Buddy Giovinazzo – „Piss in den Wind“

Sonntag, 3. April 2022

(Pulp Master, 256 S., Tb.) 
Buddy Giovinazzo ist zwar in Staten Island, New York City, geboren und aufgewachsen, lebt aber zu großen Teilen in Berlin und hat vor allem als Filmemacher Karriere gemacht, bevor er auch als Schriftsteller bekannt geworden ist. So drehte er hierzulande diverse Folgen für „Tatort“, „Polizeiruf 110“, „SOKO Leipzig“ und „Der Kriminalist“, legte 1993 mit „Life is Hot in Cracktown“ („Cracktown“) sein Debüt als Schriftsteller vor. Mit „Poesie der Hölle“, „Broken Street“ und „Potsdamer Platz“ gewann Giovinazzo eine treue Lesergemeinde. 2009 folgte mit „Caution to the Winds“ sein bisher letzter Roman, der zwei Jahre später hierzulande unter dem kuriosen, saloppen Titel „Piss in den Wind“ bei Pulp Master veröffentlicht wurde. 
Der Mittdreißiger James Gianelli verdient sich seinen Lebensunterhalt als College-Dozent für Fotografie und hofft, dass ihm die ersehnte Festanstellung ermöglicht, etwas mehr Stabilität in sein Leben zu bekommen. Doch als sich seine Freundin Karen nach zwei Jahren von ihm trennt und zu ihrem Bruder ziehen will, bekommt er einen psychotischen Anfall. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, liegt Karen mit Würgemalen am Hals tot neben ihm. Überzeugt, sie umgebracht zu haben, wickelt er sie in einen Teppich und verstaut ihn mit der unerwünschten Hilfe seines Nachbarn John Connor in Karens 82er Chevy. Den Wagen samt Leiche versenkt James nachts am Pier. Zwar fragen zunächst Karens beste Freundin Debbie und später auch die Cops bei ihm nach Karen Verbleiben, da sie nie bei ihrem Bruder angekommen ist, doch wird James offiziell nicht als Verdächtiger behandelt. 
„Solange sie bleibt, wo sie ist, dachte ich, steht mein Wort gegen das der anderen. Ich bin unschuldig, bis meine Schuld bewiesen ist. Doch als ich über die Bucht blickte und ihren desolaten Zustand einfing, die weggeworfenen Zeitungen, das Holz, Flaschen und Autoreifen, all den leblosen, an die Küste gespülten Müll, der sie prägte wie Fingerabdrücke eine Tatwaffe, wurde mir klar, dass es nur eine Frage der Zeit war. Die See weiß, wann es noch eine Aufgabe zu erledigen gilt. Und als jede neue Welle zu einer Warnung wurde, jede Ladung Gischt zu einer Anklage, wusste ich, dass sie zurückkommen würde.“ (S. 169) 
Karens Leiche taucht jedoch nicht auf. Da James das Alleinsein aber zusetzt, versucht er es zunächst mit Telefon-Sex, doch die Dame am anderen Ende will sich nicht auf ein persönliches Treffen einlassen. Und auch die Prostituierte Annabelle lehnt es ab, die ganze Nacht bei James zu verbringen. Als James eines Morgens Zeuge wird, wie die mit mehreren Messerstichen verschandelte Leiche einer jungen Frau ans Ufer gespielt wird, macht er einige Fotos von ihr, die er überall in seiner Wohnung platziert, auch in seinem Büro an der Universität. 
Aus der Zeitung erfährt er, dass es sich um die 23-jährige Dominique handelt, von der er immer stärker besessen wird. Sie nimmt einen für ihn sehr real wirkenden Teil seines Lebens ein, doch als sich James für ihre jüngere Schwester Susan zu interessieren beginnt, entwickelt sich sein Leben zum kompletten Chaos … 
Es ist kein Sympathieträger noch taugt er als Identifikationsfigur. Giovinazzos Ich-Erzähler James Gianelli hat durch seine traumatische Kindheit, die nach und nach in Rückblenden aufgefächert wird, ein mehr als gestörtes Verhältnis zu Frauen. Ihm ist spätestens durch die Trennung von Karen, die er wie viele andere Mädchen zuvor während seines Seminars kennengelernt hat, durchaus bewusst, dass er immer wieder die gleichen Fehler macht und zu sehr die Kontrolle über das Leben seiner Freundinnen gewinnen will. Auf der einen Seite bietet ihm die Beziehung zu Dominique eine erfrischende Abwechslung. Sie ist nicht nur willig, sondern fragt ihn regelmäßig, wie er sie sich wünscht, als hätte sie keinen eigenen Willen. Doch auch dieses Verhalten wird James bald lästig, und als er sich in ihre Schwester zu verlieben beginnt, entwickelt sich Dominique gar zur Bedrohung. 
Hier bewegt sich der Autor auf den vertrauten Pfaden von Stephen King, aber auch Filmemacher wie Alfred Hitchcock und Brian de Palma kommen einem bei diesem Szenario in den Sinn. Was zunächst einen übernatürlichen Charakter aufweist, erweist sich aber bald als psychotische Störung des Protagonisten, doch entwickelt der Autor diese Gratwanderung nicht besonders überzeugend. Auch die Beziehung zu Susan wird nicht besonders gut herausgearbeitet, und so schwankt „Piss in den Wind“ etwas unentschlossen zwischen Psycho-Drama und Krimi, ohne den Figuren oder dem Plot die entsprechenden Konturen zu verleihen. 

 

James Patterson – (Alex Cross: 10) „Und erlöse uns von dem Bösen“

Samstag, 2. April 2022

(Blanvalet, 352 S., Tb.) 
Colonel Geoffrey Shafer, auch als „Wiesel“ bekannt, weilt gerade in Salvador und will sich mit einem 13-jähriges Mädchen vergnügen, als er in die Fänge eines Verbrechers gerät, der in Sachen Grausamkeit in einer weit höheren Liga spielt als er selbst. Der „Wolf“ hat nämlich ein Team zusammengestellt, in dem jeder für eine ganz spezielle Aufgabe engagiert worden ist, ohne den gesamten Plan zu kennen. In dem der Wolf eine zuvor evakuierte Wohnwagensiedlung in Sunrise Valley, Nevada, dem Boden gleichmacht, weckt er wie gewünscht das Interesse des FBI. Direktor Burns lässt Alex Cross, der gerade ein paar Tage mit seinem Sohn Alex in Seattle, Washington, verbracht hatte und sich nun mit seiner in San Francisco lebenden Freundin Jamilla Hughes vom dortigen Morddezernat trifft, direkt zum Tatort fliegen. 
Doch das Attentat in Nevada ist für den Wolf nur eine Aufwärmübung. Es folgen nicht zuvor evakuierte Dörfer in Nordengland und bei Lübeck, die von der Landkarte gebombt werden, dann übermittelt der Wolf gegenüber dem FBI, der CIA und dem Heimatschutz seine Forderungen. Er verlangt zwei Milliarden Dollar und die Freilassung etlicher Gefangener, sonst würde er New York, London, Washington und Frankfurt auslöschen. Wie ernst es dem Wolf ist, unterstreicht er mit einem erfolgreichen Attentat auf CIA-Chef Thomas Weir. Von nun an folgt Cross einzelnen Spuren nach New York, London, Paris, doch alle Spuren, die zum Wiesel oder zum Wolf führen, enden in einer Sackgasse … 
„Von nun an glichen die Ereignisse einer wahnwitzigen Achterbahnfahrt, wilder als alles, was man ich hätte vorstellen können. Das letzte Ultimatum lief in wenigen Stunden ab, und niemand, weder in der Chefetage noch unten bei den einfachen Streifenpolizisten, hatte eine Ahnung, was geschah. Vielleicht wusste der Premierminister etwas? Oder der Präsident? Der Kanzler Deutschlands? Jede Stunde, die verstrich, machte es schlimmer. Dann kamen die Minuten. Es gab nichts, was wir tun konnten. Nur beten, dass das Lösegeld bezahlt wurde.“ (S. 193) 
Seit 1993 schreibt James Patterson an einer der erfolgreichsten Thriller-Serien überhaupt. Doch seit den ersten beiden, jeweils auch verfilmten Bänden „Along Came a Spider“ („Morgen Kinder wird’s was geben“) und „Kiss the Girls“ („…denn zum Küssen sind sie da“) unterliegt die „Alex Cross“-Reihe großen qualitativen Schwankungen. 
Einen Tiefpunkt hat Patterson definitiv mit „Und erlöse uns von dem Bösen“ erreicht. Nach dem Motto, nur mit Superlativen noch Spannung erzeugen und die Leser bei Laune halten zu können, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor hier nicht nur ein höchst unglaubwürdiges Szenario entwickelt, sondern galoppiert quasi im ungebremsten Eiltempo durch einen Plot, in dem ausgerechnet natürlich Alex Cross die Welt vor einer umfassenden Katastrophe rettet, nachdem er in Lichtgeschwindigkeit erst durch die Vereinigten Staaten und dann durch Europas Metropolen London und Paris gehetzt ist, immer mal wieder seine Familie hier und da besucht und sich darüber klar zu werden versucht, mit welcher der Frauen, die was von ihm wollen, er sich auf eine Beziehung einlassen könnte. 
Leider vergisst Patterson, bei dem aberwitzigen Tempo sowohl die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte als auch die Charakterisierung seiner Figuren. Stakkato-mäßig lässt der Autor seinen Superhelden in extrem kurzen Kapiteln von Schauplatz zu Schauplatz hetzen, während er überlegen muss, wer eventuell in den Reihen von FBI und CIA Kontakt zu dem Wolf haben und ein Verräter sein könnte bzw. wer überhaupt hinter der Identität des Wolfs steckt. Hier wäre auf jeden Fall viel weniger viel mehr gewesen.  

Don Winslow – „Bobby Z“

Mittwoch, 30. März 2022

(Knaur, 288 S., Tb.) 
Mit seiner epischen, aus den Romanen „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“ bestehenden Trilogie über den amerikanisch-mexikanischen Drogenkrieg hat sich der in New York geborene Schriftsteller Don Winslow in die Herzen der Kritiker und Krimi-Fans geschrieben. Dass er aber auch leicht konsumierbare, humorvolle und actionreiche Krimi-Kost servieren kann, bewies der Bestseller-Autor mit dem 1997 veröffentlichten Roman „The Life and Death of Bobby Z“, der nach seiner deutschen Erstveröffentlichung bei Suhrkamp nun von Winslows aktuellen Verlag Droemer neu aufgelegt worden ist. 
Sein ganzes Leben scheint der Kleinganove Tim Kearney vom Pech verfolgt zu sein. Zwar beweist er bei seinen Einbrüchen großes Geschick, wird aber durch Kleinigkeiten regelmäßig von der Polizei geschnappt. Besonders übel sieht es für ihn aus, als er im Gefängnisinnenhof einem Hells Angel mit einem rasiermesserscharf zugefeilten Autonummernschild die Kehle durchschneidet. Zu seinem Glück sieht Kearney allerdings dem legendären Drogendealer Bobby Z zum Verwechseln ähnlich. 
Da Bobby Z aber an einem Herzinfarkt gestorben ist, bevor der DEA-Agent Tad Gruzsa ihn beim mexikanischen Drogenboss Don Huertero gegen seinen Kollegen Moreno austauschen konnte, muss Kearney die Identität von Bobby Z annehmen, den ohnehin seit Jahren niemand mehr gesehen hat, wie es scheint. Doch der Austausch fällt sehr bleihaltig aus, wobei Gruzsas Kollegen Escobar und Morena draufgehen. Tim kann dem Massaker entfliehen, wobei ihm seine Vergangenheit bei den Marines nützlich ist. Schließlich landet er auf dem nahe der mexikanischen Grenze liegenden Luxus-Anwesen von Don Huerteros Geschäftspartner Brian Cervier. 
Der mexikanische Drogenboss will nämlich das Netzwerk, das Bobby Z für seinen Handel mit Gras aufgebaut hat, für seine Meth-Geschäfte nutzen. Mehr als für die Geschäfte interessiert sich Kearney alias Bobby Z allerdings für die hübsche Elizabeth, mit der Kearney schnell ein leidenschaftliches Stelldichein genießt. Doch ausruhen kann sich der neue Bobby Z in diesem Luxus-Ambiente nicht, schließlich muss er sich vor mehreren Verfolgern in Acht nehmen. Kearney mag zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte sein, aber im Irak hat er einen gesunden Überlebensinstinkt entwickelt. Er muss sich allerdings nicht nur vor Huertero verstecken, der noch eine offene Rechnung mit Bobby Z begleichen will, sondern auch vor den Hells Angels und Gruzsa. Zusammen mit Elizabeth und dem sechsjährigen Kit, der glaubt, Kearney sei sein richtiger Vater, flüchtet Kearney von einem Ort zum anderen und kann dabei nicht mal mehr dem Mönch trauen, der in Bobby Zs Abwesenheit die Geschäfte für ihn geregelt hat. 
„Leichen pflastern Tims Weg, wie es bei Django nicht besser sein könnte. Es ist ein richtiger One-Man-Krimi, und Gruzsa ist nicht allzu scharf auf die Aussicht, seinen Vorgesetzten erklären zu müssen, warum er diesen Berufsverbrecher auf die Allgemeinheit losgelassen hat. Und genau das wird irgendjemand unweigerlich herausfinden, weil der kleine Timmy eine ziemlich deutliche Spur hinterlässt.“ (S. 206) 
Auf nicht mal 300 Seiten entwickelt Don Winslow einen wahnsinnig tempo- und actionreichen Plot, der es von der ersten Seite an in sich hat. Es braucht nur wenige Zeilen, um zu erahnen, dass sich Tim Kearney scheinbar mühelos von einem Schlamassel in die nächste Katastrophe bewegt. Auf den folgenden Seiten rettet ihm aber ebenso viel Glück wie gesunder Überlebensinstinkt das Leben. Was Winslow da Konfrontationen, Hinterhalten, Intrigen und Verrat inszeniert, macht schon Laune und garantiert ein atemloses Lesevergnügen, bei dem keine Gefangenen gemacht werden. 
Anschaulich beschreibt Winslow sowohl die erotischen Zusammenkünfte als auch die blutigen Schießereien, doch bleibt immerhin genügend Zeit, um kurz den Lebenslauf seines Protagonisten Tim Kearney und die Legende zu rekapitulieren, die sich um Bobby Z entwickelt hat. Aus der Gegensätzlichkeit beider Lebensläufe speist sich ein Großteil der Doppelgänger-Thematik, die zum Finale hin noch wilde Kapriolen schlägt. Bei aller augenzwinkernden Action sind auf der anderen Seite die Szenen zwischen Tim und Kit sehr rührend gelungen. 
Wenn „Bobby Z“ (übrigens 2007 mit Paul Walker und Laurence Fishburne unter dem Titel „Kill Bobby Z“ verfilmt) überhaupt eine Schwäche aufweist, dann die sehr übertrieben inszenierten Momente, in denen Kearney immer wieder aus ausweglos erscheinenden Momenten doch noch mit dem Leben davonkommt. Davon abgesehen bietet der Roman eine wilde Achterbahnfahrt mit einer charismatischen „Superniete“ und teils kuriosen Nebenfiguren wie Boom-Boom, dem Mönch oder One Way.  

Jonathan Lee – „Der große Fehler“

Montag, 28. März 2022

(Diogenes, 368 S., HC) 
Andrew Haswell Green (1820 – 1903) hat wesentlich dazu beigetragen, New York City zu der Metropole zu machen, wie man sie heute kennt. Als Stadtplaner hat der Sohn eines mittellosen Farmers dafür gesorgt, mit dem Central Park einen Erholungsraum für alle Bürger der Stadt zu schaffen, außerdem war er verantwortlich für die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art. Am 13. November 1903 fand sein Leben ein gewaltsames Ende, als ein Schwarzer namens Cornelius Williams ihn vor seiner Haustür erschoss. Jonathan Lee zeichnet in seinem Roman „Der große Fehler“ nicht nur das Leben und Wirken des prominenten „Father of Greater New York“ nach, sondern thematisiert vor allem auch die innige Beziehung zu seinem Freund Samuel Tilden und die Ermittlungen der Polizei. 
Als Andrew Haswell Green am Freitag, 13. November 1903 vor seinem Haus in der Park Avenue erschossen wird, üben sich die großen Tageszeitungen – die New York Times, der Herald, die Tribune und die Sun – in wilden Spekulationen über die Tat. Da ein Motiv noch nicht erkannt werden konnte, thematisieren sie die Berühmtheit des Opfers oder die fünf auf ihn abgegebenen Schüsse. Zurück auf Anfang. Andrew Haswell Green wird als siebtes von insgesamt elf Kindern einer einst angesehenen Familie geboren, die sich während seiner Jugend verschuldet. 
Der Junge hilft auf der Farm und erklärt seinem Vater, wie er das Land besser aufteilen könnte. Später schickt ihn sein Vater nach New York, um eine Lehre in dem Handelsgeschäft von Mr. Hinsdale anzufangen. Später geht er für ein Jahr nach Trinidad, um auf einer Plantage zu arbeiten, nach seiner Rückkehr schlägt er eine Laufbahn als Anwalt ein. Er setzt sich für ein faireres, geordnetes öffentliches Schulsystem ein, plant Parks, Brücken und Museen, kämpft als oberster New Yorker Rechnungsprüfer gegen die Korruption und gründet nach dem Tod seines Freundes Samuel Tilden im Jahr 1886 die erste öffentliche Bibliothek. 
Als Inspektor McClusky die Ermittlungen zur Greens Ermordung aufnimmt, führt ihn eine Spur zur wohlhabenden schwarzen Prostituieren Bessie Davis, die einige der prominentesten New Yorker Bürger zu ihren Kunden zählt. So allmählich entwickelt McClusky eine Theorie über den Mord an Mr. Green, der letztlich als zutiefst einsamer Mann verstarb. 
„Es war so leicht, im Leben nichts zu erreichen, wenn man sich immer allen Launen hingab – der Laune des Augenblicks, des Tages, der Jahreszeit, des Jahres. Launen hatten Folgen. Sie kosteten. Es war zu spät, sich Dingen zu ergeben, die er nicht kontrollieren konnte. Er würde sich nicht im Schmutz der Vergangenheit wälzen, würde nicht betrunken in Zimmer hinaufsteigen, die für die Vergnügungen anderer Leute gedacht waren, würde keinen zufälligen Kuss am Fenster riskieren, einen Kuss, der alles zerstören und eine große Flucht erforderlich machen würde.“ (S. 285) 
Der 1981 im englischen Surrey geborene, in New York lebende Drehbuchautor und Schriftsteller Jonathan Lee legt mit „Der große Fehler“ das Portrait eines außergewöhnlichen Selfmade-Mannes vor, der New York zu einer lebenswerteren Stadt für alle Bürger machen wollte. Zwar beginnt der Roman mit der Berichterstattung über den Mord und den Beginn der Ermittlungen durch Inspektor McClusky, doch bilden seine Verhöre und Gedankenspiele nur den Rahmen für eine vielschichtige Biografie. Dabei nimmt vor allem die homoerotisch geprägte Freundschaft zu Samuel Tilden eine Schlüsselstellung ein. Lee springt zwischen den Zeiten und Schauplätzen der Handlung hin und her, benennt die Kapitel nach den Toren des von ihm geplanten Central Parks und wechselt auch die Perspektiven von seinem Protagonisten zu den Leuten, die in Greens Leben und danach eine besondere Rolle gespielt haben, wobei Bessie Davis eine besonders interessante Rolle einnimmt. 
Lee erweist sich als sprachgewandter Autor, der sich an weitschweifigen Beschreibungen und Gedankengänge seiner Figuren berauscht, dabei aber ein schillerndes Gesellschaftsbild New Yorks zur Jahrhundertwende präsentiert, das – trotz kleinerer Längen - einfach fesselt.  

Jack Kerouac – „Die Dharmajäger“

Samstag, 26. März 2022

(Rowohlt, 288 S., HC) 
„On the Road“, der 1957 veröffentlichte, zweite Roman von Jack Kerouac, avancierte nach seinem Erscheinen zur Bibel einer ganzen Generation von sinnsuchenden Menschen, die unter dem Begriff Beat Generation zusammengefasst wurden und zu deren populärsten Wortführern Kerouacs Kommilitonen Allen Ginsberg und William S. Burroughs zählen. 
Zum 100. Geburtstag des am 12.03.1922 geborenen und bereits 1969 an den Folgen seines Alkoholkonsums verstorbenen Kerouac hat der Rowohlt Verlag mit „Die Dharmajäger“ und „Engel der Trübsal“ zwei Werke in grandioser neuer Übersetzung von Thomas Überhoff veröffentlicht, die chronologisch an die autobiografischen Erlebnisse, die in „On the Road“ geschildert werden, direkt anschließen. Der um die Hälfte schmalere Band „Die Dharmajäger“ (im Original passender als „The Dharma Bums“, in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ erschienen) wirkt wie ein ausführlicher Prolog zu „Engel der Trübsal“, kreisen beide – wiederum autobiografischen - Werke doch um Kerouacs zweimonatigen Aufenthalt auf dem Desolation Peak. 
Im September 1955 macht sich Ray Smith (Jack Kerouac) im Güterzug auf den Weg von Los Angeles über Santa Barbara nach San Francisco. Obwohl er selbst stets knapp bei Kasse ist, teilt der tiefgläubige Zen-Buddhist seinen Wein und sein Essen mit einem Mitreisenden, denn für ihn, der sich als Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem Gewand betrachtet, der durch Freigebigkeit, Nächstenliebe, stille Einkehr, Hingabe und Ekstase schließlich Verdienste als zukünftiger Buddha erwerben würde. Eine Woche später lernt er in San Francisco Japhy Ryder (Gary Snyder) kennen, der in einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen war, Chinesisch und Japanisch lernte und Orientalist mit einem tiefen Verständnis für den Zen-Buddhismus.Bei einer Lesung in der Six Gallery trifft Ray auch Alvah Goldbook (Allen Ginsberg) und andere „Hornbrille tragende Intellekto-Hipster mit ungebändigter schwarzer Mähne“ und feiern in der Hütte von Japhys Freund Sean wilde Partys mit Jazz, Alkohol und willigen Mädchen, die Japhy scheinbar mühelos für seine Zwecke einspannt, während Ray auf dem Rasen sein einsames Nachtlager aufschlägt.
Zusammen mit dem Bergsteiger/Jodler Henry Morley unternehmen Japhy und Ray eine Wanderung den kalifornischen Matterhorn Peak hinauf, wo Ray die wohltuende Kraft der Natur für sich entdeckt. Dieser Aufstieg dient ihm als Vorbereitung für den Sommerjob auf dem Desolation Peak, während Japhy nach Asien reisen will, um seine buddhistischen Studien fortzuführen … 
„Ich wusste, der Klang der Stille war überall, und deshalb war alles überall Stille. Angenommen, wir wachen plötzlich auf und erkennen, dass das, was wir für dieses und jenes gehalten haben, gar nicht dieses und jenes ist? Begrüßt von Vögeln taumelte ich den Hügel hoch und besah mir die gedrängt auf dem Hüttenboden schlafenden Gestalten. Wer waren all diese seltsamen Geister, die mit mir zusammen das dumme kleine Abenteuer Erde teilten? Und wer war ich?“ (S. 224f.) 
Während „Engel der Trübsal“ (das zuvor nur als gekürzte Fassung unter dem Titel „Engel, Kif und neue Länder“ erhältlich gewesen ist) mit der Rückschau auf die letztlich niederschmetternde Erfahrung auf dem Desolation Peak beginnt, wo Jack Kerouac zwei Monate als Brandwächter gearbeitet hat, wird in „Die Dharmajäger“ der Boden für diesen abenteuerlichen Trip bereitet, und zwar in einer weit einheitlicheren Sprache als sie uns bei „Engel der Trübsal“ begegnet. 
Kerouac bzw. sein in diesem Roman Ray Smith benanntes Alter Ego brennt darauf, seinen Zen-Buddhismus-getränkten Geist durch Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen zu schärfen und sich dabei vom Haben zum Sein zu entwickeln. Mehr noch als die obligatorischen Partys mit ihren allseits verfügbaren Verführungen durch Sex, Alkohol und Drogen sind es die Reisen durch Amerika und nach Mexiko, die Rays Gedanken und Gefühle prägen, doch nutzen sich die buddhistischen Plattitüden mit der Zeit doch arg ab. 
Weitaus fesselnder sind die unmittelbaren Eindrücke gelungen, die Kerouac bei den Wanderungen durch die Natur gewinnt. Seine Beschreibungen sind dabei so intensiv und bildreich ausgefallen, dass man sich als Leser an seiner Seite wähnt, das feuchte Gras unter den nackten Fußsohlen und das Knistern des Lagerfeuers zu spüren glaubt. Das ist nicht unbedingt große Literatur, aber doch ein authentisches Zeugnis der Sinnsuche, die Kerouac Zeit seines Lebens getrieben, aber eben nicht glücklich gemacht hat.  

Jack Kerouac – „Engel der Trübsal“

Donnerstag, 24. März 2022

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Zusammen mit seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, Allen Ginsberg und William S. Burroughs, war Jack Kerouac (1922-1969) das Aushängeschild der Beat Generation und somit Aushängeschild der Popliteratur. Kerouacs zweiter, 1957 veröffentlichter Roman „On the Road“ wurde zur Bibel der Beatniks. Weit weniger populär wurden Kerouacs Nachfolgewerke, von denen der Rowohlt Verlag zum 100. Geburtstag des Ausnahme-Literaten eine Vielzahl neu bzw. in neuer Aufmachung/Übersetzung veröffentlicht, darunter erstmals in vollständiger deutscher und neuer Übersetzung den 1956 erschienenen autobiografischen Roman „Desolation Angels“
In „Engel der Trübsal“ (der zuvor in Teilen als „Engel, Kif und neue Länder“ veröffentlicht wurde) lässt Kerouac das Jahr vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Romans „On the Road“ Revue passieren.
In der Hoffnung, Gott oder Tathagata gegenübertreten und den Grund für die ganze Existenz herauszufinden, übernimmt Jack Duluoz für zwei Monate einen einsamen Job als Brandwächter hoch oben auf dem Desolation Peak in den Cascade Mountains an der Grenze zu Kanada, doch werden die Erwartungen des 34-jährigen Schriftstellers, dessen Roman „Road“ kurz vor der Veröffentlichung steht, schnell enttäuscht. 
Duluoz begegnet letztlich nur sich selbst, gelangweilt von der Einöde ohne Drogen und Alkohol, so dass er mehr als froh ist, am 8. August 1956 wieder den Weg zurück ins Tal antreten zu können. Zurück nach San Francisco bringt er nur die Erkenntnis, dass mit der Freiheits- und Ewigkeitsvision der Wildniseinsiedler kaum etwas in den Großstädten, wo jeder jeden bekriegt, anzufangen ist. Duluoz stürzt sich wieder in das wilde Partyleben in San Francisco, zieht mit seinen Freunden durch die Bars und Jazz-Clubs. Hin- und hergerissen zwischen dem absoluten Frieden, den er in den Bergen erlebte, und den einfachen Freuden des Großstadtlebens mit Sex, Shows und gutem Essen zieht es Duluoz wieder in die Welt, zunächst nach Mexico. 
In Mexico City, wo das Essen gut und die Unterkünfte billig sind, freundet er sich mit dem sechzigjährigen Junkie Bull Gaines an, später tauchen auch Jacks Freunde Cody Pomeray und Irwin Garden (mit dessen Lover Simon) auf, bis alles zu eng und wild wird. Duluoz zieht es zurück in die USA, über Memphis geht es nach New York, wo er mit seinen Freunden bei den Mädchen Ruth Erickson und Ruth Heaper abhängt, doch der vertraute Mix aus Partys, Alkoholexzessen und Sex nutzt sich auch hier schnell ab. Weiter geht’s – nach Tanger, Paris und London, stets finanziert von den monatlich ausgezahlten 100-Dollar-Vorschüssen für sein Buch „Road“. Am Ende unternimmt er noch mit seiner Mutter eine Reise nach Mexico … 
„Und genau wie in New York, Frisco oder sonst wo hocken sie alle im Marihuanadunst rum und reden, die coolen Mädchen mit den langen dünnen Beinen in lässigen Hosen, die Männer mit Kinnbärten, alles furchtbar und öde und damals (1957) noch nicht mal offiziell unter dem Namen ,Beat Generation‘ bekannt. Kaum zu glauben, dass ich damit so viel zu tun hatte, ja, gerade erst wurde das Manuskript von Road für die baldige Veröffentlichung gesetzt, und ich hatte schon die Schnauze voll von all dem. Nichts ist öder als ,Coolness‘ (nicht die von Irwin, Bull oder Simon, die ist natürliche Ruhe), gekünstelte, eigentlich insgeheim steife Coolness, die verschleiert, dass der jeweilige Mensch nichts Starkes oder Interessantes zu vermitteln hat, eine soziologische Coolness, die bald für eine Weile bis in die Mittelschichtsjugend hinein in Mode kommen wird.“ (S. 451) 
Obwohl „Engel der Trübsal“ die Zeit direkt vor der Veröffentlichung von „On the Road“ abdeckt, handelt es sich um den bereits zwölften, erst 1965 und damit vier Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Roman von Jack Kerouac. Die desillusionierende Erfahrung, die der Ich-Erzähler auf dem Berg mit dem für ihn prophetischen Namen Desolation Peak macht, bildet nicht nur den Auftakt von Kerouacs/Duluoz‘ Reise durch die USA bis nach Mexiko, Nordafrika und Europa, sondern vermittelt gleichzeitig das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das den Autor und sein Alter ego letztlich in die Alkoholsucht und in den Tod trieb. 
Vor allem die ersten Kapitel der Rückbetrachtung auf die einsame Zeit auf den Gipfeln der Berge stellt sich als wilde Improvisation dar, die dokumentiert, was Kerouac unter „spontaner Prosa“ verstand. Die rauschhaft wirkende, unzensierte und unmittelbare Verschriftlichung innerer und äußerer Erfahrungswelten macht sich bei „Engel in Trübsal“ in wilden, zusammenhanglosen Aufzählungen und Kettensätzen bemerkbar, die buddhistische Philosophie, literarische Anspielungen und überhaupt die ganze Weltgeschichte miteinander vereint. Die Handlung, also vor allem Kerouacs/Duluoz‘ Reisen, aber auch seine sexuellen Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen bei Partys und Auftritten von Jazz-Musikern, gerät dabei fast in den Hintergrund, so sehr drängt sich die Niedergeschlagenheit des immer auf sich selbst beziehenden Schriftstellers in den Vordergrund. Das ist nicht immer leicht zu konsumieren, stellt aber ein beredtes Selbstzeugnis eines einzigartigen Schriftstellers dar, dessen Werk auch über „On the Road“ hinaus Beachtung verdient – wie diese gelungene Neu- und Gesamtübersetzung beweist. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 2) „Der böse Hirte“

Montag, 21. März 2022

(Blanvalet, 512 S., HC) 
Bevor Jeffery Deaver 1997 mit „The Bone Collector“ den ersten und später erfolgreich mit Denzel Washington und Angelina Jolie verfilmten Roman seiner Lincoln-Rhyme-Reihe veröffentlichte, hatte er bereits einige andere Werke veröffentlicht, aber bis heute ist er vor allem für seine bislang schon vierzehn Romane um den querschnittsgelähmten Ermittler bekannt. Der Erfolg dieser Reihe hat Deaver allerdings nicht davon abgehalten, über die Jahre auch andere Reihen zu entwickeln, wobei sich seit 2007 die Reihe um die Verhörspezialistin Kathryn Dance etabliert hat. Mittlerweile ist mit Colter Shaw eine weitere Figur auf den Plan getreten. Nach „Der Todesspieler“ ist nun mit „Der böse Hirte“ der zweite Teil um Shaw erschienen, dessen Profession darin besteht, vermisste Personen aufzuspüren. 
Colter Shaw wird damit beauftragt, den 27-jährigen Adam Harper aus Tacoma und seinen 20-jährigen Freund Erick Young aus Gig Harbor zu finden, die in Verbindung mit einem Hassverbrechen gesucht werden. Den beiden jungen Männern wird vorgeworfen, neben Schmierereien auf Synagogen und Kirchen in überwiegend schwarzen Gemeinden auch auf einen Prediger und Hausmeister geschossen zu haben. Allein die vom Pierce County ausgesetzte Prämie von 50.000 Dollar lockt auch Colters ungemütlichen Konkurrenten Dalton Crowe an. Bei dem Besuch der Eltern findet Shaw heraus, dass Erick nach dem Tod seines jüngeren Bruders Mark vor sechzehn Monaten eine schwere Zeit durchmachte. Offenbar hat Erick beim Besuch des Grabes seines Bruders auf dem Friedhof Adam kennengelernt, der seine Mutter verloren hatte. 
Unterwegs erhält Shaw die Nachricht, dass die Polizei die Spur der beiden Flüchtigen aufgenommen hat. Als sich Shaw der Verfolgung anschließt, beobachtet er mit Schrecken, wie sich Adam mit glückseligem Ausdruck im Gesicht die Klippen hinunterstürzt. Durch seine Assistentin Mack erhält Shaw Hinweise auf eine Art Selbsthilfegruppe, die Osiris-Stiftung. Shaw schleicht sich unter falschem Namen in die Stiftung ein, deren Anwesen sehr abgeschieden in den Bergen liegt und strengsten Sicherheitsvorkehrungen unterliegt. Da er tatsächlich auch einen Bruder verloren hat, fällt ihm das erste Gespräch bei der Aufnahme nicht schwer. 
„Hier, in diesem kleinen Raum, im Gespräch mit einem einfühlsamen, klugen und sympathischen Mann, hatte die Tarnung schlichtweg versagt. Shaw, nicht Skye, saß hier als Gefährte der Stiftung und litt tatsächlich unter dem tragischen Verlust seines Bruders. Er nahm wirklich an der erste Phase des Prozesses teil, weil er sich erneuern wollte. Er wünschte sich im Ernst, zum Auszubildenden aufzusteigen und dann ein Geselle und Angehöriger des Inneren Kreises zu werden und das begehrte silberne Amulett zu erhalten.“ (S. 228) 
Shaw spielt seine Rolle so gut, dass er von Meister Eli für ein beschleunigtes Förderprogramm auserwählt wird, doch was er im Laufe seines Aufenthalts dort erlebt, lässt ihn am gesunden Menschenverstand zweifeln … 
Wie die ausführliche Bibliographie am Ende des Buches dokumentiert, hat Deaver ausgiebig zum Thema Sekten recherchiert und seine daraus gewonnenen Erkenntnisse in seinem neuen Colter-Shaw-Roman verarbeitet. Die Suche nach zwei mutmaßlichen jungen Straftätern führt den Prämienjäger direkt ins Herz einer Organisation, die nichts dem Zufall überlässt, kaum Spuren im Internet aufweist und ganz auf das Charisma des Stiftungsgründers Eli aufbaut, dem seine Jünger größtenteils völlig verfallen sind. 
Deaver beschreibt die inneren Prozesse der Osiris-Stiftung sehr anschaulich und würzt den Plot immer wieder mit ein paar Action-Einlagen, Verfolgungsjagden, Nahkämpfen, unterbricht zum Finale hin aber den Spannungsbogen, um auf Shaws ursprüngliche Mission zurückzukommen, ein offenbar gefährliches Geheimnis um seinen verstorbenen Vater zu lüften. Schließlich brachte es Shaw fast eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Killer Ebbitt Droon ein. 
„Der böse Hirte“ liest sich flüssiger als Deavers Lincoln-Rhyme-Romane, ist weniger komplex aufgebaut und geschrieben, behandelt die Sekten-Thematik auf einem weitgehend oberflächlichen Niveau, das letztlich den Rahmen für einen spannenden Plot bildet, aber wenig Raum für psychologisch ausgefeilte Figuren bietet. Der zweite Colter-Shaw-Roman bietet routiniert inszenierte Spannung vor dem Hintergrund eines nicht mehr ganz so populären Themas, kann aber mit der Klasse von Deavers Reihen und Lincoln Rhyme und Kathryn Dance nicht ganz mithalten.  

L.R. Carrino – „Der Verstoß“

Donnerstag, 17. März 2022

(Pulp Master, 124 S., Tb.) 
Don Antonio ist der Boss der kleinen Mafia-Organisation Acqua Storta und damit Teil der neapolitanischen Camorra. Seinen Sohn Giovanni hat er streng im Geiste der Bibel erzogen, doch bewegt sich der junge Mann außerhalb der Norm. Nachdem er als Jugendlicher einige Monate in der Jugendhaftanstalt verbracht hatte, heiratete er Mariasole Simonette, um den Krieg zwischen der Familie Don Antonio Farnesinis und der von Don Pietro Simonetti zu beenden, der nach Schießereien in Acerra, Nola und Pomigliano außer Kontrolle geraten war. Doch für Giovanni ist die Ehe kein sicherer Hafen. Er lässt sich an der Litorale Domizio von einer nigerianischen Prostituierten einen blasen, doch seine Leidenschaft gehört dem männlichen Geschlecht. 
In einer gesellschaftlichen Struktur wie der Mafia sind homosexuelle Neigungen natürlich tabu, aber bereits im Jugendknast hat Giovanni festgestellt, dass er beim Betrachten einer Vergewaltigung eines Mithäftlings durch zwei Männer einen Ständer wie noch nie in seinem Leben bekam. Als er sich in dem Salvatore, den Buchhalter der Acqua Storta, verliebt, ist ihm durchaus bewusst, dass er damit gegen den moralischen Kodex seines Umfelds verstößt, doch die Leidenschaft, die Giovanni mit Salvatore heimlich auslebt, steht unter einem ungünstigen Stern … 
„Salvatore geht schon wieder neben mir. Aber im Grunde ist doch nichts dabei, wahrscheinlich habe ich nur alle möglichen Filme im Kopf. Das hat mir noch gefehlt: Ich muss mich beruhigen, darf jetzt nicht in Panik geraten. Die Leute können es förmlich riechen, wenn sie merken, wie unsicher und nervös ich bin. Aber das mit Salvatore und mir ist ein Geheimnis in dieser Stadt. In dieser Stadt, wo alles hinter verschlossenen Türen geschieht, die Salz über die Schulter wirft, um das Böse und das Unglück abzuwenden. In unserer Stadt sind wir Waisen, sozusagen, und wir machen auch unsere Kinder zu Waisen, früher oder später.“ (S. 14) 
Der aus Neapel stammende Schriftsteller L.R. Carrino beschreibt in seinem nur 80 Seiten umfassenden Kurzroman ein Ding der Unmöglichkeit: Homosexualität in der Mafia. In einer Organisation, in der die Attribute von Männlichkeit und Stärke alles bedeuten, umreißt der Ich-Erzähler Giovanni gerade mal einen Zeitraum von drei Tagen, in denen die Ereignisse in umgekehrter Chronologie geschildert werden, bis das kompromisslose wie ernüchternde Finale wieder an den Romananfang anknüpft. Carrino lässt seine Figur den Strom der Ereignisse nur kurz umreißen. In Erinnerungen wird die von den verfeindeten Familien organisierte Hochzeit, die homosexuelle Vergewaltigung im Knast, das Verteilen von Löhnen und die Vorbereitungen zu dem von seinem Vater beauftragten Mord aus Rache jeweils kurz skizziert. 
Die verschiedenen homosexuellen Handlungen werden sehr plastisch, aber ohne echte Emotionen auf den rein sexuellen Akt reduziert. Während sich sein Geliebter Salvatore nach einer romantischen Beziehung sieht, versucht Giovanni die Beziehung nicht nur geheim zu halten, sondern auch seine wahren Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das ist Carrino bei aller Kürze sehr anschaulich gelungen. Der anschließend abgedruckte Beitrag von Christian Gabriele Moretti (Mitbegründer und Herausgeber des wissenschaftlichen Journals „Akademia“ der Universität von Calgary), „Der schwule Mafioso: Zur Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeit in Carrinos Roman Aqua Storta – Der Verstoß“, analysiert sehr anschaulich, wie vor allem in der italienischen, vom Faschismus geprägten Gesellschaft Homosexualität nach wie vor ein absolutes Tabu darstellt und wie die homophobe Intoleranz in der Welt des organisierten Verbrechens auch das krasse Romanende erklärt. 
Als Krimi taugt „Der Verstoß“ allerdings nur bedingt. Dafür muss Carrino hoch angerechnet werden, dass er auf kompromisslose Weise ein bis heute stark tabuisiertes Thema aufgegriffen hat. 

 

Stephen King – „Friedhof der Kuscheltiere“

Mittwoch, 16. März 2022

(Hoffmann und Campe, 384 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre bereits so erfolgreiche und teilweise durch namhafte Regisseure wie Brian De Palma, Tobe Hooper, Stanley Kubrick und George A. Romero verfilmte Bestseller wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Cujo“, „Schwarz“ und „Christine“ veröffentlicht, als 1983 mit „Pet Sematary“ sein wohl angsteinflößendstes Werk erschien – das mittlerweile zweimal verfilmt (davon einmal mit Fortsetzung) wurde und vor allem in Punk-Rock-Kreisen sehr inspirierend wirkte. 
Als Louis Creed den Posten als Leiter der Krankenstation der University of Maine übernimmt, zieht er mit seiner Frau Rachel und den beiden Kindern, der fünfjährigen Ellie und dem zweijährigen Gage, an den Rand der Kleinstadt Ludlow, wo er sich sofort mit dem älteren Nachbarn Jud Crandall anfreundet. Dieser erzählt ihm nicht nur interessante Geschichten aus der Vergangenheit der Stadt, sondern weist ihn auch in das Geheimnis des Pfades ein, der von der Grenze des geräumigen Grundstücks, auf dem die Creeds jetzt leben, durch Grasland, Wälder und Felsen hinauf zu einem einst von den Micmac-Indianern angelegten Tierfriedhof führt. Eines Tages unternimmt Jud mit der ganzen Creed-Familie einen Ausflug dorthin, worauf Ellie sich sorgen macht, dass ihr Kater Church bald sterben könnte. Schließlich liegt ihr neues Zuhause dicht an der Route 15. Louis beschließt, den Kater zu kastrieren, worauf dieser weit träger und somit ungefährdeter wirkt. Louis hat sich gerade in der Krankenstation eingelebt, als ein Student eingeliefert wird, der beim Joggen von einem PKW erfasst und an einen Baum geschleudert wurde. 
Für Victor Pascow kommt jede Hilfe zu spät, aber der Sterbende röchelt noch ein paar Worte, in denen er erwähnt, dass der Tierfriedhof nicht der richtige Friedhof sei, und schließlich: „Der Acker im Herzen eines Mannes ist steiniger, Louis. Ein Mann bestellt ihn … und lässt darauf wachsen, was er kann.“ In der Nacht darauf führt Pascow den schlafwandelnden (?) Louis zu dem Tierfriedhof, doch glaubt Louis am nächsten Tag, diese Episode nur geträumt zu haben. Churchs Kastrierung hat offensichtlich nicht zur Verlängerung seines Lebens beigetragen, denn wenig später wird tot in der Nähe der Straße aufgefunden. Jud führt Louis mit dem Kater zum Tierfriedhof und führt ihn noch ein Stück weiter, wo Louis den Kadaver vergräbt. Am nächsten Morgen taucht Church im Haus der Creeds wieder auf. Außer Louis hat aus der Familie auch niemand etwas von dem Begräbnis mitbekommen, da Louis‘ Familie zu Rachels Eltern geflogen ist. Nach ihrer Rückkehr beklagt sich zwar vor allem Ellie über den widerlichen Gestank des Katers, aber sonst bemerkt außer Louis kaum die Veränderung, die in dem Tier vorgegangen ist. 
Dazu zählt vor allem die grausame Art, mit der Church nun seine Opfer zerlegt. Doch mit Church ist erst der Anfang einer Kette von schrecklichen Ereignissen in Gang gekommen, an denen Jud mit seinen Erzählungen von der Geschichte des Friedhofs nicht ganz unschuldig ist … 
„Die Laster waren an allem schuld. Diese verdammten Laster. Aber das stimmte nicht. Er spürte, wie der Tierfriedhof an ihm zerrte – und etwas, das dahinter lag. Seine Stimme, die einst eine Art verführerisches Wiegenlied gewesen war, eine Stimme, die Trost in Aussicht stellte und eine verträumte Art von Macht, klang jetzt tiefer und verhängnisvoll – hart und bedrohlich. Halt dich da raus. Aber er wollte sich nicht heraushalten. Dafür reichte seine Verantwortung zu weit zurück.“ (S. 295) 
Es ist überliefert, dass Stephen King selbst so abgestoßen von seiner Geschichte gewesen sei, dass er meinte, damit eine persönliche Grenze überschritten zu haben. Tatsächlich geht einem die Story eines ganz gewöhnlichen Familienvaters, der den Tod des geliebten Haustiers und vor allem seiner Liebsten nicht auf sich beruhen lassen kann. Statt die gewöhnlichen Phase der Trauer zu durchlaufen, fordert er das Schicksal heraus, lässt sich durch die besorgniserregenden Geschichten seines Nachbarn animieren, die Toten eben nicht in Ruhe zu lassen, sondern alles zu unternehmen, sie wieder ins Leben zurückzuführen – wofür er einen schrecklichen Preis bezahlen muss. 
Insofern liefert Stephen King eine höchst moralische Geschichte ab, die davor warnt, den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod auf „magische“ Weise zu manipulieren. Was dabei herauskommt, wenn man die Toten nicht ruhen lässt, muss Louis Creed auf furchtbare Art am eigenen Leib feststellen. Dabei drückt die sehr geradlinig mit einem sehr überschaubaren Ensemble inszenierte Geschichte nur die Verzweiflung aus, die der Tod eines geliebten Wesens, sei es Mensch oder Tier, bei den Hinterbliebenen auslöst. Die einzelnen Stationen beschreibt King so minutiös, dass sein Publikum kaum vermeiden kann, sowohl die körperlichen Strapazen als auch die seelischen Nöte seines Protagonisten nachzuempfinden. Die Spannung bleibt dabei allerdings etwas auf der Strecke, da die Ereignisse allzu vorhersehbar sind. Doch das Grauen hat sich da längst schon in die Knochen geschlichen und lässt sich so schnell nicht ablegen. 

 

Michael Connelly – (Jack McEvoy: 3) „Tödliches Muster“

Montag, 14. März 2022

(Kampa, 474 S., HC) 
Durch seine mittlerweile mehr als 20-bändige und erfolgreich als Streaming-Serie von Amazon verfilmte Reihe um den LAPD-Detective Hieronymus „Harry“ Bosch ist Michael Connelly zu einem der wichtigsten Krimi-Autoren der Gegenwart avanciert. Etwas Abwechslung in sein literarisches Schaffen bringen seine sporadisch fortgeführten Serien um den Anwalt Mickey Haller und den Journalisten Jack McEvoy, jüngst auch Renée Ballard als junge Polizistin, deren Wege sich mit Harry Bosch mehr als nur kreuzen. Nach „Der Poet“, der im Original 1996 erschien, und dem 2011 veröffentlichten zweiten Band „The Scarecrow“, der zunächst als „Sein letzter Auftrag“ veröffentlicht wurde und nun von Kampa als „Die Vogelscheuche“ neu aufgelegt worden ist, erscheint wieder mehr als zehn Jahre später nun der dritte Band um den Journalisten Jack McEvoy. 
Mit seinen Büchern zu den Serienkillern „Der Poet“ und „Die Vogelscheuche“ hat sich der Journalist Jack McEvoy einen Namen machen können, doch sowohl sein Ruhm als auch seine Ersparnisse aus den Buchverträgen schmelzen dahin. Nachdem er für die „Los Angeles Times“ und den Blog „Velvet Coffin“ gearbeitet hat, schreibt McEvoy nun für das Online-Nachrichtenportal Fair Warning, dessen Gründer Myron Levin auch Chefredakteur, Reporter und Hauptspendenbeschaffer ist und das sich dem Verbraucherschutz verschrieben hat und vor allem Skandale in der Automobil-, Pharma- oder Tabakindustrie aufdeckt. 
Als McEvoys One-Night-Bekanntschaft Christina Portrero mit gebrochenem Genick ermordet aufgefunden wird, gerät der Journalist ins Visier der Ermittlungen der beiden LAPD-Detectives Mattson und Sakai. Als McEvoy auf eigene Faust Nachforschungen zu ihrem Fall anstellt, stößt er auf eine Atlantookzipitale Dislokation, eine sogenannte innere Enthauptung, bei die Wirbelsäule von der Schädelbasis getrennt wird, als Todesursache und versucht über die Website causesofdeath.net weitere Fälle in Erfahrung zu bringen. 
Dabei findet er heraus, dass es nicht nur mehrere Frauen gibt, die auf diese ungewöhnliche Art zu Tode gekommen sind, sondern dass sie auch noch ihre DNA zu einem preiswerten Analyseinstitut namens GT23 geschickt haben, um vor allem etwas über leibliche Eltern oder weitere Verwandten zu erfahren. Allerdings hat das Institut die Daten an anderen Firmen weiterverkauft, bei denen es offensichtlich Datenschutzlücken gibt. Bei Portreros Freundin Tina Hill kommt der Journalist nicht weiter, auch die Cops geben sich zugeknöpft. Zusammen mit seiner Kollegin Emily Atwater und seiner Ex-Geliebten Rachel Walling, die einst für das FBI arbeitete, macht sich McEvoy auf eine gefährliche Jagd nach einem Mann, der im Darknet als der Shrike bekannt ist … 
„Ich machte nur meine Arbeit, aber es störte mich, dass weder Hill noch Mattson das so sahen. Für sie war ich ein Störfaktor. Das bestärkte mich in meinem Entschluss herauszufinden, was mit Tina Portrero und den drei anderen Frauen genau passiert war. Rachel hatte gesagt, sie wollte die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen. Ich schon. Zum ersten Mal seit Langem hatte ich wieder eine Story, die mich nicht mehr losließ. Und das fühlte sich gut an.“ (S. 120) 
Auch wenn Connelly mit Mickey Haller und Jack McEvoy zwei Figuren geschaffen hat, die nicht direkt mit polizeilichen Ermittlungen zu tun haben, sind sie doch genau in diesem Metier tätig. McEvoy versichert sich deshalb der Profiling-Expertise seiner Ex Rachel Walling, deren gemeinsame Beziehung wieder neuen Schwung erhält, aber auch wieder die gefährlichen Klippen von Misstrauen zu überwinden hat. Connelly entwickelt den Plot recht geradlinig. Ähnlich wie in seinen Bosch-Romanen lässt der Autor seine Leser an McEvoys kleinteiligen Schritten teilhaben. Nur selten wird später die Ich-Erzähler-Perspektive aufgebrochen, um kurz einen der Beteiligten an der Weitergabe des DNA-Materials und schließlich auch den Shrike zu Wort kommen zu lassen. Dazu hat Connelly auch noch ein aktuell brisantes gesellschaftliches Thema aufgegriffen und es vor dem Hintergrund des real existierenden Nachrichtenportals Fair Warning in einen Plot gepackt, der dramaturgisch geschickt bis zum furiosen Finale immer mehr an Fahrt, Spannung und Brisanz aufnimmt. Connellys dritter McEvoy-Roman kommt zwar nicht an die besten Bosch-Werke heran, bietet aber schnörkellose Krimi-Unterhaltung mit einem interessanten Thema. 

 

Mario Puzo – „Der Pate“

Freitag, 11. März 2022

(Kampa, 640 S., HC) 
Wenn Francis Ford Coppolas dreifach Oscar-prämiertes Meisterwerk „Der Pate“ (1972) zurecht als die Mutter aller Mafia-Filme gilt, trifft dies natürlich auch umso mehr auf die Romanvorlage von Mario Puzo aus dem Jahre 1969 zu. Obwohl Puzo selbst nie Kontakt zu Vertretern der Mafia hatte, ist es ihm gelungen, ein authentisches Bild vor allem des außergewöhnlichen Familiensinns und Ehrenkodex einer einflussreichen Mafia-Familie zu zeichnen. Puzo schrieb zusammen mit Coppola nicht nur das Drehbuch zur Filmadaption seines Romans, sondern arbeitete auch an den Drehbüchern zu den Film-Fortsetzungen mit. 
Fassungslos muss der Bestattungsunternehmer Amerigo Bonasera im New Yorker Strafgericht miterleben, wie die jungen Männer, die seine Tochter krankenhausreif geschlagen haben, zu einer milden Bewährungsstrafe verurteilt werden. In seiner Verzweiflung will er sich an Don Corleone wenden, dem er zur Hochzeit seiner Tochter Connie ebenso seine Aufwartung macht wie Corleones Patensohn Johnny Fontaine, der von seiner zweiten Frau zum Narren gehalten wird, und der Bäcker Nazorine, der darum bittet, dass sein zukünftiger Schwiegersohn Enzo nicht in den Krieg muss, damit er seine schwangere Tochter Katherine zur Frau nehmen kann. Don Corleone steht in dem Ruf, keine Bittsteller zu enttäuschen, doch dafür erwartet er absolute Loyalität, die ihm seine Freunde durch regelmäßige kleine Geschenke oder Gefälligkeiten unter Beweis stellen. Dabei war es ein langer Weg, den Vito Andolini bis zu seiner jetzigen Stellung zurückgelegt hat. 
Nachdem sein Vater nach einem ungenügend geklärten Konflikt den örtlichen Mafiaboss im sizilianischen Dorf Corleone getötet hatte und eine Woche später selbst erschossen worden war, schickten Verwandte seinen zwölfjährigen Sohn Vito nach New York, wo er in der Familie Abbandando aufwuchs und in Andenken an sein Heimatdorf den Namen Vito Corleone annahm. Er arbeitete im Lebensmittelladen seines Pflegevaters, heiratete eine junge Sizilianerin und bekam wenig später mit Santino seinen ersten Sohn. 1915 folgte sein zweiter Sohn Federico. 
Zusammen mit seinen Freunden Clemenza und Tessio überfielt Corleone LKWs und erschoss den Schutzgelderpresser Fanucci, was Corleone soviel Respekt in seinem Viertel verschaffte, dass er zum Schutzherrn italienischer Familien in seinem New Yorker Viertel avancierte. Er gründete eine Handelsgesellschaft für Olivenöl, schaltete seine Konkurrenten aus und wurde während der Weltwirtschaftskrise erstmals Don Corleone genannt. 
Nachdem er seinen Konkurrenten Maranzano ausgeschaltet und sogar Auftragskiller von Al Capone aus Chicago zur Strecke gebracht hatte, brachte Corleone Frieden in die Unterwelt von New York und verständigte sich mit den mächtigsten Verbrecherorganisationen der USA über eine gerechte Aufteilung der Gebiete und Interessen. Vom profitablen Geschäft mit Rauschgift ließ er aber die Finger. Zusammen mit seinen Frau und den mittlerweile drei Söhnen Sonny, Freddie und Michael sowie der Tochter Constanzia zog Don Corleone nach Long Beach. Als Connie Corleone im August 1945 auf dem Anwesen ihrer Familie den temperamentvollen Carlo Rizzi heiratet, vergnügt sich der verheiratete Sonny mit der Brautjungfer Lucy Mancini, während Michael mit seiner Freundin Kay Adams abseits der Familie sitzt. Doch je älter der für seine Weitsicht und Gelassenheit berühmte Don Corleone wird, desto mehr rückt der zunächst unscheinbare Michael als sein Nachfolger ins Rampenlicht. Doch bis dahin sind etliche Konkurrenten und Verräter in den eigenen Reihen auszuschalten … 
„Sie alle gehörten zu jenem seltenen Schlag von Männern, die sich weigerten, die Regeln der organisierten Gesellschaft zu akzeptieren, die nicht daran dachten, sich der Herrschaft anderer Menschen zu beugen. Es gab keinen Sterblichen, keine Macht, die ihnen ihren Willen aufzwingen konnte, es sei denn, es wäre ihr eigener Wunsch. Sie waren Männer, die ihre Freiheit mit List und Mord zu verteidigen wussten. Nur der Tod konnte ihre Entschlüsse ändern.“ (S. 410) 
Mario Puzo hat mit der „Der Pate“ eine Familien-Saga über zwei Generationen vorgelegt, die von der ersten Seite an fesselt. Geschickt beginnt der Roman auf dem Höhepunkt von Don Corleones Macht, um aus den Gefälligkeiten, die er seinen Bittstellern auf der Hochzeit seiner einzigen Tochter gewährt, den moralischen Kompass zu etablieren, mit dem der Don seine Macht aufgebaut hat. Dabei dreht es sich vor allem darum, der Familie ein sicheres Heim und Auskommen zu bieten, und vor allem Michael Corleone setzt später alles daran, dass seine Kinder nicht in das Mafia-Geschäft einbezogen werden.  
Puzo nimmt sich die Zeit, die Geschichte der wichtigsten Figuren ausführlich nachzuzeichnen, verleiht ihnen Charakter und zeichnet ihren Lebenswandel nach. Natürlich nehmen die Auseinandersetzungen mit anderen mächtigen Familien viel Raum in dem Epos ein. Jedes Machtvakuum wird gnadenlos von den Konkurrenten ausgenutzt, wichtige Persönlichkeiten müssen regelmäßig geschmiert, Verräter identifiziert und ausgeschaltet, Verluste in der eigenen Familie brutal gerächt werden – wenn auch manchmal erst nach Jahren, denn Rache ist, wie der Don einmal bemerkt, ein Gericht, das man am besten kalt serviert. 
Puzo beschreibt die Machenschaften der Mafia nicht als primär gewalttätiges Unternehmen mit dem Zweck der Gewinnmaximierung, sondern als Schachspiel, bei dem am Ende nicht unbedingt der Stärkste, sondern der Klügste gewinnt. Der Autor, der als Sohn italienischer Einwanderer im New Yorker Stadtteil Little Italy aufgewachsen ist, verwebt die interessanten Einzelschicksale wie des einst berühmten Sängers Johnny Fontaine, der nach einer Krise zum Hollywood-Star und Studiochef aufsteigt, und Don Corleones zunächst wegen seiner Militärzeit in Ungnade gefallenen Sohnes Michael immer wieder gekonnt ineinander, würzt seine epische Geschichte mit viel Sex und Gewalt sowie großartigen Dialogen, die Coppola letztlich so kongenial auf die Leinwand brachte, dass auch der Roman zu einem der bedeutendsten Werke der Unterhaltungsliteratur wurde.
Die Neuauflage in Kampas Reihe „Red Eye“ lohnt sich nicht nur wegen des Vorworts von Francis Ford Coppola, sondern wartet auch mit stylischem Cover und rotem Farbschnitt auf. 

 

Jim Thompson – „Revanche“

Montag, 28. Februar 2022

(Diogenes, 208 S., Tb.) 
Patrick „Pat“ Cosgrove ist gerade mal dreiunddreißig Jahre alt und hat bereits fünfzehn Jahre seines Lebens im Zuchthaus von Sandstone wegen eines gescheiterten Bankraubs abgesessen. Da seine Eltern mittlerweile verstorben sind und seine Schwester nichts mehr mit ihm zu tun haben will, konnte Cosgrove vor fünf Jahren nicht die erste Gelegenheit für ein Berufungsverfahren nutzen, und sucht nun per Brief jemanden, der sich vor dem Berufungsausschuss für ihn einsetzt. 
Der Psychiater Dr. Roland Luther aus Capitol City setzt sich nicht nur für den jungen Mann ein, sondern besorgt ihm auch eine Unterkunft, teure Kleidung und einen leichten Job beim Straßenbauamt. Wie Cosgrove sofort vom Doc erfährt, praktiziert er seit Jahren nicht mehr, unterhält seine psychiatrische Klinik nur als Tarnung für seine krummen Geschäfte. Bereits die Gespräche, die Luther mit Senator Burkman und Myrtle Briscoe, der staatlichen Beauftragten für den Strafvollzug, führt, lassen bei dem ehemaligen Bankräuber das Gefühl aufkommen, dass Luther seinen Schützling für eine Mission braucht, über die er allerdings kein Wort verlauten lässt. 
Die Sache wird für Cosgrove aber vor allem in dem Moment brenzlig, als er sich sowohl mit Luthers attraktiver Sekretärin Madeline Flournoy als auch Luthers promiskuitiver Frau Lila einlässt und den Detektiv E.A. Eggleston tot an seinem Schreibtisch entdeckt und die Leiche verschwinden lassen muss, um nicht als Täter ins Visier zu gelangen … 
„Mein ganzes Leben war versaut worden. Das Beste, worauf ich jetzt hoffen konnte, war, dass ich meine Bewährung nicht verlor. Madeline war genauso verdorben und verbrecherisch wie der Rest, und sie würde genauso für alles bestraft werden. Aber … Ich wünschte mir, ich könnte aufhören, an sie zu denken.“ (S. 192)
Jim Thompson (1906-1977) zählt wie seine weit prominenteren Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett zu den wichtigsten Vertretern des Noir-Krimi-Genres, wurde als Drehbuchautor für Stanley Kubricks Frühwerke „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ bekannt, erlebte aber kaum noch mit, dass seine Romane „The Getaway“, „The Killer Inside Me“, „A Hell of a Woman“, „Pop. 1280“, „The Kill-Off“, „After Dark, My Sweet“ und „Grifters“ teilweise sehr erfolgreich von Regisseuren wie Sam Peckinpah, James Foley und Stephen Frears verfilmt wurden. Sein sechster Roman „Recoil“ entstand inmitten seiner produktivsten Zeit. 1953 erschienen neben diesem Roman noch drei weitere. Dabei bedient sich Thompson eines fast schon klassischen Noir-Plots: Ein völlig unbedarfter junger Mann kommt dank der Großzügigkeit eines einflussreichen Mannes zwar aus dem Gefängnis frei, begibt sich aber in eine schwer zu fassende Abhängigkeit, bei der gleich zwei Femmes fatale eine tragende Rolle spielen, aber natürlich auch die üblichen Verdächtigen in Form von korrupten Politikern und gierigen Detektiven und Anwälten. 
Die Geschichte wirkt aber unnötig kompliziert aufgebaut, lässt so die Motive der Beteiligten bis zum Ende nicht so recht erkennen, so dass der meist als Ich-Erzähler eingesetzte Cosgrove nur ahnen kann, was mit ihm geplant wird, denn keiner der Leute, die ihm vermeintlich Gutes tun, rückt mit der Sprache raus, bis Cosgrove eines Abends überraschend vor einer Leiche im Büro eines Detektivs steht. „Revanche“ ist sicher nicht der beste Roman von Thompson, fasziniert aber durch seine undurchsichtigen Figuren, die über dem ganzen Setting schwebende unheilschwangere Atmosphäre und einen Hoch knisternder erotischer Spannung. 

 

Jim Thompson – „Texas an der Kehle“

Samstag, 26. Februar 2022

(Ullstein, 144 S., Tb.) 
Als Sohn eines Verlegers von Sonderbeilagen hat es Mitch Corey nicht leicht gehabt und schon gar kein Gefühl dafür entwickelt, dass es die Menschen nicht gut mit ihm meinen könnten. Nach dem Tod seines Vaters verdiente sich Mitch seine Brötchen als Hotelpage und lernte dort Teddy kennen, die als Bilanzbuchhalterin einer Erdölgesellschaft gutes Geld verdiente. Teddy drängte ihn zur Heirat, wurde schnell schwanger und erklärte ihrem Mann, dass er sich um das Baby zu kümmern habe, während sie sich um den Lebensunterhalt kümmern würde. Doch als Mitch herausfand, dass seine verrückte Frau als Prostituierte arbeitete, war es mit der Liebe vorbei. 
Der gemeinsame Sohn Sam wuchs in einem Internat auf. Mittlerweile hat Mitch eine Karriere als Berufsspieler eingeschlagen und lernt Red kennen, die ihn so sehr liebt, dass sie ihm beim Abzocken von Würfelspielern hilft und ihn auch heiraten will. 
Das ist zwar auch ganz in Mitchs Sinne, doch ist er nach wie vor mit Teddy verheiratet, die sich ihr Stillschweigen über das Arrangement gut bezahlen lässt. So schrumpft das Vermögen, das sich Mitch und Red erspielt haben, auf dramatische Weise. Um wieder flüssig zu werden, erhält Mitch die Gelegenheit, eine Aktienoption bei dem Ölbaron Zearsdale wahrzunehmen, doch dafür fehlt ihm wieder das nötige Kapital. Nun muss er sich schnell eine lukrative Einnahmequelle erschließen, ohne dass Red davon etwas erfährt … 
„Er brauchte Texas mit der Rastlosigkeit, der Ungeduld und dem Selbstvertrauen seiner Menschen, deren Verhältnis zum Geld von der Freude am Risiko geprägt war. Hier musste er einsteigen. Wo die Menschen nicht wie in anderen Gegenden schlapp und ängstlich das Geld eingemottet auf der Bank alt werden ließen und lieber zu Bridgekarten griffen! Er hatte nur diese Chance.“ (S. 47) 
Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Erstlings-Roman „Now and on Earth“ aus dem Jahre 1942 (2011 als „Jetzt und auf Erden“ in deutscher Erstveröffentlichung bei Heyne erschienen) hat Jim Thompson 1965 mit „Texas by the Tail“ einen humorvollen Noir veröffentlicht, der hierzulande erst als „Kalte Füße auf heißem Boden“ bei König (1973) und 1988 in gleicher Übersetzung als „Texas an der Kehle“ in der Krimi-Reihe von Ullstein erschien. Thompson hatte zuvor seine später erfolgreich verfilmten Romane „After Dark, My Sweet“, „The Getaway“, „The Grifters“ und „1280 schwarze Seelen“ geschrieben und einen Schlaganfall hinter sich.  
„Texas an der Kehle“ wartet zwar mit einigen Noir-Elementen auf, spielt aber geschickt und ironisch mit ihnen. So verkörpert Teddy die obligatorische Femme fatale, allerdings wird ihr eher eine Nebenrolle zugedacht, die vor allem in den häufig eingestreuten Rückblenden auftaucht, aber immerhin noch so großen Einfluss auf den Protagonisten ausübt, dass sich dieser auf gefährliche Missionen begibt, um zu kaschieren, dass das für die Hochzeit mit Red angesparte Kapital für unliebsame Erpressungszahlungen verwendet worden ist. Thompson beschreibt auf vergnügliche Art und Weise, wie Mitch und Red in Texas von Geld und Gier korrumpiert von einem Schlamassel ins nächste stolpern. Dabei webt der Autor in Rückblenden regelmäßig verschiedene Biografien ein und würzt seinen von spritzigen Dialogen geprägten Plot mit sinnlichen Anekdoten, die Mitch mit seinen beiden Frauen erlebt hat. Im Gegensatz zu Thompsons früheren Werken überwiegt hier die heitere Note und führt Mitch und Red nach einer abenteuerlichen Odyssee zu einem für einen Noir ungewöhnlichen Ende. 

 

Stephen Crane – „Geschichten eines New Yorker Künstlers“

Mittwoch, 23. Februar 2022

(Pendragon, 288 S., HC) 
Gerade mal 28 Jahre wurde der 1871 in Newark, New Jersey, geborene Stephen Crane, der für seine naturalistisch geschilderten Lebensentwürfe von Menschen bekannt wurde, die am Rande der Gesellschaft um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Cranes Blick auf die Armen ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil er selbst als Sohn eines Methodisten-Predigers keine Not zu leiden hatte, sich früh für das Schreiben begeisterte und nach dem Tod seiner Eltern sein Studium abbrach, um als Journalist in New York vor allem über das Leben in den Slums der Stadt zu schreiben. Diese Erfahrungen brachte Crane in seinen ersten, 1893 veröffentlichten Roman „Maggie, a Girl of the Streets“ ein, der das Zentrum der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ bildet. Neben „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ und dem damit korrelierenden Roman „Georges Mutter“ enthält das Buch viele Geschichten als deutsche Erstveröffentlichung. 
In der eröffnenden, 1902 erstmals veröffentlichten Titelgeschichte beschreibt Crane die Nöte einer Künstlergemeinschaft im New York der 1890er Jahre, das verzweifelte Warten auf ausstehende Honorarzahlungen, das Einteilen der kaum noch vorhandenen Nahrungsvorräte und das schwierige Haushalten mit dem wenigen Geld, das durch den Verkauf von Zeichnungen und Geschichten reinkommt. Dabei ist Crane gar nicht so penetrant darauf aus, Mitleid für seine Figuren zu erzeugen, doch führt seine einfühlsame Sprache genau dorthin. Wenn er beschreibt, wie Penny seine zwanzig noch verbliebenen Cent in zwei Stück Kuchen investiert, von denen er auch ein Stück dem alten Tim abgibt, zeichnet Crane nicht nur das triste Bild eines täglichen Überlebenskampfes. Er beschreibt damit ebenso, dass diese armen Menschen trotz ihrer Armut noch nicht ihre Würde und Nächstenliebe verloren haben. 
Besonders eindringlich ist Crane diese lebensnahe Schilderung in seinem Debüt-Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ gelungen, den Crane 1893 noch unter Pseudonym veröffentlichte. Mit Maggie Johnson, die mit ihrem Bruder Jimmie und ihren alkoholsüchtigen Eltern in einer schäbigen Mietskaserne in der Bowery aufwächst, sich in einer Textilfabrik mit dem Nähen von Kragen und Manschetten abmüht und sich in den großspurigen Pete verliebt, beschreibt Crane ein berührendes Schicksal, wie es viele Mädchen geteilt haben dürften, die von einem besseren Leben geträumt haben und bitter enttäuscht wurden. Ein ähnliches Schicksal teilt George Kelcey in dem Roman „Georges Mutter“. Es stellt sich heraus, dass er im selben Mietshaus wie Maggie wohnt, dass ihr Schicksal vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätten, wenn ihre jeweiligen Träume sie nicht in die Irre geführt hätten. Denn so wie sich Maggie von Petes arroganten Getue blenden lässt, führt auch Kelceys Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung nicht zu der erhofften Wende in seinem Leben. 
„Sein brummender Schädel brachte ihn zu der Einsicht, dass es Zeit war, sein Leben zu ändern. Sein Magen vermittelte ihm die Erkenntnis, dass die Weisheit darin lag, ein guter Mensch zu sein. Der Blick in die Zukunft gab jedoch wenig Anlass zur Hoffnung. Vor einer Rückkehr zum alten Trott graute ihm. Für die tägliche Müh und Plage war er nicht geschaffen. Er zitterte beim bloßen Gedanken daran. Doch auch der Weg durch die goldenen Pforte des Lasters hatte seinen Reiz verloren.“ (S. 181) 
Sowohl Maggie als auch George leiden massiv unter dem familiären Umfeld, in dem sie aufwachsen. Während Maggies Eltern im Alkohol die Flucht aus der bedrückenden Realität suchen, ist es bei Georges Mutter der Glauben, an den sie sich so fest klammert, dass sie immer wieder versucht, dass ihr Sohn sie in die Kirche und zur Betstunde begleitet. 
Crane schildert eindringlich den Kampf, den seine Figuren nicht nur ums Überleben, sondern auf dem Weg zum Glück bestreiten, ohne aber aus ihrem Milieu ausbrechen zu können. Selbst kleine Freuden wie ein zugelaufener Hund (in „Der kleine braune Hund“) oder die Teilnahme an einem Picknick („Das Picknick“) bringen nicht die erwünschten Veränderungen auf dem Weg zum Glück. Am Ende steht stets Ernüchterung und Enttäuschung über die geplatzten Träume und die erdrückende Einsicht, dass sich nichts ändern wird. 
Nachdem Pendragon im vergangenen Jahr mit „Die tristen Tage von Coney Island“ Stephen Crane der deutschsprachigen Leserschaft wieder nähergebracht hat, lädt auch „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ dazu ein, tief in Cranes schriftstellerisches Können einzutauchen.  

Jim Thompson – „Der Verbrecher“

Sonntag, 20. Februar 2022

(Ullstein, 124 S., Tb.) 
Jim Thompson (1906-1977) gehört leider zu jenen Schriftstellern, die Zeit ihres Lebens längst nicht die Beachtung erfahren haben, die sie verdienten. Dass er bereits im Alter von 19 Jahren dem Alkohol verfallen war, einen Nervenzusammenbruch erlitt und 1935 für drei Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, wirkte sich in der McCarthy-Ära nicht gerade förderlich für seine Karriere aus. Nachdem er seinen Lebensunterhalt mit True-Crime-Stories verdient hatte und erste Versuche scheiterten, in Hollywood Fuß zu fassen, veröffentlichte er Anfang der 1940er Jahre seine ersten Romane und hatte seine Blütezeit in den 1950er Jahren. Da schrieb er nicht nur die Drehbücher für Stanley Kubricks Frühwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“, sondern auch die Werke, die zumeist nach Thompsons Tod verfilmt wurden (u.a. „Getaway“, „Grifters“, „After Dark, My Sweet“). Zu den weniger bekannten Werken zählt der 1953 veröffentlichte Roman „The Criminal“, der bislang nur in der 1990 veröffentlichten Übersetzung von Olaf Krämer im Ullstein Verlag vorliegt. 
Der fünfzehnjährige Robert „Bob“ Talbert wird beschuldigt, die ein Jahr jüngere Nachbarstochter Josie Eddleman umgebracht zu haben. Als noch keine weiteren Grundstücke zwischen den Häusern der Talberts und Eddlemans bebaut waren, spielten die Kinder viel miteinander, doch kühlte das Verhältnis zwischen den Nachbarn merklich ab, als im Canyon Drive weitere Häuser entstanden. Während Jack Eddleman Karriere im Immobiliengeschäft gemacht hat, kommt Allen Talbert in Henleys Fliesenfirma nicht so recht voran. Der körperlich gut entwickelten Josie gefällt es, Jungen und Männern schöne Augen zu machen, und letztlich kann sich auch Bob nicht gegen Josies forsches Vorgehen wehren. 
Bob war auf dem Weg zum Golfplatz, um als Caddy etwas Geld zu verdienen und seinem Vater ein Geschenk kaufen zu können, als ihm Josie aufgelauert hat. Die Nachricht von ihrem Tod ist der Zeitung nur acht Zeilen wert, was den Chefredakteur aus der Haut fahren lässt. Er setzt seinen Reporter Donald Skysmith darauf an, die Geschichte auszuschlachten, während der bekannte Rechtsanwalt I. Kossmeyer versucht, den Jungen freizubekommen. Doch die öffentliche Meinung hat bereits ein Urteil gefällt … 
„Ich ging die Story noch mal durch. Und dieses Mal setzten die Zweifel ein, der Verdacht, den ich am Morgen hatte, begann zuzunehmen. Diese Menschen dachten, der Junge sei schuldig. Die, die ihn am besten kannten, seine eigenen Eltern, dachten, er sei schuldig. Wenn man versuchte, es auf den Punkt zu bringen, gab es keinen wirklichen Beweis.“ (S. 72) 
„Der Verbrecher“ liest sich fast wie eine der True-Crime-Stories, die Thompson zu Beginn seiner Karriere verfasst hat, wobei er die Geschichte aus der Perspektive verschiedener Beteiligter erzählt, beginnend mit dem Vater, der von dem nachbarschaftlichen Verhältnis zu den Eddlemans, seiner Arbeit in der Fliesenfirma und einem gemeinsamen Familienausflug berichtet, aber auch von einem Zwischenfall, bei dem Bob und Josie zusammen im Waschkeller der Talberts erwischt wurden. Thompson beschwört eine Atmosphäre von Neid, Gier und Verrat herauf, in der jeder der Beteiligten auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und kein gutes Haar an möglichen Konkurrenten und Nebenbuhlern lässt. 
So wird der Mord an dem vierzehnjährigen Mädchen vor allem durch die Presse mächtig aufgebauscht, und Thompson nimmt sich entsprechend viel Zeit, um die Verhöre, die der mit der Situation völlig überforderte Angeklagte mit den Reportern und seinem Anwalt führt, zu schildern. Thompson selbst lässt allein seine Figuren zu Wort kommen und enthält sich jeder bewertenden Aussage. So entsteht das düstere Szenario eines Verbrechens, das von der Justiz nicht aufgeklärt werden kann, durch die Hetzkampagne in den Medien aber so stark manipuliert wird, dass der Junge letztlich keine Chance hat. Damit präsentierte der Autor bereits in den 1950er Jahren, über welch meinungsprägende Macht die Medien verfügen. 

 

Jim Thompson – „Liebe ist kein Alibi“

Freitag, 18. Februar 2022

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Tommy Carver ist ein guter Student, aber als adoptierter Sohn eines bettelarmen Farmers sieht er sich eines Tages sogar gezwungen, ein angebissenes Brot aus dem Papierkorb der Englischlehrerin Miss Trumbull zu fischen, für die er seit vier Jahren Korrekturen an der Highschool von Burdock County, Oklahoma, liest. Der an sich harmlose Vorfall bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Der für seine langen Finger weitaus berüchtigter Hausmeister Abe Toolate beobachtet die Szene und berichtet dem Schulleiter Mr. Redbird davon, der den Jungen auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Tommys Probleme werden größer, als sein Vater es mit einem Mann von der Öl-Gesellschaft zu tun bekommt, der ihm ein großzügiges Angebot unterbreitet, dass Mr. Carver allerdings nicht annehmen kann, denn die fünfzehn Morgen der Carvers nützen der Öl-Gesellschaft wenig, wenn sie nicht auch das fünftausend Morgen umfassende Umland für sich gewinnen können, das wie das von den Carvers bewirtschaftete Land Matthew Ontime gehört, der nicht das geringste Interesse daran hat, Versuchsbohrungen auf den Ackerflächen zuzulassen. 
Als Matthew Ontime, mit dessen Tochter Donna ein heimliches Liebesverhältnis hat, eines Morgens tot im Pferch seines eigenen Schweinestalls aufgefunden wird, gerät Tommy in Verdacht, da der Mann mit Tommys Messer ermordet wurde. Weder sein Pa noch die ebenfalls adoptierte Mary wollen Tommy ein Alibi geben, was Tommy wenig verwundert, schließlich unterhält sein Dad ein verbotenes Verhältnis mit Mary, die wiederum auch schon Tommy verführt hat. Mr. Redbird und Miss Trumbull besorgen Tommy einen Anwalt aus Oklahoma City, doch selbst der bissig auftretende Kossmeyer kann nicht verhindern, dass der Junge zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird … 
„Sein Gedankenapparat arbeitete ganz anders als meiner. Ich könnte nie so denken wie er. Aber als ich jetzt den Ausdruck in seinen Augen sah, da wusste ich, dass alles, was er getan hatte, ebenso schwer für ihn gewesen war wie für mich. Schwerer vielleicht, weil er nämlich nicht um sein Leben, sondern um meines gekämpft hatte. Und ich wusste jetzt, dass er es nicht des Geldes wegen getan hatte.“ (S. 110) 
Mit seinem fünften, 1952 veröffentlichten und 1972 erstmals ins Deutsche übersetzten Roman „Cropper’s Cabin“ erzählt der mittlerweile kultig verehrte Jim Thompson weit mehr als nur eine einfache Kriminalgeschichte. Thompson, dessen Romane wie „Getaway“, „After Dark, My Sweet“, „Grifters“ und „Der Mörder in mir“ verfilmt wurden und der die Drehbücher zu den beiden Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ schrieb, zeichnet in dem dünnen Büchlein das Bild einer Gesellschaft, die allein als Folge staatlicher Willkür tief zerrissen erscheint. So lässt Thompson seinen Ich-Erzähler erklären, dass die in Oklahoma häufig anzutreffenden Namen Toolate und Ontime darauf zurückzuführen sind, dass das Stammeseigentum der fünf zivilisierten Indianerstämme vor der Bildung des Staates Oklahoma verteilt werden musste. Jedes vor dem dann bestimmten Zeitpunkt geborene Kind bekam ein Anteil von dem Stammesbesitz, jedes danach geborene bekam nichts und war zu einem Leben als einfacher, armer Indianer verdammt. Während das Mordopfer Matthew Ontime von dieser Regelung profitierte und als Besitzer von fast achttausend Morgen einer der reichsten Männer im Staat gewesen wäre, wenn er sein Land für Ölbohrungen verpachtet hätte, muss Abe Toolate seinen Lebensunterhalt als Hausmeister in einer Highschool verdienen. 
Thompson gewährt darüber hinaus auch Einblicke in die Bewirtschaftung des Ackerlandes und die Schwierigkeiten der Pächter, mit den Erträgen ihrer harten Arbeit über die Runden zu kommen. Aber auch Tommys schwierige Beziehungen zur wohlhabenden Ontime-Tochter Donna und der ehemaligen Prostituierten Mary, die sein Vater adoptiert hatte, damit sie sich um Tommy kümmern konnte, spielen eine Rolle in einem Roman, der eine recht unspektakuläre Geschichte erzählt, aber durch die atmosphärische Dichte gefällt. „Liebe ist kein Alibi“ erschien dann 1988 bei Goldmann Verlag erstmals in vollständiger Übersetzung und wurde leider nicht wie die meisten anderen bei Heyne oder Ullstein veröffentlichten Thompson-Werke neu von Diogenes aufgelegt.