Michael Chabon – „Telegraph Avenue“

Sonntag, 1. Mai 2016

(Rowohlt, 670 S., Tb.)
Anno 2004 leben der ehemalige Elektriker und Golfkriegsveteran Archy Stallings und der weiße Jude Nat Jaffe in ihrer eigenen Welt namens Brokeland Records. Dabei handelt es sich um einen Second-Hand-Jazzplattenladen in titelgebender Telegraph Avenue in Oakland, eingebettet zwischen einem Donut-Laden und dem „King of Bling“. So unterschiedlich die beiden Freunde auch sind, so leben sie doch für den Jazz und freuen sich, dass der Musiker Cochise Jones zu ihren besten Kunden zählt. Ungemach naht allerdings in Gestalt des ehemaligen Football-Stars Gibson Goode, der als fünftreichster Schwarzer Amerikas einen Megastore seiner Kette "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen will, wobei er auch den Stadtrat und Brokeland-Stammkunden Chandler Flowers auf seine Seite ziehen kann.
Noch machen den beiden Freunden die um sich greifende Digitalisierung und der Online-Handel mit Musik keine allzu großen Sorgen, doch da Dogpile auch Platten in seinem Sortiment haben wird, sehen sich Archy und Nat vor in ihrer Existenzgrundlage bedroht.
Davon abgesehen müssen sich ihre Frauen, Gwen und Aviva, die als Hebammen zusammen arbeiten, mit einer Klage auseinandersetzen, nachdem es bei einer ihrer präferierten Hausgeburten zu Komplikationen gekommen ist und der zuständige Arzt im Krankenhaus die Meinung vertreten hat, die Hebammen würden Voodoo praktizieren. Als wären das nicht schon genug Probleme, findet die hochschwangere Gwen heraus, das Archy sie betrügt, und setzt ihn kurzerhand vor die Tür, während Archys Vater Luther versucht, nach zwei erfolgreichen „Stratter“-Filmen Geld für einen weiteren Film der Reihe aufzutreiben, die ihn einst zu einem Blaxploitation-Action-Helden gemacht hatte.
 Und schließlich finden Nats Sohn Julius, der aufgrund seiner weiblichen Ausstrahlung Julie genannt wird, und Archys verlorener Sohn Titus zueinander. Archy bekommt von Gibson „G Bad“ Goode das Angebot, ein Jobangebot bei Dogpile, damit er seine junge Familie auch weiterhin ernähren kann.
„Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dicht machten und unzählige Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich nur des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Ghetto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“ (S. 333) 
Vordergründig thematisiert der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Michael Chabon exemplarisch an einem altehrwürdigen, Traditionen bewahrenden Second-Hand-Plattenladen den Untergang eines ganzen Industriezweigs, wie ihn kürzlich auch Schauspieler und Regisseur Colin Hanks in seinem Film „All Things Must Pass – The Rise and Fall of Tower Records“ dokumentierte. Aber vielmehr als zum Beispiel Nick Hornbys „High Fidelity“ präsentiert Michael Chabon auch eine Musikgeschichte des Jazz, wie sie vor allem in der bewegenden Trauerrede von Archy Stallings zum Ausdruck kommt.
Darin kommt gleichsam ein anderer Schwerpunkt in dem Roman zum Tragen, nämlich die Vermischung der Kulturen. Was der verstorbene Jazz-Musiker Cochise Jones zu seinen Lebzeiten als „kalifornisches Kreol“ bezeichnete, nämlich die Symbiose aus Afrika und Europa, Chopin, Kirchenmusik, Irish Folk, Polyrhythmik, das Gefühl vom Bayou, macht auch „Telegraph Avenue“ aus. Es zeichnet nicht nur vielschichtige Charaktere unterschiedlicher Jahrgänge, Hautfarben, Bildungsschichten und Kulturen, sondern ein soziokulturelles Gesamtbild Amerikas jener gar nicht so lang verjährter Tage, in denen jeder mit seinen eigenen gewichtigen Problemen zu kämpfen hat, in denen es um das Bewahren familiärer Werte und kultureller Errungenschaften geht.
Das ist wie beim großen Fabulierer Chabon gewohnt wort- und bildgewaltig beschrieben, anekdotenreich und mit allerlei Zitaten gespickt filmreif präsentiert, wenn auch gelegentlich etwas zu ausufernd manieristisch übertrieben, wie das aus nur einem, 18 Seiten (!) umfassenden Satz bestehende Kapitel „Ein Vogel von großer Erfahrung“.
Auch von einigen anderen Längen im Mittelteil abgesehen bietet „Telegraph Avenue“ ein intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen, in der die Jazz-Musikgeschichte fast akribisch und von rezensierender Intensität den Mittelpunkt einer komplexen Sozialgeschichte bildet.
Leseprobe Michael Chabon - "Telegraph Avenue"

Heinz Strunk – „Der goldene Handschuh“

Samstag, 23. April 2016

(Rowohlt, 256 S., HC)
Um drei Uhr morgens trifft man im Februar 1974 in der St.-Pauli-Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ allerlei verwahrloste Gestalten, die ihre wenig erbaulichen Spitznamen - Leiche (dessen Körer sich im unaufhörlichen Verfall zu befinden scheint und dreizehn Jahre wegen „heimtückischen“ Mordes gesessen hat), der Schiefe, Soldaten-Norbert oder Fanta-Rolf – wie Adelstitel vor sich hertragen. Herbert Nürnberg hat das Lokal 1962 eröffnet und 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag geöffnet.
Hier treibt sich auch Fritz „Fiete“ Honka herum, der als Kind von seinem Vater halbtot geschlagen wurde, in Kinderheimen aufgewachsen ist und seit einem Fahrradunfall im Gesicht entstellt ist. Da er zu schlecht in der Schule war, konnte er seinen Traum, Autoschlosser zu werden, nicht realisieren. Seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und ertrinkt seine Wut in Alkohol und lässt sie an den heruntergekommenen Frauen aus, die er in der Kneipe an der Reeperbahn kennenlernt und schließlich versklavt, umbringt und zerstückelt teilweise auf dem Dachboden in Mülltüten entsorgt. Den entsetzlichen Gestank, auf den er von seinen gelegentlichen Besuchern angesprochen wird, schiebt er auf die Griechen, die den ganzen Tag kochen.
Als er überraschenderweise einen Job als Nachtwächter bei Shell bekommt, hofft Honka auf eine Wende zum Normalen in seinem Leben, mit regelmäßigem Einkommen und einer hübschen Frau an seiner Seite, wahlweise die attraktive Putzfrau Helga, deren Ehemann Erich aber noch im Wege steht.
„Fiete kann sich das nicht länger tatenlos anschauen, es geht längst nicht mehr um ihn, er muss Helga da rausholen, aus eigener Kraft wird sie es nie schaffen. Wenn er, Fiete, nicht sehr bald was unternimmt, ist sie auf immer und ewig mit dem nutzlosen Krüppel zusammengepfercht, lebendig begraben im Tonndorf’schen Mausoleum, unfähig, den Sargdeckel zu heben.“ (S. 162) 
Seit der Hamburger Heinz Strunk im Jahr 2004 mit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ seine von Akne, Wichsfantasien und Schützenfesten geprägte Jugendzeit in Winsen/Luhe verarbeitet hat, zählt der sonst mit Studio Braun auf den Theaterbühnen aktive Strunk zu den festen Größen in Deutschlands Comedy-Szene. Sein neues Buch „Der goldene Handschuh“ ist zwar erstmals frei von autobiografischen Zügen, ist aber auch in seiner Hamburger Heimat angesiedelt und trotz der tragischen Geschichte voller Strunk-Humor.
Der Autor bekam im Hamburger Staatsarchiv Zugang zu bislang verschlossenen Akten zum Fall Honka, dessen Morde an vier Frauen erst entdeckt worden sind, als die Feuerwahr im Juli 1975 nach dem Löschen eines Brands in Hamburg-Ottensen auf mumifizierte Leichenteile in der Wohnung des 39-jährigen Mieters Fritz Honka gestoßen war.
„Der goldene Handschuh“ liest sich allerdings nicht wie ein reißerischer Thriller, der auf effektvolle Weise die bestialischen Morde und die Jagd auf einen gerissenen Täter schildert. Da sich Honka nur Frauen als Opfer wählte, die sich am Rande der Gesellschaft bewegt haben, sich für Alkohol und Unterkunft prostituierten und von niemandem vermisst worden sind, konnte er sich wie die meisten Kunden im „Goldenen Handschuh“ unbemerkt seinem Treiben widmen.
Strunk verlegt seinen Roman eher auf die ganz persönliche Geschichte eines Mannes, der unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und dem später im Gerichtsprozess eine schwere „seelische Abnormität“ attestiert wird.
„Der goldene Handschuh“ ist vor allem eine treffende Milieustudie, die sich überhaupt nicht abwertend über die Figuren am Randbereich der Gesellschaft äußert. Indem Strunk auch einen Abkömmling einer wohlhabenden Reederei-Familie in der verrufenen Kneipe verkehren lässt, macht er deutlich, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Anerkennung und Wut, Tugendhaftigkeit und Verkommenheit ist. Dabei bedient sich Strunk einer entwaffnend offenen Sprache, die zugleich brüllendkomische und tieftraurige Momente heraufbeschwört.
Leseprobe Heinz Strunk - "Der goldene Handschuh"

Stewart O’Nan – „Westlich des Sunset“

Dienstag, 19. April 2016

(Rowohlt, 416 S., HC)
Nachdem sein früherer literarischer Ruhm längst verblasst ist, kämpft der amerikanische 41-jährige Schriftsteller F. Scott Fitzgerald im Jahr 1937 nicht nur gegen seine Alkoholsucht, sondern auch gegen den finanziellen Ruin. Seine Frau Zelda, die an einer offensichtlich unheilbaren bipolaren Störung leidet, musste er kürzlich aus der Einrichtung in Pratt in das Highland Hospital bringen lassen, das er sich eigentlich ebenso wenig leisten kann wie das Schulgeld seiner Tochter Scottie. Fitzgerald zieht in die Villenanlage Garden of Allah, wo er sich im Kreis von Hollywood-Stars wie Humphrey Bogart, Valentino, Joan Crawford und Gloria Swanson bewegt und darauf hofft, bei Metro Goldwyn Meyer als Drehbuchautor so viel zu verdienen, dass er sich in Ruhe seinem nächsten Roman widmen kann.
Er arbeitet an Filmen wie „Three Comrades“ und „A Yank In America“, doch nur selten werden die Projekte, in denen Fitzgerald involviert ist, auch verwirklicht, eine Namensnennung im Vorspann gelingt ihm nur einmal. Weitaus öfter muss sich der verdiente Autor damit herumplagen, dass seine Entwürfe von anderen Autoren wieder zerpflückt werden und er selbst irgendwann gefeuert wird. Als Fitzgerald sich in die äußerst quirlige Klatschreporterin Sheilah Graham verliebt, keimt wieder Hoffnung in seinem komplizierten, von Misserfolgen und Alkoholsucht gezeichneten Leben auf.
„Er hatte mal ein Talent zum Glücklichsein gehabt, aber damals war er noch jung und erfolgreich gewesen. Doch war er jetzt nicht wieder erfolgreich? Wenn er so mit ihr zusammen war, konnte er die Vergangenheit vergessen. Das konnte niemand anders bei ihm erreichen, und doch befürchtete er, sie letztlich zu enttäuschen.“ (S. 236) 
Francis Scott Fitzgerald zählt mit Romanen wie „Der große Gatsby“ (1925) und „Zärtlich ist die Nacht“ (1934) neben Kollegen wie Ernest Hemingway und William Faulkner zu den Hauptvertretern der Prosa der amerikanischen Moderne und hat in seinen Werken viel Autobiographisches verarbeitet und viele seiner Figuren sich selbst, seiner Frau Zelda und seinen Freunden nachgebildet. In Stewart O’Nans („Emily, allein“, „Die Chance“) neuen Roman „Westlich des Sunset“ wird Fitzgerald selbst zu einem biographischen Objekt, wobei der Roman nur die letzten drei Jahre des Schriftstellers abdeckt. Dabei gelingt O’Nan nicht nur ein eindringliches Portrait des gequälten Mannes, der in Hollywood verzweifelt versucht, so viele Aufträge an Land ziehen zu können, dass er seine Rechnungen bezahlen kann, sondern zeichnet damit gleichermaßen ein Bild des verlogenen und kurzlebigen Hollywood-Spektakels, das sich Tag für Tag hinter den Kulissen der Studios ereignet und alle Beteiligten immer wieder zur Verzweiflung bringt.
O’Nan selbst bildet sich dabei kein Urteil, sondern bleibt immer bei seiner Figur, über die er auch nie richtet. Stattdessen zeichnet er Fitzgerald als Künstler, der ums nackte Überleben und seine künstlerische Integrität kämpft, der nicht mehr mit seiner psychisch gestörten Frau zusammen sein, aber ebenso wenig seine Liebe zu Sheilah öffentlich machen kann.
So stellt „Westlich des Sunset“ sowohl eine spannende Künstler-Biographie als auch ein vielschichtiges Hollywood-Portrait dar, das O’Nan auf gewohnt farbenprächtige, bildreiche Weise zu beschreiben versteht.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Westlich des Sunset"

John Irving – „Straße der Wunder“

Sonntag, 10. April 2016

(Diogenes, 776 S., HC)
Juan Diego hat zwei gänzlich voneinander getrennte und völlig unterschiedliche Leben geführt, wie er sagt - eines als Müllkippenkind in Mexiko, das andere nach seinem Umzug nach Iowa in der amerikanischen Erfahrungswelt. Man könnte auch sagen, ein Leben sei real gewesen, das andere erfunden, eines in der Erinnerung, das andere in seinen Träumen …
Juan wächst mit seiner unverständlich sprechenden Schwester Lupe auf einer Mülldeponie im mexikanischen Oaxaca auf. Die als Prostituierte arbeitende Mutter hat die beiden Kinder früh im Stich gelassen und sie in die Obhut des von jesuitischen Priestern und Nonnen geführten Waisenhauses gegeben. Sie sind eine von nur zehn Familien, die in der Siedlung Guerrero leben und auf der Deponie das Sammeln und Sortieren von Glas, Aluminium und Kupfer übernehmen. Da Juan sich aber auch das Lesen selbst beigebracht hat, wird er von den beiden alten Jesuitenpriestern Alfonso und Octavio auch der „Müllkippenleser“ genannt, und Bruder Pepe fühlt sich als Lehrer an der Jesuitenschule dafür zuständig, Juan mit geeignetem Lesestoff zu versorgen.
Aber auch seine Schwester Lupe ist mit einer besonderen Gabe gesegnet. Sie kann in den Gedanken anderer Menschen lesen und – etwas weniger zuverlässig – die Zukunft vorhersagen. Ihr gemeinsames Leben nimmt eine schicksalhafte Wende, als sie eine Anstellung im Zirkus Circo las Maravillas finden, Juan, der seit einem Unfall im Alter von vierzehn Jahren hinkt, als Hochseilartist und Lupe als Wahrsagerin.

Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.

„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484) 

Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.

Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?

Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde.  Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.


Benedict Wells – „Spinner“

Freitag, 1. April 2016

(Diogenes, 309 S., HC)
Mit seinen zwanzig Jahren fühlt sich Jesper Lier nicht wirklich wohl in seiner Haut. Als er von München nach Berlin gezogen ist, hatte er erst zweihundert Seiten seines ambitionierten Romans „Der Leidensgenosse“ geschrieben, im vergangenen Jahr ist das Werk unter dem Einfluss von Schwindelanfällen, Alkohol und jeder Menge Schlaftabletten zu einem Monstrum von über tausend Seiten mutiert. Er verdient kein Geld, bekommt bei Frauen nichts geregelt und verlässt seine abgeranzte Wohnung am Prenzlauer Berg mit der Dusche, die exakt anderthalb Minuten lang warmes Wasser von sich gibt, nur für sein Praktikum beim „Berliner Boten“ und um sich etwas zu essen zu kaufen.
Auf dem Weg zur Uni, wo er sich regelmäßig pro forma immatrikuliert, um weiterhin Kindergeld beziehen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, trifft er die Philosophiestudentin Miriam Schmidt und verliebt sich in sie. Während er auf der einen Seite versucht, ihr seine Liebe zu gestehen, bemühen sich seine Freunde Gustav und Frank massiv darum, Jesper die Bundeshauptstadt schmackhaft zu machen. Inmitten von beruflicher Desorientierung, Versagensängsten als Schriftsteller und unglücklicher Verliebtheit bekommt es Jesper auch noch mit zwei russischen Ganoven zu tun, die aus seinem eigenen Roman entsprungen zu sein scheinen und ihm das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist …
„Wie einfach war alles mal gewesen, und was hatte ich nur daraus gemacht. Ich kam nicht mehr raus aus diesem Alptraum. Schon seit Jahren kam ich nicht mehr raus. Ich wollte dieses Leben hier doch gar nicht, ich wollte, dass alles wieder so fehlerlos und neu war wie früher.“ (S. 236) 
Seit seinem erfolgreich bei Diogenes im Jahre 2008 veröffentlichten und im vergangenen Jahr mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmten Debütroman „Becks letzter Sommer“ zählt der 1984 in München geborene Schriftsteller Benedict Wells zu den interessanten jungen Autoren hierzulande, so dass der Züricher Verlag Wells‘ eigentliches Debüt, „Spinner“, 2009 nachfolgen ließ.
Der Romantitel ist dabei sympathisches Programm. Mit dem Ich-Erzähler Jesper Lier hat Wells mit heftigem Augenzwinkern ein gleichaltriges Alter Ego geschaffen, das etwas überfordert scheint, sein neues Leben in einer anderen Großstadt auf die Reihe zu kriegen, worunter nicht nur die Arbeit an seinem großen Roman zählt, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen jeglicher Art und die zu Frauen im ganz Besonderen.
Herausgekommen ist eine luftig-leicht geschriebene Großstadt-Odyssee, in der die Angst vor dem Scheitern auf verschiedenen Ebenen den jungerwachsenen Lebensmut zu erdrücken droht und den Protagonisten aber nur von einer misslichen Lage in die nächsten katapultiert. Wells beschreibt diese durchaus verständlichen Ängste meist mit einem so erfrischenden und warmherzigen Humor, dass der Leser stets mit Jesper mitfühlt, leidet und hofft. Allerdings fällt der Ton manchmal auch etwas zu lakonisch und salopp aus, was zu dem ambitionierten Schriftsteller Jesper so gar nicht passt.
Leseprobe Benedict Wells - "Spinner"

John Grisham – „Der Gerechte“

Dienstag, 29. März 2016

(Heyne, 415 S., HC)
Sebastian Rudd ist ein unabhängiger Strafverteidiger, der weder über eine herkömmliche Kanzlei noch über einen Telefonbucheintrag verfügt. Stattdessen stellt ein umgebauter und zweckmäßig möblierter Van das fahrende Büro des prominenten Mannes dar, mit dem er und sein bulliger Chauffeur Partner von einem Gerichtsort zum nächsten fährt. Rudd trägt legal eine Waffe, weil er immer wieder von Leuten bedroht wird, die nicht billigen, welchen Abschaum er verteidigt. Momentan sitzt Rudd in dem Provinzkaff Milo fest, wo er die Pflichtverteidigung von Gardy Baker übernommen hat, einem achtzehnjährigen Schulversager, der angeklagt worden ist, zwei kleine Mädchen umgebracht zu haben.
Rudd ist sich durchaus im Klaren darüber, dass die meisten seiner Mandanten schuldig sind, doch in diesem Fall ist er sich sicher, dass Gardy praktisch schon am Tag seiner Verhaftung verurteilt wurde und die Polizei alle Anklagepunkte erfunden und Beweismittel gefälscht hat. Der Anwalt macht allerdings bald den richtigen Täter ausfindig und benutzt den Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Tadeo Zapate, an dessen Karriere Rudd mit fünfundzwanzig Prozent beteiligt ist, dazu, DNA-Spuren des eigentlichen Mörders zu besorgen. Doch der Staatsanwalt Huver glaubt nach wie vor an seinen Fall …
„Wie so oft geht es bei diesem Prozess nicht um die Wahrheit, sondern ums Gewinnen. Und da Huver gewinnen will, ohne Beweise in der Hand zu haben, muss er lügen und betrügen, als wäre die Wahrheit sein schlimmster Feind. Ich habe sechs Zeugen, die unter Eid aussagen, dass mein Mandant zur Tatzeit weit vom Tatort entfernt war, doch keiner davon wird ernst genommen. Huver hat fast zwei Dutzend Zeugen antreten lassen, die bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter als Lügner bekannt sind. Dennoch saugen die Geschworenen ihre Lügen auf, als wäre es die Heilige Schrift.“ (S. 75) 
Außerdem hat Rudd den Kriminellen Link Scanlon verteidigt, der wegen des Mordes an einem Richter vor sechs Jahren einstimmig zum Tode verurteilt wurde. Scanlons ursprünglicher Verteidiger wurde kurz nach Scanlons Verlegung in die Todeszelle erhängt vorgefunden. Seitdem führt Scanlon seine Geschäfte aus dem Gefängnis weiter. Kurz vor der Vollstreckung des Urteils gelingt Scanlon aber eine spektakuläre Flucht.
Und schließlich hat es Rudd mit dem abgebrühten Arch Sanger zu tun, der beschuldigt wird, vor neun Monaten eine junge Frau namens Jiliana Kemp entführt zu haben. Daneben trifft er sich jeden dritten Freitag im Monat mit seiner 39-jährigen Ex-Frau Judith Whitly, die kurz vor der Trennung von Rudd schwanger wurde und mittlerweile mit Frauen verkehrt. Um ihren gemeinsamen Sohn Starcher, für den Judith das alleinige Sorgerecht besitzt, streiten sich die beiden regelmäßig. Die Lage spitzt sich zu, als Starcher in einem von Rudds Fällen als Druckmittel eingesetzt wird …
Im Klappentext zu seinem neuen Roman macht John Grisham seine Leser mit dem Umstand vertraut, dass er selbst zehn Jahre lang als unabhängiger Anwalt tätig gewesen ist, sich aber nur mit so langweiligen Angelegenheiten wie Testamenten und notariellen Urkunden befassen musste. Wie die bemerkenswertesten Helden seiner Bestseller-Romane hätte Grisham gern jemanden verteidigt, der ein Kapitalverbrechen begangen hat.
Sebastian Rudd, der Ich-Erzähler in „Der Gerechte“, stellt insofern das Möchte-gern-Alter-Ego von John Grisham dar, doch ein wirklicher Sympathieträger ist Rudd nun auch nicht. Seine ätzenden Kommentare auf voreingenommene Jurys, korrupte Polizisten und erfolgshungrige Staatsanwälte wirken diesmal dermaßen überzogen und moralinsauer, dass die zu verhandelnden Fälle in „Der Gerechte“ fast zur Nebensache werden.
Zwar sind einige von ihnen durchaus interessant, aber echte Spannung stellt sich nie ein. Dazu lässt auch die persönliche Komponente – hier vor allem in dem wenig überzeugenden Erziehungsstreit thematisiert – an emotionaler Tiefe zu wünschen übrig. Rudd ist ein durch und durch zynischer Vertreter seiner Zunft, der selbst mit harten Bandagen kämpft, sobald die Gegenseite damit angefangen hat, bleibt aber seinen Prinzipien treu. Das ist zwar durchaus unterhaltsam, aber durch die stete Übertreibung verlieren die Geschichten an Spannung.
Leseprobe John Grisham "Der Gerechte"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 2) „Schwarzes Eis“

Sonntag, 27. März 2016

(Knaur, 364 S., eBook)
Harry Bosch schiebt gerade Bereitschaftsdienst an Weihnachten und bereitet sich bei Coltranes „Song of the Underground Railroad“ sein Weihnachtsmenü zu, als der Polizeiscanner nach einem Deputy Chief in einem Motel in Hollywood verlangte. Kaum hat sich Bosch gefragt, warum man ihn als Bereitschaftsdetective von Hollywood nicht als erstes benachrichtigt hat, macht er sich schon auf den Weg. Offensichtlich hat sich Boschs Kollege Calexico Moore mit einer doppelläufigen Schrotflinte den Kopf weggeschossen, der Fall wurde an das Raub-Mord-Dezernat abgegeben. In seiner rechten Hosentasche finden die Ermittler einen Zettel, auf der nur eine Zeile geschrieben steht: „Ich fand heraus, wer ich war“.
Moore leitete die Einheit, die im Bezirk den Straßenhandel mit Drogen bekämpfte, war von seiner Frau getrennt und in das Visier des Dezernats für interne Ermittlungen geraten. Bosch hatte sich vor einigen Wochen mit Moore getroffen, um Hintergrundinformationen zu einem ermordeten Drogenkurier zu bekommen, der mit einer Superdroge zu tun hatte, die als Schwarzes Eis bezeichnet wird und eine Mixtur aus Kokain, Heroin und PCP darstellt.
Statt sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, bekommt Bosch von seinem Chief Pounds den Auftrag, einige Fälle des ausgebrannten Kollegen Lou Porter zu übernehmen und vor Jahresende einige davon zum Abschluss zu bringen, um die Statistik zu verbessern. Als er sich Porters jüngste Fälle ansieht, stößt er auf ein unbekanntes Opfer, das in den Akten als Juan Doe #67 geführt wird. Der ungefähr 55-jährige Lateinamerikaner wies eine Tätowierung auf und wurde von Moore hinter einem Restaurant gefunden, einen Tag, bevor er sich in einem Motel das Gesicht zerfetzte. Doch Bosch glaubt nicht an die Selbstmordtheorie macht sich auf nach Mexiko, um den Verbindungen zwischen Juan Doe, Moore und dem Drogenbaron Humberto Zorillo nachzugehen.
„Vor zwei Nächten hatte Bosch in einem heruntergekommenen Hotelzimmer gestanden und aus dem, was er gesehen hatte, auf Selbstmord eines Polizisten geschlossen. Es war ein Irrtum gewesen. Er ließ die Fakten zusammen mit den neuen Informationen Revue passieren und wusste, er hatte es mit der Ermordung eines Cops zu tun, die mit den anderen Morden zusammenhing. Wenn Mexicali die Nabe des Rads war, dann war Moore der Bolzen, der das Rad festhielt.“ (Pos. 2271) 
Auch in seinem zweiten Fall erweist sich Harry Bosch als unbequemer Detective, der sich immer wieder querstellt, wenn sich seine Vorgesetzten als sture Bürokraten erweisen, denen es nicht um Gerechtigkeit, sondern gute Aufklärungsquoten geht. Auch wenn Bosch in den eigenen Reihen wenig Freunde hat, findet er bei seinen Ermittlungen immer wieder Verbündete, diesmal vor allem in Mexico, wo es zum Ende hin zu einem furiosen Showdown mit halbwegs überraschendem Ende kommt.
Schon mit seinem zweiten Bosch-Roman „Schwarzes Eis“ hat Michael Connelly 1993 einen sympathischen Antihelden geschaffen, der mit seiner geradlinigen und ehrlichen Art aber auch einen Schlag bei den Frauen hat und so ein wenig Abwechslung vom rauen Polizeialltag genießen kann.
Leseprobe Michael Connelly - "Schwarzes Eis"

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 1) „Wilder Winter“

Mittwoch, 23. März 2016

(Shayol, 190 S., Pb.)
An einem Nachmittag, als Hap Collins und sein bester Kumpel Leonard Pine mit einer zwölfkalibrigen Flinte auf Tontauben schießen, taucht unvermittelt Haps Ex-Frau Trudy auf. Nachdem die beiden ihr Wiedersehen im Schlafzimmer ausgiebig zelebriert haben, rückt Trudy mit ihrem eigentlichen Anliegen heraus: Ihr Ex-Mann Howard, der sich in der Antiatombewegung engagierte, wurde zu zwei Jahren in Leavenworth verurteilt, wo er den Gangster Softboy McCall kennenlernte. Softboy hatte an dem Tag seiner Festnahme eine osttexanische Bank ausgeraubt, doch auf der Flucht wurde das Auto in den Bottoms versenkt.
Das Geld konnte in ein Boot umgeladen werden, doch wurde dieses von einem Baumstamm gerammt, Softboy rettete sich ans Ufer und halluzinierte drei Tage lang bei hohem Fieber vor sich hin. Nun soll Hap als Bottoms-Kenner mit dabei helfen, das Geld zu bergen, als Belohnung winken zweihunderttausend Dollar.
Hap lässt sich auf den Deal ein, aber nur mit Leonards Beteiligung. Doch kaum bringt Trudy die beiden Freunde mit Howard und seiner Truppe zusammen, braut sich echter Ärger zusammen, wie es Leonard seinem Freund im Vorfeld prophezeit hatte und nun auch Howards Kumpel Paco feststellen muss.
„Ich vermute mal, sie ist nicht der Typ für längere Geschichten. Sie sammelt gern Zweige und Zunder fürs Feuer, sie entfacht es auch gern, aber sie will nicht dabei sein, wenn es richtig heiß wird und kräftig raucht. Bis dahin ist sie längst über alle Berge und sammelt neue Zweige, entzündet neue Feuer und läuft schon wieder fort, bevor es richtig losgeht.“ (S. 69) 
Mit „Wilder Winter“ hat der texanische Autor Joe R. Lansdale 1990 den Auftakt für seine bis heute sehr populäre Buddy-Reihe um den weißen, heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap Collins und den schwarzen, schwulen Vietnamveteranen Leonard Pine abgeliefert. Dabei gelingt ihm eine Mischung aus atmosphärisch stimmigen Südstaaten-Roman und packender Gauner-Story, wobei der besondere Dialogwitz zum Markenzeichen der Hap-&-Leonard-Reihe geworden ist.
Wie sich die beiden Gelegenheitsarbeiter, die sich auf den texanischen Rosenfeldern durchschlagen, über ihre sexuellen Beziehungen, Rassismus und mehr oder weniger sinnvolle Entscheidungen in ihrem Leben streiten, ist einfach wunderbar zu lesen und macht Lust auf die Fortsetzungen, die zunächst bei Rowohlt und nun teilweise im Dumont- und im Golkonda-Verlag erschienen sind.

Fabio Volo – „Einfach losfahren“

Dienstag, 22. März 2016

(Diogenes, 286 S., Tb.)
Der fünfunddreißigjährige Michele lebt mit seiner Frau Francesca in einer italienischen Kleinstadt und wartet im Krankenhaus auf die Geburt seiner Tochter. Die Wartezeit nutzt er dazu, niederzuschreiben, wie er zu dem Mensch geworden ist, der jetzt neben dem Kreißsaal auf das neue Leben wartet, das ihm seine Frau schenkt. Bevor er Francesca kennenlernte, arbeitete Michele als Journalist in der Redaktion einer Wochenzeitschrift. Zu der Zeit suchte er nach der Frau seines Lebens, weil er im Grunde genommen gar kein Leben hatte. Allein die seit der Mittelschule andauernde Freundschaft mit Federico hat dazu geführt, sich darüber klar zu werden, was jeder vom Leben erwartet. Bis dahin haben die beiden Freunde ihr Leben nach dem immer gleichen Muster gelebt, das aus Arbeit und Ausgehen, mittwochabendlichen Tippkick-Spielen, alkoholischer Selbstzerstörung am Wochenende und sonntäglicher Erholung von diesen Exzessen bestand.
Mit achtundzwanzig begann Fede dann das Gefühl zu entwickeln, sein Leben wegzuwerfen und nicht etwas Bedeutendes zu tun. Wenig später trennten sich Federicos und Micheles Wege. Während Federico ohne große Abschiedsgesten davonzog, lernte Michele in einer Bar die dort arbeitende Francesca kennen und führte mit ihr eine Beziehung, deren Feuer nach wenigen Monaten wieder erloschen war.
„Ich hätte nie meine Arbeit aufgegeben wie Federico. Undenkbar. Wegen dieser Angst führte ich ein Leben, das nicht mein eigenes war. Ich lebte nicht meine Bestimmung. Möglich, dass nur ganz wenige Menschen wirklich ihrer Bestimmung gemäß leben, aber ich gehöre mit Sicherheit nicht zu ihnen. Ich lebte ein Leben, das mir praktisch zugestoßen war. Ich hatte mich darin eingenäht wie in ein Kleid und war mit der Zeit zu der Überzeugung gelangt, es wäre meins. Obwohl mir ab und zu bewusst wurde, dass es an einigen Stellen ein bisschen zwickte. Aber man gewöhnte sich an alles. An eine Arbeit, die einem keinen Spaß macht, an eine Liebe, die erloschen ist, an die eigene Mittelmäßigkeit.“ (S. 36) 
Erst die Nachricht vom Tod seines besten Freundes hat Michele wachgerüttelt. Er besuchte Federicos Freundin Sophie auf den kapverdischen Inseln und verbrachte dort neun Monate, die aus ihm einen neuen Menschen machten, bereit für einen neuen Anlauf mit Francesca …
Mit „Einfach losfahren“ hat der in Mailand, Rom, Paris und New York lebende Schriftsteller und Schauspieler Fabio Volo einen wunderbaren Selbstfindungsroman geschrieben. Indem er von den Routinen des alltäglichen Lebens und Liebens nachsinnt, weil sein bester Freund den Status quo seines eigenen Lebens in Frage stellt, malt sich der Ich-Erzähler Möglichkeiten und Träume aus, die nach der Verwirklichung des ersten Traums zu Projekten werden.
Die Einstellungen zu Freunden, Familie und Geliebten verändern sich ebenso wer Prozess zur Erkenntnis, dass es nicht darum geht, glücklich zu sein, sondern sich mit etwas Geheimnisvollen verbunden zu fühlen, das einen niemals verlässt.
Fabio Volos „Einfach losfahren“ regt zum Nachdenken über die elementarsten Themen im Leben eines Menschen an und bleibt trotz der philosophischen Tiefe, die gelegentlich an Paulo Coelhos esoterisch durchwirkten Geschichten erinnert, immer bei seinen Figuren und führt diese zu einer ermutigenden Selbsterkenntnis, die sie neue Wege beschreiten lässt.
Leseprobe Fabio Volo - "Einfach losfahren"

Richard Laymon – „Das Haus“

(Heyne, 272 S., Tb.)
Als Clara Hayes eines Abends Geräusche im verlassenen Nachbarhaus hört, ruft sie Chief Dexter Boyanski in Ashburg an, damit er dort nach dem Rechten sieht. Er hatte vor Jahren in dem Haus die brutal zugerichtete Leiche von Hester Sherwood gefunden, mit der er einmal getanzt hatte. Seit dem Massaker an der Sherwood-Familie vor fünfzehn Jahren steht das Sherwood-Haus zum Verkauf. Als Dexter am nächsten Morgen nicht zum Dienst erscheint und sein Kollege Sam Wyatt ihn in Stücke zerhackt in dessen Wohnung findet, macht sich der Cop auf die Suche nach Dexters Ex-Frau Thelma, die vor Jahren nach Milwaukee gezogen ist und offenbar wieder in der Stadt ist. Doch der entsetzliche Mord an Dexter bildet erst den Auftakt weiterer unheimlicher Ereignisse in der Kleinstadt.
Ein Unbekannter lädt zu einer Halloween-Party in dem Sherwood-Haus ein, dessen Nachbarhaus am Vorabend niederbrennt, während die darin lebende Horner-Familie spurlos verschwunden ist.
„Obwohl Sam nicht viel über Hank Horner wusste, glaubte er nicht wirklich daran, dass er etwas damit zu tun hatte. Der Hausbrand und das Verschwinden seiner Familie waren ganz sicher kein ausreichender Beweis. Allerdings fand er es merkwürdig, dass das Feuer ausgerechnet am Tag nach Dexters Ermordung ausgebrochen war. Vielleicht gab es da wirklich einen Zusammenhang, wenn auch nicht den, auf den Barney hoffte. Vielleicht hatten die Männer ja den gleichen Feind gehabt. Wer auch immer Dexter in Stücke gehackt hatte …“ (S. 165) 
Und schließlich hat sich Sam Wyatt geschworen, in seiner noch recht frischen Beziehung zur alleinerziehenden Cynthia alles richtig zu machen, doch ihr zorniger Teenager-Sohn Eric macht es ihm alles andere als leicht …
Die Lücken in Richard Laymons Oeuvre in deutscher Sprache schließen sich allmählich. Während der 2001 verstorbene amerikanische Horror-Autor schon zu Lebzeiten in seiner Heimat zu den beliebtesten Genre-Vertretern zählte, sind hierzulande im Goldmann-Verlag nur zwei Titel veröffentlicht worden, erst in den letzten Jahren haben es sich der Festa Verlag und vor allem Heyne Hardcore zur Aufgabe gemacht, sein umfangreiches Werk auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.
Mit dem 1985 im Original unter dem Titel „Allhallow’s Eve“ veröffentlichten „Das Haus“ hat Laymon eine fast schon klassische Halloween-Geschichte geschrieben, sie mit Motiven des Geisterhaus-Spuks verwoben und schließlich in eine recht oberflächliche Kriminalgeschichte gegossen, die durch Sams problematischen Frauen-Geschichten und den Neckereien der Teenager an der örtlichen Highschool ein paar persönliche und die bei Laymon obligatorischen erotische Akzente bekommt.
Besonders gelungen ist diese Mischung in diesem Fall aber nicht. Zwar führt Laymon eine ganze Reihe von Figuren ein, charakterisiert diese aber meist nur oberflächlich. Einzig die Beziehung zwischen Sam, Cynthia und Eric auf der einen Seite und zwischen Sam und der sexy Motel-Besitzerin Melody auf der anderen Seite werden etwas näher ausgeführt, ansonsten begnügt sich der Autor damit, die sexuellen Phantasien der männlichen Jugendlichen auszuführen und den wenig inspirierten Horror im Sherwood-Haus zu beschreiben.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Haus"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 7) „Mississippi Jam“

Montag, 21. März 2016

(Pendragon, 590 S., Pb.)
Nachdem Anfang 1942 Nazi-U-Boote an der Mündung des Mississippi auf Tanker gelauert hatten, entdeckte Dave Robicheaux während seiner Collegezeit bei einem Tauchgang zufällig eines dieser U-Boote, das durch einen Zerstörer der US-Navy beschossen worden war. Als er vor einigen Jahren dem mehrfachen Drugstore-Besitzer und Demokraten Hippo Bimstine von seinem damaligen Fund erzählte, bot dieser Robicheaux einen Finderlohn von zehntausend Dollar, wenn er das Wrack orten könnte, damit Bimstine daraus ein Casino als Touristenattraktion machen kann.
Doch Bimstine ist nicht der einzige Interessent für das U-Boot. Während es Bimstine nur um das Geschäft zu gehen scheint, hat ein Mann namens Buchalter offensichtlich ganz andere Motive und lässt es auch an Gewalt nicht mangeln, um sein Ziel zu erreichen. Obwohl Robicheaux als Cop beim Iberia Parish Sheriff’s Department zunächst alles andere als begeistert ist, diesen Job anzunehmen, lässt er sich auf den Deal ein, um seinem Freund und Angestellten Batist Perry vor dem Knast zu bewahren.
Auch Robicheaux‘ alter Kumpel Clete Purcel bringt sich wieder in Schwierigkeiten, als er erst einen Mann aus Calucci’s Bar durchs Fenster wirft und den korrupten Cop Nate Baxter gegen sich aufbringt. Dabei hat er nur seine Freundin Martina aus Schwierigkeiten mit den beiden Mafia-Brüdern Max und Bobo zu befreien versucht. Purcel gilt auch als Verdächtiger in Fällen, bei denen jemand das Gesetz in die eigenen Hände genommen hat und u.a. einige Schwarze aus den Sozialbausiedlungen über die Klinge springen ließ.
Schließlich hat auch der irische, schwer an Krebs erkrankte Gangster Tommy „Bobalouba“ Lonighan seine Finger im Streit um das U-Boot, und auch der geheimnisvolle Reverend Oswald Flat taucht zur selben Zeit wie Will Buchalter auf, der Robicheaux’s Frau Bootsie so schwer einschüchtert, dass sie wieder ein Alkoholproblem bekommt. Nun kann Robicheaux an nichts anderes mehr denken, als Buchalter in die Finger zu kriegen und kurzen Prozess mit ihm zu machen …
„Buchalter gehörte zu der Sorte Mensch, die ihr Leben darauf verwenden, Kontrolle und Macht über andere auszuüben. Wie der selbstsüchtige Akademiker, der es genießt, ein Geheimwissen zu besitzen, weil es ihm das Gefühl gibt, anderen überlegen zu sein, oder wie der Pseudojournalist, der sich zu diesem Beruf hingezogen fühlt, weil er so Zugang zu einer Welt der Macht und des Reichtums erhält, die er insgeheim fürchtet und neidet, reduziert ein Sammler wie Buchalter die Schönheit von Schmetterlingen auf Insekten, die auf ein Spannbrett genagelt sind, gleichsam eine tägliche Mahnung, dass alle Schöpfung stets der Willkür seiner mordenden Hand ausgeliefert ist.“ (S. 220)
„Mississippi Jam“ ist unter den frühen Dave-Robicheaux-Krimis der einzige Band, der bislang nicht in deutscher Sprache erhältlich gewesen ist. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat im vergangenen Jahr mit „Sturm über New Orleans“ einen neuen Band der berühmten Reihe veröffentlicht und angekündigt, zukünftig weitere Robicheaux-Krimis herauszubringen.
In „Mississippi Jam“ hat es der ehemalige Großstadt-Cop und Ex-Alkoholiker Robicheaux nicht nur mit der Mafia in New Orleans zu tun, sondern vor allem mit rassistisch motivierten Morden, in die Robicheaux und seine engsten Vertrauten zunehmend mit hineingezogen werden.
Vor allem mit dem schwer fassbaren, extrem widerlichen Buchalter hat der Autor eine Symbolfigur für das verkorkste Gedankengut faschistischer Gruppierungen erschaffen, die sich gerade im Süden der USA breitgemacht haben. Ähnlich wie sein temperamentvoller Kumpel Purcel begreift auch Robicheaux bald am eigenen Leib, dass Buchalter mit der gängigen Strafverfolgungspraxis nicht beizukommen ist.
James Lee Burke beschreibt das Szenario auf gewohnt atmosphärisch dichte Weise, kreiert ausgefeilt charakterisierte Figuren, brilliert mit geschliffenen Dialogen und steuert die Geschichte auf ein spannendes Finale zu, das einen vielschichtigen Roman zu einem starken Abschluss bringt.
Leseprobe James Lee Burke - "Mississippi Jam"

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 8) „Verfolgt in Paradise“

Freitag, 18. März 2016

(Pendragon, 320 S., Tb.)
Polizeichef Jesse Stone ist gerade über einem Hochglanzfoto in Gedanken an seine Exfrau Jenn vertieft, als Molly Crane in sein Büro kommt und ihm von einem Vorfall in der Mittelschule berichtet, wo sich die Schulleiterin Betsy Ingersoll unsittlich einigen Mädchen genähert haben soll, indem sie vor einer Tanzveranstaltung der 8. Klasse überprüfen wollte, was für Höschen die Mädchen unter den Röcken trugen. Außerdem bekommt es Stone mit einer Familie zu tun, die regelmäßig Swinger-Partys bei sich zuhause veranstaltet, die allerdings auch von Missy und ihrem achtjährigen Bruder beobachtet werden.
Und schließlich treibt ein Spanner sein Unwesen, der es in der Kleinstadt Paradise vor allem auf ungefähr vierzigjährige, gut aussehende Frauen abgesehen hat und sich bald nicht mehr damit begnügt, die Frauen aus der Ferne zu betrachten, sondern in ihre Häuser einbricht, sie zwingt, sich auszuziehen, und schließlich Fotos von den Frauen macht.
Als „Nachtfalke“ gibt sich der Mann in Bekennerbriefen bei Jesse Stone zu erkennen. Während Stone mit seinen Kollegen alles daran setzt, den Spanner zu fassen, vermisst er nach wie vor seine Exfrau, die sich gerade mit einem Fernsehproduzenten eingelassen hat, der ihr eine eigene Show in New York angeboten hat.
„Er konnte keine Ansprüche auf Jenn anmelden. Sie waren geschieden. Er schlief mit anderen Frauen, sie mit anderen Männern. Gut, Jenn hatte damit angefangen, als sie noch verheiratet waren. Jesse nahm einen Schluck. Aber die Uhr hatte sich unerbittlich weitergedreht. Es war, als habe er einen Teufelskreis betreten, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.“ (S. 105) 
Robert B. Parker (1932 – 2010) hat mit Jesse Stone eine überaus charismatische Figur geschaffen, einen ehemaligen Mordermittler aus Los Angeles, der durch übermäßigen Alkoholzuspruch seinen Job und seine Frau verlor und nun das kleine Polizeirevier in Paradise, Massachusetts, leitet.
Der Plot im achten und vorletzten Band seiner Jesse-Stone-Reihe, die von Michael Brandman und Reed Farrel Coleman fortgeführt wurde, ist knackig und ohne große Einführung angelegt, das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Cops und dem Nachtfalken spannungsreich aufgeladen.
Vor allem die spritzigen Dialoge machen „Verfolgt in Paradise“ zu einem faszinierenden und kurzweiligen Lesevergnügen.
Leseprobe Robert B. Parker - "Verfolgt in Paradise"

Linwood Barclay – „Schweig für immer“

(Knaur, 505 S., Tb.)
Cynthia Archer wird die Traumata in ihrem Leben einfach nicht los. 1983 zog sie mit dem schon siebzehnjährigen Vince Fleming los, wurde von ihrem zornigen Vater aufgespürt, aus dem Mustang des Jungen gezerrt und nach Hause gebracht, wo sie am nächsten Morgen feststellen musste, dass das Haus leer war. Fünfundzwanzig Jahre lang wusste sie nicht, was mit ihren Eltern und ihrem Bruder geschehen war. Vor sieben Jahren geriet dann erneut das Leben ihrer eigenen Familie in Gefahr. Als Konsequenz der dramatischen Ereignisse hat sich Cynthia nun eine Auszeit von der Familie genommen, nachdem sie ihre vierzehnjährige Tochter Grace versehentlich verletzt hat.
Ihr Ehemann Terry, der als Englischlehrer arbeitet, hat alle Mühe, die Familie zusammenzuhalten. Als die rebellische Grace eines Abends mit ihrem Freund Stuart eine Spritztour unternimmt, endet der Ausflug in einem vermeintlich unbewohnten Haus, aus dem Stuart die Schlüssel für den Porsche in der Garage holen will. Allerdings befindet sich ein weiterer ungebetener Gast in der Wohnung, ein Schuss löst sich, Stuart verschwindet spurlos. Sie ruft ihren Dad an, der sie an einer Tankstelle abholt und mit Grace versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren.
Parallel dazu ermittelt Detective Rona Wedmore in einem Mordfall, der sich in der Nachbarschaft der Archers ereignet hat, wo ein unbescholtenes Lehrerehepaar hingerichtet worden ist. Die Ermittlungen führen zu einer Gangster-Truppe, in der auch Vince Fleming seine Finger im Spiel hat …
„Was hatte es mit dem Haus auf sich? Warum war Vince so erpicht darauf, zu erfahren, ob Stuart und Grace dort noch etwas anderes vorhatten, als den Porsche zu stehlen? Warum wollte er wissen, ob sie außer im Keller und im Erdgeschoss sonst noch wo gewesen waren? (…)
Wenn alles herauskam, was für einen Preis würde sie dafür zahlen, dass sie nicht gleich zu Beginn zur Polizei gegangen und mit der Wahrheit herausgerückt war?“ (S. 218) 
Mit „Schweig für immer“ präsentiert der amerikanische, in Kanada lebende Autor Linwood Barclay eine offizielle Fortsetzung seines erfolgreichen Debüts „Ohne ein Wort“ aus dem Jahr 2007. Zwar lässt sich Barclays neues Buch auch ohne Kenntnis des Bestsellers lesen, aber die Zusammenhänge und vor allem die tragische Geschichte der Archer-Familie wird verständlicher, wenn der Leser auch die Geschichte von „Ohne ein Wort“ im Hinterkopf hat, denn Barclay bringt die vergangenen Ereignisse nur sporadisch und bruchstückhaft zur Sprache.
Der Plot entwickelt sich zunächst aus zwei dramaturgisch interessant gestalteten Episoden. Nach dem Mord an dem Lehrerehepaar im Prolog erläutert Ich-Erzähler Terry die momentane angespannte Familiensituation, die in dem heimlichen Ausflug seiner Tochter mit seinem ehemaligen, nicht sehr hellen Schüler Stuart und dessen spurlosen Verschwinden mündet.
Was folgt, sind ganz unterschiedliche Handlungsstränge, Dialoge und Figurenkonstellationen, die in ihrer Komplexität nicht unbedingt förderlich sind für den Spannungsaufbau. Leider gelingt es Barclay im Verlauf der 500 Seiten auch nicht, die unüberschaubaren Stränge sinnvoll zusammenzuführen. Mit dem Auslassen einiger Nebenhandlungen und dem Straffen des Figurenensembles wäre Barclay sicher besser gefahren. So bietet „Schweig für immer“ eher holperige Spannungsliteratur, die wenig nachhallt.
Leseprobe Linwood Barclay - "Schweig für immer"

Joe R. Lansdale – „Das Dickicht“

Freitag, 11. März 2016

(Heyne, 331 S., Tb.)
Nachdem ihre Eltern durch die Pocken umgekommen sind, sollen der 16-jährige Jack Parker und seine 14-jährige Schwester Lola vom Großvater zu ihrer Tante nach Kansas gebracht werden. Als sie den Sabine River mit einem Floß überqueren wollen, kommt es allerdings zu einem blutigen Zwischenfall mit den drei Ganoven Cut Throat Bill, Nigger Pete und Fatty Worth. Während Grandpa erschossen wird, stürzt Jack von dem kenternden Gefährt in den Fluss und wird am Ufer von einem Paar aufgelesen, das den Vorfall beobachten konnte.
Er erfährt, dass die drei Gangster mit Lola davongeritten sind. Jack sucht in der nächsten Stadt das Büro des Sheriffs auf, muss aber erfahren, dass dieser gerade erst bei einem Banküberfall erschossen wurde. Offensichtlich stecken hinter dieser Tat genau die Männer, die nun auch Lola in ihrer Gewalt haben. Zum Glück lernt der Junge den farbigen Kopfgeldjäger Eustace Cox und seinen Eber kennen, dem Jack das Grundstück seiner Eltern als Bezahlung anbietet.
Ergänzt wird der Suchtrupp durch den Liliputaner Shorty und die Hure Jimmy Sue, die bereits Jacks Großvater zu Diensten gewesen ist. Gemeinsam macht sich der bunt zusammengewürfelte Haufen auf die Suche nach den Mördern und Entführern. Allerdings führen die Spuren ins schwer zugängliche Dickicht, wo weitere Gefahren lauern …
„Inzwischen hatte ich das Gefühl, ich wäre nicht mehr im alten Texas, sondern mitten in der Hölle, von diesen beiden Kerlen mit ihren Geschichten dorthin gelockt – von ihrem ganzen Gerede darüber, was sie alles tun konnten, und so weiter und so fort. Grandpa hat mir einmal erzählt, Männer würden sich von lauter Dummheiten verlocken lassen, von Frauen und Glitzerkram wie Gold und Silber und allen möglichen großen, glänzenden Lügen.“ (S. 92) 
„Das Dickicht“ erzählt wie schon „Dunkle Gewässer“ eine Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der durch tragische Ereignisse viel zu früh erwachsen wird. In diesem Fall fungiert der 16-jährige Jack als Ich-Erzähler, der nach dem tragischen Verlust seiner Eltern mit eigenen Augen mitansehen muss, wie seine Schwester von drei brutalen Männern entführt wird.
Um sie wiederzufinden, sind dem Jungen keine Mühen zu aufwändig. Seine Mitstreiter sucht zwar mehr oder weniger der Zufall aus, aber Jack fasst schnell Vertrauen zu den charismatischen Männern und erlebt mit ihnen einige Abenteuer, bis es im gefürchteten Dickicht bei einer Blockhütte zum bleigeschwängerten Showdown kommt.
Der texanische Autor Joe R. Lansdale erweist sich einmal mehr als Meister der atmosphärisch stimmigen, psychologisch ausgereiften und dramaturgisch packenden Erzählung, die den Reifeprozess und die erste Liebe eines jungen Mannes ebenso schildert wie die gesetzlose Atmosphäre in einer Zeit, als die Industrialisierung dem amerikanischen Leben ihren Stempel aufzudrücken beginnt, aber es ist auch eine Geschichte über Vertrauen, den Verlust der Unschuld und Gewalt, die Lansdale ebenso unverblümt wie mit schwarzem Humor beschreibt.

Don Winslow – (Frank Decker: 2) „Germany“

Sonntag, 6. März 2016

(Droemer, 379 S., Pb.)
Ex-Marine und Ex-Cop Frank Decker hat es sich zur Aufgabe gemacht, vermisste Menschen zu finden. Obwohl ihn die Suche nach dem fünfjährigen afroamerikanischen Mädchen Hailey Hansen seinen Job und seine Ehe gekostet hat, kann sich Decker nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun. Nachdem er mit seinen alten Kriegskameraden in Miami ein feuchtfröhliches Wiedersehen gefeiert hat, erzählt ihm sein Kumpel Charlie Sprague, der Decker im Irak das Leben gerettet hat und seitdem durch eine Brandwunde im Gesicht halbseitig entstellt ist, dass seine Frau Kim verschwunden ist.
Die junge Schönheitskönigin, die von Decker zur Hochzeit mit dem milliardenschweren Bauunternehmer zum Altar geführt worden ist, wollte nur ins Einkaufszentrum und ist seitdem nicht mehr aufzufinden.
Während Sergeant Dolores Delgado die erforderlichen Angaben in die Systeme speist und den polizeilichen Ermittlungsweg beschreitet, fängt Decker damit an, Kims beste Freundin Sloane aufzusuchen und den Spuren nach Kims Eltern nachzugehen, die gar nicht so tot sind, wie zunächst angenommen worden ist. Offensichtlich ist Kim als Carolynne May Woodley in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, von ihrer Mutter von einem Schönheitswettbewerb zum nächsten gefahren, ist von einem Jungen schwanger geworden und dann unter neuem Namen ein neues Leben begonnen, in dem ihre Eltern keine Rolle mehr spielten.
Da Kims Vater als Gefängniswärter arbeitet, vermutet Decker zunächst einen Racheakt des inhaftierten DeMichael Morrison, dem Woodley übel mitgespielt hat, doch tatsächlich führt die Spur weiter zu einer elitären Escort-Agentur und Menschenhändlern aus der Ukraine, die ihre Zentrale mittlerweile nach Deutschland verlegt haben.
Decker hat mehrere Theorien über Kims Verschwinden zu überprüfen. Sie könnte Opfer einer Säuberungsaktion der Russen oder eines Konflikts zwischen Morrison und Woodley sein, aber auch Charlie könnte hinter die Vorgeschichte seiner Frau gekommen sein und sie umgebracht haben, bevor der Skandal größeren Schaden anrichten konnte.
„Tatsächlich gab es sogar noch eine vierte Möglichkeit.
Kim war einfach gegangen. Sie hatte ihr Leben sattgehabt und war irgendwohin, wo sie sich erneut selbst erfinden wollte. Wenn es so war, dann war das ihr gutes Recht; aber andererseits hatte Charlie auch das Recht, es zu erfahren.“ (S. 211) 
Decker grast in Deutschland die Rotlichtbezirke in den Großstädten ab und landet über München, Hamburg, Lüneburg und Berlin schließlich in Erfurt, wo es zum großen Showdown und einigen Überraschungen kommt.
Mit Frank Decker hat der amerikanische Bestseller-Autor Don Winslow wie schon mit seiner ersten Serien-Figur Neal Carey einen besonders hartnäckigen Ermittler kreiert, der im Gegensatz zum jungen Akademiker, der Carey eigentlich sein will, durch seine Vergangenheit als Marine und Cop extrem kampferprobt ist und weiß, wie Ermittlungen zu führen sind. Ähnlich wie bei Deckers ersten Auftrag in „Missing: New York“ führen die Spuren wieder in die Szene von Menschenhandel und dem Geschäft mit Sex, wieder muss Decker einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Spuren folgen, bis er sein Ziel vor Augen hat. Die knackige Prosa und der Charakter seines Helden rufen Erinnerungen an Lee Childs coole Jack-Reacher-Romane wach und lassen sich ebenso spannend lesen. Im Gegensatz zu Winslows komplexeren und wuchtigeren Werken, die im Drogenmilieu angesiedelt sind, dürfte die Frank-Decker-Reihe auch Fans von James Patterson und Linwood Barclay ansprechen.
Leseprobe Don Winslow - "Germany"

Andreas Pflüger – „Endgültig“

Samstag, 5. März 2016

(Suhrkamp, 459 S., HC)
Vor fünf Jahren war Jenny Aaron Mitglied einer international operierenden Elitetruppe der Polizei und mit ihrem Kollegen Niko Kvist, mit dem sie auch noch liiert gewesen ist, in Barcelona mit einer Mission beschäftigt, bei der Marc Chagalls zwei Jahre zuvor in der Berliner Nationalgalerie gestohlenes Gemälde „Die Traumtänzerin“ wiederbeschafft werden sollte. Doch der Einsatz schlägt fürchterlich fehl. Nach einem Schusswechsel lässt sie ihren schwerverletzten Partner Niko zurück, flüchtet selbst in einem Daimler, wird von Ludger Holm verfolgt und von ihm so getroffen, dass sie erblindet. Mittlerweile arbeitet die Tochter des legendären GSG-9-Urgesteins Jörg Aaron als Verhörspezialistin und Fallanalytikerin beim BKA.
Als in der Zelle des lebenslänglich verurteilten Frauenmörders Reinhold Böhnisch die Polizeipsychologin Melanie Breuer ermordet wird, kommt Holms Bruder Sascha ins Spiel, der in Barcelona zu achtundvierzig Jahren Haft verurteilt wurde und auf seinen Antrag hin nach Tegel verlegt wurde, weil er eine Brieffreundin in Berlin hatte.
Aaron begreift schnell, dass der Mord an der Polizeipsychologin nur der Anfang eines raffinierten Komplotts ist, mit dem sich die Holm-Brüder an ihr rächen wollen. Verzweifelt versucht sich die erblindete Ermittlerin an die Ereignisse in Barcelona zu erinnern, die den Schlüssel für die aktuellen Ereignisse darstellen.
„Inmitten des wütenden Feuers klammert sich Aaron daran, dass die fehlenden Minuten von großer Bedeutung sind, dass sie begreifen muss, warum sie so gehandelt hat, weil dieses Wissen sie retten kann, die Bilder dann rückwärts rasen und es sein wird, als hätte das Feuer nie gewütet. Dass ein jedes wieder an seinem Platz sein wird, endgültig. Und Aaron wird hoch oben auf einem Berg stehen und ihr Leben wie eine weite Landschaft unter sich sehen, in der sie jeden Stein kennt und alles, was darunter ist.“ (S. 123) 
Als Holm einen Bus mit schwedischen Schulkindern am Berliner Holocaust-Mahnmal in seine Gewalt bringt, verlangt er fünf Millionen Euro und die Freilassung seines Bruders aus dem Gefängnis. Für Aaron und ihre Kollegen beginnt ein aufreibendes Katz- und Maus-Spiel, in dem sich Holm als raffinierter wie kaltblütiger Taktiker entpuppt.
Andreas Pflüger ist nicht nur ein ebenso fleißiger wie renommierter Drehbuchautor, der nicht nur u.a. mit Volker Schlöndorff („Der neunte Tag“, „Strajk“) zusammengearbeitet und die Drehbücher zu etlichen „Tatort“-Filmen verfasst hat, sondern 2004 auch sein Romandebüt „Operation Rubikon“ veröffentlichte.
Mit „Endgültig“ bleibt er dem Thriller-Genre und dem BKA treu, hat mit der während der Ausübung ihres Dienstes erblindeten Jenny Aaron eine charakterstarke, pflichtbewusste und energische Heldin geschaffen, deren Alltag und außergewöhnliche Fähigkeiten der Autor mit Präzision und Gefühl beschreibt.
Zwar sind die Wechsel zwischen extrem kurzen Sätzen und atmosphärischen Beschreibungen ebenso gewöhnungsbedürftig wie die Zeitsprünge und die komplexe Verquickung der beteiligten Personen miteinander, aber dabei ist ein extrem spannungsgeladener Thriller entstanden, der von Beginn an satte Action und ein schillerndes Ensemble an Kriminellen und außergewöhnlich befähigten Polizeibeamten bietet.
Besonders gelungen sind dabei die Inneneinsichten seiner Protagonistin, ihr stetes Bemühen, den Verlust ihrer Sehkraft auszugleichen und weiterhin brillant in ihrem Job zu sein, während sie immer noch zu verstehen versucht, was damals wirklich in Barcelona geschehen ist. Mit Ludger Holm steht ihr aber auch ein ebenso entschlossener, hochintelligenter Mann gegenüber, dessen Beweggründe erst im wendungsreichen Finale offenbart werden. Auf die angekündigte Fortsetzung darf man schon sehr gespannt sein!
Leseprobe Andreas Pflüger - "Endgültig"

Alessandro Baricco – „Mr. Gwyn“

Freitag, 4. März 2016

(Hoffmann und Campe, 319 S., HC)
Als der erfolgreiche Schriftsteller Jasper Gwyn eines Tages seinen Spaziergang durch den Regent’s Park unternimmt, wird ihm bewusst, dass die Art, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, nicht mehr zu ihm passt. Um den Entschluss auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, schreibt er für den Guardian einen Artikel, der aus einer Liste von 52 Dingen besteht, die Gwyn nie mehr zu tun beabsichtigt, darunter Artikel für den Guardian zu verfassen und Bücher zu schreiben. Der Artikel erscheint auf Wunsch des 43-jährigen Ex-Schriftstellers eine Woche später und stößt bei seinem Freund und Agenten Tom Bruce Shepperd auf wenig Verständnis. Nach einem Urlaub auf Grenada und der Rückkehr nach London fasst Gwyn den Entschluss, als Kopist zu arbeiten, weil damit Tugenden wie Diskretion, Geduld und Bescheidenheit verbunden sind.
Er unterhält sich mit einer ehemaligen Lehrerin, die ihn im Wartezimmer einer Ambulanz erkennt, über seine Absichten und bekommt von ihr den Tipp, Menschen zu kopieren. Doch bis sich dieser Vorsatz in die Tat umsetzen lässt, bemerkt Gwyn, wie schwierig es ist, auf einmal nicht mehr zu schreiben.
„Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass der Beruf des Schriftstellers für ihn unmöglich geworden war, und jetzt sah er sich gezwungen festzustellen, dass es ohne diesen Beruf sehr schwierig für ihn werden würde, weiterzumachen. So begriff er schließlich, dass er sich in einer Situation befand, die zwar vielen Menschen vertraut, deswegen aber nicht weniger leidvoll ist: Das Einzige, was sie fühlen lässt, dass sie am Leben sind, ist etwas, was sie langsam umbringen wird.“ (S. 35) 
Gwyn besucht eine Kunsthändlerin und beschließt, Portraits nicht zu malen, sondern zu schreiben. Er mietet sich ein ruhiges Atelier, beauftragt seinen Freund David Barber mit der Komposition eines Samples, das mit 62 Stunden etwas lang ausgefallen ist, und bestellt Glühbirnen, die nach 32 Tagen Betriebsdauer sterben sollen. Gwyn bittet seinen Verleger-Freund, dessen Assistentin Rebecca ausleihen zu dürfen, um von ihr das erste Portrait zu schreiben. Als sie am Ende der einmonatigen Sitzungen das Ergebnis zu lesen bekommt, ist sie begeistert, und weitere Portrait-Aufträge fallen für Gwyn an. Doch als ein junges, hübsches Mädchen als Kundin auftaucht, kann Gwyn schwerlich seine berufliche Distanz wahren …
Nach seinen erfolgreich verfilmten Romanen „Seide“ und „Novecento“ legt der italienische Literaturzeitschriften-Verleger, Dozent und Schriftsteller Alessandro Baricco mit „Mr. Gwyn“ einen wunderbar elegant und poetisch geschriebenen Roman vor, der dem Leser nicht nur den kreativen Schaffensprozess vor Augen führt, sondern ihn vor allem mit lebendigen Figuren vertraut macht und mit der besonderen Beziehung zwischen Künstler und Modell, zwischen dem, was gezeigt, und dem, was gesehen wird.
Natürlich spielen dabei auch existentielle Themen wie Leben und Tod, Liebe und Schmerz, Hoffnung und Verlust eine Rolle. All das verwebt Baricco gekonnt zu einem vergnüglichen Künstler-Roman, der durch die ebenfalls sehr lesenswerte Novelle „Dreimal im Morgengrauen“ ergänzt wird, die als fiktives Buch in „Mr. Gwyn“ eine Rolle spielt. Baricco erweist sich mit diesen beiden Erzählungen als wahrhaftiger Magier, der sowohl seinen Mr. Gwyn als auch seine Leser in sich hineinhorchen lässt.

Michael Connelly – (Harry Bosch: 16) „Black Box“

Sonntag, 28. Februar 2016

(Knaur, 441 S., Tb.)
1992 wurde Detective Harry Bosch mit seinem Partner Jerry Edgar von der Hollywood Division abgestellt, um in South Central von Tatort zu Tatort zu fahren, ohne sich lange mit einem Mord aufzuhalten. Nachdem Plünderer von Geschäft zu Geschäft zogen und die Gangs von South L.A. gegen die Polizei angetreten waren, wurden Bosch, Edgar und zwei Streifenpolizisten am 1. Mai zum Crenshaw Boulevard beordert, wo in einer Durchfahrt eine junge Frau erschossen worden war.
Wie sich herausstellte, hieß die Ermordete Anneke Jespersen und arbeitete für die dänische Zeitung „Berlingske Tidende“, für die sie vor allem Reportagen aus Kriegs- und Krisengebiete fotografierte und schrieb. Doch außer einer Neun-Millimeter-Remington-Patronenhülse war am Tatort nichts Beweiskräftiges zu finden gewesen, der Fall wanderte als ungelöst zu den Akten.
Zwanzig Jahre später bekommt es Bosch in der Abteilung Offen-Ungelöst erneut mit diesem Fall zu tun. Der Ballistikbefund führt Bosch zunächst zum in San Quentin inhaftierten Rolling-Sixties-Mitglied Rufus Coleman und dem Gang-Oberhaupt Truman Story, der allerdings seit drei Jahren tot ist.
„Seine Bemühungen hatten ihn Anneke Jespersen zwar nähergebracht, ihm aber letztlich zu keinerlei Einsichten verholfen, weswegen sie ein Jahr nach Operation Desert Storm in die Vereinigten Staaten gereist war. Er war auf keinen einzigen Hinweis gestoßen, warum sie nach Los Angeles gekommen war. Es gab keine Reportage über Kriegsverbrechen, nichts, was weitere Recherchen, geschweige denn eine Reise nach Los Angeles gerechtfertigt erschien. Woran Anneke Jespersen gearbeitet haben könnte, bliebt ihm weiterhin verborgen.“ (S. 224) 

Durch Jespersens Bruder erfährt Bosch jedoch, dass die Reporterin nicht wie zuvor angenommen Urlaub in den USA gemacht hatte, sondern einer Spur gefolgt war, die bis zu Angehörigen der 237th Company führten, die sowohl im Golfkrieg als auch bei den Unruhen in Los Angeles beteiligt gewesen waren.
Bosch wird von seinem Chef O‘ Toole dazu aufgefordert, sich einem neuen Fall zu widmen und handelt sich eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein, so dass er eine Woche Urlaub nimmt, um sich die vier Männer vorzuknöpfen, die mit der Reporterin auf dem Kreuzschiff „Saudi Princess“ Urlaub von der Front gemacht haben.

Seit der ehemalige Polizeireporter Michael Connelly 1992 mit „Schwarzes Echo“ sein Romandebüt und gleichzeitig den ersten Band um den hartnäckigen Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vorgelegt hat, zählt der Pulitzer-Preis-Nominee zu den erfolgreichsten Thriller-Autoren weltweit. Auch mit seinem bereits 16. Band erweist sich Connelly wieder als routinierter Spannungsautor, der seine Leser ohne große Umschweife in die Handlung einführt und ihn sukzessive von einer Spur zur nächsten mitnimmt. Zwischenzeitlich fließt auch etwas von Boschs Privatleben, vor allem mit seiner 16-jährigen Tochter Maddie ein, die ebenfalls Polizistin werden möchte, doch der Plot von „Black Box“ ist ganz auf die Aufklärung eines zwanzig Jahre alten Mordfalls fokussiert.
Wie hartnäckig Bosch dabei auch die Forderungen seines Vorgesetzten ignoriert und sogar dem Polizeichef die Meinung sagt, demonstriert einmal mehr, dass er auf dem Weg zur Lösung eines Falls keine faulen Kompromisse eingeht. „Black Box“ reiht sich souverän in die gute bis hervorragend geschriebene Harry-Bosch-Reihe ein, bietet aber auch keine echten Überraschungen, wenige Einblicke ins Boschs Privatleben und endet recht konventionell in einem actiongeladenen Finale. 

Jo Nesbø – (Blood On Snow: 2) „Das Versteck“

Donnerstag, 25. Februar 2016

(Ullstein, 250 S., Pb.)
Ein Mann, der sich Ulf nennt und eine Pistole und einen Geldgürtel bei sich trägt, steigt in Kåsund aus dem Bus und gibt sich gegenüber Mattis, dem ersten Mann, dem er begegnet, als Jäger aus, der nach einer Übernachtungsmöglichkeit sucht und für die erste Nacht in der Kirche unterkommt. Am nächsten Morgen macht er die Bekanntschaft von Lea und ihrem Sohn Knut, die ihm den Weg zur jedermann zur Verfügung stehenden Jagdhütte weisen.
Ulf, der als Haschdealer begonnen hatte und sich später in den Amphetamin- und Heroinmarkt des Fischers gedrängt hat, sucht nämlich das perfekte Versteck. Als Geldeintreiber für den Fischer, der den Drogenmarkt in Oslo beherrscht, hat er bei einem Expedierungs-Auftrag in die eigene Tasche gearbeitet, um die experimentelle Behandlung seiner todkranken Tochter in Deutschland finanzieren zu können.
Ulf stellt fest, dass die in diesem abgeschiedenen Landstrich lebenden Samen und vor allem die gläubigen Læstadianer nach ihren eigenen Regeln leben. So hat Lea zwar gerade ihren beim Seelachsfischen verunglückten Mann Hugo beerdigt, fühlt sich aber nach wie vor mit ihm verheiratet und lässt nicht zu, dass sie Gefühle für Ulf entwickelt. Derweil hat mit Johnny Moe der erste Killer aus Fischers Truppe den Weg nach Kåsund gefunden, um Ulfs Schulden einzutreiben …
„Ich glaubte weder an Träume noch an Götter. Ich glaubte eher an die Liebe eines Junkies zu seinem Dope als an die Liebe der Menschen zueinander. Ich glaubte aber an den Tod. Ein Versprechen, das immer eingehalten wurde, wie ich wusste. Ich glaubte an eine Neun-Millimeter-Kugel mit einer Geschwindigkeit von tausend Kilometern in der Stunde. Und dass die Zeit zwischen dem Austritt des Projektils aus dem Lauf der Waffe und dem Einschlag in deiner Stirn das Leben war.“ (S. 188f.) 
Wie schon im nicht mal 200 Seiten umfassenden „Blood On Snow“-Debüt „Der Auftrag“ erzählt der norwegische Thriller-Bestsellerautor Jo Nesbø auch im zweiten Band die Geschichte eines Mannes an einem Wendepunkt in seinem Leben. Dabei muss auch Ulf Hansen feststellen, dass ihn seine kriminelle Vergangenheit gerade dann einholt, als er sich einer ganz persönlichen Angelegenheit widmen muss, nämlich der Rettung seiner todkranken Tochter, und dass sie ihn immer noch verfolgt, als er sich auf der Flucht vor den Konsequenzen in eine junge Witwe verliebt.
„Das Versteck“ ist durch das Drogenmilieu und den Namen Daniel Hoffmann ganz lose mit dem ersten Band der „Blood On Snow“-Reihe verbunden, erzählt aber eine ganz eigenständige Geschichte, deren Struktur aber durchaus „Der Auftrag“ ähnelt. Ein (wenn hier auch nur vermeintlicher) Auftragskiller stellt persönliche Gefühle über das Geschäft und bugsiert sich damit in eine brenzlige Situation. Wenn Ulf den kleinen Knut damit beauftragt, die Augen offenzuhalten, erinnert das an Stephen Kings „Hearts In Atlantis“, die Liebesgeschichte im Umfeld der Læstadianer an Peter Weirs „Der einzige Zeuge“. 
„Das Versteck“ überzeugt eher als atmosphärisch stimmige psychologische Studie denn als knackiger Thriller, wartet aber immerhin mit einer interessanten Wendung auf.
Leseprobe Jo Nesbø - "Blood On Snow: Das Versteck"

Benedict Wells – „Vom Ende der Einsamkeit“

Mittwoch, 24. Februar 2016

(Diogenes, 346 S., HC)
Nach einem Motorradunfall im September 2014 wacht Jules aus dem Koma auf, in dem er zwei Tage gelegen hat, und rekapituliert die Stationen seines Lebens. Aufgewachsen in einem wohl behüteten Elternhaus, stehen Jules und seine beiden Geschwister Marty und Liz nach einem Autounfall schon in frühen Jahren als Waisen dar, werden in einem Internat untergebracht, wo Jules die geheimnisvolle Alva kennenlernt. Während sein älterer Bruder Marty sich mit sämtlichen Ausländern, Nerds und Klugscheißern umgibt und Liz jeder Art von jungen Männern den Kopf zu verdrehen beginnt, die Schule schmeißt und die Welt erkundet, zieht sich Jules zunehmend in seine Traumwelten zurück.
In Alva hat er eine eigenartige Vertraute, doch bevor sich mehr daraus entwickeln könnte, verschwindet Alva aus seinem Leben. Als er ihr nach Jahren wiederbegegnet, ist sie mit dem viel älteren russischen Schriftsteller Alexander N. Romanow verheiratet und lebt mit ihm in einem abgelegenen Chalet bei Luzern, wo Jules für einige Monate mit ihnen lebt.
Die Novellen, die Jules seit Jahren im Kopf herumgeistern, nehmen in Romanows Arbeitszimmer allmählich Form an, während Alvas Mann an Alzheimer erkrankt und rapide abbaut. Für Alva und Jules scheint auf einmal doch noch eine gemeinsame Zukunft greifbar …
„Ich fühlte nur, dass mit ihr alles anders verlaufen wäre. Die Jahre nach dem Internat, der Fehlgriff mit dem Jurastudium, von dem mir niemand abgeraten hatte, und schließlich mein Umzug, nein, meine Flucht von München nach Hamburg. Auf keinem dieser Bilder war Alva zu sehen, und ohne sie gab es nichts mehr, das vor der Einsamkeit bewahrte.“ (S. 121) 
Mit seinem neuen Roman hat Bestseller-Autor Benedict Wells („Becks letzter Sommer“, „Fast genial“) einen zutiefst berührenden Roman über Familie, Freundschaft, Liebe, Verlust, Hoffnung, Enttäuschungen und Erinnerungen kreiert, der einen Mann über sein extrem wechselhaftes Leben nachsinnen lässt. Zwar steht dabei seine schwierige Beziehung zu Alva im Mittelpunkt, doch lässt der Ich-Erzähler seine Gedanken auch immer wieder zu seinen eigensinnigen Geschwistern und ihren Beziehungen abschweifen und vor allem zu Romanov, der für Jules sowohl ein Förderer seines schriftstellerischen Talents als auch Konkurrent um Alvas Liebe darstellt.
All das verwebt Wells zu einem atmosphärisch dichten, psychologisch tiefgründigen und emotional berührenden Werk zusammen, das vor allem die Kraft der Liebe heraufbeschwört.
Leseprobe Benedict Wells - "Vom Ende der Einsamkeit"