurzweiligen, tiefsinnigen und amüsanten Lesegenuss.
Leseprobe Ian McEwan - "Honig"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"

Neil Gaiman – „Das Graveyard Buch“

Samstag, 26. Oktober 2013

(Arena, 309 S., HC)
Seit Neil Gaiman Ende der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit seinem Freund Dave McKean und Werken wie „Violent Cases“, „Black Orchid“, „Signal To Noise“ und vor allem der wegweisenden „The Sandman“-Reihe zu einem der wichtigsten Comic-Autoren der Gegenwart geworden ist, hat sich der vielseitige Autor ähnlich wie sein Kollege Clive Barker („Hellraiser“) die verschiedensten künstlerischen Disziplinen angeeignet. Zwar ist er noch nicht als Maler oder Regisseur in Erscheinung getreten, aber auf literarischem Gebiet hat er bereits einige Gattungen erfolgreich erobert.
In den vergangenen Jahren sind es immer weniger Comics, sondern Fantasy-Romane („Anansi Boys“, „American Gods“), Film-Drehbücher („Sternwanderer“, „Beowolf“) und Kinder- und Jugendbücher („Coraline“, „Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard“) gewesen, mit denen Gaiman sein Publikum faszinierte. In die letztgenannte Kategorie fällt auch „Das Graveyard Buch“, das zwar in der deutschen Ausgabe leider ohne die Zeichnungen von Dave McKean, dafür aber – als limitierte Ausgabe - in einer schmucken Blechschatulle präsentiert wird.
Ein Killer sticht in der Nacht eine ganze Familie nieder. Nur der gerade mal 18 Monate alte Sohn kann dem Mörder entwischen und findet auf dem nahegelegenen Friedhof einen ungewöhnlichen Unterschlupf: Als die seit Jahrhunderten tote Mrs. Owens auf dem Weg zu einer Ansammlung halb zerfallener Grabsteine den Jungen erblickt, nehmen sie und ihr Mann das Kleinkind bei sich auf und verpassen ihm den Namen Nobody „Bod“ Owens. Nachdem sich die Gemeinde der toten Seelen, die den Friedhof bevölkert, sich darauf verständigt hat, das lebende Menschenkind bei sich aufzunehmen, erklärt sich Silas zu seinem Vormund. Als Wanderer zwischen den Welten der Toten und der Lebenden ist es ihm als Einziger erlaubt, den Friedhof zu verlassen. Nobody lässt sich von den Toten alles Wissenswerte beibringen, bis es auch ihm gelingt, sich im rechten unbeobachteten Moment unsichtbar zu machen. Im Alter von fünf Jahren lernt er die gleichaltrige Scarlett kennen, die ihm eine treue Freundin wird, und Nobody erlebt so einige Abenteuer, wenn er eine normale Menschenschule besucht oder in die Welt der Ghoule eintritt.
„Bod fiel in die Dunkelheit wie ein Klumpen Stein. Er war viel zu verblüfft, um sich zu fürchten, und fragte sich nur, wie tief das Loch unter diesem Grab wohl war, als zwei starke Arme ihn unter den Achseln packten und ihn durch die Dunkelheit schwangen. Bos wusste seit Jahren nicht mehr, was völlige Dunkelheit war. Auf dem Friedhof konnte er sehen wie die Toten, für ihn war kein Grab und keine Gruft wirklich schwarz. Nun lernte er völlige Dunkelheit kennen und obendrein spürte er durch Nacht und Wind geworfen wurde. Ein angsteinflößendes, aber auch wahnsinnig aufregendes Erlebnis.“ (S. 76f.) 
Das größte Abenteuer steht Bod allerdings bevor, als er erfährt, dass der Mörder, der damals seine Familie abgeschlachtet hat, noch immer auf der Suche nach dem Jungen ist, um sein Werk zu vollenden …
Bei der schaurigen Eröffnungssequenz, in der Nobodys Familie hingerichtet wird, mag man schwer glauben, dass das der Beginn eines Kinder- und Jugendbuches sein soll, doch von Neil Gaiman ist man unorthodoxe Erzählstrukturen und ungewöhnliche Geschichten gewohnt. Schnell wird dann auch die besondere Fähigkeit des Autors sichtbar, außergewöhnliche Figuren in noch außergewöhnlicheren Situationen zu zeichnen und sie eine Entwicklung durchmachen zu lassen, die der ganz gewöhnlicher Menschen nicht unähnlich ist. Obwohl sich Nobody im Reich der Toten bewegt, zieht es ihn seiner Natur nach immer wieder zu den Menschen, muss sich aber mit den Ängsten auseinandersetzen, die der menschlichen Natur innewohnen, der Angst vor dem Tod ebenso wie die Sorge, geliebte Menschen zu verlieren. Letztlich geht es für Nobody darum, den Schritt ins wirkliche Leben zu wagen. Wie Gaiman diese Entwicklung beschreibt, ist einfach nur zauberhaft, voller atmosphärischer Geheimnisse, dunkler Bedrohungen und magischer Momente.

Steve Mosby – „Kind des Bösen“

Sonntag, 13. Oktober 2013

(Knaur, 431 S., Tb.)
Ausgerechnet an seinem freien Vormittag, als er mit seiner Frau Rachel einen Termin bei ihrer Hebamme wahrnehmen wollte, bekommt Detective Andrew Hicks von seiner Partnerin Laura Fellowes zu einem Tatort gerufen wird. Scheinbar ohne Grund wurde der 32-jährigen Vicky Gibson vor ihrer Wohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnt hat, der Kopf zu Brei geschlagen. Wenig später wird ein Obdachloser aufgefunden, der auf ähnliche Weise ermordet worden ist, doch Hicks und seiner Truppe gelingt es einfach nicht, einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen herzustellen. Schließlich werden im abgelegenen Garth-Komplex gleich drei weitere ähnlich zugerichtete Leichen lokalisiert.
Einem Bekennerbrief zufolge spielt der Täter mit der Macht des Zufalls. Die Opfer an sich bedeuten ihm nichts. Es zählt allein ausgetüftelter Code, nach dem die grausamen Taten verübt werden. Während der Ermittlungen hat Hicks aber nicht nur einen Serienkiller zu fassen, der ohne erkennbares Schema äußerst brutal zu Werke geht, sondern muss auch mit einem Kommissar aus einem Nachbarbezirk zusammenarbeiten, bei dem Hicks ein merkwürdiges Gefühl hat. Dazu wird er immer wieder von Erinnerungen an seine Kindheit heimgesucht und besucht mit seiner hochschwangeren Frau eine Paartherapie. Die Probleme werden nicht einfacher, als weitere Morde verübt werden, unter anderem an einem Mann, den Hicks von einem früheren Fall her kennt, der ihm noch immer nachhängt. Ein Hoffnungsschimmer tut sich auf, als die Ermittler auf ein Internet-Forum stoßen, auf dem Videos mit vertrautem Modus Operandi zu sehen sind.
„Was hatte jemanden dazu gebracht, so etwas zu tun? Wenn man den Briefen Glauben schenkte, gab es einen Grund – ein Muster, das es zu suchen galt -, die Wirklichkeit war aber eine andere. Also mussten die Briefe eine Lüge sein. Schon allein die Szene hinter mir im Wald war nicht das Produkt rationalen Denkens. Das dahinten war nicht das Werk eines gesunden Menschen: nacheinander seine Opfer in eine übelriechende Grube zu zerren, um ihren langsamen, qualvollen Tod zu filmen. So handelt keine Person, die einen Code erstellt und der Morde nichts bedeuteten. Nein, das war das Werk eines Mannes, der das Leiden genießt und Kraft daraus gewinnt. Keinesfalls jemand, dem der Tod gleichgültig war. Es war jemand, der sich daran ergötzte. Und das passte nicht zusammen.“ (S. 325) 
Der britische Thriller-Autor Steve Mosby hat seit seinem Hardcover-Erfolg mit „Der 50/50-Killer“ auch in Deutschland schnell eine Fangemeinde erschließen können. Seither sind mit „Spur ins Dunkel“, „Tote Stimmen“ und „Schwarze Blumen“ Romane erschienen, die nicht immer die Erwartungen erfüllt haben, die das gefeierte Debüt geweckt hat.
Auch „Kind des Bösen“ beginnt etwas schwerfällig, indem Mosby etliche Episoden einführt, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. Dazu fällt es schwer, Inspektor Hicks, der die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, wirklich Sympathien entgegenzubringen, zumal auch die Ehekrise nur aus seiner Sicht dargestellt wird und kaum eine Weiterentwicklung erfährt. Wenn die Story aber an Fahrt aufnimmt, erweist sich Mosby durchaus als Meister der Dramaturgie und atmosphärischer Erzählweise. Am Ende werden all die losen Fäden, die im Laufe des Romans gesponnen wurden, zwar schlüssig zusammengeführt, doch wirklich überzeugend kommt der Plot nicht immer rüber, zumal die Motivation des Täters eher unbefriedigend erläutert wird. So besticht „Kind des Bösen“ vor allem durch die extrem brutal ausgeführten Mordtaten, weniger durch psychologisch nachvollziehbare Figurenzeichnung.
Leseprobe Steve Mosby – “Kind des Bösen”

Gaetano Cappelli – „Ferne Verwandte“

Sonntag, 6. Oktober 2013

(C. Bertelsmann, 511 S., HC)
Seit seine Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren und auch Großvater Carlo das Zeitliche gesegnet hatte, wächst Carlino di Lontrone unter dem strengen Regiment von Großmutter Nonnilde auf, die nicht nur über eine gut dreißigköpfige Familie herrscht, sondern auch den Olivenöl produzierenden Familienbetrieb Premiata F.lli Di Lontrone Olii Superfini in einem süditalienischen Dorf führt. Als Vollwaise kommt dem kleinen Carlino die Zuwendung aller Frauen im Dorfe zugute, der Nonnen ebenso wie all der Tanten und Cousinen. Vor allem die üppig ausgestattete, 17-jährige Cousine Tea hat es dem Jungen angetan, an deren Brüste er sich eines Nachts verstohlen schmiegt.
Früh reift in ihm die Erkenntnis, dass er die Frauen liebt, und so genießt er die Sechziger in vollen Zügen. Obwohl er eine Lehre als Landvermesser beginnt und sich als versierter Organist erweist, träumt Carlino von einer Schriftsteller-Karriere im verheißungsvollen Amerika, wo schon sein Vater sein Glück versuchen wollte. Vor allem erweist sich Carlino als geschickter Frauenbeglücker, der von einer seiner Liebsten zur nächsten pendelt. Da kommt ihm der Trip nach Christiana, ins Hippie-Viertel von Kopenhagen gerade Recht, wo Carlino und seine Freunde mit ihren fünfzig Kilo Himalaja-Kraut wie die Könige behandelt werden. Doch letztlich treibt es den jungen Mann wieder nach Hause.
„Die hier konnte nicht mein Leben sein. Ich brauchte Gewissheiten, feste Bezugspunkte, und in den letzten Monaten hatte ich jeden Sinn für die Realität verloren. Außerdem war mir doch tatsächlich die allgemeine Promiskuität auf die Nerven gegangen – seit wann hatte ich nicht mehr allein in einem Zimmer geschlafen? Und um ganz ehrlich zu sein: Das Haus am Fluss war ja im Sommer ganz schön, aber im Winter beispielsweise, wie wusch man sich da, wo es doch nicht einmal eine Dusche gab? Ganz zu schweigen von dem verdreckten Lokus, der schlimmer war als die Aborte in den Zügen. Jetzt erschien mir sogar die Aussicht, mit der Großmutter zu arbeiten, in rosigem Licht. Und Incoronata wieder in die Arme zu schließen, konnte ich kaum erwarten: Nach all den Frauen, die ich gehabt hatte, war dies das eindeutigste Zeichen dafür, dass ich sie wirklich liebte.“ (S. 297) 
Schließlich scheint Carlìs Traum von einer Karriere in Amerika in Erfüllung zu gehen. Von seinem Vetter Charles eingeladen, wird Carlino in der Firma seines Onkels Richard angestellt. Ohne wirklich arbeiten zu müssen, aber stets unter der Kontrolle seines Onkels, kann sich Carlino endlich alles leisten, was er sich je gewünscht hat und auch Dinge, von deren Existenz er bislang nichts wusste. Aber in einer Hinsicht ist er sich treu geblieben – der Liebe zu den Frauen. Doch diese Eigenschaft lässt den jungen Mann tief fallen …
Der italienische Schriftsteller Gaetano Cappelli hat mit „Ferne Verwandte“ einen herrlich sinnlichen Roman über das Leben und die Träume eines ganz gewöhnlichen Jungen aus der süditalienischen Provinz verfasst, der aus jeder Zeile die unbändige Lebenslust spüren lässt, die ein verträumter und verliebter junger Mann in sich tragen kann. Die amourösen Abenteuer werden dabei ebenso humorvoll wie unverblümt beschrieben, all den Erfolgen stehen aber auch immer wieder Rückschläge und Verzweiflung gegenüber, wenn die begehrten Frauen mit anderen Männern liiert sind. Doch über den gefälligen Liebesreigen hinaus schildert das Epos auch das Leben auf dem italienischen Lande an sich und präsentiert ein stimmiges Gesellschaftsportrait der 60er Jahre bis zur kapitalistischen Aufbruchsstimmung in den 80ern, spirituelle Sinnsuchen eingeschlossen.

Ray Bradbury – „Löwenzahnwein“

Sonntag, 29. September 2013

(Diogenes, 280 S., Tb.)
Mit einem Fingerschnippen an einem Junimorgen begrüßt der zwölfjährige Douglas Spaulding in Green Town, Illinois, den Sommer 1928. Es ist ein Sommer, in dem Doug wie jedes Jahr mit seinem Statistiken erstellenden Bruder Tom und seinem Großvater säckeweise Löwenzahn pflückt, um ihn zu Wein zu verarbeiten, in Ketchupflaschen abgefüllt und feinsäuberlich nummeriert. Es ist ein Sommer, der nach neuen Tennisschuhen schreit und in dem Leo Auffmann eine Glück-Maschine baut, die ihre Anwender mit unerfüllbaren Träumen konfrontiert und weinend zurücklässt. Es ist aber vor allem auch ein Sommer, der Doug mit seiner eigenen Sterblichkeit vertraut macht.
Der alten Mrs. Bentley nehmen die Mädchen Jane und Alice nicht ab, dass auch sie mal jung und hübsch gewesen ist. Die Jungs unternehmen mit dem alten Colonel Freeman eine Reise in die Vergangenheit, wenn er lebendig von den Schlachten des letzten Jahrhunderts erzählt. Es ist es das Ende der Straßenbahn, die von Bussen abgelöst wird, es ist das Lebensende von einigen Mädchen, die von dem „Einsamen“ in der alten Schlucht ermordet werden. Und der junge Billy Forester sitzt Nachmittag für Nachmittag mit der alten Miss Helen Loomis zusammen, um sich von ihren Erzählungen an die entferntesten Orte entführen zu lassen. All diese Episoden spielen sich in einem wahrhaft denkwürdigen Sommer ab, den der kleine Douglas auf ungewohnt bewusste Weise erlebt.
„Oh, dieser Luxus, in der Farnnacht zu liegen, in der Grasnacht und der Nacht der murmelnden, schlummrigen Stimmen, die das Dunkel zusammenwoben. Die Großen hatten vergessen, dass er da war, so reglos, so still lag Douglas da und hörte von den Plänen, die sie für seine und für ihre eigene Zukunft schmiedeten. Und die Stimmen sangen, trieben dahin, in monderhellten Wolken aus Zigarettenrauch, währen die Motten wie verspätete, wieder lebendig gewordene Apfelblüten die fernen Straßenlaternen antippten, und die Stimmen trieben voran, voran in die kommenden Jahre …“ (S. 40) 
Ray Bradbury erweist sich in dem Roman „Löwenzahnwein“, der schon in Teilen zwischen 1946 und 1957 in verschiedenen Publikationen erschienen ist, einmal mehr als betörender Zauberer, der aus Worten zeitlose Märchen zu formen versteht. Im Grunde genommen ist „Löwenzahnwein“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der durch verschiedene Erlebnisse mit dem Tod konfrontiert wird und dadurch sein eigenes Leben bewusster zu leben versucht. Die Reise zu dieser Erkenntnis schildert Bradbury mit episodenhaften Geschichten, die jede für sich einen eigenartigen Zauber versprühen, wie es nur Bradbury vermag, und so entführt er den Leser in seine eigene Kindheit, weckt Erinnerungen und entzündet bestenfalls einen Lebensfunken, der unter der Last des Alltags manchmal zu ersticken droht.

Lemony Snicket – „Meine rätselhaften Lehrjahre (1): Der Fluch der falschen Frage“

Samstag, 14. September 2013

(Goldmann, 219 S., HC)
Unter dem Pseudonym Lemony Snicket hat der amerikanische Autor Daniel Handler in der 13-bändigen Roman-Serie „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ das bedauernswerte Schicksal der Baudelaire-Waisen beschrieben und dabei einen erstaunlich großen Fundus an originellen wie humorvollen Einfällen kreiert.
Sechs Jahre nach dem betrüblichen Finale der gefeierten Jugendbuch-Reihe gibt es mit „Meine rätselhaften Lehrjahre“ endlich ein neues Lebenszeichen von Lemony Snicket. Die Fans dürfen sich freuen: Mit dieser autorisierten Autobiographie gewährt uns der Autor einen ebenso unterhaltsamen Einblick in seine aufregenden Jugendjahre.
Der 13-jährige Lemony Snicket sitzt mit seinen Eltern in einem Café, als ihm eine Dame eine Botschaft zusteckt: „Ich warte in dem grünen Roadster. Du hast fünf Minuten!“ Und kaum, dass er sich versieht, findet sich der junge Lemony als Praktikant bei seiner Mentorin S. Theodora Markson an, einer Detektivin, die auf einer Liste von 52 Namen ihrer Zunft auf dem letzten Platz residiert. Sie werden von Mrs Murphy Sallis damit beauftragt, eine astronomisch kostbare Statue einer Bordunbestie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzuführen.
Ihrer Auftraggeberin nach soll sich die Statue im Besitz der Mallahans befinden. Tatsächlich findet Lemony die staubbedeckte wie unscheinbare Statue im Leuchtturm der besagten Familie, doch als er sich mit der angehenden Journalisten Moxie unterhält, ist die Besitzfrage nicht so einfach zu klären. Was folgt, ist eine abenteuerliche Odyssee durch die einst so malerische, nun eher verwahrloste und vereinsamte Küstenstadt Schwarz-aus-dem-Meer.
Da Lemony Snicket aber eher seinen eigenen Instinkten folgt als den Anweisungen seiner Mentorin, geraten die beiden immer wieder aneinander.
„Standpauken halten muss etwas Herrliches sein, sonst wäre es Kindern auch manchmal erlaubt. Schließlich setzt es nichts voraus, was Kinder nicht auch können. Im Prinzip braucht man für eine Standpauke nur drei Dinge. Man braucht ein wenig Zeit, um sich anständige Vorwürfe auszudenken. Man braucht ein bisschen Geduld, um die Anschuldigungen in eine gute Reihenfolge zu bringen, damit die Standpauke die Person, die sie abkriegt, auch richtig trifft. Und man braucht Chuzpe, ein Wort, das hier die Kaltschnäuzigkeit bezeichnet, die dazu gehört, sich vor jemandem aufzubauen und ihn abzukanzeln, besonders wenn dieser Jemand erschöpft und kaputt ist und nichts als seine Ruhe möchte.“ (S. 129) 
Schließlich lernt Lemony Snicket noch Ellington Feint kennen, die dem Jungen das Versprechen abnimmt, ihr bei der Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Vater zu helfen. Offensichtlich hat ein Mann namens Brandhorst dabei seine Finger im Spiel …
„Der Fluch der falschen Frage“ enthält alle Ingredienzien, die der geneigte Leser bereits aus den wundervollen „Reihe betrüblicher Ereignisse“ kennt: sympathische und skurrile Charaktere, undurchsichtige Handlungsstränge, Lügen und Geheimnisse, alles in einer klaren Sprache mit viel einzigartigem Humor geschildert, dass es eine Freude ist, Lemony Snicket bei seinen Ermittlungen zu begleiten. Was es mit der Organisation, deren Namen nicht genannt werden darf und für die die Mentoren arbeiten, auf sich hat, bietet hoffentlich Stoff für viele weitere Abenteuer!
Leseprobe Lemony Snicket - Meine rätselhaften Lehrjahre (1): „Der Fluch der falschen Frage“

Richard Laymon - "Die Gang"

Freitag, 13. September 2013

(Heyne, 624 S., Tb.)
Tanya, Cowboy und ihr Team von „Trolljägern“ suchen am Strand und auf der Promenade von Boleta Bay Wermutbrüder und Penner auf, jagen ihnen Angst ein und hinterlassen stets eine Karte mit den Worten „Lieber Troll, viele Grüße vom Großen Groben Griesgram Billy“. Doch obwohl jeder im Ort weiß, dass es sich um eine Clique von Jugendlichen handelt, die die Obdachlosen misshandeln, schreitet niemand dagegen ein, was die Lokal-Journalistin Gloria Weston zu einem kritischen Artikel in der Evening Post veranlasst. Ihr Freund, der Cop Dave Carson, findet den Artikel weniger witzig, und seine hübsche Partnerin Joan noch weniger. Tag für Tag patrouillieren sie an der Promenade und am Vergnügungspark Funland, um für die Sicherheit zu sorgen. Doch auch sie können nicht verhindern, dass ein Penner von den Trolljägern an einer Achterbahn festgezurrt wird und nur knapp mit dem Leben davonkommt.
Darüber hinaus haben Joan und Dave mit privaten Problemen zu kämpfen, Dave mit seiner streitsüchtigen, engagierten Journalistin-Freundin und Joan mit ihrem intellektuellen, aber feigen Verehrer Harold. Und dann kommt mit der hübschen Robin auch noch eine Rucksack-Wanderin ins Funland, um dort für eine Woche auf der Promenade Banjo zu spielen. Keine gute Idee, wie Dave findet. Zum Glück wird sie von Nate, dessen Familie Funland gehört, unter ihre Fittiche genommen, doch damit setzt er seine Beziehung zu Tanya, der Anführerin der Trolljäger, aufs Spiel. Dem neu zugezogenen Jeremy ist das nur recht. Er träumt Tag und Nacht von der schönen Tanya, gefährdet aber so seine Freundschaft zu Shiner, die mehr für Jeremy empfindet.
„Er wusste, dass es falsch wäre, jetzt die Wahrheit zu sagen, dass er nichts Besonderes gegen die Trolle hatte, dass er nur Mitglied der Gruppe sein wollte und in Tanyas Nähe. Es war ihm egal, was sie hier heute Nacht anstellten, solange er bei ihnen sein konnte. Aber das konnte er nicht zugeben, also dachte er an seinen ersten Nachmittag auf der Promenade, als der Penner plötzlich vor ihm gestanden und ihn angebettelt hatte. Er erinnerte sich an den verrückten Blick des Mannes, an die braunen Zähne und an den säuerlichen Gestank. Er erinnerte sich an seine Verwirrung und seinen Ekel. Aber vor allem erinnerte sich an seine Angst – die Angst, die bewirkt hatte, dass er sich klein und hilflos und jämmerlich vorkam.“ (S. 224) 
Nachdem bereits ein Troll im Meer entsorgt worden ist und die Trolle auch Jagd auf die zivilisierten Mitbürger machen, verhärten sich die Fronten zunehmend. Vor allem will Gloria als Pennerin verkleidet mehr über die gejagten Trolle erfahren. Doch dann verschwindet sie spurlos … Schließlich ist mit Jaspers Funhouse auch noch eine ehemalige Touristenattraktion im Spiel, die mittlerweile geschlossen ist, aber trotzdem weiterhin Neugierige anzieht. Und hier begegnen die Besucher bald dem ultimativen Grauen!
Bereits 1989 unter dem Titel „Funland“ im Original erschienen und 1992 von Goldmann unter dem Titel „Jahrmarkt des Grauens“ in Deutschland veröffentlicht, greift Richard Laymon in der von Heyne leicht überarbeiteten Neufassung „Die Gang“ das für Horrorfilme so beliebte Thema von Geisterbahnen und Vergnügungsparks auf und bietet die für ihn typische dichte und schön gruselige Atmosphäre. Dabei versteht es Laymon prächtig, Sehnsüchte und Ängste junger Menschen auf der Schwelle zum Erwachsensein zu reflektieren und vor allem die erotische Komponente zu betonen. Auf der anderen Seite hier exemplarisch an Obdachlosen demonstriert, wie unsichere Menschen in einer Gruppenkonstellation ihre scheinbare Macht brutal missbrauchen.
Wie bei den Heyne-Hardcore-Titeln von Richard Laymon üblich, wird der Roman durch ein ausführliches Werkverzeichnis der bislang im Verlag erschienen Laymon-Titel ergänzt.
Für den März 2014 ist bereits der nächste Titel des 2001 verstorbenen Autors angekündigt: „Die Klinge“.  
Leseprobe Richard Laymon - "Die Gang"

John Grisam – „Das Komplott“

(Heyne, 447 S., HC)
Der 43-jährige schwarze Anwalt Malcolm Bannister war einst Partner in einer kleinen Kanzlei in Winchester, Virginia, glücklich verheiratet und hätte sich wohl nie träumen lassen, dass er selbst einmal wegen Geldwäsche zu zehn Jahren Haft verurteilt wird. Die Hälfte seiner Strafe hat er mittlerweile abgesessen und sich die Zeit in dem „Camp“ Frostburg, wo nur minimale Sicherheitsvorkehrungen herrschen, als Bibliothekar und juristischer Berater für die Gefängnisinsassen vertrieben.
Doch nach fünf Jahren, in denen er seine Zulassung als Anwalt, seine Frau und die Beziehung zu seinem Sohn verloren hat, erhält Bannister die Nachricht von der Ermordung des Bundesrichters Raymond Fawcett und seiner Sekretärin in dessen Blockhütte in Roanoke.
Während das FBI völlig im Dunkeln tappt, wer für diese Tat verantwortlich sein könnte, und eine Belohnung von hunderttausend Dollar nicht dazu beitragen kann, hilfreiche Hinweise zur Auflösung des Verbrechens zu generieren, tritt Bannister mit einem Deal an das FBI heran: Er nennt dem FBI den Namen des Täters und wird nach dessen Verhaftung sofort freigelassen, bekommt die Belohnung ausbezahlt und wird mit einer neuen Identität ausgestattet.
Laut Bannister handelt es sich bei dem Mörder um Quinn Rucker, einen Drogendealer, mit dem sich Bannister in Frostburg angefreundet hat und der vor einiger Zeit fliehen konnte. Tatsächlich findet das FBI Rucker bei dessen Cousin in Norfolk und bekommt sogar ein Geständnis, so dass die Anklage wie geplant in Roanoke eingereicht werden kann. Auf einmal wird Bannister vom FBI wie der einer ihren behandelt, doch nach dem Start in ein ganz neues Leben hat der ehemalige Anwalt Pläne, die dem Staat gar nicht gefallen werden.
„Diese Leute haben vergessen, dass ich selbst einmal Gegenstand eines Strafverfahrens auf Bundesebene war, dass FBI-Beamte jeden Aspekt meines Lebens auf den Kopf stellten, während die Bundesanwaltschaft damit drohte, nicht nur mich, sondern auch meine beiden unbescholtenen Partner hinter Gitter zu bringen. Die denken tatsächlich, wir wären Freunde, ein verschworenes Team, das im Gleichschritt auf ein gerechtes Urteil zumarschiert. Wenn ich könnte, würde ich ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen und dafür sorgen, dass sie mit der Anklage nicht durchkommen.“ (S. 233)
John Grisham ist nicht nur ein Meister des Justiz-Thrillers, dessen packende Geschichten von renommierten Filmemachern wie Francis Ford Coppola („Der Regenmacher“), Sydney Pollack („Die Firma“) und Joel Schumacher („Der Klient“) erfolgreich fürs Kino adaptiert worden sind. Aber mit seinen Thrillern hat Grisham auch stets den Finger in die Wunden des amerikanischen Justizsystems gelegt, vor allem in Sachen Todesstrafe. Doch auch in seinem neuen Werk „Das Komplott“ seziert Grisham genüsslich den Status quo der amerikanischen Gesellschaft.
Indem er seinen Ich-Erzähler erstmals aus der schwarzen Bevölkerung rekrutiert, geht er hart mit dem nach wie vor vorherrschenden Rassismus ins Gericht und lässt diesen Rache an einem Staatssystem nehmen, das er für heuchlerisch, ungerecht und kriminell hält. So wird in einer Subhandlung ein Filmprojekt über die DEA inszeniert, das dokumentieren soll, dass die Beamten ihre Verdächtigen lieber gleich erschießen als vor Gericht zu stellen. Und der Protagonist verzieht sich für den heikleren Teil seiner Rachemission nach Antigua, weil er dort als Schwarzer nicht so auffällig wirkt.
„Das Komplott“ präsentiert eine für Grisham ungewöhnlich ambivalente Hauptfigur und einen im zweiten Teil etwas arg konstruierte komplexe Handlung, deren glatter Verlauf teilweise schon unglaubwürdig ist, doch dafür bietet der Thriller erneut Spannung bis zur letzten Seite, wobei der Leser komplizenhaft mit dem Helden mitschmunzeln darf.
Leseprobe John Grisham – “Das Komplott”

Tony O’Neill – „Sick City“

Samstag, 31. August 2013

(Heyne, 398 S., Tb.)
Nach vier Jahren, die Jeffrey mit seinem spendablen Liebhaber Bill zusammengelebt hat, stirbt der alte Mann an Herzversagen und hinterlässt einen ratlosen Junkie. Die Tatsache, dass Bill einst ein Cop gewesen war, der als einer der ersten Polizisten am Tatort der Sharon-Tate-Morde gewesen ist, bietet ihm die einmalige Chance für einen Neuanfang.
Jeffrey räumt den einen Safe des alten Mannes leer - Bargeld, Kokain, Marihuana und eine Pistole -, dann einen weiteren mit einer externen Festplatte, CD-ROMs und noch mehr Drogen. Doch der wahre Schatz verbirgt sich in einer alten Filmdose, die das letzte Zeugnis des Lebens der Hollywood-Ikone Sharon Tate darstellt. Mit diesen Habseligkeiten begibt sich Jeffrey in die Entzugsklinik des Fernseh-Therapeuten Dr. Mike, der in seiner Sendung „Detoxing America Prominente beim Drogen-Entzug begleitet. Dort teilt er sich das Zimmer mit dem nun mittellosen Randal, dem verwöhnten Spross einer Hollywood-Familie. Gemeinsam schmieden die beiden den Plan, nach ihrem Entzug den brisanten Sharon-Tate-Film an einen exzentrischen Sammler zu verkaufen.
 „Seit er Jeffrey zuletzt gesehen hatte, nagte die Idee, den Sexfilm zu verkaufen, an Randal. Der Gedanke daran hatte ihm geholfen, den Stumpfsinn des täglichen Lebens in der Ebtzugsklinik zu ertragen, dank ihm hatte er all die sinnlosen, luftleeren Meetings mit Beratern und den sogenannten Life Coaches durchgestanden. Der Film selbst hatte in seiner Vorstellung die Kraft eines Glücksbringers. Er stellte für ihn die Chance dar, endlich aus seinem kaputten Leben in Hollywood aussteigen und woanders neu beginnen zu können.“ (S. 238) 
Doch mit dem Verkauf des Sammlerstücks ist es nicht getan. Randal und Jeffrey wollen sich die Vermittlungsprovision sparen und den Deal anderweitig unter Dach und Fach bringen. Damit lösen die beiden Junkies aber nur eine weitere Reihe von Drogen- und Sexexzessen aus, Blutvergießen inklusive.
Der ehemalige Marc-Almond-Keyboarder und Punk-Band-Musiker Tony O’Neill hat seine Drogenerlebnisse bereits in seinem Debütroman „Digging the Vein“ (2006) verarbeitet, aber auch sein vier Jahre später erschienenes Werk „Sick City“ dreht sich eigentlich nur um das Leben mit der Sucht. Die Krimihandlung dient dabei als roter Faden für das chaotische Treiben der beiden Anti-Helden, die erfahren müssen, dass auch ein Millionengewinn keine Erlösung bedeutet, sondern einfach das massivere Konsumieren von noch mehr Drogen. Natürlich gehören auch eine Menge Sex in den verzweifeltsten, brutalsten Variationen dazu, die Ermordung von Dealern und das Ableben von schönen Transvestiten.  
Tony O’Neill beschreibt in „Sick City“ alle schaurigen Nebenwirkungen der Drogenexzesse auf mehr als anschauliche, ungeschönte Art. „Sick City“ ist die lautmalerische Chronik zerstörter Existenzen und rechnet scharf mit den selbst proklamierten Heilsbringern ab. Das ist abschreckend und unterhaltsam zugleich, denn bei allem Elend, das O’Neill beschreibt, lässt er seinen makabren Humor nie zu kurz kommen.
Leseprobe: Tony O'Neill – “Sick City”

Daniel Woodrell – „Im Süden – Die Bayou Trilogie“

Sonntag, 18. August 2013

(Heyne, 651 S., Tb.)
Der amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell wurde hierzulande vor allem durch zwei Verfilmungen seiner Romane bekannt, „Wer mit dem Teufel reitet“ von Ang Lee (1999) und „Winters Knochen“ von Debra Granik (2010). Nachdem seine ersten drei Romane lange Zeit vergriffen waren, hat der Heyne-Verlag die drei Romane „Cajun Blues“ (1986), „Der Boss“ (1988) und „John X“ (1992), die ab Mitte der 90er Jahre bei Heyne und Rowohlt veröffentlicht worden sind, erstmals komplett in dem Band „Im Süden“ zusammengefasst.
Gemeinsam ist den drei Romanen der Ort, an dem sie angesiedelt sind, nämlich in der fiktiven Bayou-Gemeinde St. Bruno, die in den schwülen Sümpfen Louisianas liegt, und Detective Rene Shade, der es in seinen Fällen vor allem mit Glücksspiel und Korruption zu tun hat.
In „Cajun Blues“ ist Jeff Cobb nach Saint Bruno gekommen, um in den fetten Geldtopf der Stadt zu greifen. Von seinem Vetter Duncan und Pete Ledoux erhält er den Auftrag, einen Nigger kaltzumachen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Wenig später wird Alvin Rankin, Hoffnungsträger der Demokratischen Partei, tot in seinem Haus aufgefunden, dann muss auch Teejay Crane dran glauben. Diesmal wurde aber ein junger blonder Mann in der Nähe des Tatorts gesehen, was für ein schwarzes Viertel ungewöhnlich genug ist.
„Der blonde Kerl hatte offensichtlich Eindruck gemacht. Man erinnerte sich an ihn, und Shade hatte keinerlei Schwierigkeiten, seine Route vom Olde Sussex Theatre bis zur Second Street zu verfolgen. Er brauchte nur an die Fenster zu klopfen und Leute auf der Straße zu fragen, ob sie einen panischen jungen Weißen mit irrem Blick gesehen hätten. In der Gegend wohnten zwar nicht nur Schwarze, aber sie beherrschten das Bild. Die wummernden Bässe, die aus den Stereoanlagen dröhnten, waren sepiafarbene Kunst, und selbst die Stimmen der weißen Anwohner klangen wie schwarzer Rap. Alle erinnerten sich an den Blonden, sagten aber nicht viel, sondern deuteten nur nach ‚da lang‘ – zum Fluss hinunter.“ (S. 144) 
Shade findet aber bald heraus, dass der gesuchte blonde junge Mann nicht allein für die Morde verantwortlich gewesen ist. Bei seinen Nachforschungen stößt er in ein Wespennest, das die wirtschaftlichen und politischen Spitzen der Stadt aufscheucht …
In „Der Boss“ will Shade gerade mit seiner Freundin Nicole für eine Woche zum Angeln in die Ouachitas aufbrechen, da muss er sich um die Leiche des Streifenpolizisten Gerald Bell kümmern. Der Fall ist deshalb so heikel, weil Bell nebenbei auch abkassierte, u.a. für den Cop Shuggie Zech, der Shade bei diesem Fall als Partner zugeteilt wird. Wie Shade von seinem Captain ganz offen mitgeteilt wird, war Bell an einem Spiel beteiligt, bei dem er eigentlich auf die Tür achten sollte. Stattdessen konnten drei maskierte Räuber unbehelligt die Runde der prominenten Spieler aufmischen und dabei eine Menge Bares kassieren. Shade bekommt den Auftrag, die Polizistenmörder nicht nur zu finden, sondern gleich kaltzumachen …
In „John X“ ist Rene Shade nach den unerfreulichen Ereignissen rund um seinen letzten Fall vom Dienst suspendiert worden und konzentriert sich nun auf das Familienleben und eine mögliche Hochzeit mit seiner schwangeren Freundin Nicole. Doch im Mittelpunkt der Ereignisse steht John X Shade, der Vater von Rene, Tip und Francois. Seine Frau Randi lässt ihn mit der zehnjährigen Tochter Etta sitzen und mit der Nachricht, dass sie Geld vom Killer Lunch gestohlen hat, um ihre Träume von einer Gesangskarriere verwirklichen zu können. Um nicht gleich in Lunchs Schusslinie zu geraten, flieht der alte Mann mit den unruhigen Händen und wässrigen Augen samt Etta nach St. Bruno zu seinen Söhnen, wo er sich mit organisierten Pokerrunden über Wasser halten will. Doch Lunch hat längst Witterung aufgenommen …
Die drei Romane der „Bayou“-Trilogie, denen bis heute leider keine Fortsetzung mehr gefolgt ist, sind vordergründig Krimi-Dramen vor einer außerordentlichen Kulisse. Aber das eigentliche Thema bei Woodrell sind die Menschen, die jeder auf ihre Weise ihr Päckchen zu tragen oder auch mehr oder weniger Schuld auf sich geladen haben. Die familiären Strukturen sind aufgebrochen und liegen in Trümmern. Stabile Ehen wurden für gelegentliche Abenteuer oder dauerhafte Affären aufs Spiel gesetzt, was immer wieder zu offenem Misstrauen, Hass und brutaler Gewalt führt. Der Autor füllt die Biografien seiner Figuren mit unzähligen humorvollen wie tragischen Anekdoten und lässt sie äußerst lebendig werden. Woodrells (Anti-)Helden betäuben die ermüdende Tretmühle ihres Daseins mit Alkohol, Gewalt, Glücksspielen und Sex. Erlösung ist nirgends in Sicht. Aus der Konstellation all dieser bemerkenswerten, irgendwie trostlosen Einzelschicksale knüpft Woodrell einen Sog aus klarer, Details ausschmückender Sprache und Geschichten, die nie ein gutes Ende nehmen. Und doch hofft der Leser nach jeder der drei Storys, dass ein besseres Leben für alle Beteiligten doch irgendwie noch möglich sein kann …
Leseprobe Daniel Woodrell - „Im Süden“

Thomas Harris – „Schwarzer Sonntag“

Sonntag, 4. August 2013

(Heyne, 349 S., Tb.)
Mit Hannibal Lecter hat der amerikanische Schriftsteller Thomas Harris eine Serienkiller-Ikone geschaffen, die in „Roter Drache“ erst als Nebenfigur eingeführt worden war und in „Das Schweigen der Lämmer“ so richtig aufdrehen durfte. Doch bereits mit seinem 1975 veröffentlichten Debütroman „Schwarzer Sonntag“ hat sich Harris als Meister im Kreieren psychopathischer Figuren erwiesen.
Hafez Nadscheer, Chef der Eliteeinheit Jihaz al-Rasd (RASD), des Geheimdienstes der El-Fatah, leitet den „Schwarzen September“ und hält nichts von der Rückgabe Palästinas an die Araber. Stattdessen glaubte er an das läuternde Feuer der Massenvernichtung. In diesem Glauben fand er in Dahlia Iyad, Abu Ali und dem Waffenexperten Muhammad Fasil tatkräftige Verbündete.
Der „Schwarze September“ war ebenso für die Aktionen in Italien und Frankreich verantwortlich wie für den Überfall auf das Olympische Dorf in München. Nun plant die Organisation einen vernichtenden Schlag gegen die USA. Dabei hat sich Dahlia Iyad die Unterstützung des labilen U.S.-Navy-Piloten Michael J. Lander gesichert, der nach seiner Kriegsgefangenschaft in Vietnam aus dem Dienst geschieden ist und nun ein Luftschiff über dem Tulane-Stadion navigiert. Dort plant der „Schwarze September“ am 12. Januar zum Super-Bowl-Spiel zuzuschlagen, wenn sich unter den 80000 Zuschauern auch der Präsident der Vereinigten Staaten befindet.
Nachdem ein israelisches Killer-Kommando unter Führung von Kabakov Nadscheer und Abu Ali außer Gefecht gesetzt hat, liegt es allein an Dahlia, die Operation zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Doch Kabakov hat zusammen mit den amerikanischen Geheimdiensten längst die Witterung aufgenommen.
„Die amerikanische Zelle des ‚Schwarzen September‘ hatte sich inzwischen bestimmt vollständig abgeriegelt und auch die Verbindung zur Guerillaführung in Beirat gekappt. Es würde verdammt schwer sein, sie aufzuspüren. Der Schock, den das Phantombild ausgelöst hatte, würde die Terroristen noch tiefer in ihren Bau treiben. Sie mussten ganz in der Nähe sein – sie hatten nach der Explosion zu schnell reagiert. Warum hatte dieser verfluchte Corley bloß das Krankenhaus nicht genügend überwachen lassen? Was war im Hauptquartier des ‚Schwarzen September‘ in Beirut geplant worden, und wer war dabei gewesen? Nadscheer. Nadscheer war tot. Die Frau. Sie hielt sich versteckt. Abu Ali? Ali war tot. Man konnte nicht mehr feststellen, ob Ali bei den Planungen dabei gewesen war, aber es war sehr wahrscheinlich, denn Ali gehörte zu den wenigen Männern auf der Welt, denen Nadscheer vertraut hatte. Ali war Psychologe gewesen. Aber Ali war auch noch vieles andere gewesen. Wozu brauchten sie einen Psychologen?“ (S. 194) 
Über 35 Jahre vor den Anschlägen des 11. September 2001 hat Thomas Harris bereits das erschreckende Szenario eines verheerenden terroristischen Anschlags auf amerikanischem Boden entwickelt. Der Plot ist dabei so spannend konstruiert, die psychischen Befindlichkeiten der Figuren so überzeugend gezeichnet, dass es nicht verwundern kann, dass bereits dieses Debüt erfolgreich verfilmt worden ist.  
Thomas Harris hat seine Meisterschaft sicher erst mit den Hannibal-Lecter-Romanen erreicht, aber „Schwarzer Sonntag“ zeigt bereits deutlich die Stärken des Bestseller-Autors auf, der zwar nur alle Jubeljahre etwas veröffentlicht, dann aber immer einen großen Wurf abliefert.


Dominik Kamalzadeh, Michael Pekler – „Terrence Malick“

Montag, 29. Juli 2013

(Schüren, 206 S., Pb.)
Wenn es darum geht, als Filmliebhaber tiefer in ein bestimmtes Thema einzusteigen oder sich näher mit einem Regisseur zu befassen, kommt man am Marburger Schüren-Verlag nicht vorbei. Mit seinen Monografien zu Filmemachern wie Stanley Kubrick, Abel Ferrara, Joel und Etahn Coen, David Lynch, Kathryn Bidelow oder Steven Spielberg hat der Verlag dazu beigetragen, beim interessierten Publikum ein besseres Verständnis für die Filme der ausgewählten Regisseure zu entwickeln.
Dass nun auch Terrence Malick Gegenstand einer solch analytischen Auseinandersetzung ist, ist überfällig und auf jeden Fall mehr als lohnenswert. Denn seit seinem gefeierten Debütfilm „Badlands“ aus dem Jahre 1973 hat sich der zurückgezogen lebende Malick stilsicher in die erste Garde ambitionierter Filmemacher gearbeitet. Zwar sollten bis zu seinem nächsten Film „Days Of Heaven“ (1978) fünf Jahre und daraufhin bis zu „The Thin Red Line“ (1998) sogar unglaubliche zwanzig Jahre vergehen, doch jedes seiner Werke war wie eine Offenbarung.
Wie die beiden österreichischen Autoren bereits im Vorwort konstatieren: „Diese Sonderstellung manifestiert sich darin, dass Malicks Filme sich nicht auf das beschränken, was man auf der Leinwand zu sehen bekommt. Sie begnügen sich nicht damit, das Schicksal eines einzelnen Menschen zu erzählen oder nur einen Ausschnitt aus der Welt zu zeigen. In Malicks Filmen geht es immer um das Ganze, und dieser Anspruch ist für sein Kino unabdingbar.“ (S. 9).
Auf knapp 200 Seiten gehen die Autoren der spannenden Frage nach, wie die als „naturmystisch“ bezeichneten Bilder und Töne in Malicks Filmen der Suche nach dem verlorenen Paradies entsprechen. Nach einem kurzen biografischen Abriss, der Malicks Stationen über Theateraufführungen an der High School, das Studium der Philosophie in Harvard, seine Arbeit als Journalist bis zu seinem Studium am neu gegründeten Center for Advanced Film Studies umfasst, geht es um die Art und Weise, wie Malick vor allem in den Filmen „The New World“ und „The Tree Of Life“ die Natur und eine sich in Bewegung befindliche Welt beschreibt. In diesem Zusammenhang kommt mit dem Transzendentalismus, den u.a. Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert entwickelten, eine besondere Bedeutung zu.
Was Malicks Filme nach „Days Of Heaven“ auszeichnete, war eine zunehmende Loslösung von ästhetischen Konventionen und Figuren, die sich oft als Suchende und Außenseiter betrachten. Bei all diesen komplexen Fragestellungen gehen die Autoren sehr analytisch vor, bemühen filmische Vorbilder, philosophische Wurzeln und zitieren andere Kritiker. Deutlich wird dabei Malicks Hang zur Nostalgie, da bis auf „To The Wonder“ und Teile von „The Tree Of Life“ keiner von seinen Filmen in der Gegenwart spielt. Das Buch wird abgerundet durch ein ausführliches Interview mit dem Produktions-Designer Jack Fisk, der seit „Badlands“ Weggefährte von Malick ist, einen farbigen Bildteil, etlichen Schwarz-Weiß-Bildern im Textteil und einer ausführlich kommentierten Filmografie, dazu eine umfangreiche Bibliografie und ein Register. Das Buch eignet sich mit seiner flüssig geschriebenen und umfassend darstellenden Weise hervorragend dazu, Malicks Filme in einem besseren Licht zu sehen und die ihm wichtigen Themen zusammenhängend zu verstehen. Leseprobe D. Kamalzadeh, M. Pekler - "Terrence Malick"

Thomas Harris – „Das Schweigen der Lämmer“

Samstag, 27. Juli 2013

(Heyne, 358 S., Tb.)
Der amerikanische Schriftsteller Thomas Harris lässt zwar nur alle Jubeljahre mit einem neuen Werk von sich hören, doch wenn es soweit ist, gehören ihm die Bestseller-Listen auf der ganzen Welt, und die Film-Produzenten schlagen sich bereits während der Entstehung eines neuen Thrillers um die Filmrechte. Schließlich sind nicht nur alle – leider an nur einer Hand abzuzählenden – Romane des Autors erfolgreich verfilmt worden, mit Dr. Hannibal Lecter hat Harris eine Kult-Figur des soziopathischen Serienkillers geschaffen, der durch Anthony Hopkins auch noch grandios auf der Leinwand verkörpert worden ist.
Nachdem er in „Roter Drache“ (1981) nur einen kurzen Auftritt als Berater bei einem aktuellen Fall des FBI hatte, steht er im sieben (!) Jahre später entstandenen Sequel schon etwas mehr im Mittelpunkt der Geschehnisse. Unter dem Vorwand, einen Fragebogen zur Erstellung einer Datenbank für psychologische Diagramme in ungelösten Fällen ausfüllen zu lassen, schickt Special Agent Jack Crawford von der Abteilung für Verhaltensforschung die angehende Agentin Clarice Starling nach Baltimore, um im State Hospital für geistesgestörte Straftäter zu versuchen, ein paar Antworten von Dr. Hannibal Lecter zu erhalten. Tatsächlich lässt sich Lecter auf ein Gespräch mit Crawfords Schützling ein und bietet sogar seine Mithilfe im „Buffalo Bill“-Fall an.
Der Killer wird so genannt, weil er seine weiblichen Opfer regelrecht häutet und seine Spuren geschickt verwischt, indem er die Leichen in Flüssen entsorgt. Nach dem vielversprechenden Auftakt bindet Crawford Starling in die laufenden Ermittlungen mit ein.
 „Es gab keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Ort, wo Bill die jungen Frauen entführte, und dem, wo er sie ablud. In den Fällen, in denen die Leichen rechtzeitig genug für eine Festsetzung der Todeszeit gefunden wurden, erfuhr die Polizei etwas weiteres über den Killer: Bill ließ sie eine Zeitlang am Leben. Diese Opfer starben erst eine Woche bis zehn Tage nach ihrer Entführung. Das bedeutete, dass er einen Ort haben musste, an dem er sie festhalten konnte, sowie einen Ort, wo er ungestört arbeiten konnte. Es bedeutete, dass er kein ziellos herumreisender Mensch war. Er glich eher einer Falltürspinne. Mit seinen eigenen Verstecken. Irgendwo.“ (S. 77) 
Als die Tochter von Senatorin Martin entführt wird, läuft der Polizei die Zeit davon. Lecter ist nur bereit, seine Fähigkeiten zur Ergreifung des Täters bereitzustellen, wenn ihm die Senatorin im Gegenzug eine Zelle mit Aussicht in einem Bundesgefängnis zusagt. Doch dann kann Dr. Lecter fliehen …
Bereits mit „Roter Drache“ hat Thomas Harris den prototypischen Serienkiller-Thriller verfasst und mit genauen psychologischen Betrachtungen die Faszination für diese abnorm veranlagten Serientäter geschürt. Seither hat es unzählige Nachahmer sowohl in der Spannungsliteratur als auch unter Hollywoods Filmemachern gegeben, doch mit „Das Schweigen der Lämmer“ hat Harris die Latte in Sachen Spannungsaufbau noch höhergelegt. Die Figuren Jack Crawfords, der neben den komplexen Ermittlungen im „Buffalo Bill“-Fall noch seine sterbenskranke Frau zu pflegen hat, der FBI-Schülerin Clarice Starling, die unbedingt weiter an dem Fall mitarbeiten möchte, und nicht zuletzt des hochintelligenten Dr. Hannibal Lecter sind so lebendig herausgearbeitet, die Ermittlungsarbeit so präzise und kurzweilig beschrieben, dass der Roman atemloses Lesevergnügen bis zum furiosen Finale verspricht.
Mit „Hannibal“ sollte erst 1999 die lang ersehnte Fortsetzung folgen …

Thomas Harris – „Roter Drache“

Donnerstag, 25. Juli 2013

(Heyne, 447 S., Tb.)
Nach grausamen Morden in Birmingham und Atlanta, wo nach gleichen Mustern in Vollmondnächten zwei Familien abgeschlachtet worden sind, sucht Jack Crawford vom FBI den Sonderermittler Will Graham auf, der vor einigen Jahren bei der Festnahme des Serienkillers Dr. Hannibal Lecter schwer verletzt worden war und sich seither vorwiegend um seine Familie und sein Boot kümmert. Crawford kann Graham überreden, sich die beiden Tatorte anzusehen und bei den weiteren FBI-Ermittlungen in Washington beratend zu unterstützen.
Tatsächlich erhält Graham bei den Besichtigungen der betreffenden Häuser wertvolle Hinweise auf den Täter, erhofft sich aber durch den Besuch bei Hannibal Lecter weitere Erkenntnisse, die ihn auf die Spur der sogenannten „Zahnschwuchtel“ bringen, wie der Killer nach Auswertung der Gebissspuren an den weiblichen Opfern genannt wird. Der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in einer psychiatrischen Anstalt inhaftierte Lecter wird schließlich von dem „roten Drachen“, wie sich der Killer später selbst nennt, über einen Brief auf Toilettenpapier kontaktiert, und über die Kleinanzeigen im „Tattler“ wollen die beiden Serienkiller in Kontakt bleiben. Währenddessen macht sich vor allem Graham weitere Gedanken über die Natur der „Zahnschwuchtel“.
„Der Mann, der die Familien Jacobi und Leeds ausgelöscht hatte, hatte irgend etwas an ihnen anziehend gefunden, wodurch er zu der Tat getrieben worden war. Er könnte sie zum Beispiel sehr gut gekannt haben – was Graham hoffte -, oder aber er hatte sie überhaupt nicht gekannt. Allerdings war sich Graham sicher, dass der Mörder sie zu Gesicht bekommen haben musste, bevor er sich entschlossen hatte, sie zu ermorden. Er hatte sie ausgesucht, weil irgend etwas an ihnen ihn angesprochen hatte, wobei das Hauptgewicht dieser Anziehung aller Wahrscheinlichkeit nach bei den Frauen zu suchen war. Doch was war dieses gewisse Etwas, das diesen Familien zum Verhängnis geworden war?" (S. 106) 
Allerdings rennt dem FBI und Graham die Zeit davon, denn bis zum nächsten Vollmond ist es nicht mehr lange hin …
Im Auftakt der „Hannibal Lecter“-Reihe, der bislang die ebenfalls allesamt verfilmten Bände „Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“ und „Hannibal Rising“ folgten, spielt Hannibal Lecter noch eine Nebenrolle, doch reichen die wenigen Szenen, die sich mit ihm befassen, bereits aus, um eine nachhaltige Faszination für diese vielschichtige, intellektuell herausragende und doch so abnorme Figur zu entwickeln.
Im Mittelpunkt des 1981 veröffentlichten und 1988 erstmals in deutscher Sprache erschienenen Psycho-Thrillers stehen vor allem zwei Personen: der ebenfalls psychisch angeschlagene Ermittler Will Graham, der sich durch ein erhöhtes Einfühlungsvermögen an Tatorten und für den Tathergang auszeichnet, und der „rote Drache“ auf der anderen Seite.
Thomas Harris gelingt es auf einzigartige Weise, vor allem die fehlgeleitete Psyche des Täters so transparent darzustellen, dass seine Motivationen absolut nachvollziehbar erscheinen. Gerade daraus, die Gedanken und Gefühle des von Williams Blakes Gemälde „Der große, rote Drache und die mit der Sonne bekleidete Frau“ inspirierten Täters verstehen zu können, bezieht der extrem spannende Roman seine Faszination, aber auch die detaillierte Ermittlungsarbeit von Graham und dem FBI ist fantastisch beschrieben. So entwickelt sich ein intellektueller Wettkampf, dessen Auswirkungen noch lange nachhallen.

Jack Ketchum – „Versteckt“

Sonntag, 21. Juli 2013

(Heyne, 243 S., Tb.)
Dan Thomas ist in dem kleinen Kaff Dead River in Washington County aufgewachsen, im ärmsten Bezirk des ganzen Landes, wie er meint. Jeder scheint hier von der Hand in den Mund zu leben, er selbst hat die Schule geschmissen und arbeitet in der örtlichen Sägemühle. Sein geregeltes Leben kommt ordentlich in Schwung, als Casey, Kim und Steven mit ihren reichen Eltern die Ferien in Dead River verbringen.
Anfangs hängen sie zu viert herum und wollen in der langweiligen Gegend spannende Sachen erleben, dann kommen sich Dan und Casey beim Nacktbaden näher. Ob es Liebe ist, kann Dan noch nicht sagen, aber aufregend ist es auf jeden Fall. Doch Casey begnügt sich mit einem unbekümmerten Urlaubsflirt oder Picknicks am Strand mit geklauten Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Ständig ist sie auf der Suche nach dem nächsten Kick. Als Dan Caseys apathisch wirkenden Vater kennenlernt, bekommt er eine Ahnung, warum Casey so ist, wie sie ist.
„Jeder ist einsam. Im Grunde unseres Herzens sind wir allein. Nur dass manche diesem Umstand den Krieg erklären und andere nicht. Damit will ich nicht über Casey urteilen. Sie hatte gute Gründe für ihr Verhalten, und sie wusste sich nicht anders zu helfen. Es lag nicht in ihrer Natur, dass sie so grausam war. Denn Krieg bedeutet immer auch Tod. Und der Tod ist ansteckend und nicht wählerisch.“ (S. 105f.) 
Doch Caseys emotionale Ausbrüche bringen auch Dan in Schwierigkeiten. Schließlich beschließen die vier, die Nacht in dem verlassenen Crouch-Haus zu verbringen und verstecken zu spielen. Vor Jahren haben hier die beiden gehandicapten Geschwister Ben und Mary mit ihren Hunden gelebt, bis sie irgendwann das Haus räumen mussten. Sie verschwanden von einem Tag zum anderen und ließen ihre Hunde einfach im Haus zurück. Was als bierseliger Spaß beginnt, wird jedoch zum tödlichen Ernst, als Dan feststellt, dass außer ihnen noch andere Lebewesen in dem Haus ihr Unwesen treiben …
Nachdem der Heyne-Verlag in seiner Hardcore-Reihe in letzter Zeit fast den gesamten Backcatalogue von Richard Laymon in deutschen Erstausgaben veröffentlicht hat, darf sich das deutsche Publikum darauf freuen, dass auch das umfangreiche Werk von Jack Ketchum nach und nach hier erhältlich sein wird.
Bislang sind mit „Evil“ (im Original 1989 erschienen), „Beutegier“ (1991), „Amokjagd“ (1994), „Wahnsinn“ (1995), „Blutrot“ (1995), „Beutezeit“ (1999) und „The Lost“ (2001) vor allem die Frühwerke des Autors veröffentlicht worden, erst mit „Beuterausch“ (2011) kam zeitnah auch ein aktuelles Werk von Dallas Mayr (so Ketchums bürgerlicher Name) auf den Markt. Dazwischen sind aber noch über zwanzig (teilweise mit Edward Lee und Richard Laymon verfasste) Bücher erschienen, die noch auf eine deutschsprachige Übersetzung warten.
Mit „Versteckt“ ist nun aber Ketchums erst zweites Buch aus dem Jahre 1984 veröffentlicht worden. Der Schützling von Altmeister Robert Bloch („Psycho“) demonstriert auf gerade mal knapp 230 Seiten aber schon eindrucksvoll seine Stärke, normale Menschen in psychischen wie physischen Ausnahmesituationen agieren zu lassen, wobei er mit klarer Sprache, pointierten Dialogen, expliziten Sex- und Gewalt-Szenen straffe Handlungszüge entwickelt, die keine Zeit zum Luftholen lassen. „Versteckt“ wird aus der Perspektive des sympathischen Dead-River-Einwohners Dan Thomas erzählt, und der geschliffene Roman bringt sehr gut die Einöde des kleinstädtischen Lebens ebenso gut zum Ausdruck wie die Faszination für die reichen Kids aus Boston, die leidenschaftlichen Gefühle, die er für Casey zu empfinden beginnt, aber auch die gefährlichen Züge, die ihrer Persönlichkeit zu eigen sind. Das eigentliche Versteck-Spiel folgt allerdings den konventionellen Genre-Konventionen und kann nicht ganz an die Klasse der ersten zwei Drittel der Geschichte anknüpfen. Aber spannend bleibt das Werk bis zum Schluss.
Abgerundet wird „Versteckt“ durch biografische Ergänzungen des Autors zur Entstehung der Geschichte und einer Werkbiografie, wie man sie bereits aus den letzten Richard-Laymon-Veröffentlichungen her kennt.
Leseprobe Jack Ketchum „Versteckt“

Don Winslow – „Zeit des Zorns“

Samstag, 20. Juli 2013

(Suhrkamp, 338 S., Pb.)
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, doch zusammen sind sie ein einzigartig gut funktionierendes Team: Chon heißt eigentlich John, und niemand weiß mehr, wann aus dem einen Namen der andere wurde. Wichtig ist nur, dass der aufbrausende, temperamentvolle Chon zusammen mit dem friedfertigen Ben das beste Hydro-Gras überhaupt anbaut und auf eine ausgesuchte Klientel bauen kann. Beide lieben O – Ophelia – abgöttisch, was auf absoluter Gegenseitigkeit beruht. Zwar wohnt O eigentlich noch bei ihrer Mutter, die sie nur Paku nennt – Passiv aggressive Königin des Universums -, doch die meiste Zeit hängt sie mit ihren Jungs ab und gibt deren Geld aus, weil sie außer shoppen und Sex keine nennenswerten Interessen verfolgt.
Das bequeme Leben in dem Vier-Millionen-Dollar-Bau auf einem Felsvorsprung oberhalb von Table Rock Beach ändert sich allerdings schlagartig, als das berüchtigte Baja-Kartell aus Mexico den Gras-Produzenten einen Deal anbietet, den man nicht ausschlagen sollte. Doch Ben, der sein Geld für Hilfsprojekte in aller Welt ausgibt, und Chon, der mit seiner SEAL-Ausbildung seine kämpferischen Instinkte schulen konnte, wollen lieber ihr Geschäft aufgeben und etwas Neues anfangen, wie beispielsweise in erneuerbare Energien zu investieren, als für das Kartell zu arbeiten. Doch ein Nein akzeptiert Elena Lauter Sanchez nicht, seit sie die Führung des Kartells übernommen hat. Sie lässt O entführen und bringt die Jungs in Zugzwang.
„Was sollen sie bloß machen?
Zum FBI gehen? Zur DEA?
Ben ist bereit, es zu tun, auch wenn es ihn zweifellos viele Jahre Gefängnis kosten würde, Hauptsache, es würde O retten. Aber das würde es nicht – es würde sie umbringen. Wenn die Bundesbehörden mit den Kartellen klarkämen, hätten sie längst dichtgemacht. Das fällt also aus.
Die Alternative ist …
Nada. 
Sie sind gearscht.
Das ist Bens Schuld und reicht lange zurück. Ben hat immer geglaubt, er könnte in beiden Welten leben. Mit einem Birkenstock in der amtlich kriminellen Halbwelt der Marihuana-Geschäfte stehen und mit dem anderen in der Welt von Recht und Ordnung. Jetzt weiß er, dass das nicht geht. Er steht mit beiden Füßen fest im Dschungel. Chon hat sich solchen Illusionen nie hingegeben. Chon hat immer gewusst, dass es zwei Welten gibt:
Eine bestialische
Eine weniger bestialische.“ (S. 154f.) 
Da Chon nicht im Traum daran denkt, klein beizugeben, und Ben weiß, dass er seinen Freund nicht von seinem Entschluss abbringen kann, schmieden sie einen Plan, um O freizukaufen – mit dem Geld des Baja-Kartells. Doch wie schnell sich die ersten geglückten Coups in ein Spiel mit dem Feuer verwandeln, müssen Ben, Chon und O bald am eigenen Leib erfahren …
Nach seinem mit dem Deutschen Krimipreis 2011 ausgezeichneten Meisterwerk „Tage der Toten“ bleibt der in Kalifornien lebende Autor Don Winslow in seinem folgenden Werk „Zeit des Zorns“ dem Drogenmilieu treu. Diesmal steht aber kein US-Drogenfahnder im Zentrum der Geschichte, sondern ein eingespieltes Team junger Gras-Anbauer, die auf einmal mit der harten und blutigen Realität des ganz großen Drogenmarktes konfrontiert werden. Dazu hat sich Winslow zu einem fast Stakkato-artigen Schreibstil entschieden, der in meist sehr kurzen Kapiteln die stechend scharfen Dialoge und rasanten Handlungen präsentiert. Dabei wachsen dem Leser die drei in die Klemme geratenen jungen Leute schnell ans Herz.  
Oliver Stone fand das harte Drogen-Thriller-Drama so faszinierend, dass er den Stoff unter dem Titel „Savages“ verfilmte. Doch seine zugegebenermaßen gelungene Adaption kann leider nicht die Leidenschaft und Aufopferungsbereitschaft transportieren, die Winslows „Zeit des Zorns“ zu einem so imponierenden wie kurzweiligen Spannungsroman macht.
Leseprobe Don Winslow - "Zeit des Zorns"

John Katzenbach – „Der Sumpf“

Montag, 15. Juli 2013

(Knaur, 717 S., Tb.)
Matt Cowart, Reporter beim Miami Journal, hat schon einige Leitartikel geschrieben, in denen er die Todesstrafe verurteilt. Dennoch staunt er nicht schlecht, als ihn eines Tages in der Redaktion ein Brief von Robert Earl Ferguson erreicht, der seit drei Jahren im Todestrakt des Staatsgefängnisses Starke in Florida sitzt. Wie er in dem Brief darlegt, hat er an einem Maitag 1987 seine Großmutter in Pachoula, Escambia County, besucht und wurde zu einer Vernehmung wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung ins Präsidium des Sheriffs gebracht, wo er nach eigenen Angaben sechsunddreißig Stunden ohne Essen und Trinken gefangen gehalten und mit einem Telefonbuch verprügelt wurde, bis er ein Geständnis ablegte. Dies zu widerrufen, sei ihm nicht gelungen. Trotz fehlender Beweise hätten ihn die durchweg weißen Geschworenen und der weiße Richter schließlich zum Tode verurteilt.
Ferguson beteuert seine Unschuld und bittet den Reporter um seine Hilfe. Als zusätzlichen Köder gibt Ferguson an, den wahren Täter zu kennen. Nachdem sich Cowart mit dem Fall vertraut gemacht hat, ist er neugierig geworden und kontaktiert erst Fergusons Anwalt, dann besucht er den Todeskandidaten im Gefängnis. Da der Prozess gegen Ferguson offensichtlich eine Farce gewesen ist, beschließt Cowart, mit den beteiligten Detectives Brown und Wilcox zu sprechen und den Fall neu aufzurollen.
„Seine Fahrt nach Pachoula hatte ihn beflügelt, hatte ihm eine Fülle von Antworten beschert, aber ebenso viele Fragen aufgeworfen, die ihm unter den Nägeln brannten. Von dem Moment an, als Tanny Brown wütend eingeräumt hatte, dass Ferguson von Wilcox geohrfeigt worden war, hatte er die Reportage halb fertig im Kopf. Dieses kleine Geständnis hatte ihm die Augen für ein ganzes Lügengespinst geöffnet. Auch wenn Matthew Cowart nicht wusste, was genau zwischen den beiden Detectives und ihrer Beute vorgefallen war, zweifelte er nicht, dass es genügend Fragen, genügend Ungereimtheiten gab, die seinen Artikel rechtfertigten und vermutlich auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens reichten. Jetzt richtete sich sein ganzer Reporterinstinkt auf das zweite Element. Wenn Ferguson das kleine Mädchen nicht umgebracht hatte, wer dann?“ (S. 142f.) 
Ferguson bringt mit dem ebenfalls zum Tode verurteilten, sehr geständigen psychopathischen Serienkiller Blair Sullivan einen Mann ins Spiel, der Cowart tatsächlich einen Beweis liefert, nämlich den Aufenthalt des Messers, mit dem das Mädchen getötet worden ist, doch nach wie vor sind viele der am Prozess Beteiligten der Meinung, Ferguson sei nach wie vor der Täter …
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat „Der Sumpf“ bereits 1992 geschrieben, ein Jahr später wurde das Werk auch auf Deutsch veröffentlicht und schließlich in Hollywood mit Sean Connery unter dem Titel „Just Cause – Im Sumpf des Verbrechens“ verfilmt. Mittlerweile ist Katzenbach mit Romanen wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Das Opfer“ auch hierzulande zu einem renommierten Bestseller-Garanten avanciert, was es legitim erscheinen lässt, das vorliegende Frühwerk in neuer Übersetzung wiederzuveröffentlichen. Tatsächlich zählt „Der Sumpf“ zu Katzenbachs besten Werken. Noch intensiver, als es beispielsweise John Grisham vermag, gelingt es dem Autor, nicht nur einen packenden Fall um die Fragen nach Schuld, Gerechtigkeit und Todesstrafe zu konstruieren, er lässt auch dabei den Leser wie den recherchierenden Reporter stets im Ungewissen, wie sich das Verbrechen tatsächlich abgespielt haben mag. Dieses Szenario wird durch die Etablierung gleich zweier außergewöhnlicher Todeskandidaten effektvoll auf die Spitze getrieben.
Aber ebenso wie die wendungsreich inszenierte Suche nach der Wahrheit fasziniert „Der Sumpf“ durch die sorgfältige Charakterisierung aller wichtigen Figuren, angefangen von dem getrennt lebenden Reporter, der nicht nur den Verlust von Frau und Tochter zu verschmerzen hat, sondern auch kaum Freunde hat und sein Lebenselixier aus seinem Beruf zieht.
Darüber hinaus präsentiert der Thriller die faszinierende Abhängigkeit zwischen Medien und Strafverfolgungsbehörden. Der Zwiespalt, den beide Parteien bei der Erreichung ihrer jeweiligen Ziele empfinden, wenn es um eine Zusammenarbeit geht, wird in „Der Sumpf“ eindrucksvoll thematisiert.
Fazit: Wann immer der Leser ein Gespür dafür zu bekommen scheint, wer tatsächlich für den Mord an dem Mädchen verantwortlich gewesen ist, sorgen neue Entwicklungen und Entdeckungen wieder für neue Unsicherheiten – bis zum packenden Finale.
 Leseprobe: John Katzenbach – „Der Sumpf“

Adam Davies – „Dein oder mein“

Freitag, 12. Juli 2013

(Diogenes, 366 S., HC)
Otto Starks ist ein recht unscheinbarer, aber hochspezialisierter Sicherheitsbeauftragter, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, Kunstdiebe davon abzuhalten, die kostbaren Objekte ihrer Begierde an sich zu nehmen. Bei der Ausübung seiner Tätigkeit kommt ihm ein nahezu übernatürliches Wahrnehmungsvermögen ebenso zugute wie seine jahrelang erfolgreich praktizierte Immunisierung gegen jedwede Art von Nervengiften. Allerdings läuft es in letzter Zeit überhaupt nicht gut für den Guardian bei Janus Security. Die sogenannte „Ratte“ hat es in den vergangenen neun Monaten gleich dreimal geschafft, ein zu bewachendes Kunstwerk aus Ottos Obhut zu stibitzen, was dem jungen Mann zwei Abmahnungen in den letzten acht Wochen eingebracht hat.
Während dieser schwierigen Zeit will Otto seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Kunsthistorikern Charlie Izzo, die Frage aller Fragen stellen und ihr beichten, dass er kein Talentsucher für die New York Mets ist. Doch gerade als er sein Geständnis vor der K’plua-Maske einübt, schlägt die „Ratte“ erneut zu. Am Ende seiner Karriere angelangt sieht Otto nur noch eine Möglichkeit, seinen Chef von seinen Fähigkeiten zu überzeugen, nämlich bei der einwöchigen Bewachung eines Kunstwerks für den Japaner Nakamura. Mittlerweile hat Detective Cheryl Nunes die Ermittlungen im „Ratte“-Fall übernommen und fühlt Otto mächtig auf die Zehen. Wenn er auch nicht selbst der raffinierte Kunsträuber ist, so hegt Nunes doch den starken Verdacht, dass Otto durchaus der Komplize der „Ratte“ sein könnte. Und als wären das nicht noch genügend Probleme, schuldet Otto dem Gauner Deke noch eine ganze Stange Geld, um sein Boot „Auf und davon“ abzubezahlen.
„Ich wünschte, ich hätte Freunde, zu denen ich fliehen könnte. Ich wünschte, ich hätte eine Familie. Ich wünschte, ich könnte den K’plua anrufen und um Rat bitten. Er wüsste, was zu tun ist. Wenn ich ein Amischer wäre, könnte ich mit einer Pferdekutsche in ein abgelegenes Dorf fahren, wo man mich vor fiesen Räubern und Gendarmen verstecken würde. Vielleicht sogar vor meiner eigenen Vergangenheit. Genau das bräuchte ich jetzt. Ein völlig neues Leben. Ein Auslöschen meines gesamten Erinnerungsschatzes. Zuerst nehme ich das nicht ernst. Zuerst albere ich nur mit der Vorstellung herum, während ich mir die zahlreichen Arten von Unheil ausmale, die mich erwarten, doch dann …“ (S. 258) 
Otto Starks entwickelt tatsächlich eine Art von Plan, all seine Probleme in den Griff zu bekommen, doch stößt er sehr schnell auf einen nicht unerheblichen Gewissenskonflikt …
Der 1971 geborene amerikanische Schriftsteller Adam Davies hat mit „Dein oder mein“ ein äußerst unterhaltsames Gaunerstück abgeliefert, das wie eine Mischung aus Soderberghs „Ocean’s“-Trilogie und einer sehr komplizierten Love-Story wirkt. Bei allen kuriosen Wendungen und Entwicklungen bildet der durchweg sympathisch gezeichnete Ich-Erzähler Otto Starks den Dreh- und Angelpunkt der aberwitzigen Geschichte, die mit vielen amüsanten Fußnoten gespickt ist und herrlich witzig geschrieben ist. Das ist filmreife Unterhaltung, wie sie kurzweiliger nicht sein könnte.