Jim Thompson – „Getaway“

Samstag, 4. Juni 2022

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Obwohl Jim Thompson (1906-1977) bereits Anfang der 1940er Jahre einen Haufen Romane zu veröffentlichen begann (allein zwölf in den Jahren 1952-54), war dem alkoholkranken Schriftsteller lange Zeit kaum Erfolg beschieden. Das änderte sich erst mit seinen beiden Drehbüchern zu den Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ sowie dem 1959 veröffentlichten und 1972 von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw verfilmten Roman „Getaway“
 Dank des korrupten Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses, Benyon, wird der vierzigjährige Carter „Doc“ McCoy frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, schuldet dem korrupten Lokalpolitiker allerdings 15.000 Dollar, die er durch einen wohlüberlegten Überfall auf eine kleine Bank in Beacon City besorgen will. Die ist nicht der Bundeszentralbank angeschlossen, so dass die Bankräuber nichts ins Visier des FBI geraten. Bei dem Coup sind McCoy nicht nur seine vierzehn Jahre jüngere Frau Carol, sondern auch der paranoide und gerissene Gangster Rudy Torrento und dessen nervöser Gehilfe Jackson mit an Bord. Torrento bringt Jackson noch während des Überfalls um – je weniger Beteiligte sich die Beute teilen müssen, desto besser. Nachdem der erfolgreiche Überfall hundertvierzigtausend Dollar in bar und weitere zweihunderttausend in Papieren eingebracht hat, kommt es auch zwischen Doc und Torrento zu einer nahezu tödlichen Auseinandersetzung. Der totgeglaubte Torrento lässt sich von einem Veterinär zusammenflicken, nimmt ihn und dessen Frau als Geiseln und macht sich auf die Jagd nach McCoy. Der wiederum will zunächst seine Schulden bei Benyon begleichen und dann nach Mexiko fliehen. Durch einen verhängnisvollen Fehler seiner Frau muss McCoy die Flucht aber neu organisieren, was vermehrt zu Spannungen und Misstrauen zwischen dem Paar führt. Mittlerweile hängt ihnen nicht nur Torrento, sondern auch die Polizei an den Fersen… 
„Doc hatte das Gefühl, sich haltlos im Kreis zu drehen. Sosehr es ihn auch drängte, Carol zu glauben – die Zweifel wollten sich nicht ausräumen lassen. Er gestand sich, dass dieser fast krankhafte Argwohn Teil seines Wesens war. Als Berufsverbrecher konnte er es sich einfach nicht leisten, jemandem völlig zu vertrauen. Und Untreue grenzte in seiner Vorstellung an Verrat und war entweder ein Zeichen für eine gefährliche Charakterschwäche oder für einen Treuebruch, was nicht minder gefährlich war. Jedenfalls bildete die Frau ein Risiko in einem Spiel, das kein Risiko duldete.“ (S. 86) 
In erster Linie scheint Jim Thompson, der als kurzweiliges Mitglied der kommunistischen Partei unter der McCarthy-Ära zu leiden hatte und als Alkoholschmuggler seine eigenen Erfahrungen mit einem Leben am Rande der Legalität sammelte, in „Getaway“ die Flucht eines Ehepaars zu beschreiben, das sich in den vier Jahren, die Doc McCoy im Zuchthaus verbrachte, nicht nur entfremdet hat, sondern sich während der Flucht und des Carols nahezu unverzeihliches Missgeschick die Beute zwischenzeitlich an einen Betrüger aus den Augen verloren zu haben, immer wieder versichern muss, dass die Beziehung noch funktioniert, dass man einander vertraut und liebt, folglich unentbehrlich für einander ist. 
Doch Thompson nutzt seine Gangster-Ballade auch dazu, ein äußerst düsteres Bild eines Staates zu zeichnen, in dem sich die meisten Menschen in öden Jobs abrackern müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wie konträr sich die hart arbeitende Bevölkerung und die Gangster gegenüberstehen, macht Thompson schon zu Beginn deutlich, wenn er Doc McCoy unter falschem Namen im Beacon City Hotel charmant mit großzügigen Trinkgeldern um sich werfen lässt, während ihm die Hotelangestellten unterwürfig jeden Wunsch von den Lippen abzulesen versuchen. 
Die Vorbereitung und die Durchführung des Banküberfalls nimmt in gebührender Kürze geschildet und bildet für Thompson nur die Ausgangssituation, nach der sich nicht nur McCoy und Torrento misstrauisch beäugen, sondern vor allem McCoy und Carol den Stand ihrer Ehe auf den Prüfstein stellen. Indem der Autor immer wieder geschickt die Perspektiven wechselt, macht er deutlich, aus welch unterschiedlichen Welten die beiden stammen. Carol wird beispielsweise als ehemalige Bibliothekarin beschrieben, die bei ihren spießigen Eltern in einem leblosen Zuhause lebte, einem leblosen Job nachging und in ihrem altjüngferlichen Dasein einigelte. McCoy ist dagegen durch und durch ein Verbrecher mit Leib und Seele. 
Die Spannung des gerade mal 220-seitigen Romans ergibt sich fast schon weniger aus der Frage, ob dem Paar die Flucht nach Mexiko gelingt, sondern ob die beiden das Ziel wohl gemeinsam erreichen oder ob einer der beiden lieber eigene Wege geht. Bemerkenswert ist zudem, wie Thompson das Verbrecher-Milieu mit dem des Arbeiter-Milieus vergleicht, mit einer ausgeprägten Arbeitsmoral, nach der Dinge einfach getan werden müssen, und einem Ehrenkodex, nach dem man Freunde nicht im Stich lässt. Dass das Verbrechertum allerdings auch nicht ein unbeschwertes Leben garantiert, müssen Thompsons Protagonisten auf die harte, oft tödlich endende Tour erfahren.


 

Peter Straub – „Der Hauch des Drachen“

Freitag, 3. Juni 2022

(Bastei Lübbe, 702 S., Tb.) 
Von der allmächtigen Präsenz seines berühmten Kollegen Stephen King überschattet, gelang es Peter Straub leider nie so recht, auch hierzulande ordentlich Fuß zu fassen. Dabei bewies er bereits mit seinen ersten Horrorromanen „Geisterstunde“ und „Schattenland“, dass er zu den echten Größen des Genres zählt. Diese Qualität konnte er in vielen seiner nachfolgenden Werke leider nicht aufrechterhalten, aber die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ machte durchaus deutlich, dass beide Schriftsteller in der gleichen Liga spielen. Noch vor „Der Talisman“ (1984) erschien 1982 mit „Der Hauch des Drachen“ Peter Straubs bis dato epischstes Werk, dessen billig aufgemachte Taschenbuch-Erstauflage bei Bastei Lübbe darüber hinwegtäuscht, dass Straub hier einen fesselnden und stilistisch anspruchsvollen Horror-Roman vorgelegt hat. 
Nach zwölf Jahren, in denen sie in London gelebt haben, beziehen Richard Allbee, ehemaliger Kinderstar der Fernsehserie „Daddy’s Here“, und seine Frau Laura im Mai 1980 ein Mietshaus in Hampstead. Richard hatte ebenso Vorfahren im Patchin County wie Clark Smithfield, der zwei Wochen zuvor mit seiner Frau und seinem Sohn Tabby in ein altes Haus im Kolonialstil in der Hermitage Road eingezogen war. Währenddessen arbeitet der Schriftsteller Graham Williams verzweifelt an seinem neuen Roman, Patsy McCloud verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von „War and Rememberance“, und Leo Friedgood befindet sich auf der Interstate 95 nach Woodville, wo er dem Werk von Telpro einen Besuch abstattet. Dort erfährt er, dass ein Gas mit dem Codenamen DRG-16 in großen Mengen ausgetreten sei. Leos Frau Stony angelt sich derweil in einer Bar einen neuen Liebhaber, die Journalistin Sarah Spry schreibt an ihrer Kolumne für die „Hampstead Gazette“. 
Hampstead ist eine relativ junge Stadt. Ihre Wurzeln liegen in den Familien Williams, Smith, Green und Taylor, die 1640 am Beachside Trail siedelten. Fünf Jahre darauf stieß ein Mann namens Gideon Winter hinzu, der sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit bald den Namen „Drachen“ einhandelte. Zwei Jahre nach seiner Ankunft raffte eine schreckliche Missernte fast alles Vieh dahin, wenig später waren nahezu alle Kinder tot. Über die Jahre war Hampstead immer wieder von Gewaltausbrüchen heimgesucht worden, die sich ziemlich genau alle dreißig Jahre wiederholen. Auf den Schwingen der sich über Hampstead ausbreitenden tödlichen Gaswolke wird das Böse in der Stadt auf grausame Weise erneut entfesselt. Kinder und Jugendliche ertränken sich im Meer, Herzinfarkte raffen nicht nur ältere Menschen dahin. Die Nachfahren der vier ursprünglichen Familien sind nun wieder allesamt in Hampstead versammelt, so wie Gideon Winter 1924 in der Gestalt des Hummerfischers Bates Krell ebenfalls zurückgekommen zu sein schien, nun hat der Arzt Dr. Van Horne diese Rolle übernommen und bringt die Frauen der Gemeinde um. Williams, McCloud, Allbee und dem jungen Tabby bleibt nicht viel Zeit, um dem „Drachen“ zu zerstören. 
„Das Wesen, das einst Dr. Van Horne war, saß in seinem abgedunkelten Wohnzimmer und schaute in den alten Spiegel, den der Arzt gekauft hatte. Was er in dem Spiegel sah, waren Szenen der Zerstörung und des Ruins – rauchende Trümmer und die Reste zerborstener Wände – die zeitlosen Szenen der Vernichtung. Aufgerissene Straßen, die sich zu unpassierbaren Haufen von Betonbrocken getürmt hatten, Brücken, die in das Wasser gesunken waren, das sie hätten überspannen sollen, noch glühende Aschenhaufen, um die herum Flammen züngelten, wenn ein kalter Wind hindurchfuhr, brodelnder Qualm, wenn der Wind sich wieder legte…“ (S. 424) 
Es ist – zugegeben – nicht ganz leicht, in Peter Straubs 700-Seiten-Epos über die Zerstörung einer Stadt hineinzukommen. Mit der Vorstellung unzähliger Figuren, die im weiteren Verlauf oftmals keine Rolle mehr spielen, weil sie getötet worden sind, und Zeitsprüngen zwischen den 1960er, 1970er Jahren sowie der 1980 spielenden Gegenwart legt Straub einen holprigen Start hin, der seinen Lesern Konzentration und Geduld abverlangt. Doch sobald sich das Geschehen auf das Quartett fokussiert, das am Ende den persönlichen Kampf gegen den „Drachen“ aufnimmt, entfaltet der Autor gekonnt ein apokalyptisches Szenario, in dem die Gaswolke letztlich nur als Katalysator dient, um das Böse zu entfesseln. 
Bei der Art und Weise, wie Zerstörung und Gewalt in Hampstead um sich greifen, erweist sich Straub als äußerst phantasievoll, bringt Slasher-Horror, Zombie-Apokalypse und sogenannte „Triefer“ zusammen, denen man eigentlich mit Mitleid begegnen müsste. Das Finale zieht sich leider ebenso in die Länge wie die Einführung, aber dafür sind Straub die Charakterisierung seiner Figuren wunderbar gelungen, und er versäumt es nicht, die schrecklichen Ereignisse sprachlich anspruchsvoll vor den Augen seines Publikums auszubreiten. Trotz einer Längen und unnötig komplexer Struktur ist Straub mit „Der Hauch des Drachen“ ein nicht nur epischer, sondern überwiegend mitreißender Horror-Roman gelungen, der es mit Kings Epen „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Es“ aufnehmen kann. 

 

James Patterson – „Die 17. Informantin“

Dienstag, 31. Mai 2022

(Limes, 382 S., Pb.) 
Seit seinem 1976 erschienenen und gleich mit dem Edgar Allan Poe Award für das Beste Erstlingswerk ausgezeichneten Thriller „The Thomas Berryman Number“ (dt. „Der Auftrag“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Patterson vor allem mit seiner 1993 initiierten Reihe um den Psychologen und Detective Alex Cross in die Herzen der Thriller-Fans geschrieben. Aber auch die Bücher um den „Women’s Murder Club“ oder „Club der Ermittlerinnen“, die 2001 mit „1st to Die“ ihren Anfang nahm, finden sich regelmäßig auf den Bestseller-Listen wieder. Mit „Die 17. Informantin“ liegt nun schon der 17. Titel der Reihe vor. 
Yuki Castellano, stellvertretende Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, bekommt einen äußerst interessanten Fall auf den Tisch. Der Werbeproduzent Marc Christopher wirft seiner direkten Vorgesetzten Briana Hill, mit der er auch einige Zeit lang liiert gewesen ist, vor, dass sie ihn mit vorgehaltener Pistole zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Zwar zeigt sich Castellanos Chef, Leonard „Red Dog“ Parisi, etwas skeptisch, was die Erfolgsaussichten betrifft, steht aber voll hinter seiner engagierten Staatsanwältin. 
Da Christopher zum einen die angezeigte Vergewaltigung mit einer in seinem Wecker installierten Kamera gefilmt hat und zum anderen mit Paul Yates einen Kollegen als Zeugen benennt, der ebenfalls seine Erfahrungen mit Hill machen durfte, sieht Castellano sowohl der Anhörung vor der Grand Jury als auch dem anschließenden Prozess gelassen entgegen. Doch als Christopher seine Aussage vor Gericht unnötig ausschmückt, beginnt Castellano an der Glaubwürdigkeit des Werbefilmproduzenten zu zweifeln. 
Währenddessen wird ihre Freundin Lindsay Boxer, Detective beim San Francisco Police Department, von der Obdachlosen Millie Cushing auf mehrere Morde an Obdachlosen hingewiesen, für die allerdings die Kollegen im Bezirk Mitte zuständig sind. Als sie zusammen mit ihrem Partner Richard Conklin Informationen zu den Morden sammelt, bekommt Boxer den Eindruck, dass ihre Kollegen Stevens und Moran wenig tun, um die Morde aufzuklären. Doch Boxer kommt mit ihren eigenen Ermittlungen zu den Mordfällen auch nicht voran. 
„Das Tatmuster dieses Täters bestand darin, wehrlose Obdachlose in der Dunkelheit und aus nächster Nähe zu erschießen, und zwar irgendwo, wo es keine Überwachungskameras gab. Und dann puff. Vom Winde verweht. Dass dieser Irre so dicht an seine Opfer herangekommen war, bedeutete, dass sie keine Angst vor ihm gehabt hatten. Sie hatten nicht geschrien, waren nicht weggelaufen, hatten sich nicht gewehrt. Vielleicht kannten sie ihn. Vielleicht war er sogar einer von ihnen.“ (S. 255) 
James Patterson und seine seit Jahren bewährte Co-Autorin Maxine Paetro folgen in „Die 17. Informantin“ bewährten Mustern. Die parallel entwickelten Handlungsstränge der Ermittlungen zu den Morden an den Obdachlosen und der Prozess gegen Briana Hill wegen Vergewaltigung sorgen durch die bewährt kurzen, meist drei- bis vierseitigen Kapitel, für hohes Tempo, die schlichte Sprache lässt den Leser quasi durch den Plot fliegen. 
Im Gegensatz zu den immer globaleren Schreckensszenarien, denen sich Alex Cross gegenübersieht, gefällt die Plot-Struktur in der „Women’s Murder Club“-Reihe nach wie vor durch ein bodenständiges und glaubwürdiges Setting. Allerdings geben sich Patterson/Paetro kaum noch Mühe mit der Figurenzeichnung. Die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Reporterin Cindy Thomas werden hier nur am Rande erwähnt. Bei Yuki Castellano kommen noch Beziehungsprobleme mit ihrem abwesend wirkenden Mann Brady ins Spiel, bei Lindsay gesundheitliche Probleme – das war’s. 
So bietet „Die 17. Informantin“ flott und routiniert inszenierte Thriller-Kost, die allerdings ohne jeglichen Tiefgang auskommt. 

Joe Hill – „Vollgas“

Sonntag, 29. Mai 2022

(Festa, 478 S., eBook) 
Um sich von dem Namen seines übermächtigen Vaters, Horror-Ikone Stephen King, zu emanzipieren, schreibt Joseph Hillström King seit jeher unter dem Pseudonym Joe Hill, hat sich aber mit Romanen wie „Blind“, „Teufelszeug“ und „Christmasland“ längst aus dem Schatten des Mannes lösen können, der wie kein Zweiter die moderne Horror-Literatur geprägt hat. Während sein Vater mit Joe Hills jüngeren Bruder Owen King schon den epischen Roman „Sleeping Beauties“ zusammen geschrieben hat, ist es bei Joe Hill und Stephen King bislang nur bei Kurzgeschichten zu einer Zusammenarbeit gekommen, die sich in dem von Festa herausgegebenen Band „Vollgas“ in Form zweier eindrucksvoller Geschichten wiederfindet. Die übrigen elf Geschichten können das hohe Niveau der beiden Gemeinschaftsarbeiten allerdings nicht immer halten. 
Mit der gemeinsam geschriebenen Geschichte „Vollgas“, die von HBO verfilmt werden soll, nimmt die Sammlung immerhin gleich ordentlich Fahrt auf. Nach einem unerfreulichen Zwischenfall, bei dem ein junges Mädchen und Roy Klowes auf brutale Weise getötet wurden, befindet sich die Bikergang The Tribe von Vince Adamson und seinem rebellischen Sohn Race auf der Fahrt nach Vegas und macht im Painted Desert Halt, wo sich die Truppe über ihr weiteres Vorgehen abstimmen muss. Dean Clarke hatte vor, mit einem Startkapital von 60.000 Dollar mit Race ein Meth-Labor in Smith Lake aufzubauen, wozu ihm Vince mit zwanzig Riesen aushalf, doch das Labor brannte bereits am ersten Betriebstag aus. Nun will sich Race die 60 Riesen von Clarkes Schwester in Show Low zurückholen. Nachdem ein Truckfahrer die Unterhaltung mitverfolgt hat, macht er sich mit seinem Truck zunächst vom Acker. Als der Tribe eine Stunde später wieder auf den Truck stößt, macht der Fahrer nach und nach kurzen Prozess mit den Gang-Mitgliedern… 
Im Nachwort macht Joe Hill keinen Hehl daraus, dass „Vollgas“ von Richard Mathesons fabelhafter Geschichte inspiriert wurde, die der junge Steven Spielberg als „Duell“ verfilmt hat. Auch wenn „Vollgas“ wenig originell wirkt, hat sie doch das nötige Tempo und den Nervenkitzel, um überzeugen zu können. 
In „Das Karussell“ besucht der 18-jährige Paul mit seiner Freundin Geri, ihrem Bruder Jake und dessen Freundin Nancy das am Ende des Cape Maggie Piers gelegene Karussell „Wild Wheel“, dessen Tiere eine verstörende Kollektion grotesker Wesen darstellen. Der Karussellmann hat zu jedem der ungewöhnlich aussehenden Tiere eine exklusive Geschichte parat. Nach ein paar Runden auf dem Karussell lassen sich die vier Freunde weiter durch den Freizeitpark treiben, bis Nancy feststellt, dass ihr ein nagelneuer Fünfziger abhandengekommen ist. Kaum spricht Paul die Vermutung aus, dass der Karussellmann dafür verantwortlich gewesen sein könnte, als er Nancy auf das Pferd half, nimmt Jake dem mittlerweile seinen Rausch ausschlafenden Karussellbetreiber zwei Zwanziger ab, doch wenig später entwickeln die Tiere des Wild Wheel ein furchterregendes Eigenleben… 
In „Wolverton Station“ begegnen uns während einer Zugfahrt Wölfe in Menschengestalt, „An den silbernen Wassern des Lake Champlain“ bekommen wir eine Variation des Ungeheuers von Loch Ness vorgesetzt, in „Faun“ trifft sich eine exklusive Großwild-Jäger-Truppe. Nach diesen wenig inspirierenden Geschichten taucht mit „Überfällig“ wieder ein echtes Highlight auf. 
Nachdem sich seine Eltern gemeinsam in dem Auto bei laufendem Motor in ihrer Garage aus dem Leben geschieden sind, hat John Davies seinen Job als Fahrer bei einer Spedition verloren und bekommt zufällig die Möglichkeit, in der Bücherei, in die er das längst überfälliges Buch „Eine wunderbare Geschichte“ seiner Mutter zurückbringen wollte, den Büchereibus zu fahren. Doch seine Kunden scheinen oft aus einer anderen Zeit zu kommen…
 „Die Möglichkeit, dass jemand aus den 60er Jahren aufgetaucht sein könnte, um ein überfälliges Buch zurückzugeben und vielleicht neuen Lesestoff auszuleihen, hatte nicht die Wirkung auf mich, die man vielleicht erwarten würde. Ich hatte keine Angst, zu keinem Zeitpunkt. Ich war nicht beunruhigt. Eher verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit und auch eine gewisse mild amüsierte Verwirrung.“ (S. 203) 
Mit „Meine Welt dreht sich nur um dich“ präsentiert Hill eine unterhaltsame Science-Fiction-Geschichte über ein Mädchen, das zu seinem Geburtstag von seinem Vater eine Kristallkugel mit einer hässlichen Meerjungfrau geschenkt bekommt, zur Feier des Tages aber einen Münz-Freund mietet, der ihr eine Stunde lang wie Aladins Flaschengeist nahezu alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Gemeinsam machen sie sich zur Spitze der Speiche auf, um einen echten Sonnenuntergang zu erleben. Doch damit ist das Abenteuer noch längst nicht vorbei… „Tweets aus dem Zirkus der Toten“ verbindet auf intelligente, satirisch angehauchte Weise klassischen Horror mit den Tücken moderner Kommunikationskanäle, in „Mums“ wird die Leiche der beerdigten Mutter von Jack durch eine ungewöhnliche Samen-Mischung zu unnatürlichen Leben wiedererweckt. 
Die wiederum mit Stephen King verfasste Geschichte „Im hohen Gras“ erzählt von der Fahrt, die Cal DeMuth mit seiner im sechsten Monat schwangeren Schwester Becky von Portsmouth zu Onkel Jim und Tante Anne nach San Diego unternehmen und dabei auf dem Parkplatz einer Kirche aus dem nahegelegenen Feld den Hilferuf eines Jungen vernehmen. Doch als Becky und Cal dem Ruf in das hohe Gras folgen, erwartet sie das pure Grauen… 
Ebenso interessant wie die besten Geschichten in diesem Band sind das Vorwort und die Anmerkungen zum Schluss, in denen Joe Hill davon schreibt, wie er als Sohn eines so berühmten Vaters seine ersten eigenen Versuche, Schriftsteller zu werden, bewerkstelligte und welche Personen, Schriftsteller und Geschichten ihn selbst inspiriert haben. Die Geschichten sind in einem Zeitraum von über einem Jahrzehnt entstanden und decken ein breites Spektrum an Themen ab, sind dabei aber unterschiedlich in Spannungsaufbau, Atmosphäre und Auflösung. Da mindestens die Hälfte der Geschichten großartig unterhalten, sind die weniger interessanten durchaus zu verschmerzen.  

David Baldacci – (Atlee Pine: 4) „Abgerechnet“

Mittwoch, 25. Mai 2022

(Heyne, 480 S., HC) 
Seit seinem 1996 veröffentlichten und von - und mit - Clint Eastwood (unter dem Titel „Absolute Power“) verfilmten Debütroman „Der Präsident“ ist David Baldacci zu einem der erfolgreichsten Thriller-Autoren avanciert, wobei er seine Fans vor allem mit interessanten Charakteren fesselt, deren Abenteuer gleich in Serie verfolgt werden können. In den letzten Jahren hat der US-Amerikaner sein Publikum mit der FBI-Agentin Atlee Pine bekannt gemacht, die seit dreißig Jahren auf der Suche nach ihrer verschwundenen Zwillingsschwester Mercy ist, die im Alter von sechs Jahren entführt worden ist, während Atlee selbst mit einer schweren Kopfverletzung gerade so mit dem Leben davongekommen ist. Nach den drei Bänden „Ausgezählt“, „Abgetaucht“ und „Eingeholt“ kommt die Reihe um die sympathische wie kämpferische Atlee Pine nun mit „Abgerechnet“ zu ihrem Abschluss. 
In den letzten Jahren ihrer Suche ist die FBI-Agentin, die mit ihrer Assistentin und Freundin Carol Blum eine Außenstelle in der Nähe des Grand Canyon in Arizona betreibt, ein großes Stück vorangekommen. Besonders hoffnungsvoll stimmt sie die Entdeckung, dass ihre Schwester noch lebt. Ihren bisherigen Ermittlungen nach ist Mercy von einem Mann namens Ito Vincenzo entführt und zu dem Ehepaar Joe und Desiree Atkins gebracht worden, die das Mädchen Rebecca Atkins nannten, gefangen hielten und misshandelten. Vicenzos Bruder, ein Mafioso, wollte sich mit dieser Aktion an Julie Pine, der Mutter der beiden Mädchen, rächen, da sie als Maulwurf für eine Regierungsbehörde dafür gesorgt hatte, Mafiafamilien zu Fall zu bringen. 
Atlee fand ein Foto, auf dem Mercy als ungefähr Vierzehnjährige zwischen Joes Eltern, Len und Wanda Atkins, zu sehen war. Außerdem ist sie auf ein Video der Überwachungskamera gestoßen, dass Mercy dabei zeigt, wie sie aus ihrem Gefängnis bei der Familie ausgebrochen ist. Mit einem Standbild aus dem Video startete sie einen Suchaufruf über das FBI, der allerdings ergebnislos blieb. Eine andere Spur erwies sich als vielversprechender. Ihr leiblicher Vater, Jack Lineberry, verfügt über nahezu grenzenlose finanzielle Mittel und stellt Atlee alles zur Verfügung, was sie für ihre weitere Suche nach Mercy benötigt. Pine findet zum einen heraus, dass in dem Sarg, in dem Tim Pine liegen sollte, Mercys Entführer begraben worden ist, zum anderen, dass nicht Mercy für den Mord an ihrem Peiniger Joe Atkins verantwortlich gewesen ist, sondern Desiree, die seitdem spurlos verschwunden ist. 
Während Atlee über Wanda Atkins die Spur zu Desiree aufnimmt, schlägt sich Mercy als Eloise „El“ Cain mit Jobs als Staplerfahrerin, bei einem Sicherheitsdienst und illegalen Kämpfen in Mixed Martial Arts durchs Leben. Als sie in einem Motel beobachtet, wie ein grobschlächtiger Mann seine zierliche Freundin misshandelt, schlägt sie ihn so nieder, dass er später an einem Hirnaneurysma verstirbt. Das bringt den rachsüchtigen Bruder, Peter Buckley, auf den Plan, dem zwar bewusst ist, dass sein Bruder Ken selbst für den Schlamassel verantwortlich ist, den er sich eingebrockt hat. Doch da er zur Familie gehörte, will er seinen Tod rächen, wozu er die ehemalige FBI-Agentin Britt Spector engagiert. Das Wiedersehen zwischen Mercy und Atlee findet so unter denkbar ungünstigen Bedingungen statt. Vor allem für Mercy bedeutet das Wiedersehen eine große Umstellung in ihrem bisherigen Leben. 
„Es hatte nie jemanden gegeben, der ihr wirklich wichtig war, weil da niemand war, dem sie wichtig war. Wenn man sein Leben nach diesen Prinzipien führte, kamen einem so grundlegende Gefühle wie Liebe und Zuneigung abhanden. Sie verkümmerten wie Muskeln, die nicht gebraucht wurden. Statt echte Bindungen einzugehen, hatte Mercy sich darauf beschränkt, anderen, die zum Treibgut der Gesellschaft gehörten, ab und zu mit ein paar Münzen auszuhelfen.“ (S. 379f.) 
Mit Atlee Pine hat David Baldacci eine faszinierende Figur geschaffen, deren familiärer Hintergrund bereits so außergewöhnlich genug ist, um daraus eine Romanhandlung zu kreieren. Aber die Beziehungen zwischen Tim und Julie Pine auf der einen und Atlees leiblichen Vater Jack Lineberry auf der anderen Seite bilden nur das – wenn auch komplex verschachtelte – Gerüst für die langjährige Suche der einzelgängerischen FBI-Agentin nach ihrer Schwester Mercy. 
Hier stehen ihr nicht nur die Ressourcen des FBI und ihres Kollegen von der Militärstrafverfolgungsbehörde CID, John Puller, zur Verfügung, sondern auch die Unterstützung ihres leiblichen Vaters. Der Thriller-Plot kommt aber durch den unglücklichen Zusammenstoß zwischen Mercy und dem Bruder eines rachsüchtigen Geschäftsmannes zustande, der nicht nur den vermeintlichen Mord an seinem nichtsnutzigen Bruder rächen will, wie sich herausstellt. Die parallele Suche von Peter Buckley und Atlee Pine nach Mercy Pine sorgt für Tempo und Spannung, zumal bei der Gegenüberstellung der Parteien einiges an Action aufgeboten wird. 
Obwohl Baldacci hier leicht den Bogen überspannt und am Ende auch etwas rührselig wird, ist ihm letztlich ein souverän durchkomponierter und packender Thriller gelungen, der vor allem durch die Frauen-Power in Gestalt der beiden Schwestern, aber auch der abtrünnigen FBI-Agentin Britt Spector und natürlich Atlee Pines Assistentin Carol Blum zum Ausdruck kommt. Da haben die Männer nicht viel zu lachen. Alles in allem ist Baldacci mit „Abgerechnet“ ein würdiger Abschluss der Reihe um die hartnäckige FBI-Agentin Pine gelungen.  

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 5) „Kalt wie dein Herz“

(Diogenes, 512 S., Pb.) 
Auch wenn Dennis Lehane hierzulande vor allem wegen seiner erfolgreich verfilmten Romane „Mystic River“ (Clint Eastwood, 2003), „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Ben Affleck, 2007) und „Shutter Island“ (Martin Scorsese, 2009) bekannt geworden ist, gingen seine Bücher in seiner US-amerikanischen Heimat schlagartig häufiger über den Ladentisch, als Bill Clinton dabei gesehen wurde, wie er beim Aussteigen aus der Air Force One Lehanes Roman „Prayers for Rain“ in der Hand hielt. Es war der bereits fünfte, 1999 veröffentlichte Roman in der Serie um die Privatermittler Patrick Kenzie und Angela Gennaro, der hierzulande erstmals im Jahr 2001 unter dem Titel „Regenzauber“ erschien und nun in neuer Übersetzung von Peter Torberg als „Kalt wie dein Herz“ im Diogenes Verlag vorliegt. 
Im Februar empfing Patrick Kenzie zusammen mit seinem Kumpel Bubba die Klientin Karen Nichols, die sich von einem Stalker namens Cody Falk belästigt fühlte. Kenzie und sein schlagkräftiger Kumpel statteten Falk, der bereits einige Anzeigen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung auf seinem Konto aufwies, einen Besuch ab, der zur Folge haben sollte, dass Falk Karen Nichols in Ruhe ließ. Alles schien in Ordnung zu sein, doch nach ungefähr vier Wochen hinterließ Nichols eine Nachricht auf Kenzies Anrufbeantworter, auf die sich der Privatermittler nicht zurückmeldete, weil er mit seiner gerade angesagten Liebschaft, der Rechtsanwältin Vanessa Moore, auf die Bahamas fliegen wollte. Monate später erfährt Kenzie aus dem Radio, dass seine frühere Klientin nackt von der Aussichtsplattform des Costum House in den Tod gesprungen ist. 
Als sich Kenzie vor allem aus Schuldbewusstsein mit den näheren Umständen von Nichols’ Tod befasst, stößt er auf die Nachricht, dass ihr Freund David Wetterau in der Rushhour bei Rot über eine Straße ging, stolperte und von einem Auto so unglücklich erfasst wurde, dass er seitdem im Koma liegt. Karen Nichols fiel anschließend in ein tiefes seelisches Loch, verlor erst ihre Arbeit, dann ihr Auto und schließlich auch ihre Wohnung, danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt, mietete sich ein Motelzimmer und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. 
Für weitere Ermittlungen schließt sich Kenzie mit seiner alten Partnerin und Lebensgefährtin Angie Gennaro zusammen, die nach dem letzten desaströs verlaufenden Fall aus Kenzies Wohnung und Leben verschwunden ist, aber offenbar hängen die beiden noch sehr aneinander. Als sie Nichols‘ Mutter Carrie und Stiefvater Christopher Dawe aufsuchen, entfaltet sich allmählich das ganze Ausmaß der Tragödie, die mit einem Kindestausch begann und über den Tod von Karens Schwester über Erpressung führte. Dabei scheint auch Nichols‘ Psychiaterin Dr. Diane Bourne nicht ganz unschuldig gewesen zu sein, die nicht nur Beziehungen zu ihren Patienten und ihrem Sekretär Miles Lovell unterhielt, sondern auch vertrauliche Informationen durchsickern ließ. Schließlich stoßen Kenzie und Gennaro auf einen Psychopathen, der vor wirklich nichts zurückschreckt, um die Dawe-Familie zu vernichten. 
„Ich wusste nicht viel über ihn – wusste nicht, wie er hieß oder wie er aussah -, aber so langsam bekam ich ein Gespür für ihn. Es handelte sich, da war ich mir sicher, um den Mann, den Warren Martens im Motel gesehen und als denjenigen beschrieben hatte, der die Fäden in der Hand hielt. Er hatte Karen Nichols vernichtet, und nun hatte er Miles Lovell vernichtet. Seine Opfer einfach nur umzubringen schien ihn zu langweilen – stattdessen zog er es vor, sie in einem Zustand zurückzulassen, in dem sie sich selber wünschten, tot zu sein.“ (S. 249) 
Lehanes 1994 begonnene und sechs Bände umfassende Reihe um Kenzie und Gennaro zählt zu den besten Krimi-Serien überhaupt. Mit „Gone Baby Gone“ wurde der vierte und damit der „Kalt wie dein Herz“ direkt vorangegangene Roman von Ben Affleck mit Casey Affleck und Michelle Monaghan in den Hauptrollen auch erfolgreich verfilmt. An diese Qualität knüpft „Kalt wie dein Herz“ nahtlos an. Der Thriller thematisiert nicht nur die berufliche und vor allem private Annäherung der langjährigen Partner Kenzie und Gennaro, sondern auch einen besonders komplizierten Fall, in dem nicht nur munter mit falschen Identitäten gespielt wird, sondern Lügen, Mord, Entführung, Erpressung und Folter die Aufklärung des Falles in die Länge ziehen. 
Wie das aus Kenzie, Gennaro und dem skrupellosen Kriegsveteran Bubba Rogowski bestehende Trio die komplexen Zusammenhänge um Karen Nichols‘ Tod aufdröselt und den psychopathischen Täter systematisch in die Enge treibt, ist nicht nur packend mit sehr lebendigen Charakteren geschrieben, sondern auch mit der richtigen Portion Humor gewürzt. Das ist auch Peter Torbergs gelungener Neuübersetzung zu verdanken, der „Kalt wie dein Herz“ wie im Rausch durchlesen lässt. Besser kann Kriminalliteratur nicht sein! 

Peter Straub – (Blaue Rose: 2) „Koko“

Samstag, 14. Mai 2022

(Heyne, 559 S., Jumbo) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Straub hatte Anfang der 1970er Jahre mit seinen Mainstream-Romanen „Marriages“ (dt. „Die fremde Frau“) und „Under Venus“ (dt. „Das geheimnisvolle Mädchen“) zunächst noch mäßigen Erfolg, ehe er 1975 mit „Julia“ erstmals einen übernatürlichen Thriller präsentierte. In diesem Genre erreichte er mit den nachfolgenden Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“ und „Der Hauch des Drachen“ eine größere Popularität, bevor er durch seine Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ auch hierzulande zu einer wichtigen Stimme der phantastischen Literatur avancierte. Der nachfolgende Roman „Koko“ bescherte Straub schließlich seinen ersten World Fantasy Award
Der Kinderarzt Michael Poole ist im Sheraton Hotel in Washington, D.C., mit seinen Vietnamkriegskameraden verabredet, um gemeinsam an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Während er sich auf das Treffen mit seinem ehemaligen Lieutenant, Harry „Beans“ Beevers, Tina Pumo, dem Besitzer eines vietnamesischen Restaurants, und Conor Linklater vorbereitet, muss er an zwei weitere Kameraden denken, die er in Vietnam kennen und schätzen gelernt hat, den mittlerweile erfolgreichen Schriftsteller Tim Underhill und Manuel Orosco „M.O.“ Dengler, der bei einem Autounfall ums Leben kam, als er zusammen mit seinem Kameraden Victor Spitalny Fronturlaub in Bangkok machte. 
Bei ihrem Zusammentreffen kommt die Sprache sehr schnell auf eine Mordserie in Fernost, zu der Harrys noch als Berufssoldaten aktiven Brüder entsprechende Zeitungsberichte sammelten. Den Opfern wurden nicht nur Augen und Ohren entfernt, sondern auch Spielkarten in den Mund gelegt, auf denen neben kryptischen Botschaften der Name „Koko“ stand. Die Vermutung liegt nahe, dass Tim Underhill hinter „Koko“ stehen könnte, also machen sich Poole, Linklater und Beevers auf nach Singapur, wo sie den Schriftsteller vermuten, während Pumo sich weiterhin um sein Restaurant kümmern muss. Doch als das Trio Underhill tatsächlich ausfindig macht, hat Koko bereits wieder zugeschlagen. Offensichtlich räumt der Killer alle Journalisten aus dem Weg, die über die grausamen Morde an vietnamesischen Kindern bei Ia Thuc im Jahr 1968 berichten wollten, an denen Beevers Trupp beteiligt gewesen ist. Zusammen mit Underhill machen sich die drei Veteranen auf die Rückreise in die USA, wo Koko bereits weitere Zeitzeugen zu töten begonnen hat… 
 „Ich habe einen kleinen Jungen erschossen, sagte sich Poole. Doch er wusste, dass er dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden würde. Lieutenant Beevers hatte ein kleines Mädchen so lange gegen einen Baum geschleudert, bis dem armen kleinen Wesen der Kopf zersprungen war. Spitalny hatte Kinder in einem Graben bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wollte man sie dafür bestrafen, so musste man schon den ganzen Zug vor das Kriegsgericht stellen. Auch das war ganz entsetzlich. Diese Untaten würden keine Folgen haben. Was sich sozusagen in einem luftleeren Raum abspielte, zählte nicht. Das war das Schlimme.“ (S. 332) 
Peter Straub hat mit „Koko“ vor allem einen Vietnam-Roman geschrieben. Die Erinnerungen an den sinnlosen Krieg mit seinen brutalen Verbrechen an der Zivilbevölkerung verfolgen die vier Protagonisten noch heute. Und auch wenn sie sich mittlerweile ein neues Leben aufgebaut haben, können sie die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Vor allem können sie nicht zulassen, dass das sinnlose Morden fortgesetzt wird. Straub nimmt sich viel Zeit, sowohl seine vier Protagonisten als auch ihre Erinnerungen an ihren Einsatz in Vietnam ausführlich zu beschreiben. Es geht aber nicht nur um gemeinsame Vergangenheitsbewältigung, sondern auch darum, eine Mordserie aufzuklären. Dabei kommt der Autor nahezu ohne übernatürliche Elemente aus, mit denen er seine Erfolgsromane so überzeugend gespickt hat. Die begangenen Kriegsverbrechen sind grauenvoll genug, um sie noch in einen phantastischen Kontext zu stellen. Geschickt wechselt Straub immer wieder die Erzählperspektive, recht früh auch schon zu Koko, dessen Identität über den ganzen Roman hinweg immer wieder Rätsel aufgibt. So ist mit „Koko“ ein psychologisch tiefgründiger und extrem spannender Mix aus Kriegsroman und Krimi-Thriller gelungen, der zu Straubs besten Werken zählt. Es ist der 2. Band der „Blaue Rose“-Reihe, die mit der gleichnamigen Novelle begann und nach „Koko“ mit „Mystery“ und „Der Schlund“ fortgesetzt wurde. 

 

Dan Simmons – „Göttin des Todes“

Donnerstag, 5. Mai 2022

(Heyne, 318 S., Tb.) 
Dan Simmons hat den perfekten Start für seine Schriftsteller-Karriere hingelegt. Gleich mit seinem 1985 veröffentlichten Debüt „Song of Kali“ wurde er mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet und von Kollegen wie Dean Koontz („Der beste Erstlingsroman, den ich je gelesen habe“) und Stephen King hoch geschätzt. „Kein amerikanischer Autor der Gegenwart ist wie Dan Simmons befähigt, das Reale und das Irreale in gleichem Maße überzeugend zu verschmelzen“, wird Stephen King zitiert. Das trifft insbesondere auf Simmons‘ Debüt zu, das 1991 unter dem Titel „Göttin des Todes“ als deutsche Erstveröffentlichung erschien. 
Der amerikanische Schriftsteller Robert C. Luczak wird im uni 1977 von „Harper’s“ damit beauftragt, nach Kalkutta zu fliegen, um ein bisher unveröffentlichtes Manuskript des seit acht Jahren verschollenen bengalischen Dichters M. Das in Empfang ausfindig zu machen. Abe Bronstein, Herausgeber der kleinen Literaturzeitschrift „Other Voices“, für die Luczak überwiegend tätig ist, versucht vergeblich, seinen Freund von der Reise abzubringen. Für Luczaks Frau Amrita bietet die Reise zudem die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren und als potentielle Dolmetscherin tätig zu werden. 
Als Luczak mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen sieben Monate alten Tochter Victoria in Kalkutta landen, werden sie überraschenderweise von einem gewissen M.T. Krishna in Empfang genommen, der für einen verhinderten Freund des indischen Schriftstellerverbandes eingesprungen ist und sich als Teilzeitlehrer mit guten Kontakten zu Education Foundation der Vereinigten Staaten in Indien vorstellt. Am nächsten Morgen wird Luczak von Michael Leonard Chatterjee empfangen, der ihm als Vertreter des Schriftstellerverbandes von Bengalen versichert, dass M. Das noch lebe, doch von einem persönlichen Treffen zwischen Luczak und dem Bengalidichter will der Verband nichts wissen. Viel interessanter scheint die von Krishna arrangierte Begegnung mit dem Studenten Jayaprakesh Muktanandaji zu sein, der dem Amerikaner von einem Initiationsritus erzählt, bei dem die Kapalikas von jedem neuen Mitglied die Opferung einer menschlichen Leiche vor dem Standbild der Kali im Tempel der Kapalikas fordern. 
Im Laufe der Zeremonie wird diese Leiche durch Kali wiedererweckt. Als Luczak endlich das M. Das zugeschriebene Manuskript erhält, verbringt er eine schlaflose Nacht damit, das lange, verstörende Gedicht zu lesen, das sich ausführlich der hinduistischen Göttin des Todes und der Zerstörung widmet. Nun drängt Luczak sehr vehement darauf, M. Das persönlich zu treffen, worauf sich der in die Defensive getriebene Schriftstellerverband schließlich einlässt. Doch die Begegnung mit Das erschüttert Luczak zutiefst… 
„Ich habe eine Theorie zu Kalkutta entwickelt, obwohl Theorie eine zu hochtrabende Bezeichnung für eine intuitive Meinung ist. Ich glaube, es gibt Schwarze Löcher in der Wirklichkeit. Schwarze Löcher in der menschlichen Seele. Und tatsächlich Orte, wo aufgrund der Dichte von Elend oder schierer menschlicher Perversion die Beschaffenheit der Welt einfach auseinanderfällt und der schwarze Kern in uns alles andere verschlingt.“ (S. 314) 
Auch wenn der amerikanische Schriftsteller und Redakteur Robert Luczak die Hauptfigur in „Göttin des Todes“ verkörpert, nimmt die unheilvolle Atmosphäre in der indischen Metropole Kalkutta doch eine ebenso bedeutende Rolle ein. Simmons hält sich nicht lange mit einer Einführung auf, stellt nur kurz den Verleger Bronstein und den Ich-Erzähler Luczak vor, der sich bereits mitten in den Vorbereitungen für die Reise befindet. Die eigentliche Geschichte beginnt schließlich auch erst in Kalkutta, wo Luczak nicht nur mit dem allgegenwärtigen Elend konfrontiert wird, sondern auch etliche obskure Menschen kennenlernt, die das Mysterium um den seit Jahren verschwundenen Dichter M. Das nur intensivieren. 
In der detaillierten Beschreibung von Kulkuttas Atmosphäre und den dort verwirrenden Vorgängen liegt die Stärke von „Göttin des Todes“. Simmons liefert dabei auch einige eindringliche Beschreibungen der Riten rund um diese zerstörerische Göttin, konfrontiert seinen Protagonisten direkt mit ihrem Auftreten in seinen Träumen und legt so gekonnt die Grundlage für einen zunehmend verstörenden Plot, der nur durch den allzu versöhnlichen zu einem nicht ganz überzeugenden Schluss geführt wird. Simmons legte mit diesem atmosphärisch dichten Horror-Drama den erfolgreichen Start für seine Karriere, in der die Horror-Romane „Sommer der Nacht“, „Kinder der Nacht“ und „Kraft des Bösen“ ebenso nachhaltigen Eindruck hinterließen wie die Science-Fiction-Sagen um „Hyperion“ und „Endymion“, die Joe-Kurtz-Thriller und die historischen Romane „Der Berg“, „Terror“ und „Drood“

 

John Grisham – „Der Verdächtige“

Dienstag, 3. Mai 2022

(Heyne, 416 S., HC) 
Allein die Tatsache, dass seine ersten sieben Romane – von „Die Jury“ und „Die Firma“ über „Die Akte“ und „Der Klient“ bis zu „Die Kammer“, „Der Regenmacher“ und zuletzt „Das Urteil“ – verfilmt worden sind, spricht Bände über den Erfolg des ehemaligen Rechtsanwalts und Bestseller-Autors John Grisham. Seit seinem im Original 1989 veröffentlichten Debüt „Die Jury“ liefert der bekennende Baptist und Demokrat nahezu jährlich einen Bestseller ab und kehrt nun hin und wieder auch zu Figuren aus früheren Romanen zurück. So ist Jake Brigance, Grishams Protagonist aus „Die Jury“, zunächst 2013 in „Die Erbin“ zurückgekehrt, um dann noch einmal in „Der Polizist“ einen 16-Jährigen vor der Todesstrafe zu bewahren. Lacy Stoltz wiederum hat als Anwältin bei der Gerichtsaufsichtsbehörde in Florida in „Bestechung“ einen aufsehenerregenden Korruptionsfall aufgeklärt, bei der eine Richterin jahrelang erhebliche Bestechungsgelder kassiert hat. Nun wird sie mit einem Fall konfrontiert, bei dem ein amtierender Richter mehrere Morde begangen haben soll, die nie aufgeklärt werden konnten. 
Seit ihrem Erfolg vor drei Jahren scheint die Karriere von Lacy Stoltz beim Board on Judicial Conduct (BJC), zuständig für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern, ins Stocken geraten zu sein. Die dienstälteste Mitarbeiterin weiß weder, wohin ihre Beziehung zum FBI-Beamten Allie führt, noch ob sie sich vielleicht beruflich verändern soll. 
Da erhält sie einen zunächst anonymen Anruf von einer Frau, die sich später als die sechsundvierzigjährige Jeri Crosby vorstellt, die als geschiedene und alleinlebende Professorin Politikwissenschaft an der University of South Alabama in Mobile lehrt. Sie behauptet, dass ihr Vater Bryan Burke, Juraprofessor im Ruhestand, von einem amtierenden Richter namens Ross Bannick ermordet worden sein soll. Da weder Spuren noch Motiv ausgemacht werden konnten, ist allerdings nie jemand der Tat verdächtigt worden. Doch damit nicht genug: Jeri hat keine Kosten und Mühen gescheut, um weitere fünf ungelöste Morde ausfindig zu machen, die mit der gleichen Methode ausgeübt worden sind. Den Opfern wurde zunächst der Schädel zertrümmert, dann mit einem Nylonseil erdrosselt, wobei der Druck mit einem doppelten Mastwurf gesichert wurde. 
Offensichtlich rächt sich Bannick an all jenen, die ihn im Laufe seines Lebens gekränkt haben. Dabei beweist er unglaubliche Geduld und Vorsicht, und da die Morde in mehreren Bundesstaaten begangen wurden, sind nie irgendwelche Zusammenhänge untersucht worden. Auch wenn sich Lacy anfangs sträubt, sich mit diesen Vorwürfen auseinanderzusetzen, muss sie mit ihrem Team dem Fall widmen, als Jeri offiziell Beschwerde gegen Bannick einreicht. Die Professorin fühlt sich hinter ihrer anonymen Fassade so sicher, dass sie Bannick aufzuscheuchen versucht, indem sie ihm Gedichte schickt, die auf seine verschiedenen Opfer verweisen, doch Bannick ist auch in technischer Hinsicht so versiert, dass er bald herausfindet, wer ihm das Leben gerade so schwer zu machen versucht… 
„Die Person, die ihm nachstellte, war kein Cop, kein Privatdetektiv, kein Kriminalschriftsteller, der sich auf echte Fälle verlegt hatte und auf Nervenkitzel aus war. Sie war selbst betroffen, jemand, der seit vielen Jahren im Dunkeln agierte, beobachtete, Material sammelte, Spuren verfolgte. Er war mit einer neuen Realität konfrontiert, und brillant, wie er war, würde er auch damit fertigwerden. Er würde das Opfer finden und den Briefen ein Ende setzen. Schluss mit den albernen Gedichten.“ (S. 249) 
Um Lacy Stoltz noch einmal im Fall eines richterlichen Fehlverhaltens ermitteln zu lassen, brauchte es schon einen spektakulären Fall, den er mit der offensichtlichen Mordserie eines Richters auch spektakulär in Szene zu setzen weiß. Dabei wechselt Grisham immer wieder die Perspektive von Lacy Stoltz und Jeri Crosby auf der einen und Richter Ross Bannick auf der anderen Seite. Die persönlichen Hintergründe der drei Protagonisten kommen dabei auch nicht zu kurz, gehen allerdings auch nicht besonders in die Tiefe.  
Grisham konzentriert sich ganz auf die Jagd nach Bannick, die vor allem darin besteht, endlich Beweise für die ihm vorgeworfenen Taten zu finden, wobei vor allem das FBI involviert wird. Das hohe Tempo und die Spannung durch das Katz- und Maus-Spiel lassen fast darüber hinwegsehen, dass die Figur des Richters nicht besonders glaubwürdig gezeichnet ist und die Motivation seiner Taten mehr als fragwürdig erscheint, der Schluss fällt sogar enttäuschend aus. Ein spektakulärer Fall macht noch keinen guten Thriller aus, aber Grisham schreibt immerhin so routiniert und hat mit den beiden tragenden Frauenfiguren zwei sympathische Charaktere geschaffen, dass Grisham-Fans dennoch auf ihre Kosten kommen. Interessant ist dabei vor allem die Vorstellung, dass gerade ein Mann, der das Gesetz schützen soll, zum Verbrecher geworden ist.  

Dan Simmons – „Terror“

Freitag, 29. April 2022

(Heyne, 990 S., HC) 
Seit seinem 1985 veröffentlichten, mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debüt „Song of Kali“ (1991 erstmals als „Göttin des Todes“ in deutscher Sprache erschienen) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem im Horror- und Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht. 2007 schlug er mit dem historischen Roman „Terror“ ein neues Kapitel in seiner Laufbahn auf, das 2009 mit „Drood“ und 2014 mit „Der Berg“ eindrucksvoll fortgesetzt wurde. Mit dem fast 1000 Seiten starken „Terror“ versucht Simmons das Mysterium zu klären, wie die über hundertköpfige Besatzung zweier Royal-Navy-Schiffe bei der Expedition zur Durchquerung der Nordwestpassage spurlos verschwinden konnten. 
Am 19. Mai 1845 nehmen zwei Schiffe der Royal Navy - die HMS Terror unter Leitung von Kapitän Francis Crozier und ihr etwas kleineres, von Sir John Franklin geführtes Schwesternschiff HMS Erebus – von London aus Kurs Richtung Norden, um mit der legendären Nordwestpassage einen kürzeren Seeweg über die Arktis in den Pazifischen Ozean zu finden. Für Sir John Franklin ist es als Expeditionsleiter vielleicht die letzte Möglichkeit, seine Karriere ruhmreich zu beenden, nachdem er bereits vor dreiundzwanzig Jahren erfolglos versucht hatte, die Nordwestpassage bei einer Überlandexpedition durch Nordkanada zu finden. Von den einundzwanzig Männern, mit denen Franklin 1819 aufgebrochen war, starben neun Männer, von denen mindestens einer von den anderen aufgegessen wurde. Doch auch der neuen Expedition ist wenig Glück beschieden. Obwohl die Schiffe mit dicken Eisenplatten gepanzert und mit Heißwasserheizungen und Dampfmaschinen ausgestattet sind, frieren sie im Winter im Packeis ein. Dabei wird die Erebus von den sich ständig bewegenden Eismassen so schwer beschädigt, dass sie aufgegeben werden muss. Im Kampf gegen Temperaturen von minus 70° Grad, gegen durch verdorbene und zur Neige gehende Lebensmittel verursachten Hunger, der zu etlichen qualvoll dahinsiechenden Skorbut-Opfern führt, und schließlich gegen die wachsenden Differenzen innerhalb der über 130-köpfigen Besatzung gibt es immer mehr Todesfälle zu beklagen. 
Nach nicht mal einem Jahr sind drei Männer bereits an Schwindsucht und Lungenentzündung gestorben. Die Situation spitzt sich zu, als im Winter keine offenen Fahrrinnen mehr im Eis auszumachen sind und sich diese auch im folgenden Sommer nicht auftun. Dabei spielt allerdings nicht nur die Kälte und der Hunger eine tragende Rolle, sondern offensichtlich auch ein schwer zu definierendes, riesengroßes Monster, das einige Männer auf brutale Weise tötet. Einzig die durch das Fehlen ihrer Zunge stumme Eskimo-Frau Lady Silence könnte den übrig gebliebenen Männern einen Ausweg bieten… 
„Die Aufgabe eines Schiffs war der Tiefpunkt im Leben jedes Kapitäns. Es war das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Und in den meisten Fällen war es auch das Ende der Laufbahn bei der Navy. Für viele Kapitäne, die Francis Crozier persönlich gekannt hatte, war es ein Schlag, von dem sie sich nie mehr erholten. Aber Crozier empfand keine Verzweiflung dieser Art. Noch nicht. Viel wichtiger für ihn in diesem Augenblick war die blaue Flamme der Entschlossenheit, die immer noch in seiner Brust brannte: Ich will leben.“ (S. 553) 
Wie Dan Simmons in seiner Danksagung erwähnt, hat der Autor eine ganze Reihe an Quellen zur Rate gezogen, um die gescheiterte Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage nachzeichnen zu können. Es ist aber vor allem Simmons‘ eindringlicher, vor Details strotzender Schreibstil, der die Beschreibung der Erlebnisse in den letztlich drei Jahren der Expedition bzw. des Überlebenskampfes der Männer so authentisch macht. Simmons nimmt dabei die wechselnden Perspektiven sowohl der beiden Kapitäne Sir John Franklin und Crozier als auch des Schiffsarztes Harry D.S. Goodsir (der meist in altertümlicher Sprache Tagebuch führt), des Dritten Leutnants John Irving und des Unteroffiziers Harry Peglar ein. 
Auf diese Weise wird eine Atmosphäre geschaffen, die nicht nur die Körper und Geist herausfordernden Umstände bildlich vor Augen führt, sondern auch den Leser fast körperlich die unerträgliche Kälte und den Kampf gegen den Hunger und das unbekannte Wesen nachempfinden lässt, das auf dem Eis sein Unwesen treibt. Durch die Perspektivwechsel erledigt Simmons gleichzeitig die sorgfältige Charakterisierung der Expeditionsteilnehmer und macht so deutlich, wie es zu den aufrührerischen Protesten und der Spaltung der Crew gekommen ist. 
Eine besondere Rolle spielt schließlich die Inuit-Frau Lady Silence, deren Figur eine Brücke zu der Kultur schlägt, die es im Gegensatz zu den weißen Männern aus England gewohnt ist, im Eis zu leben. Auch wenn Dan Simmons die Handlung hätte arg straffen können, ist ihm ein Epos gelungen, das sich wie das authentische Zeugnis einer wahnwitzigen Expedition liest, wobei am Ende die Glaubensvorstellungen der Inuit näher ausgeführt und so die Expedition und ihre unerklärlichen Momente in einen anderen Kontext überführt werden, was dem Buch allerdings eher schadet als nützt. 

Stephen King – „In einer kleinen Stadt“

Samstag, 16. April 2022

(Hoffmann und Campe, 698 S., HC) 
Als Stephen King 1991 mit „Needful Things“ seinen 19. Roman veröffentlichte, war er schon längst der unangefochtene „King of Horror“, der mit Bestsellern wie „Carrie“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Stark – The Dark Half“ das Grauen in den Alltag meist kleinstädtischer Bürgerlichkeit Einzug halten ließ. Mit „In einer kleinen Stadt – Needful Things“ kehrt King in die fiktive Kleinstadt Castle Rock zurück, Schauplatz seiner vorangegangenen Bücher wie „Cujo“, „Stark – The Dark Half“ und „Dead Zone – Das Attentat“
Als in Castle Rock das Schild „Eröffnung demnächst!“ darauf hinweist, dass mit „Needful Things“ eine „neue Art von Laden“ seine Tore öffnet, ist die Neugier der Bevölkerung groß. Schließlich verkündet ein Schild für den 9. Oktober eine „Gala-Eröffnung“. Doch noch vor der offiziellen Eröffnung bekommt der elfjährige Brian Rusk mit, was es mit dem neuen Geschäft auf sich hat. Als er noch in Tagträumen an seine Lehrerin Miss Ratcliffe versunken ist, entdeckt er, dass das Schild am Laden schon wieder ausgewechselt worden ist. Neugierig betritt er das Geschäft, in dem ihn der betagte Leland Gaunt begrüßt und ihm als ersten Kunden einen speziellen Preis für das Objekt einräumt, das den Jungen möglicherweise interessiert. 
Auf die Frage, was Brian lieber als alles auf der ganzen Welt hätte, antwortet Brian prompt: „Sandy Koufax“. Tatsächlich findet Gaunt in seinem Karton mit Baseballkarte nicht nur die ersehnte Baseballkarte von Sandy Koufax aus dem Jahr 1956, sondern sie ist auch noch „für meinen guten Freund Brian“ signiert. Dafür muss Brian nur 85 Cent hinlegen, doch zur Bezahlung gehört noch die Ausübung eines an sich harmlosen Streiches, der darin besteht, die zum Trocknen im Garten aufgehängten weißen Laken von Wilma Jerzyck mit Schlamm zu bewerfen. Sie macht dafür Nettie Cobb verantwortlich, die einst ihren gewalttätigen Mann ermordet hatte und einige Jahre im Gefängnis verbrachte, bevor sie als Haushälterin bei Polly Chalmers eine neue Chance im Leben erhielt. Wilma und Nettie tragen nämlich schon seit einiger Zeit einen Streit aus, bei dem nun aber definitiv eine Grenze überschritten wurde. Andere Kunden von „Needful Things“ machen eine ähnliche Erfahrung wie Brian. Hugh Priest, der den städtischen Müllwagen fährt und wegen seiner Trunksucht immer wieder mit Henry Beaufort, dem Besitzer des Mellow Tiger, Ärger bekommt, erwirbt bei „Needful Things“ einen Fuchsschwanz, der ihn an das Kabrio seines Dads erinnert, Deputy Norris Ridgewick eine Angel und der verschuldete Stadtrat Danforth „Buster“ Keeton ein Pferderennspiel, mit dem er zukünftige echte Rennen simulieren und mit den Gewinnen die aus der Staatskasse veruntreuten Gelder zurückzahlen kann. Während diese Objekte nur so viel Geld kosten, wie der Käufer erübrigen kann, sind die damit verbundenen Streiche umso perfider, da sie Feindschaften wie zwischen den Baptisten und den Katholiken, zwischen Keeton und Ridgewick, zwischen Nettie und Wilma, auf die Spitze treiben. Selbst die Beziehung zwischen Sheriff Alan Pangborn und Polly Chalmers droht unter Leland Gaunts Ränkespiel zu zerbrechen. Als schließlich mit Ace Merrill ein früherer Krimineller in die Stadt zurückkehrt, beginnt das Fass überzulaufen, nachdem Wilma und Nettie haben ihren Streit bereits mit dem Tod bezahlen mussten … 
„Die Waren, die auf die Einwohner von Castle Rock einen solchen Reiz ausgeübt hatten – die schwarzen Perlen, die heiligen Reliquien, das Buntglas, die Pfeifen, die alten Comic-Hefte, die Baseballkarten, die antiken Kaleidoskope – waren alle verschwunden. Mr. Gaunt war zu seinem wahren Geschäft übergegangen, und wenn die Sache zu Ende ging, war das wahre Geschäft immer dasselbe. Der Gegenstand, mit dem er handelte, hatte sich im Lauf der Jahre geändert, genau wie alles andere, aber derartige Veränderungen waren oberflächlich, sie waren Guss mit unterschiedlichen Aroma auf dem gleichen dunklen, bitteren Kuchen. Letztendlich bot Mr. Gaunt ihnen immer Waffen an – und sie kauften immer.“ (S. 556) 
Stephen King nimmt sich einmal mehr viel Zeit, die Verhältnisse in Castle Rock zu beschreiben und die Schicksale so einiger ihrer Bürger so zu thematisieren, dass sie für den Leser zu Menschen aus Fleisch und Blut werden. Die einfühlsamen Charakterisierungen gehen auch schnell mit den Antipathien einher, die die einzelnen Figuren anderen Bewohnern der Stadt gegenüber empfinden. Dass der diabolische Geschäftsmann geschickt mit den Begierden und Animositäten innerhalb der Bevölkerung spielt, macht „Needful Things“ von Beginn an zu einer fesselnden Lektüre, da niemand von Leland Gaunts Kunden auch nur ahnt, was er mit den an sich harmlosen Streichen anrichtet. Da ist jeder Einzelne bereits so im Bann des Gegenstandes gefangen, der wichtiger als alles andere geworden ist, dass die Auswirkungen der Streiche gar nicht abzusehen sind. Die Vernunft geht bei der kleingeistigen Habgier völlig flöten, was am Ende in einem blutigen Fiasko mündet, bei dem King leider auch den Bogen etwas überspannt. Bis zum kriegsähnlichen Showdown bietet „In einer kleinen Stadt“ aber einen psychologisch fundierten Blick in die Seele einer Kleinstadt, in der es unter der Oberfläche eben nicht so idyllisch ist, wie es zunächst den Anschein hat.  

„Filmjahr 2021/2022 - Lexikon des internationalen Films“

Sonntag, 10. April 2022

(Schüren Verlag, 544 S., Pb.) 
Der „Filmdienst“ wird in diesem Jahr 75 Jahre alt und gilt gerade in unruhigen, von Corona-Lockdowns und Kriegen, die immer näher an unsere Haustür rücken, als fundierte Orientierungshilfe im kaum noch zu überschaubaren Filmgeschäft. Auch wenn die Zeitschrift „Filmdienst“ 2017 eingestellt worden ist, dient das Online-Portal fimdienst.de nach wie vor als kenntnisreicher Wegweiser durch das immense Angebot an Filmen, die sowohl für das Kino als auch Streaming-Dienste oder die direkte Auswertung auf DVD und Blu-ray produziert werden. 
Eine besondere Leuchtturm-Stellung nimmt nach wie vor Jahr für Jahr das von filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebene Film-Jahrbuch des „Lexikon des internationalen Films“ ein. Es fasst nicht nur alle in dem jeweils vergangenen Jahr veröffentlichten Kinofilme mit Synopsis, Kurzkritik und wesentlichen Credits zusammen, die auf dem Online-Portal besprochen worden sind, sondern lässt das Filmjahr auch in verschiedenen Essays und ausführlichen Rezensionen zu den wichtigsten Filmen Revue passieren. In dieser Hinsicht ist auch im Jahr 2021 viel passiert: 
„Auch wenn man nicht so genau sagen kann, woher dieser Reichtum rührt, verblüfft in der Zusammenschau der wichtigsten Filme des Jahres 2021 die Fülle und ästhetische Bandbreite der Werke. Sie holen das Leben zurück, die bunte Fülle des Daseins, seine Zumutungen und Fragen, aber auch den Trost, dass es selbst nach den dunkelsten Katastrophen ein neues Morgen gegeben hat.“ (S. 9)

Das „Filmjahr 2021/2022“ beginnt mit einer Auflistung der erfolgreichsten Filme des vergangenen Jahres, aufgeteilt in die besucherstärksten, die deutschen, Arthouse-, Dokumentar- und Kinderfilme, um dann Monat für Monat die wichtigsten Ereignisse in der Welt (in Schlagzeilen) und in der Filmwelt (in kurzen Artikeln) zu rekapitulieren. Nach diesem Überblick geht es mit ausführlichen Besprechungen der „20 besten Filme des Jahres“ ans Eingemachte. Hier setzen sich die Kritiker:innen von filmdienst.de ausführlich mit ihren Favoriten des Kinojahres auseinander. In ihren fundierten Rezensionen bekommt der Cineast noch einmal neuen Blick auf Oscar-prämierte Werke wie „The Power of the Dog“, „The Father“, „Minari“, „Dune“ und „Nomadland“ ebenso wie auf vielleicht noch zu entdeckende Filme wie „Titane“, „The Green Knight“, „Die Zähmung der Bäume“ und „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, gefolgt von einer ausführlichen Vorstellung von „15 bemerkenswerten Serien“ wie „Scenes From a Marriage“, „The Underdog Railroad“, „The North Water“, „Lisey’s Story“ und „Nine Perfect Strangers“
In den nachfolgenden Essays gehen die filmdienst-Autor:innen verschiedenen Themen rund um die Filmbranche und Filmkultur, ausgesuchten Themen und Motiven auf den Grund. Da werden das junge französische Genrekino vorgestellt, die Faszination rund um die erfolgreichen Kino-Figuren James Bond einerseits und Indiana Jones andererseits beleuchtet, Wong Kar-wais Einfluss auf das Kino untersucht und schließlich Filmschaffende wie Matt Damon, Simone Signoret, Kelly Reichardt, Denis Villeneuve und Bob Dylan vorgestellt. 
Interviews und Nachrufe runden den umfangreichen ersten Teil des „Filmjahrs 2021/2022“ ab, ehe im Hauptteil 1500 Filme (Kino, Fernsehen, Internet, Silberscheiben) in alphabetischer Reihenfolge kurz, knackig und fundiert vorgestellt werden. Herausragende Veröffentlichungen im Heimkino-Bereich, Preisträger deutscher und internationaler Filmfestspiele und -preise runden das Nachschlagewerk wie gewohnt ab. So lädt das Kompendium zum kurzen Nachschlagen ausgesuchter Filme ebenso ein wie zum Schmökern und Eintauchen in die wunderbar vielschichtigen Aspekte des Films.  

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Dornröschen“

Samstag, 9. April 2022

(Diogenes, 390 S., Tb.) 
Zwar hat Ross Macdonald (1915-1983) auch einige eigenständige Romane veröffentlicht (meist unter seinem Realnamen Kenneth Millar), doch berühmt geworden und damit in die Liga von Hardboiled-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgestiegen ist Macdonald durch seine 18 Bände umfassende Reihe um den empathischen Privatdetektiv Lew Archer. Der Diogenes-Verlag bringt Macdonalds einflussreiches Wirken durch neu übersetzte und mit je einem Nachwort von Donna Leon versehene Werke wieder verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit. Mit „Sleeping Beauty“ ist 1973 der vorletzte Band der langlebigen Reihe erschienen. Darin geht Archer einmal Verbrechen auf die Spur, deren Wurzeln lange in einer verwickelten Vergangenheit liegen. 
Privatdetektiv Lew Archer befindet sich gerade auf dem Rückflug von Mazatlán nach Hause, als er beim Landeanflug auf Los Angeles einen riesigen Ölfleck vor der Küste von Pacific Point entdeckt, unweit des verheerenden schwarzen Ölteppichs die dafür verantwortliche Bohrinsel. Wie Archer aus der Zeitung erfährt, gehört die Bohrinsel Jack Lennox, der verkündete, das Problem innerhalb der nächsten 24 Stunden aus der Welt geschafft zu haben. 
Da Pacific Point für den Detektiv einen seiner Lieblingsplätze an der Küste darstellt, fährt er nicht zu seiner Wohnung in West Los Angeles, sondern zum Strand, wo er eine junge Frau dabei beobachtet, wie sie einen ölverschmierten Vogel zu retten versucht. Archer nimmt sich der verzweifelten Frau an, die sich als Laurel Russo vorstellt und die Tochter von Jack Lennox ist. Doch kaum ist er mit ihr in seiner Wohnung angekommen, verschwindet sie spurlos – mit einer Flasche voller Schlaftabletten, die sie seinem Arzneischrank entnommen hat. Besorgt macht sich Archer auf die Suche nach Laurel und ruft schließlich ihren Mann an, den Apotheker Tom Russo, der Archer offiziell damit beauftragt, seine offenbar selbstmordgefährdete Frau zu suchen, von der er wieder einmal seit ein paar Wochen getrennt lebt. Archer klappert nach und nach die Menschen ab, die Laurel irgendwie nahestehen, ihre beste Freundin Joyce ebenso wie ihre Eltern Jack und Marian, ihre vermögende Großmutter Sylvia und Toms Cousine Gloria, die kurz davor steht, sich neu zu verheiraten, mit einem derzeit mittellosen Mann namens Harry. 
Besonders interessant entpuppt sich der Besuch bei dem ehemaligen Marine-Captain Benjamin Somerville, der nicht nur als stellvertretender Vorstand von Lennox’ Ölfirma fungiert, sondern mit dessen Frau Elizabeth sich Archer auf eine kurze Affäre einlässt. Für Somerville ist es bereits die zweite Katastrophe, für die er sich verantwortlich fühlt, nachdem er im Zweiten Weltkrieg sein Schiff Canaan Sound und viele Männer bei Okinawa durch einen Brand verloren hatte. Als für Laurel eine Lösegeldforderung über 100.000 Dollar eingeht, überschlagen sich die Ereignisse. Bei der Übergabe des Lösegeldes, das Sylvia Lennox bereitgestellt hat, wird John Lennox ebenso angeschossen wie der Entführer, hinter dem man Laurels früheren Bekannten Harold Sherry vermutet. Dann werden zwei weitere Männer ermordet aufgefunden … 
„Anstatt gleich loszufahren, saß ich eine Weile still in meinem Auto und blickte auf die Stadt hinaus, die sich wie eine leuchtende Landkarte bis zum Horizont erstreckte. Es war schwer, ihre sich ständig verändernde Bedeutung zu erfassen. All die Kringel, Punkte und Rechtecke verlangten, wie ein abstraktes Gemälde, nach Interpretation, und dazu war alles heranzuziehen, was die Erinnerung hergab. Der Gedanke an Laurel, die noch immer in diesem Labyrinth verschollen war, durchzuckte mich wie ein stechender Schmerz.“ (S. 326f.) 
Ross Macdonald schickt seinen engagierten Privatdetektiv Lew Archer ebenso wie seine Leser auf eine wilde Ermittlungs-Achterbahnfahrt, die ihren Ausgang zwar in einem Ölteppich hat, der sich vor der Küste von Pacific Point ausbreitet, vor allem aber in das verworrene Labyrinth einer Familie führt, die nicht erst durch die Katastrophe der Ölverschmutzung vor einer Zerreißprobe steht. Lew Archer muss sich die Puzzleteile der Familienverhältnisse mühsam zusammensuchen. 
Es scheint, als würde Macdonald seinen aufopferungsvoll um Aufklärung kämpfenden Detektiv innerhalb einer einzigen Nacht von Pontius zu Pilatus schicken. Aus den nicht immer aufrichtigen Fetzen der Interviews, die er mit den Mitgliedern der Russo- und Lennox-Familien führt, lassen sich nur schwer die Verantwortlichen ausmachen, für die Ölkatastrophe und das lang zurückliegende Schiffsunglück ebenso wie für die – möglicherweise nur vorgetäuschte – Entführung und die anschließenden Morde. Wieder einmal thematisiert Macdonald die Konflikte zwischen den Generationen innerhalb einer Familie, die Bürde, die Eltern ihren Kindern manchmal aufbürden, und die Kette von Ereignissen, die außereheliche Affären und Geldgier auslösen. 
„Dornröschen“ entwickelt sich nach etwas sperrigem Beginn mit dem Hopping von einem Interview-Partner zum nächsten zu einem echten Pageturner, sobald sich erahnen lässt, welch lang zurückliegende und dunkle Geheimnisse den neueren Verbrechen zugrunde liegen.  

John Irving – „Eine Mittelgewichts-Ehe“

Mittwoch, 6. April 2022

(Diogenes, 278 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist für seine oft skurril agierenden, manchmal auch körperlich deformierten und psychisch angeschlagenen Figuren bekannt, die sich in allerlei für den Normalbürger unvorstellbaren sexuellen Eskapaden hingeben. Das gelingt ihm meist so anschaulich, dass immerhin fünf seiner Werke (darunter „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) sogar verfilmt worden sind. Mit seinem dritten, im Original 1974 veröffentlichten Roman „Eine Mittelgewichts-Ehe“ greift Irving mehrere seiner immer wiederkehrenden Topoi auf, erzählt von zwei Ehepaaren im Partnertausch-Modus und lässt dabei Ringer-Gewichtsklassen und andere Vergleiche aus dem Sport einfließen.
Die 1938 im österreichischen Eichbüchl in der Nähe von Wien geborene Anna Agathe Thalhammer hat eine traumatisierte Kindheit hinter sich. Als die Russen 1945 nach Österreich kamen, versteckte ihre Mutter sie in dem Körper einer ausgeweideten Kuh, wo sie nach einigen Tagen aber doch von einem georgischen Offizier gefunden und fortan „Utschka“ (Kuh) genannt wurde. Für den namenlosen Ich-Erzähler ist klar, dass „Utsch“, wie er sie abgekürzt zu nennen pflegt, aus demselben Grund verletzlich ist, aus dem sie stark ist. Sie ist ebenso in Wien aufgewachsen wie Severin Winter, dessen Vater wie Utschs Eltern während des Krieges starb. 
Die Tatsache, dass er einige Bilder seines verstorbenen Vaters besitzt, macht ihn mit Edith Fuller bekannt, die im Auftrag des Museum of Modern Art unterwegs ist, Gemälde zu erwerben, die die Sammlung abrunden. Sie erfährt, dass Severins Vater, Kurt Winter, während des Krieges seine Frau Katrina Marek mit einer Mappe voller erotischer Akte nach London geschickt hatte, wo sie eigentlich ihre Schauspielkarriere vorantreiben wollte, aber vor allem wegen der Akte, die Winter von ihr angefertigt hatte, als Modell engagiert wurde. 
Der mit Utsch verheiratete Ich-Erzähler, der nebenbei historische Romane schreibt, unterrichtet Geschichte am selben College wie Severin, der dort Deutsch unterrichtet und die Ringermannschaft trainiert. Die beiden Ehepaare lassen sich auf einen Partnertausch ein, schließlich scheinen die neuen Konstellationen sowohl in körperlicher Hinsicht als auch ihren Interessen nach besser zu passen. Doch als der Erzähler herausfindet, dass es dieses Arrangement wohl nicht gegeben hätte, wenn Edith ihren Mann nicht zuvor im Ringerkäfig mit einer lädierten Tanzlehrerin in flagranti erwischt hätte, verändern sich die Einstellungen der vier Beteiligten zu dem Partnertausch … 
„Ich sagte ihr, dass die schnellste Art, unsere Beziehung zu beenden, darin bestehe, unser Zusammensein als eine Art Provokation von Severin zu missbrauchen. Da schmollte sie mit mir. Ich wollte in diesem Moment sehr gern mit Edith schlafen, weil ich wusste, dass Utsch und Severin nicht konnten, aber ich erkannte, dass ihre Wut auf ihn sie wütend auf alles gemacht hatte und dass es unwahrscheinlich war, heute mit ihr zu schlafen.“ (S. 120) 
Irving nimmt sich in dem Roman viel Zeit, zunächst die Lebensgeschichten der Protagonisten aufzurollen, um ihnen ein Profil zu verleihen und eine Erklärung dafür anzubieten, warum sich die beiden Ehepaare auf einen Partnertausch einlassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Winters ihre beiden Kinder, Dorabella und Fiodiligi, nach den weiblichen Hauptpersonen in Mozarts Oper „Così fan tutte“ benannt haben, in der das Thema Partnertausch auf eine ähnliche Weise inszeniert wird wie in Irvings Roman. 
In seinem dritten Roman nach „Lasst die Bären los!“ und „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ arbeitet Irving viel mit Ringer-Vokabular, benennt einige der Kapitel sogar nach den verschiedenen Gewichtsklassen und verortet den entscheidenden Auslöser für den Partnertausch passenderweise auch in einem Ringerkäfig. Irving springt in seiner Erzählung in der Chronologie hin und her, wechselt die Perspektiven, auch wenn sie stets von dem Ich-Erzähler wiedergegeben werden, und mit sichtlichem Vergnügen beschreibt er auch diverse erotische Episoden. 
Doch letztlich nimmt die Vergangenheit der Protagonisten mehr Raum ein als die gegenwärtigen Verwicklungen, die Dialoge wirken oft gekünstelt, so dass man als Leser eher zum Betrachter einer wissenschaftlichen Operation wird und so wenig Interesse an den Problemen und Leidenschaften der mehr oder wenigen skurrilen Figuren entwickelt.