Michael Mann (mit Meg Gardiner) – „Heat 2“

Montag, 10. Oktober 2022

(HarperCollins, 688 S., Tb.) 
Mit Filmen wie „Manhunter – Roter Drache“, „Der letzte Mohikaner“, „Ali“, „Insider“ und „Collateral“ avancierte Michael Mann zu einem der Top-Regisseure in Hollywood, der mit Stars wie Willl Smith, Daniel Day-Lewis, Tom Cruise, Russell Crowe, Al Pacino und Robert De Niro zusammenarbeiten durfte. Vor allem das 1995 entstandene Heist Movie „Heat“, das die erste Zusammenarbeit der beiden Hollywood-Schwergewichte Pacino und De Niro markierte, ist längst in die Film-Geschichte eingegangen. Mehr als 25 Jahre später präsentiert Mann allerdings kein filmisches Sequel, sondern einen Roman, der unter Mitwirkung von Thriller-Autorin Meg Gardiner („Gottesdienst“, „Schmerzlos“, „Todesmut“) entstanden ist und einen weiten Bogen von den Anfängen der Bande um Neil McCauley bis ins Jahr 2000 spannt, also die Ereignisse vor und nach der in „Heat“ erzählten Geschichte schildert. 
Nach dem Banküberfall auf die Far East National Bank in Los Angeles am 7. September 1995 haben Vincent Hanna und seine Detectives vom Raub- und Morddezernat des LAPD nicht nur mit Neil McCauley den Kopf der Bande getötet, sondern auch die meisten seiner Mitstreiter. Einzig Chris Shiherlis konnte fliehen und mit Unterstützung des befreundeten Hehlers Nate von seinem Unterschlupf in Koreatown nach Paraguay fliehen, wo er sich als Chris Bergman eine neue Identität im Sicherheitsgewerbe aufbauen konnte. Obwohl er verspricht, zu seiner Frau Charlene und ihrem gemeinsamen Sohn Dominick zurückzukehren, weiß er, dass Hanna keine Ruhe geben wird, bis er auch ihn dingfest gemacht hat. 
Chris hatte Charlene sieben Jahre zuvor in Las Vegas kennengelernt, wo er seiner Leidenschaft fürs Spielen nachging und sie als Edelprostituierte arbeitete. Doch seine Spielsucht sorgte immer wieder für Ärger in der nachfolgenden Ehe. In Chicago organisierte Neil derweil einen großen Coup, wobei er sich die nötigen Fahrzeuge und Materialien von dem Autowerkstattbetreiber Aaron Grimes besorgen ließ, dabei aber die Aufmerksamkeit des brutalen Gangsters Otis Wardell erregte. Als McCauleys Bande die Schließfächer einer Privatbank knackte, erbeuteten sie nicht nur eine Menge Bargeld, sondern auch brisante Informationen, die der Gang einen gewaltigen Coup jenseits der mexikanischen Grenze bescherte, der Neil zwar mit Elisa zusammenbrachte, aber in einem Fiasko endete, bei dem Elisa in Neils Armen verblutete. 
Im Jahr 2000 führen Geschäfte Chris wieder nach Los Angeles zurück, wo er mit Nate Kontakt aufnimmt und sich seine Wege wieder mit denen von Vincent Hanna kreuzen… 
„Er weiß, dass er von außen betrachtet, zu den zurückgezogen lebenden Heimatlosen gehört, die sich hier auf den Straßen herumtreiben und vor was auch immer sie auf der Flucht sein mögen verstecken. Aber jetzt, wo er hier steht, spürt er nichts vom Nachlassen des Adrenalins. Er ist ganz da, zentriert und kristallklar. Ein professioneller, krimineller Clark Kent, der den Berg noch nicht gefunden hat, den er nicht erklimmen könnte, oder die Schwierigkeiten, mit denen er nicht fertigwerden würde. Er weiß, was er weiß, und er weiß auch, dass er alles lernen kann, was er nicht weiß.“ (S. 292) 
Michael Mann ist nicht der erste Autoren-Filme, der nicht nur die Drehbücher zu den meisten seiner Filme schreibt, sondern auch sein Talent für das Schreiben von Romanen entdeckt. Da steht er in der Tradition von Elia Kazan und Roger Vadim. Mit der Fortsetzung seines Erfolgsfilms „Heat“ in Romanform hat sich Mann ein echtes Mammutprojekt vorgenommen, das das Finale des Films in einem kurzen Dialog zusammenfasst, um dann mit Chris‘ Genesung und Flucht nach Südamerika fortgesetzt wird, wo er sich nicht nur in eine Affäre mit Ana stürzt, sondern auch in der Hierarchie eines taiwanesischen Kartells aufsteigt. 
Mann und seine Co-Autorin wechseln nicht ständig zwischen den Jahren 1988, 1996 und 2000 hin und her, sondern bleiben immer wieder länger bei ihren wichtigsten Figuren, bei Vincent Hanna auf der Seite des Gesetzes, der vor allem damit beschäftigt ist, den durchgeknallten Einbrecher, Vergewaltiger und Mörder Otis Wardell zu schnappen, und bei dem Gangster Chris Shiherlis, der als Einziger das Massaker von 1995 überlebt hat und sich in Südamerika eine neue Existenz aufgebaut hat. 
Vor allem die Vorbereitung und Durchführung der Coups werden ausführlich beschrieben, fangen aber nicht die Atmosphäre ein, die Mann in „Heat“ durch die herausragenden Darsteller, die blau unterkühlten Bilder und den hervorragenden Soundtrack kreiert hat. 
Die Ereignisse in „Heat 2“ werden nämlich recht prosaisch geschildert, die knappen Sätze erinnern eher an Lee Child und James Patterson als an großartige Romanciers. In dem Epos, das zwölf Jahre und den gesamten amerikanischen Kontinent von Nord bis Süd abdeckt, wird vor allem der in „Heat“ eher stiefmütterlich behandelte Chris zur eigentlichen Hauptfigur, doch wirkt sein Werdegang nicht immer überzeugend dargestellt, die Rückkehr nach Los Angeles am wenigsten. 
Was „Heat 2“ an Action und knackigen Dialogen bietet, lässt es auf der anderen Seite an psychologischer Tiefe und Glaubwürdigkeit vermissen. Als Kombination von Prequel und Sequel ist „Heat 2“ trotz einiger Längen ein lesenswerter Thriller, doch möchte man sich wünschen, dass sich Michael Mann wieder auf das Filmen konzentriert. Das kann er definitiv besser. 

Jim Nisbet – „Tödliche Injektion“

Mittwoch, 5. Oktober 2022

(Pulp Master, 234 S., Tb.) 
Der am 28. September 2022 im Alter von 75 Jahren verstorbene Jim Nisbet hat seit den 1970er Jahren Romane, Lyrik, Theaterstücke, Artikel, Essays und Shortstorys in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien sowie ein Sachbuch über Bau und Design retro-futuristischer Möbel geschrieben ist hierzulande nur mit den wenigen bislang bei Pulp Master veröffentlichten Noir-Krimis bekannt geworden, dabei gehören seine Krimis zu den kompromisslosesten Meisterwerken, die das Genre zu bieten hat, wie sein 1987 veröffentlichtes Zweitwerk „Lethal Injection“ eindrucksvoll beweist. 
Der Schwarze Bobby Mencken verlebt in der Todeszelle seine letzten Stunden auf Erden. Nachdem er seine Henkersmahlzeit zu sich genommen hat, verschafft ihm Dr. Franklin Royce, der Gefängnisarzt von Huntsville, Texas, mit einer Dosis Morphium verbotenerweise etwas Gelassenheit, doch bevor er die tödliche Giftspritze verabreicht bekommt, schafft er es noch, den sadistischen Wärter Pit Bull Peters zu töten, der bereits fünf Gefangene auf dem Gewissen hatte, aber für keine dieser Taten zur Rechenschaft gezogen worden war. Dagegen beteuert Mencken mit seinen letzten Worten auf Erden, dass er nicht die Frau in dem Laden mit fünf Schüssen ins Gesicht getötet habe, wofür er zum Tode verurteilt worden ist. „Colleen, ich … hab es nicht getan …“, flüstert er noch und küsst den Arzt auf die Lippen. In einer Bar, wo er sich ein paar Whiskeys gönnt, erfährt Royce durch das Fernsehen noch ein paar Hintergründe. Demnach sei Mencken bei der Flucht vom Tatort festgenommen, seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe sichergestellt worden. Zeugen oder echte Beweise gab es allerdings nicht. 
Royce ist neugierig. Da seine hysterische Frau ohnehin nichts mehr mit ihm zu haben will, macht sich der Arzt auf den Weg nach Dallas, um in den Elendsvierteln dort mehr über Mencken und den Mord herauszufinden. 
„Die Fahrt hat sich hingezogen, über acht Stunden lang. In dieser Zeit hat er sich an den Gedanken von Menckens Unschuld angefreundet, dass er im Begriff stand, einen Vorstoß zu wagen, um herauszufinden, weshalb Mencken den äußersten Weg für etwas gegangen war, was er vielleicht nicht getan hatte. Was er machen würde, wenn oder falls er eine Antwort fände, darüber hatte Royce noch nicht nachgedacht.“ (S. 110) 
Dabei macht er die Bekanntschaft von Menckens Freundin Colleen Valdez, die ihm gleich den Kopf verdreht, und ihrem Mitbewohner Eddie Lamark, die beide ebenfalls am Tatort gewesen waren. Während er mit den beiden abhängt, kommt er der wahren Geschichte auf die Spur… 
„Tödliche Injektion“ weist gerade mal einen Umfang von gut 230 Seiten auf, entwickelt in der Kürze aber eine enorme Spannung, wobei die Hinrichtung von Mencken bereits 60 Seiten einnimmt, die erst einmal ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, bevor die Erzählperspektive von dem Todeskandidaten zu dem Teilzeit-Gefängnisarzt wechselt. Dabei verströmt die Geschichte zunächst den typischen Noir-Touch. 
Der zum Tode verurteilte Mencken kann seine Unschuld nicht mehr beweisen, aber vielleicht derjenige, der ihn mit der Giftspritze ins Jenseits befördert hat. Dabei ist Royce auch ein gebrochener Mann, gefangen in einer scheußlichen Ehe und beruflich längst nicht mehr auf der Höhe. Als er sich auf die Suche nach Menckens Freundin Colleen macht und sie schließlich findet, taucht Royce gänzlich in die schäbige Welt der Drogen, der Beschaffungskriminalität und von heißem Sex ein, dass es ihm die Sinne völlig vernebelt. 
Meisterhaft beschreibt Nisbet nicht nur die bedrohlich-prickelnde Atmosphäre und die unerwartete ménage à trois mit Colleen und Eddie, sondern kommt allmählich hinter den wahren Ablauf der Ereignisse, die am Ende zu Menckens Verurteilung geführt haben. Im Finale wartet Nisbet mit einer furiosen Sequenz auf, die die seltsame Odyssee zu einem konsequenten Ende führt. Denn am Ende hat Royce zwar das Verbrechen aufgeklärt, aber seine eigene Selbstzerstörung kann er nicht mehr aufhalten. Mit seiner schnörkellosen Sprache und einem feinen Gespür für die Figuren und die Geschichte entführt Nisbet seine Leser in eine zynische Welt, in der es kein Glück und keine Gerechtigkeit zu geben scheint. Das ist Noir im allerbesten Sinne. 

 

Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin. 

Bill Clinton & James Patterson – „Die Tochter des Präsidenten“

Sonntag, 25. September 2022

(HarperCollins, 560 S., Tb.) 
In „The President Is Missing“, der ersten Zusammenarbeit zwischen Thriller-Bestseller-Autor James Patterson und dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, hatte der Demokrat Jonathan Duncan als Präsident der Vereinigten Staaten nicht nur gegen ein Komplott von Mitgliedern des Königshauses von Saudi-Arabien und der russische Regierung zu kämpfen, die die Supermacht USA zu schwächen versuchten, sondern auch gegen ein drohendes Amtsenthebungsverfahren und seine innerparteiliche Konkurrentin, Vizepräsidentin Katherine Brandt. 
Mit ihrem zweiten gemeinsamen Thriller präsentieren Clinton & Patterson keine Fortsetzung, sondern ein ganz neues Set-up an Figuren, die sich diesmal keiner Bedrohung durch Cyber-Terroristen ausgesetzt sehen, sondern der Entführung der Präsidententochter. Geblieben ist allerdings ein unkritischer Patriotismus und die Idealisierung der Figur des Präsidenten als Retter der Welt. 
Mit dem erneut fehlgeschlagenen Versuch, den weltweit gesuchten Terroristen Asim al-Aschids im lybischen Nafusa-Gebirge auszuschalten, bei dem ein Navy SEAL sowie al-Aschids Frau und drei Töchter getötet wurden, hat Vize-Präsidentin Pamela Barnes die Gunst der Stunde genutzt und ihren Wahlkampf gegen den amtierenden Präsidenten Matthew Keating gewonnen. Während sich Keating in der Abgeschiedenheit am Lake Marie in New Hampshire den Freuden des Landlebens hingibt, hat seine Frau Samantha, Professorin der Boston University, ihre Arbeit als Archäologin wieder aufgenommen und geht in Hitchcock, Maine, mit ihren Studenten Spuren von baskischen Fischern nach. 
Doch das Leben der ehemaligen Präsidentenfamilie wird auf den Kopf gestellt, als Keatings 19-jährige Tochter Mel mit ihrem Freund Tim Kenyon auf eine Bergwandertour zum Mount Rollins geht und entführt wird. Zwar hat Keatings als Ex-Präsident keine weitreichenden Befugnisse mehr, doch als Präsidentin Barnes nicht auf die Forderungen von Asim al-Aschid eingeht, nimmt Keating als ehemaliger SEAL das Schicksal selbst in die Hand, stellt mit seinem Personenschützer David Stahl ein Team zusammen und macht sich auf den Weg nach Libyen, wo sich der Terrorist nach Auswertung der Videoaufnahmen, in denen al-Aschid mit Keatings Tochter zu sehen gewesen ist, offenbar aufhält. Doch die Operation wird durch die Einmischung auch eines ehrgeizigen chinesischen Geheimdienstlers und selbst US-amerikanischer Befehlshaber empfindlich gestört. Vor allem macht sich Keatings Frau Vorwürfe, diese bedrohliche Situation nicht früher verhindert zu haben, bekam sie doch während des Präsidentschaftswahlkampfes brisantes Material über Richard Barnes, den Ehemann und Stabschef der Herausforderin Pamela Barnes zugespielt. 
„… es ist alles meine Schuld, Matt. Ich hatte den Schlüssel zu deiner Wiederwahl in der Hand – den USB-Stick mit der Aufzeichnung von Richard Barnes‘ Perversionen -, aber ich habe ihn nicht benutzt. Ich konnte ihn nicht benutzen. Und ich wollte ihn nicht benutzen.“ (S. 192) 
James Patterson sagt selbst über sich: „Ich bin schnell. Ich bin ein Ja-Nein-Typ, ich hasse Vielleichts.“ Seine Thriller sind leicht und schnell zu lesende Geschichten, in denen es so gut wie keine Grauschattierungen gibt, nur Helden auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite. Für nachdenkliche Zwischentöne ist auch in „Die Tochter des Präsidenten“ kein Raum, obwohl das Buch für Patterson-Verhältnisse mit über 500 verhältnismäßig eng bedruckten Seiten ungewöhnlich dick ausgefallen ist. 
Dass der ehemalige US-Präsident Bill Clinton großen Anteil an der Ausweitung des Plots gehabt haben soll, ist schwer vorstellbar. Dafür wirkt zum einen die Sprache zu einheitlich, zum anderen ist die Selbstheroisierung des Ex-Präsidenten, den das Autoren-„Duo“ als Ich-Erzähler etabliert hat, dermaßen überzogen, dass Clinton schon an einem Gott-Komplex leiden müsste, sollte er die Figur des Ex-Präsidenten auch nur halbwegs nach realen Vorbildern geschaffen haben. Der Plot bietet souverän inszenierte Spannung, die allerdings in jeder Hinsicht wie am Reißbrett konstruiert wirkt. 
Während die Terroristen und der chinesische Geheimdienstler Jiang Lijun als Abziehbilder des Schreckens dargestellt werden, wirken die Beschreibungen der SEALs wie Texte aus einer Werbebroschüre für die Spezialeinheiten des amerikanischen Militärs. Dazu gesellen sich intrigante, machtbesessene Politiker, selbstaufopferungsvolle Personenschützer und clevere junge Frauen, in denen mehr steckt, als man ihnen zutrauen würde, aber am Ende ist es natürlich der Präsident selbst, der zum großen Helden avanciert. 
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hätten auch die für Patterson sonst üblichen 350 Seiten gereicht. So bietet „Die Tochter des Präsidenten“ extrem leichte und temporeiche, aber überraschungsarme Thriller-Kost, die zudem leider von klischeehaften Figuren getragen wird. Es scheint fast so, dass Bill Clintons Name nur auf dem Cover platziert worden ist, da der vorangegangene Thriller „Die Frau des Präsidenten“ mit dem völlig unbekannten Co-Autor Brendan DuBois längst nicht an den Erfolg von „The President Is Missing“ anknüpfen konnte.  

Daniel Silva – (Gabriel Allon: 21) „Die Cellistin“

Mittwoch, 21. September 2022

(HarperCollins, 448 S., Pb.) 
Vor über 20 Jahren veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Silva mit „Der Auftraggeber“ seinen ersten Thriller um den israelischen Kunstrestaurator und Geheimagenten Gabriel Allon. Mittlerweile ist Silva bei Band 21 seiner Spionage-Thriller-Reihe angelangt, in der Allon nicht nur in die Jahre gekommen ist, sondern längst zum Geheimdienstchef aufgestiegen ist. Für „Die Cellistin“ verarbeitet Silva nicht nur den Sturm auf das Capitol und den damit verbundenen Angriff auf die Demokratie an sich, sondern nimmt auch die Methoden russischer Oligarchen unter die Lupe, wie sie im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine aufgedeckt wurden. 
Einst war Wiktor Orlov durch den Import von Computern und anderen Westwaren erst zu Wohlstand gekommen, dann durch den Kauf von Russlands größtem Stahlkonzern und dem sibirischen Ölriesen Rusoil zum reichsten Mann in Russland geworden. Doch durch sein Milliardenvermögen hat sich Orlov allerdings auch viele Feinde gemacht und mindestens drei Attentate überlebt. 
Nun kämpft er seit einigen Jahren im Londoner Exil gegen die Kleptokraten, die mittlerweile die Kontrolle über den Kreml an sich gerissen haben, vor allem über die Zeitungen wie der „Financial Times“ und der kremlkritischen Wochenzeitschrift „Moskowskaja Gaseta“. Als er eines Abends vergiftet in seiner Wohnung aufgefunden wird, gerät zunächst die 42-jährige Journalistin Nina Antonowa ins Visier der geheimdienstlichen Ermittlungen. Aus ihrem Zürcher Exil heraus hatte sie bereits zahlreiche Fälle von Korruption im inneren Kreis des russischen Präsidenten aufgedeckt und Orlov am Abend seines Todes noch einen Stapel mit Dokumenten überreicht. 
Als Gabriel Allon, Chef des israelischen Geheimdienstes, vom Tod seines Freundes erfährt, initiiert er eine waghalsige Operation, die vor allem dazu dient, den schwerreichen Arkadi Akimow auszuschalten, der über die im Schweizer Handelsregister eingetragene Haydn Group SA vor allem politische Kriegsführung, Desinformation, Subversion sowie die Ermordung von Führern der Demokratiebewegung betreibt. Als Köder dient ihm die Deutsche Isabel Brenner, die nicht nur eine hervorragende Cellistin ist, sondern auch eine leitende Angestellte der RhineBank-Filiale in Zürich, die als „russischer Waschsalon“ vor allem schmutziges russisches Geld für Investitionen in westlichen Luxus-Immobilien verwendet. 
„Gabriel brauchte eine wirkliche Attraktion, eine internationale Berühmtheit, deren Anwesenheit die Schweizer Großfinanz in Scharen anlocken würde. Und er brauchte einen Financier, der es übernahm, den Abend auf seine Kosten auszurichten – einen Tugendbold, der für sein Engagement für Themen vom Klimawandel bis hin zum Schuldenerlass für die Dritte Welt bekannt war. Einen Mann von der Sorte, die Arkadi liebend gern mit schmutzigem russischem Geld korrumpieren würde.“ (S. 183) 
Als es Isabel gelingt, sogar zu einer Silvesterparty eingeladen zu werden, zu der auch der russische Präsident eingeladen wird, hat sie Akimov schon längst dazu gebracht, seine Milliarden in Projekte zu investieren, von denen er nie etwas haben wird, doch durch einen Verräter wird ihre Rolle in dem Plan durchschaut… 
Auch wenn sich Daniel Silva mit seinem Protagonisten Gabriel Allon in den Gefilden von James Bond und Jason Bourne bewegt, sind seine Romane weit weniger actionreich ausgefallen, sondern spielen sich eher raffiniert im Hintergrund ab, so wie man es von Geheimdienstarbeit eigentlich auch erwartet. Silva gelingt dabei das Kunststück, selbst komplexe Sachverhalte wie Geldwäsche und dubiose Investitionen so in die Geschichte einzubetten, dass es die Zusammenhänge erklärt, ohne die Dramaturgie zu vernachlässigen. 
Mit „Die Cellistin“ bewegt sich Silva zudem nah am aktuellen Zeitgeschehen. Die Einschränkungen durch die Corona-Epidemie werden hier ebenso thematisiert wie die bedenklichen antidemokratischen Bewegungen in den USA im Zuge der Amtseinführung von Präsident Joe Biden im Januar 2021 und die raffinierten Methoden, mit denen russische Oligarchen ihr durch Korruption angeeignetes Geld im Westen „reinwaschen“ lassen. 
Vor diesem Hintergrund entwickelt Silva einen wirklich flotten Plot mit interessanten Schauplätzen und Figuren. Auch wenn sich die Geschichte letztlich doch recht vorhersehbar entwickelt und der große Überraschungseffekt ausbleibt, bietet „Die Cellistin“ packende Thriller-Unterhaltung von einem Routinier des Genres. 

Stephen King – „Fairy Tale“

Sonntag, 18. September 2022

(Heyne, 880 S. , HC) 
Zwar ist Stephen King vor allem durch seine – auch (teilweise mehrfach) erfolgreich verfilmten -Horror-Romane wie „Es“, „Carrie“, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ berühmt geworden, doch hin und wieder verschlägt es den „King of Horror“, der am 21. September 2022 seinen 75. Geburtstag feiert, auch ins benachbarte Fantasy-Genre. Seinen beeindruckendsten Beitrag lieferte der US-amerikanische Bestseller-Autor hier mit seiner acht Bände umfassenden Saga um den „Dunklen Turm“ ab, doch bereits in den 1980er Jahren probierte er sich in dem heute nahezu vergessenen Roman „Die Augen des Drachen“ in märchenhaften Gefilden aus. Seinem fast 900-seitigen Epos „Fairy Tale“ könnte ein ähnliches Schicksal blühen, kommt hier doch Kings immer wieder kritisierte Weitschweifigkeit besonders deutlich zum Tragen und macht aus einem anfangs einfühlsam geschriebenen Entwicklungsroman ein uninspiriertes Märchen, dem es vor allem an Spannung und Atmosphäre fehlt. 
Charlie Reade war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter auf dem Heimweg von einer Besorgung zum Essen auf der Sycamore Street Bridge von einem Auto erfasst und getötet wurde. Seinem Vater hat der Verlust so zugesetzt, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkte und seinen Job als Schadensregulierer bei einer Versicherung verlor. Dank eines Kollegen ging Charlies Vater jedoch regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, wurde wieder von seiner alten Firma eingestellt und hat sich mittlerweile selbstständig gemacht. 
Mit siebzehn Jahren steht Charlie nun an der Schwelle zum Erwachsensein und hat gute Chancen auf ein Sport-Stipendium, als er eines Tages am unheimlichen „Psycho-Haus“, das von dem einsiedlerischen Mr. Bowditch bewohnt wird, ein Wimmern wahrnimmt. Charlie kommt gerade rechtzeitig, um den Notruf zu alarmieren, nachdem Mr. Bowditch von der Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Der Teenager besucht daraufhin nicht nur regelmäßig Mr. Bowditch im Krankenhaus, sondern kümmert sich auch um Radar, die in die Jahre gekommene deutsche Schäferhündin des mürrischen alten Mannes. Auch als Mr. Bowditch wieder nach Hause kommt, betreut Charlie sowohl den Hausherrn als auch die Schäferhündin, wobei ihm der abgeschlossene Schuppen auf dem Grundstück besonders zu faszinieren beginnt. 
Wie sich herausstellt, verfügt Mr. Bowditch über einen Eimer voller Goldkügelchen in seinem Tresor, mit dem er mehr als nur die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Als Mr. Bowditch an einem Herzinfarkt stirbt, erbt Charlie dessen ganzes Vermögen. Als Radar immer älter und gebrechlicher wird, findet Charlie im Schuppen den Zugang zu einer anderen Welt, die auch einst Mr. Bowditch betreten hat, um sein Leben zu verlängern. Nun nimmt Charlie eine abenteuerliche Reise ins Land Empis, das schon bessere Zeiten erlebt hat. In der Stadt Lilimar wird Charlie bald in einen Kerker gesperrt und zum Kämpfen gezwungen. Für viele seiner Mitstreiter wird Charlie als ein Prinz betrachtet, der das alte Königreich retten wird… 
„Die Monarchen waren nicht ausgerottet und die Mitglieder des Hauses Galien auch nicht, zumindest nicht alle. Sie waren von der Macht, die jetzt in Elden hauste, verflucht worden – es musste dieselbe Macht sein, die auch die nah an der Mauer erbauten Vorstadthäuser in Schutt und Asche gelegt hatte -, aber sie waren am Leben. Das verriet ich Freed allerdings nicht. Womöglich wäre das für uns beide gefährlich gewesen.“ (S. 622) 
So wie Stephen Kings Saga vom „Dunklen Turm“ maßgeblich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ inspiriert wurde, verbeugt sich der Autor in seinem neuen Werk deutlich vor Autoren wie Edgar Rice Burroughs, Robert E. Howard, Ray Bradbury und Howard Phillips Lovecraft, aber auch Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ und Elemente aus Grimms Märchen und der erfolgreich verfilmten „Die Tribute von Panem“-Trilogie. finden sich in „Fairy Tale“. 
Allerdings bekommt King die unterschiedlichen Einflüsse nicht zu einer eigenen unterhaltsamen Geschichte zusammen. Es wirkt sogar so, als wären zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen. Während das erste Drittel eindeutig Stephen King in Bestform präsentiert, der auf gewohnt einfühlsame Weise die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der durch den frühen Tod seiner Mutter und den Alkoholismus seines Vaters seiner Kindheit beraubt geworden ist und durch die Freundschaft zu einem eigenbrödlerischen alten Mann Zugang zur „Anderwelt“ bekommt, setzt er in den nachfolgenden zwei Dritteln eher stümperhaft die Märchentradition fort, die gefährliche Reise eines Jünglings auf dem Weg zu einer höheren Berufung zu schildern. King fehlt hier nicht nur die sprachliche Finesse, um bedrohliche oder faszinierende magische Welten erstehen zu lassen, wie es sowohl Ray Bradbury („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“) als auch Howard Phillips Lovecraft („Schatten über Innsmouth“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Berge des Wahnsinns“) vermochten, sondern vor allem auch an einer packenden Geschichte. 
King lässt seine Leserschaft ebenso wie seinen jungen Protagonisten, der eigentlich nur einen Weg finden will, Radar zu einem jüngeren Ich zu verhelfen, über Hunderte von Seiten im Unklaren darüber, wohin die Reise denn gehen soll. Natürlich sind Kämpfe, Mutproben und Gefahren zu bestehen, aber die Anderwelt wird ebenso wie die darin lebenden Figuren viel zu oberflächlich und lieblos beschrieben. So richtig eintauchen kann man als Leser in diesen uninspirierten Mischmasch vertrauter Fantasy-Elemente nicht. Dazu bleiben die Figuren zu farblos, der Plot plätschert unaufgeregt vor sich hin. Mindestens 300 Seiten hätte sich King hier sparen können. Und wenn sich Paul Greengrass („Neues aus der Welt“, „Die Bourne Verschwörung“) an die Verfilmung macht, wird er den Plot auch gnadenlos straffen müssen, um aus „Fairy Tale“ einen unterhaltsamen Film zu machen. Für King kann es dagegen nur heißen, wieder zurück zu alten Stärken im Horror-Genre zu finden. 

Robert Bloch – „Nacht im Kopf“

Mittwoch, 14. September 2022

(Diogenes, 189 S,., Tb.) 
Mit seinem 1959 veröffentlichten Roman „Psycho“ wurde Robert Bloch vor allem durch die ein Jahr später erfolgte Verfilmung durch Spannungs-Meister Alfred Hitchcock weltberühmt. Psychisch angeschlagene Charaktere standen allerdings auch in späteren Werken des Erfolgsautors, der im Laufe seiner Karriere auch die Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“, „Totentanz der Vampire“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, immer wieder im Mittelpunkt – so auch in seinem 1972 veröffentlichten Roman „Night-World“, der zunächst 1975 unter dem Titel „Wahnsinn mit Methode“ im Scherz-Verlag erschien und 1986 als „Nacht im Kopf“ in neuer Übersetzung bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Karen Raymond bespricht als Werbetexterin in der renommierten Agentur Sutherland in Los Angeles gerade ihren aktuellen Auftrag mit dem Cheftexter Mr. Haskane, als sie einen Anruf aus Topanga Canyon erhält, dass ihr Mann Bruce vielleicht aus der psychiatrischen Anstalt entlassen wird. Nachdem ihr der behandelnde Arzt Dr. Grisworld geraten hatte, ihren Mann während der Behandlung nicht zu besuchen, sind mehr als sechs Monate vergangen. 
Nun soll die Reaktion ihres Mannes auf ihren Besuch darüber entscheiden, ob er bereit ist, das Luxus-Sanatorium zu verlassen. Vor ihrer Abfahrt sucht sie noch Rita, die Schwester ihres Mannes, auf, die sich wenig angetan von Karens Plan zeigt. Als Karen am Sanatorium eintrifft, ist sie allerdings nicht auf den Anblick des ermordeten Dr. Grisworld vorbereitet. Von der benachrichtigten Polizei erfährt Karen, dass Grisworld nicht das einzige Todesopfer in der Klinik ist. 
Außer ihm wurden neben der an ihrem Pult erwürgten Schwester auch ein Pfleger und eine ältere Patienten tot aufgefunden. Die übrigen fünf Patienten sind allerdings verschwunden. Offensichtlich ermordet wenigstens einer der Geflüchteten weitere Angestellte und Angehörige der Patienten, sodass auch Karen in Lebensgefahr schwebt… 
„Und wenn es doch Bruce gewesen war, der zu ihr wollte – zu ihr wollte, um sie zu töten? Nein, das würde Bruce nicht tun. Oder doch? Karen sah sich selbst mit weitaufgerissenen Augen im Spiegel. Würde er? Das war die Kernfrage – die Frage, der sie die ganze Zeit ausgewichen war. Aber sie musste sich ihr stellen – hier und jetzt. Sie musste der Sache ins Auge sehen, so wie sie sich im blanken Glas des Spiegels selbst ins Auge sah. Nach allem, was geschehen war, und dem, was sie über Bruce wusste – glaubte sie, dass er schuldig war?“ (S. 68) 
Robert Bloch hat sich seit den 1950er Jahren mit Romanen wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Die Saat des Bösen“, „Mit Feuer spielt man nicht“ und „Amok“ als versierter Krimi- und Horror-Autor etabliert, der es versteht, zunächst konventionell erscheinende Krimi-Plots mit schaurigen Elementen und einer deftigen Prise schwarzen Humors zu würzen. Da macht „Nacht im Kopf“ keine Ausnahme. 
Der Whodunit-Plot bezieht seine Spannung sowohl aus der Frage nach der Identität des Killers als auch aus der Frage nach dem geistigen Zustand von Karens Mann Bruce bezieht. Bis zur Klärung beider Fragen streut Bloch so einige interessante Todesfälle und Wendungen ein, die „Nacht im Kopf“ zu einem kurzweiligen Krimi-Vergnügen machen, wobei Bloch am Rande auch den Zustand der Gesellschaft kritisch beleuchtet. Interessant wird die Geschichte vor allem dadurch, dass Bloch immer wieder die Erzählperspektive zwischen Karen Raymond und dem unbekannten Täter wechselt, so dass Bloch dem Leser erhellende Einblicke in die Psyche des Killers gewährt. 

 

Les Edgerton – „Der Vergewaltiger“

Dienstag, 13. September 2022

(Pulp Master, 158 S., Tb.) 
Der 1943 geborene US-Amerikaner Les Edgerton weiß in etwa, wovon er schreibt, wenn er den Ich-Erzähler seines 2013 erschienenen Kurzromans „The Rapist“ seinen Alltag im Gefängnis reflektiert. Edgerton hat nämlich selbst zwei Jahre im berüchtigten Pendleton Reformatory wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei abgesessen. Dass er mit seinen verstörenden, von Autoren wie Charles Willeford, Jim Thompson und Charles Bukowski inspirierten Romanen in Deutschland zuvor keine verlegerische Heimat gefunden hat, mag nicht überraschen, wenn man „Der Vergewaltiger“ liest. Frank Nowatzki hat seinen Verlag nicht von ungefähr Pulp Master genannt, schließlich finden bei ihm auch Bücher und Autoren Berücksichtigung, die im herkömmlichen Literaturbetrieb gern als „Schund“ bezeichnet werden. 
Truman Ferris Pinter sitzt im Todestrakt eines Gefängnis und hat nur noch Stunden zu leben. Er wurde wegen der Vergewaltigung und des Mordes der aufreizenden jungen Dame namens Greta Carlisle für schuldig gesprochen, die er von der Bar kannte, in die er regelmäßig eingekehrt ist. Ein Tag vor dem Verbrechen, so berichtet Pinter, habe er sie im naheliegenden Wald dabei beobachtet, wie sie es genüsslich mit drei jungen Männern trieb. Am Tag darauf ging Pinter angeln. Da ihm sein Vater ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hat, war er nie gezwungen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit vor allem damit, sparsam mit seinem Erbe umzugehen, viel zu lesen, ein wenig zu schreiben, angeln zu gehen und ab und zu ein Bierchen in Joe’s Tavern zu trinken. An dem Tag des Verbrechens hatte Pinter an einem sonnigen Julimorgen bereits zwei Stunden geangelt, als ihm Greta über den Weg läuft. Dass sie ihn damit aufzieht, dass er „alte Kackfresse“ genannt wird, lässt Pinter alle gute Manieren vergessen. 
Er gibt in der Gerichtsverhandlung später freimütig zu, sie vergewaltigt zu haben, doch umgebracht habe er sie nicht. Stattdessen sei sie auf der Flucht vor ihm ausgerutscht, mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen und schließlich im Fluss ertrunken. Freilich habe Pinter keine Anstalten unternommen, sie zu retten. Pinter berichtet von seinem eintönigen, aber geregelten Alltag im Gefängnis, von „Mr. Timex“, der ihn stündlich über die ihm noch verbleibenden Stunden informiert, entwickelt aber schon einen ungewöhnlichen Fluchtplan. Schon als Kind hatte er zu „fliegen“ gelernt, und die Zeit im Gefängnis nutzt er, die alte Technik wieder zu trainieren, um im entscheidenden Moment seinen Körper zu verlassen und unbemerkt zu entschweben… 
„Ich fühle mich stark, selbstsicher. Ich bin dem perfekten Flug so nah, dass ich das Erreichen meines Zieles förmlich fühlen kann. Ich konzentriere mich, gleite hinein in den Teil meines Verstandes, der dieses Phänomen ermöglicht. Meine Umgebung verblasst, tritt in den Hintergrund. Ich reinige mein Bewusstsein, reguliere den Atem. Mein Körper macht sich davon und ich…“ (S. 95) 
Bereits mit den ersten beiden Sätzen outet sich der Ich-Erzähler als Lügner, Frevler, Wahrheitsschänder und Heuchler. Seiner Erzählung ist also nur sehr eingeschränkt Glauben zu schenken. Das trifft natürlich in erster Linie auf das verübte Verbrechen zu. Da wir nur Pinters Version der Geschichte präsentiert bekommen, lässt sich nicht verifizieren, ob sein Opfer tatsächlich durch einen Unfall umgekommen ist. Doch Edgerton und sein durch und durch unsympathischer Protagonist lassen dem Leser keinen Raum für Perspektivwechsel. Stattdessen zieht Pinter sein Publikum mit seinem philosophischen Geschwätz in den Bann, das auf den ungeschönten Bericht der Vergewaltigung folgt. Der Todeskandidat macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen die christliche Religion und dumme Menschen, die ihr Leben vergeuden. Pinter schafft sich schließlich seine eigene Realität, seinen eigenen Mechanismus, die Eintönigkeit des Gefängnisalltags zu verarbeiten und im Geist einen Ausweg aus der kurz bevorstehenden Ausübung des Todesurteils. 
Besonders erquicklich ist das nicht zu lesen. Ekkehard Knörer geht in seinem informativen Nachwort vor allem auf die Nähe zu John William Dunne ein, von dem ein Zitat dem Buch vorangestellt ist, der sich in seinem Werk auch mit präkognitiven Traumerlebnissen beschäftigt hat. 
„Der Vergewaltiger“ liest sich wie ein verschrobenes Manifest eines höchst gebildeten, aber auch exzentrischen Menschenfeinds, der seine eigene Methode gefunden hat, sich seine eigene Wirklichkeit zu bauen. Das ist sicher verstörend, aber nicht unbedingt große Literatur. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Stephen Crane – „Das Monster und andere Geschichten“

Dienstag, 6. September 2022

(Pendragon, 272 S., HC) 
Stephen Crane (1871-1900) war leider kein langes Leben vergönnt, doch da er bereits im Kindesalter zu schreiben begann, hat er der Nachwelt ein umfangreiches literarisches Vermächtnis hinterlassen. H.G. Wells bezeichnete ihn als „besten Schriftsteller unserer Generation“, Paul Auster widmete Crane mit „In Flammen“ erst kürzlich eine eigene Biografie. 
Hierzulande ist von ihm vor allem der Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ aus dem Jahre 1895 bekannt, der 1951 von John Huston erstmals verfilmt wurde und seither zwei Remakes erfuhr. Der Pendragon-Verlag hat es sich dankenswerter Weise zur Aufgabe gemacht, die großen Lücken seiner Werke in deutscher Übersetzung zu füllen. Nach der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ folgt nun mit „Das Monster und andere Geschichten“ eine weitere Kollektion meist beachtenswerter Erzählungen, die vor allem den naturalistischen Stil des Schriftstellers veranschaulichen. 
Im Mittelpunkt der Sammlung steht der Kurzroman „Das Monster“, der ähnlich wie andere Geschichten in der fiktiven, Port Jervis nachempfundenen Stadt Whilomville spielt und in dem Stephen Cranes junges Alter Ego Jimmy Trescott die Hauptrolle spielt. Als im Haus seines Vaters, Dr. Trescott, ein Feuer ausbricht, ist es der schwarze Stallknecht Henry Johnson, der dem Jungen das Leben rettet, allerdings selbst so schwer verletzt wird, dass er in der Nachbarschaft bereits für tot erklärt wird. Zwar überlebt Johnson, doch mit seinem furchtbar entstellten Gesicht wird er als „Monster“ betrachtet und ausgegrenzt. Selbst der herzensgute Doktor wird von dieser Ausgrenzung betroffen, als seine Patienten andere Ärzte aufsuchen, die weit weniger qualifiziert sind. 
Jimmy Trescott taucht auch in „Redner in Nöten“ auf, einer Geschichte, die dem jungen Protagonisten vor Augen führt, dass er für immer unfähig sein würde, öffentliche Vorträge zu halten, in „Der kleine Engel“ und „Das kleine Biest“
Wie schon in seinem ersten Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ beschreibt Crane vor allem das Leben einfacher Menschen. Bereits als Journalist in New York berichtete er über das Leben in den Slums der Stadt. Der amerikanische Bürgerkrieg, den Crane so eindrücklich in seinem berühmtesten Werk „Die rote Tapferkeitsmedaille“ thematisierte, spielt auch in „Das kleine Regiment“ eine Rolle, wo die beiden Brüder Dan und Billy Dempster ihre ganz eigene Fehde austragen. 
„Hinsichtlich ihrer Position in der Rangordnung hatten sie gelernt, solch verwirrende Situationen zu akzeptieren, und waren mittlerweile Träger eines einfachen, aber völlig unverrückbaren Glaubens, dass irgendjemand dieses Durcheinander durchschaute. Auch wenn man ihnen versichert hätte, dass die Armee ein kopfloses Monstrum sei, hätten sie bloß genickt, mit dem den Veteranen eigenen Zynismus. Als Soldaten hatten sie damit nichts zu tun.“ (S. 207) 
Dass Crane aber auch über einen feinsinnigen Humor verfügte, bewies er mit Geschichten wie „Zwölf Uhr“, in denen eine Kuckucksuhr für Aufsehen sorgt, und „Ein Hirngespinst in Rot und Weiß“, wo ein Mann die Mutter seiner Kinder tötet und den Kindern anschließend geschickt eintrichtert, einen ganz anders aussehenden Mann als Täter zu identifizieren. 
Berücksichtigt man das junge Alter, in dem Crane all diese Erzählungen verfasst hat, zeugen gerade die längeren Geschichten wie „Das Monster“ und „Das kleine Regiment“ von einer persönlichen wie schriftstellerischen Reife, die umso bemerkenswerter erscheint, da die Geschichten oft aus der kindlichen Perspektive des Jungen Jimmy Trescott erzählt werden und so auch immer ein Staunen über die Abläufe in der Welt zum Ausdruck bringen. 
Darüber hinaus sind die Beschreibungen des Lebens ganz gewöhnlicher Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert so lebendig und detailliert, dass es nicht verwundert, wenn die Strahlkraft von Cranes Schaffen bis in die heutige Zeit anhält und renommierte Autoren wie Paul Auster animiert, sich intensiver mit Leben und Werk des hierzulande noch viel zu unbekannten Schriftstellers auseinanderzusetzen. In seinem Nachwort gibt der Übersetzer Lucien Deprijck noch wertvolle Einblicke in Cranes Biografie und ordnet beispielsweise die Verwendung von Begriffen wie „Neger“ und „Nigger“ in den historischen Kontext ein. 

 

Dan Simmons – „Das Schlangenhaupt“

Freitag, 2. September 2022

(Goldmann, 478 S., Tb.) 
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit preisgekrönten Horror-Romane („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“) und Science-Fiction-Epen („Hyperion“, „Die Feuer von Eden“) weltweit einen Namen gemacht. Ende der 1990er Jahre begann der US-amerikanische Bestseller-Autor, sich auch in anderen Genres zu versuchen. Neben der hierzulande kaum bekannten Thriller-Reihe um den Privatdetektiv Joe Kurtz erschien nach Simmons‘ sehr gutem Thriller-Debüt „Fiesta in Havanna“ mit „Das Schlangenhaupt“ ein weiterer gelungener Roman, in dem der Autor vor allem seinen Sinn für ungewöhnliche Settings unter Beweis stellte. 
Dr. Dar(win) Minor ist ein Spezialist für die Rekonstruktion von Unfallursachen in Kalifornien und wird von seinem Chef Lawrence Steward vor allem immer dann zu Unfällen hinzugezogen, bei denen sich die Polizei vor Ort überhaupt keinen Reim auf den Unfallhergang machen kann bzw. wenn der Verdacht besteht, dass Unfälle vorgetäuscht wurden, um Versicherungen zu betrügen. Dar befindet sich nach einer Unfallbegutachtung mit seinem Acura NSX wieder auf dem Heimweg außerhalb von San Diego, als er auf dem Highway 15 von einem Mercedes E 340 mit abgedunkelten Scheiben bedrängt wird, bevor das Feuer auf ihn eröffnet wird. 
Dar gelingt es nicht nur, die Schüsse unbeschadet zu überstehen, sondern mit seinem Rennwagen die Verfolgung aufzunehmen und den Mercedes mit seinen beiden Insassen in eine Schlucht stürzen zu lassen. Die Identifizierung der beiden Leichen ergibt, dass es sich um russische Auftragskiller handelte, die offenbar in Verbindung mit organisiert angelegten Versicherungsbetrügen stehen, in denen eine Sonderheit aus FBI, LAPD, San Diego Police Department, California Highway Patrol und anderen Organisationen ermittelt. Um herauszufinden, wer für das Attentat auf Dar verantwortlich ist, soll Dar Teil der Sondereinheit werden, außerdem wird er persönlich von Sydney Olson, der attraktiven Chefermittlerin des Generalstaatsanwalts, bewacht. 
Während sich Dar und Syd allmählich näherkommen, entdecken sie eine Verbindung der Killer zum prominenten Anwalt Dallas Trace… 
„Dar wusste, dass unter allen Soldaten dieser Erde allein Sniper darauf trainiert waren, Gegner zu belauern. Marines und Army-Infanteristen mochten in kleinen Einheiten andere kleine Einheiten oder sogar einen einzelnen Feind belauern, aber allein der Sniper war dafür ausgebildet, mit List und Tücke aus dem Hinterhalt auf weite Entfernung einen bestimmten Menschen zu töten. Und ganz oben auf der Liste eines Scharfschützen stand stets sein gefährlichster Gegner: der feindliche Scharfschütze.“ (S. 427) 
Dan Simmons ist mit „Darwin’s Blade“, so der Originaltitel, ein vor allem thematisch interessanter Thriller mit einem charismatischen Protagonisten gelungen. Wie Simmons immer wieder die ungewöhnlichsten Unfälle beschreibt, die der promovierte Physiker zu bearbeiten hat, zaubert dem Leser immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht, doch übertreibt es der Autor gelegentlich mit den wissenschaftlichen Hintergründen und Berechnungen mit mathematischen Formeln, was dem Lesefluss gelegentlich abträglich ist. 
Das trifft auch auf die übertriebenen und völlig unglaubwürdigen Action-Sequenzen zu. Nachdem Simmons sich so viel Mühe gegeben hat, realistische Szenarien und gut charakterisierte Figuren zu etablieren, driftet er mit seinen wilden Verfolgungsjagden in die Gefilde von James-Bond- und Jason-Bourne-Thrillern ab. 
Doch von diesen Schwächen abgesehen bietet „Das Schlangenhaupt“ Hochspannung pur, wobei der ausführliche Rückblick auf Dars Ausbildung zum Scharfschützen die Tiefe seiner Figur noch unterstreicht. Besonders interessant ausgestaltet ist das nicht immer einfache Verhältnis zwischen dem eigensinnigen Physiker (mit seiner Leidenschaft für schnelle Autos und Segelflieger) und seinem weiblichen „Bodyguard“. 
Wie gut die beiden am Ende miteinander harmonieren, wird bei dem faszinierenden Showdown deutlich, der an Annauds Drama „Duell – Enemy at the Gates“ erinnert und in bester Western-Manier ausgestaltet ist. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 5) „London Rules“

Samstag, 27. August 2022

(Diogenes, 496 S., Pb.) 
Der britische Schriftsteller Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studierte und als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift arbeitete, veröffentlichte bereits in den 2000er Jahren vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm, ehe er 2010 mit dem Roman „Slow Horses“ eine Reihe um ausgemusterte Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes MI5 ins Leben rief, die seit 2018 mit wachsendem Erfolg auch in Deutschland ihr Publikum begeistert. 
Mit „London Rules“ veröffentlicht Diogenes nun den fünften Roman um Jackson Lamb, der als Leiter der verächtlich als „Slow Horses“ betitelten Truppe in Slough House wieder einmal alle Hände voll zu tun hat, seine kuriose Truppe unter Kontrolle zu halten und das Versagen des MI5 auszubügeln. 
Als eine fünfköpfige Söldnertruppe mit Abbotsfield ein ganzes Dorf in Derbyshire auslöscht und spurlos untertaucht, steht Claude Whelan, Chef des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, unter Druck, zumal die Attentäter wenig später auch ein Pinguingehege im Londoner Zoo in die Luft sprengen. 
Ob der Anschlag mit einem Auto auf den Ober-Nerd Roderick Ho, den seine Slough-House-Kollegin Shirley Dander im letzten Augenblick verhindern konnte, auch zu dieser Reihe von Attentaten zu zählen ist? Jedenfalls beschließt Shirley mit ihren Kollegen River Cartwright und Louisa Guy, Roddy ein paar Tage lang im Auge zu behalten. Dass der Nerd eine so erstklassig aussehende Freundin wie Kim haben soll, kann nur bedeuten, dass sie ihn ausnutzt. 
Tatsächlich verschwindet sie nach den Attentaten Den Premierminister plagen indes andere Probleme. Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union könnte ihn die Karriere kosten, zumal sein Konkurrent Dennis Gimball wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, unterstützt von seiner Frau Dodie, die laufend ätzende Kommentare in ihrer Kolumne gegen den PM veröffentlicht. Die Agenten in Slough House kommen auf den Gedanken, dass die Attentäter es nun auf einen politischen Führer abgesehen haben könnten. Doch die Maßnahmen, die Lambs Agenten trotz des angeordneten Lockdowns durch Lady Di ergreifen, machen die Situation nur schlimmer… 
„Nach den London Rules baute man seine Mauern hoch, und die Reihenfolge, in der man seine Leute darüberwarf, stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Solange er also nützlicher war als Cartwright, ging er nicht als Erster über die Mauer. Coe fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, aber er fühlte sich lebendig, und das war das Allerwichtigste. Zunächst mal saßen sie alle im selben Boot – bis auf Weiteres. Auch das entsprach den London Rules.“ (S. 344) 
Mick Herron schrieb „London Rules“ bereits 2018 – kurz nach dem Referendum, als sowohl die „Brexit“-Befürworter als auch -Gegner in einer Art Schockzustand waren und noch nicht absehen konnten, was der Brexit für die Briten bedeuten würde. Herron nutzt diese Atmosphäre für eine erfrischende Farce, in der sowohl die Politik als auch die Geheimdienste ihr Fett wegkriegen. 
Im Zentrum steht einmal mehr Jackson Lamb, der es sich als Leiter in Slough House bequem eingerichtet hat und über so viel brisante Informationen verfügt, dass er sich auch den „echten“ Agenten in Regent’s Park gegenüber nicht in Zurückhaltung zu üben braucht. Genüsslich lässt er seine ehemalige Kollegin Lady Di, die es auf Whelans Posten abgesehen hat, immer wieder auflaufen, liefert sich mit ihr messerscharfe Dialoge. 
Aber auch Lambs Truppe sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Obwohl allesamt unter der einen oder anderen psychischen Störung leiden, versuchen sie doch, aus der Langeweile ihrer öden Bürojobs auszubrechen und echte Agenten zu sein – mit immer wieder fatalen Folgen, aber letztlich gutem Ende. Mick Herron beweist einmal mehr, dass er mit der Reihe um Jackson Lamb eine der unterhaltsamsten, vor allem aber ungewöhnlichsten Spionage-Romanreihe geschaffen hat, die mittlerweile auf Apple TV+ als Fernsehserie mit Gary Oldman, Kristin Scott Thomas und Jonathan Pryce verfilmt worden ist.  „London Rules“ knüpft mit einem temporeichen Plot, wunderbar spritzigen Dialogen und liebenswert skurrilen Figuren nahtlos an die vier vorangegangenen Romane an und macht neugierig auf die weiteren Fälle, mit denen es Lamb und seine Slow Horses zu tun bekommen werden. 
In England ist mit „Bad Actors“ dieses Jahr schon der achte Band der Reihe erschienen.  

Paul Auster – „Leviathan“

Samstag, 20. August 2022

(Rowohlt, 320 S., HC) 
In den Werken des amerikanischen Schriftstellers Paul Austers spielen Zufälle und die Frage nach Identitäten eine immer wiederkehrende Rolle. In dieser Hinsicht schließt sein fünfter Roman „Leviathan“ nahtlos an „Die Musik des Zufalls“ an. 
Der mysteriöse Tod eines nicht identifizierten Mannes bei einer Explosion bringt den Schriftsteller Peter Aaron im Juni 1990 dazu, über seine ungewöhnliche Freundschaft mit seinem Kollegen Benjamin Sachs nachzudenken und seine Geschichte zu erzählen. Aaron hat nach der Lektüre des Artikels in der New York Times sofort seinen besten Freund wiedererkannt. Zwar hat er ihn seit knapp einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber damals war Aaron bereits bewusst geworden, dass Sachs auf eine dunkle, namenlose Katastrophe zusteuerte. 
Kennengelernt haben sich Aaron und Sachs, als sie an einer gemeinsamen Lesung in einer Bar im West Village teilnehmen sollte, die allerdings ausfiel, ohne dass die beiden Autoren informiert wurden. Sachs hatte zu jener Zeit zwei Jahre zuvor den erfolgreichen Roman „Der neue Koloss“ veröffentlicht und konnte auf ein enormes Pensum an qualitativ hochwertigen Artikeln und Essays verweisen. Zu Aarons Überraschung war Sachs aber auch mit den weit weniger bekannten Aufsätzen vertraut, die Aaron in Zeitschriften unterbringen konnte. 
Über die intensive Diskussion über ihre Arbeiten und Lebenserfahrungen an jenem Abend an der Bartheke entwickelte sich eine enge Freundschaft, die ihre Höhen und Tiefen aufwies. Interessanterweise war Aaron mit Sachs‘ Frau Fanny aus seiner eigenen College-Zeit bekannt und damals sogar in sie verliebt, doch war sie damals schon mit Sachs verheiratet, der allerdings seine Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung absaß… Aaron heiratet Delia, doch nicht zuletzt die anhaltenden Geldsorgen führen zu Streits und schließlich zur Trennung. Als Sachs für eine Verfilmung seines Romans für einige Zeit nach Hollywood muss, beginnen Fanny und Aaron eine Affäre, die mit Sachs‘ Rückkehr abrupt endet. Die gemeinsame Bekanntschaft mit der Künstlerin Maria Turner bedeutet eine radikale Kehrtwendung im Leben der beiden Schriftsteller. 
Während Aaron allmählich auf eine gewisse Stabilität bauen kann, seinen ersten Roman „Luna“ veröffentlicht und mit Iris seine zweite Frau kennenlernt, stürzt Sachs während einer Party aus dem vierten Stock eines Hochhauses, überlebt allerdings mit viel Glück. Danach will Sachs sein Leben ändern, zieht von New York aufs Land, beginnt an seinem neuen Roman „Leviathan“ zu arbeiten und wird unversehens im Wald zum Mörder und schließlich zum Freiheits-Aktionisten, der überall im Land Freiheitsstatuen sprengt… 
„Und genau das ist es, was mir noch immer zu schaffen macht, das Rätsel, dessen Lösung ich noch immer nicht gefunden habe. Sein Körper erholte sich wieder, aber er selbst war nicht mehr der alte. In diesen wenigen Sekunden vor de Aufprall scheint Sachs alles verloren zu haben. Sein ganzes Leben ist dort in der Luft in Stücke gegangen, und von diesem Augenblick bis zu seinem Tod vier Jahre später hat er es nicht wieder zusammensetzen können.“ (S. 145) 
Es ist wieder einmal das Spiel mit Zufällen und wechselnden Identitäten, das Paul Auster in „Leviathan“ so souverän wie kein Zweiter beherrscht. Schon die Bekanntschaft der beiden Schriftsteller in einer Bar nach einer abgesagten Lesung, bei der Aaron kurzfristig für einen anderen Autor einspringen musste, wirkt wie ein glücklicher Zufall, was durch den Umstand verstärkt wird, dass Aaron einst in Sachs‘ Frau Fanny verliebt gewesen war und später eine Affäre mit ihr unterhält. Ein Zufall führt Sachs auch zu einer vermeintlichen Abkürzung durch einen Wald, bei dem der Schriftsteller in eine Schießerei gerät und einen Mann namens Dimaggio erschießt, nachdem dieser den Jungen tötete, der Sachs freundlicherweise in seinem Wagen mitgenommen hatte. 
Und wie wahrscheinlich mag es wohl sein, dass Dimaggio mit Maria Turners bester Freundin Lillian Stern verheiratet gewesen ist? Man muss sich schon auf diese merkwürdigen Zusammenhänge einlassen können, ebenso auf die Herausforderungen, mit denen sowohl Sachs als auch Aaron beim Meistern ihres jeweiligen Lebens zu kämpfen haben. Allerdings verfügt Auster über ein so ausgeprägtes Sprachgefühl, dass seine Geschichte einen verführerischen Sog entwickelt, der die Ereignisse ganz natürlich erscheinen lässt. 
Es lassen sich auch einige autobiographische Züge in „Leviathan“ entdecken, so Peter Aarons und Paul Austers identische Initialen, ein Frankreichaufenthalt, eine erfolglose Zeit in Beruf und Ehe, die Tatsache, dass der Name von Aarons zweiter Frau Iris rückwärts geschrieben den Namen von Austers zweiter Frau Siri ergibt. Schließlich ist die Konzeptkünstlerin Sophie Calle Vorbild für Austers Figur der Maria Turner gewesen. 
Mit „Leviathan“ ist Auster ein vielschichtiger Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier unterschiedlicher Schriftsteller gelungen, in dem Aaron als Ich-Erzähler von dem chronologischen Ende aus, dem Tod von Benjamin Sachs, halbwegs chronologisch die Geschichte Sachs‘, aber auch seine eigene erzählt, schließlich gibt es immer wieder die überraschendsten Berührungspunkte. 
Er erzählt vor allem von den Schwierigkeiten, seinen Platz im Leben zu finden, von Ereignissen, die dem Leben plötzlich eine ganz andere Richtung verleihen. Dabei sind Auster die Charakterisierungen auch der Nebenfiguren, also vor allem der Frauen, ausgezeichnet gelungen. 

 

Joe Hill – „Strange Weather“

Sonntag, 14. August 2022

(Festa, 652 S., HC) 
Der 1972 als Sohn von Bestseller-Horror-Autor Stephen King und dessen Frau Tabitha geborene Joseph Hillström King hat unter seinem Pseudonym Joe Hill bereits die auch hierzulande erfolgreichen Romane „Blind“, „Teufelszeug“, „Christmasland“ und „Fireman“ veröffentlicht, doch ebenso wie sein übermächtiger Vater hat Hill auch Gefallen an kürzeren Erzählformen wie der Kurzgeschichte und der Novelle gefunden. Da fällt der Apfel eben nicht weit vom Stamm. Mit „Black Box“ ist bei Heyne bereits 2008 eine erste Kurzgeschichten-Sammlung von Joe Hill erschienen, mit „Vollgas“ legte Festa 2021 eine weitere Kollektion vor. Zuvor erschien mit „Strange Weather“ eine Sammlung von vier Novellen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 
Mit „Schnappschuss“ begleiten wir Joe Hill auf eine kleine Zeitreise in die 1980er Jahre, als die Sofortbildkamera Polaroid der letzte Schrei gewesen ist. Hier lernen wir einen dreizehnjährigen Jungen namens Michael Figlione kennen, der sich in dem kleinen Ort Golden Orchards im Norden Cupertinos ein wenig um die zunehmend demente Nachbarin Shelly Beukes kümmert, die sich bis 1982 noch um den Haushalt der Familie des Jungen gekümmert hatte. Sie warnt ihn, dass er sich vor dem Polaroid-Mann in Acht nehmen sollte. Als Michael an der Tankstelle tatsächlich dem Mann mit der Kamera begegnet, geschehen merkwürdige Dinge, denn mit jedem Bild, das mit der Kamera geschossen wird, scheint eine Erinnerung des Portraitierten gelöscht zu werden… 
In „Geladen“ hadert Randall Kellaway mit seinem Schicksal. Nach seinem Einsatz im Irak hatte sich Kellaway sowohl bei der State Police, der örtlichen Polizei, dem Sheriff’s Office und dem FBI beworben, doch beim FBI hat er den psychologischen Aufnahmetest nicht bestanden, bei all den anderen Behörden kam es nicht mal zum Vorstellungsgespräch. Nun schiebt er als Sicherheitsbeamter in einem Einkaufszentrum Dienst und ist verärgert darüber, dass seine Ex-Frau Holly eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hat, dass er ihr und ihrem gemeinsamen Sohn George gegenüber einen Abstand von mindestens 300 Metern einhalten muss. Sein einziger Freund Jim Hirst sitzt zwar im Rollstuhl und leidet darunter, dass seine Frau fremdgeht, dafür nennt er eine ansehnliche Waffensammlung sein eigen. Davon profitiert schließlich auch Kellaway, als er eines Tages im Einkaufszentrum in den Juwelierladen „Devotion Diamonds“ von Roger Lewis stürmt, um ein Massaker zu verhindern. Rog hatte nämlich gerade mit seiner 20-jährigen Angestellten und Geliebten Becki Schluss gemacht, die ihn daraufhin mit einer .357er erschoss. Als Kellaway in den Laden stürmt, schaltet er allerdings nicht nur die Schützin aus, sondern auch eine muslimische Frau mit ihrem Baby und einen fettleibigen Zeugen. Von der Presse wird Kellaway als Held gefeiert, doch die Reporterin Aisha Lanternglass kommt nach und nach den wahren Ereignissen auf die Spur… Nachdem die 23-jährige June Morris vom Krebs dahingerafft worden ist, haben sich ihre beiden Brüder Brad und Ronnie, ihre beste Freundin Harriet Cornell und Aubrey dazu entschlossen, zu ihrem Gedenken einen Fallschirmsprung zu absolvieren. Während Junes Brüder jedoch schon Erfahrungen mit dem Springen gemacht haben, ist es für Aubrey und Harriet das erste Mal. 
Vor allem Aubrey hat „Hoch oben“ große Angst vor dem Absprung, doch als der Motor des Flugzeugs ausfällt, bleibt ihm letztlich nichts anderes übrig, als auch zu springen. Zu seiner Überraschung landet er dabei auf einer festen Wolke, auf der Dinge entstehen, die Aubrey kurz zuvor noch gedacht hatte. Seine Zeit verbringt Aubrey dabei vor allem mit den Erinnerungen daran, wie er Harriet kennen und lieben gelernt hat. 
Mit „Regen“ hat Hill schließlich sein eigenes Weltuntergangsszenario geschaffen. Bei einem Gewitter über Boulder, Colorado, regnet es nämlich keine Wassertropfen, sondern nadelspitze Metallsplitter, die ein Meer der Verwüstung hinterlassen. Was zunächst als terroristischer Anschlag betrachtet wird, scheint sich allerdings als natürliches, wenn auch seltenes Phänomen zu entpuppen, bei dem durch Blitze eine Form des Kristalls Fulgurit entsteht. Die 23-jährige Honeysuckle Speck verliert durch den Nadelregen ihre Geliebte Yolanda und macht sich zu Fuß auf den Weg ins dreißig Kilometer entfernte Denver, um Yolandas Vater über den Tod seiner Tochter zu unterrichten… 
„Novellen sind Killer, keine Füller, sie kommen auf den Punkt, wo Romane ausschweifend werden. Sie haben die Ökonomie von Kurzgeschichten, sind aber aufgrund ihrer Länge in der Lage, eine Charakterisierung zu erreichen, die wir üblicherweise bei Romanen erwarten“, fasst Hill im Nachwort von „Strange Weather“ die Eigenschaften der Novelle zusammen. Besonders originell sind die hier vier vereinten Geschichten zwar nicht gelungen, dafür versteht der Autor es ähnlich wie sein Vater hervorragend, den Plot einer Geschichte mit Kommentaren zur Gesellschaft zu versehen. 
Während „Schnappschuss“ vor allem als Coming-of-Age-Story mit einem vertrauten übernatürlichen Element überzeugt, stellt „Geladen“ natürlich einen bissigen Kommentar auf die schwer nachvollziehbare Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen dar. „Hoch oben“ gefällt weniger durch das sicher interessante Setting als durch Aubreys Charakterisierung, wie sie durch seine Erinnerungen und seine Liebe zu Harriet zum Ausdruck kommt. Und bei „Regen“ ist es die lesbische Liebesgeschichte, die im Vordergrund steht, aber auch traditionelle Werte wie Familie und Hilfsbereitschaft kommen bei dem dystopischen Szenario nicht zu kurz, auch wenn Plünderungen, Morde und überzogene Reaktionen auf die Katastrophe das beherrschende Thema zu sein scheinen. 
Die beiden bei Festa erschienenen Sammlungen von Joe Hill sind sicher keine Must-Reads, nicht mal für Joe-Hill-Fans, doch ebenso wie „Vollgas“ bietet auch „Strange Weather“ einige nette Ideen, einen flüssigen Schreibstil, eine Art von Humor, wie man sie bereits von Stephen King her kennt, und ausgefeilte Figurenzeichnungen, die zu den bemerkenswertesten Stärken des Autors und seiner Geschichten zählen.